Schubert-SoldernG. JellinekR. StammlerA. MerkelF. Lassalle | ||||
(1852-1924) Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung des Verfassungsrechts
Die älteste Verfassung ist wohl die rein patriarchale gewesen oder, vielleicht noch unzweideutiger ausgedrückt, die Häuptlingsverfassung. Ob es auch eine matriarchale Verfassung gegeben hat, kann offen bleiben; es kann zwar sein, daß es eine Zeit gab, in der die Frau einen größeren Einfluß besaß, während sie nachher mehr oder weniger als Eigentum des Mannes erscheint, um erst viel später wieder eine selbständige Stellung zu erringen. Jedenfalls ist die sogenannte Gruppenehe, die Erbfolge in mütterlicher Linie usw., kein Zeichen einer Frauenherrschaft, die schon, Ausnahmen abgerechnet, deswegen sehr unwahrscheinlich ist, weil der Mann in seinem Leben stets ungebundener war und mehr Gelegenheit hatte, seine körperliche aber auch seine geistige Kraft auszubilden (3). Diese Häuptlingsverfassung konnte nur dadurch eine Änderung und Beschränkung erfahren, daß sich eine öffentliche Meinung ausbildete, und diese konnte nur durch eine Gliederung der ursprünglichen selbständigen Gemeinschaft entstehen. Innerhalb der jedenfalls kleinen, ungegliederten, ursprünglichen Gemeinschaft konnte es dem Häuptling gegenüber keine öffentliche Meinung geben, weil die Interessen aller Mitglieder zu gleichartig waren und die Existenz jedes Einzelnen zu sehr in der Gemeinschaft aufging. Erst als eine Gliederung der selbständigen Gemeinschaft stattfand, sei es durch Spaltung oder Angliederung, Unterwerfung fremder Gemeinschaften, konnten auch die ersten Anfänge einer öffentlichen Meinung enstehen. Jetzt trat nämlich Interessengemeinschaft und Interessengegensatz der Untergemeinschaften ein, und diese wurden sich der sie umfassenden Gemeinschaft gegenüber erst ihrer verschiedenen Interessen in Gegensatz und Gemeinschaft bewußt. Es war natürlich, daß die Oberhäupter der Untergemeinschaften die berufenen und einzig möglichen Vertreter der öffentlichen Meinung waren, denn sie hatten ja die Untergemeinschaften zu leiten und ihre Interessen zu vertreten, die ja auch ihre eigenen waren. Auf welche Weise und mit welchem Gewicht sich nun diese öffentliche Meinung geltend machte, hing vom Verhältnis der Untergemeinschaft durch Spaltung oder friedliche Angliederung entstanden, so war wohl die Macht der umfassenden eine sehr geringe und von vornherein, außer im Krieg selbst, an die Zustimmung der Untergemeinschaften in ihren Maßregeln gebunden; waren die Untergemeinschaften aber durch Unterwerfung in eine umfassende Gemeinschaft gekommen, dann gab es eine herrschende Gemeinschaft und unterworfene; die Interessen der unterworfenen Gemeinschaften konnten sich dann, je nach dem Grad ihrer Unterwerfung, nur in einem beschränkten Maß, vielleicht oft nur bittweise geltend machen. Später aber mußte auch der Fall eintreten, daß eine Obergemeinschaft sowohl unterworfene wie gleichberechtigte Gemeinschaften unter sich faßte, wodurch auch eine Spaltung der Interessen und der öffentlichen Meinung eintrat und außerdem auch noch das Gewicht dieser gespaltenen öffentlichen Meinungen ein verschiedenes war. (4) Deswegen finden wir in der zusammengesetzten selbständigen Gemeinschaft als Vertreter der öffentlichen Meinung stets eine Versammlung von Häuptern der Untergemeinschaften, welche die Interessen ihrer Gemeinschaften geltend machten und an der Spitze der Obergemeinschaft einen Häuptling, Stammkönig, der die Interessen der umfassenden Gemeinschaft vertrat, aberb auch oft zugleich die Interessen der herrschenden Gemeinschaften den unterworfenen gegenüber aufrecht erhielt. Das ist wohl überall die zweite Entwicklungsstufe der Verfassung, welche über das Häuptlingtum der ungegliederten Gemeinschaft hinausgeht. Von da an aber konnte die Entwicklung eine sehr mannigfaltige sein, je zusammengesetzter die Obergemeinschaft wurde; im Großen und Ganzen erfolgte sie aber doch nach zwei Richtungen, je nachdem der Oberhäuptling das Übergewiht behielt oder der Rat der Unterhäuptlinge. Im ersten Fall blieb die Entwicklung eine monarchische, im zweiten Fall wurde sie eine republikanische. Die monarchische Verfassung in ihrer despotischen Form finden wir vor allem im Orient. Auch hier gibt es eine öffentliche Meinung, aber sie ist zu keiner Organisation gelangt, sie kann sich nur durch Bitten und Vorstellungen, womöglich durch Aufstände dem Herrscher gegenüber geltend machen. Die Gemeinschaften der Sieger und Eroberer sind da oft nicht viel besser dran als jene der Unterworfenen dem Herrscher über alle gegenüber; denn nur durch die Vereinigung aller Macht in seinen Händen ist er imstande, die große Zahl von herrschenden und unterworfenen Gemeinschaften in einer Einheit zusammenzuschließen und ihre Kraft auch in kultureller Beziehung zu vereinigen. Die umfassende Obergemeinschaft ist hier an die Person des Herrschers gebunden, und wenn dieser sich auch vorzugsweise auf die ihm wenigstens ursprünglich stammverwandten herrschenden Untergemeinschaften stützt, so hängt doch auch die Macht dieser oft so sehr von seiner Person ab, daß mit ihr oft auch die Herrschaft der Sieger und Eroberer zusammenbricht oder wenigstens von neuem und wieder persönlich begründet werden muß. Gewiß hat es auch in diesen orientalischen Despotien eine öffentliche Meinung gegeben, aber sie war nicht organisiert und ist daher in der geschichtlichen Entwicklung nur wenig sichtbar. Gewiß wird es auch in den Anfängen dieser orientalischen Despotien Versammlungen von Unterhäuptlingen gegeben haben, hat es gewiß auch später Versammlungen von Räten des Herrschers gegeben, aber das ungemein rasche Wachstum der umfassenden Gemeinschaft, und weil sie vorzugsweise auf Krieg und Eroberung beruhte, hat jene Versammlung zu keiner geordneten und nachhaltigen Wirksamkeit gelangen lassen. Die große umfassende Gemeinschaft beruhte doch im wesentlichen auf der Persönlichkeit des Herrschers und war von ihm abhängig. Daß irgendeine Versammlung jene umfassende Gemeinschaft hätte begründen oder erhalten können, war unmöglich, weil sie vorzugsweise auf der Gewalt und nicht auf einer Gemeinsamkeit der Interessen beruhte; deswegen mußte sie durch die persönliche Konzentration der Macht, durch stete Kriegszüge aufrechterhalten werden und bedurfte einer Raschheit und Einheitlichkeit der Entschlüsse, wie sie eine Versammlung nicht fassen konnte. Die Folge davon war aber, daß die Despotien des Orients mehr Zusammenballungen von Gemeinschaften waren als Organisationen von Staaten. Organisiert waren wohl nur die Untergemeinschaften und besonders gewisse Mittelpunkte in ihnen, von denen die kulturelle und kriegerische Macht ausging, die das Ganze unter einer Persönlichkeit zusammenhielt. In diesen Untergemeinschaften, besonders je ferner sie von der Person des Herrschers waren, werden sich auch noch gewisse Rechte der Macht des Unterhäuptlings und seiner Ratsversammlung erhalten haben. Das gilt aber wohl nur für die untersten Gemeinschaften, die oberen waren unter Priester- und Stadtkönigen gewiß despotisch organisiert und später despotisch wieder zu umfassenderen Gemeinschaften vereinigt. So haben wir in den orientalischen Despotien die Eigentümlichkeit höchster Persönlichkeit des Herrschers und ein Zurücktreten der Individualität des Beherrschten: denn gegenüber der absoluten Persönlichkeit des Despoten gab es kein Recht und keine Beachtung der Individualität. Natürlich gilt das alles nur in einem relativen Sinn im Vergleich zur republikanischen Entwicklung der Verfassung, die noch zu behandeln sein wird. Ein völliges Zurücktreten aller Individualität hätte eine jede Kulturentwicklung unmöglich gemacht; sie konnte sich aber umso weniger geltend machen, in je näheren Beziehungen sie zum Herrscher stand, und auf diesem Übergewicht der Persönlichkeit des Herrschers beruhte die Macht der umfassenden Obergemeinschaft (5). War in den orientalischen Staaten (selbständigen obersten Gemeinschaften) die Persönlichkeit des Herrschers maßgebend, so wurde in den abendländischen Staaten die organisierte öffentliche Meinung der ausschlaggebende Faktor. Dieses Erstarken der öffentlichen Meinung wurde nur möglich durch einen langsameren und stetigeren Entwicklungsgang, denn wo rasch und verhältnismäßig ungeordnet eine große Anzahl von Untergemeinschaften zu einem Staat zusammengeballt wird, da kann die anfangs wenigstens nicht genügend organisierte öffentliche Meinung weder den nötigen Überblick über das Ganze besitzen, noch die nötige Einheitlichkeit und Erfahrung. Die öffentliche Meinung muß Zeit haben, sich zu entwickeln und zu organisieren, das kann sie nur in einem Gemeinwesen, dem nicht gleich anfangs zu große Aufgaben nach außen gestellt sind und das nicht durch äußere Mächte erdrückt wird. Die kulturelle und politische Entwicklung des Orients war aber, nachdem die ersten Kulturstufen, zu denen gewiß Jahrtausende notwendig waren, erreicht waren, eine viel schnellere als die des Abendlandes. Im Kampf mit dem später sich entwickelnden Abendland mußte der Orient unterliegen, weil, wie schon erörtert, eine stetige und intensive Fortbildung der Kultur im weitesten Sinne nur individuell möglich ist. Durch die Organisation der öffentlichen Meinung im Abendland entwickelte sich aber die Individualität des Einzelnen viel intensiver, das Individuum wurde sich seines Wertes innerhalb der Gemeinschaft bewußt, seine moralische Kraft und Einsicht stieg und viele Individuen wurden durch die Konzentration des Wissens und Könnens ihrer Kulturgemeinschaft Kernpunkte neuer politischer und kultureller Entwicklungen. Der Orient aber entbehrte jener individuellen Beweglichkeit und freien Entwicklungsfähigkeit, weil das Individuum noch viel zu sehr, wie in den Urzeiten, in der Denk- und Gefühlsweise seiner Gemeinschaft festgebannt war. Das Gegengewicht dagegen scheint allerdings eine freiere Entwicklung der Phantasie gebildet zu haben, die aber theoretisch und praktisch wenig Wert hatte. Deswegen fügte sich im Orient das Individuum auch viel leichter einer allgewaltigen Persönlichkeit, deren Despotismus ihm zum Fatum [Schicksal - wp] wurde, dem es sich unterwarf. Diese Eigentümlichkeit des Abendlandes gab sich natürlich auch im Kriegswesen kund. Einsicht in die Notwendigkeit der Unterordnung, die bewußte Gliederung und Zusammenfassung des Ganzen, die wohldurchdachte Ausbildung und Anwendung der Waffen gaben seinen Heeren eine moralische Kraft, Einheitlichkeit und Beweglichkeit, wie sie die zusammengeballten, verhältnismäßig ungegliederten aus den verschiedensten miteinander in keinem Zusammenhang stehenden Waffengattungen bestehenden Heeresmassen des Orients nicht aufweisen konnten. Wo eine Gliederung (wie auch immer sie zustande gekommen sein mag) der ursprünglich einfachen Gemeinschaft stattfand, gab es wohl auch neben dem Häuptling der Obergemeinschaft Häuptlinge der Untergemeinschaften (Älteste, Familienvorstände), die jenem zur Seite traten. Es konnte anfangs gewiß kein besonderes bestimmtes Verfahren geben, nach welchem die Versammlungen jener Unterhäuptlinge, ich will sie Senat nennen, nach welchem also der Senat seine Meinung kundgab; auch werden wir wohl kaum erfahren, wann, wo und wie zuerst solche Versammlungen stattfanden. Sobald sie aber einmal da waren und ihre Meinungen äußerten, mußten sie in Friedenszeiten und auch für die Kriegsvorbereitungen ein bedeutendes politisches Gewicht besitzen: erstens als die Meinung vieler einem (dem Oberhäuptling, König) gegenüber; dann aber auch durch die Summe von Erfahrungen, die sie in sich vereinigt gegenüber der Erfahrung eines Einzelnen; schließlich auch dadurch, daß sie die Interessen aller Untergemeinschaften vertrat. Wo der Senat einig war, konnte der König, (wie ich den obersten Häuptling nennen will) wohl kaum widerstehen, außer eine große und ständige Gefahr von außen schloß Beratungen und Ratschläge aus, um die Schnelligkeit und Einheitlichkeit des Handelns durch den König nicht zu gefährden. Ein schnelles eroberndes Umsichgreifen der obersten Gemeinschaft mußte daher immer den Einfluß des Senats gefährden, und das scheint eben im Orient der Fall gewesen zu sein. Im Abendland dagegen war die Ausbreitung der selbständigen Gemeinwesen eine langsamere und geordnetere, die besiegten Gemeinschaften wurden in bestimmter, gesetzlicher Weise angegliedert und nicht ausgerottet oder anderswohin versetzt, ebensowenig genügte aber ihre bloße Unterwerfung und Abgabe eines Tributes. Diese systematische Fortentwicklung der Gemeinwesen des Abendlandes schuf feste organische Gebilde, die dem Morgenland abgingen. Freilich konnte es auch vorkommen, daß diese Angliederung, obgleich sie gesetzlich und organisch erfolgte, doch zu lose war und rasch auseinanderfiel, wie in Griechenland der Peloponnesische und noch mehr der Delische Bund, vom Begriff der Hegemonie gar nicht zu reden. Der griechische Individualismus ließ überhaupt keine straffe Organisation zu; die griechische Hegemonie taugte kaum zur Verteidigun, noch weniger zum Angriff. Die Senate mußten also überall da an Einfluß gewinnen, wo eine verhältnismäßig friedliche Entwicklung im Innern, eine langsamere, systematische Ausbreitung der Gemeinwesen nach außen stattfand. Hier hatte der Senat Zeit, seine Überlegenheit dem König gegenüber zu entwickeln und festzuhalten. Erstarkte unter diesen Umständen der Senat dem König gegenüber, so entstand seinem Ansehen eine andere Gefahr in der Volksversammlung (6). Es wird zwar berichtet, daß es auch Volksversammlungen aller erwachsenen Mitglieder eines Gemeinwesens, Männer und Frauen, gegeben hat, es kann aber daraus nicht geschlossen werden, daß diese Art von Volksversammlungen die ursprünglichste war (7). Ich möchte vielmehr glauben, daß die ursprünglichste Volksversammlung die des Heeres in Waffen war. Je systematischer der Krieg geführt wurde, desto notwendiger war es, Musterungen im Frieden abzuhalten und Versammlungen vor dem Krieg; es mußte ja dem anfangs noch nicht zahlreichen Heer kundgegeben werden, wie der Krieg geführt werden soll, damit jeder Einzelne das einzuhaltende Verfahren wußte. Es war gewiß nicht anders möglich, als daß der König als Heerführer, wenn er beliebt war, von der Volksversammlung mit Beifall begrüßt wurde, umso mehr wenn der Anlaß zum Krieg allgemeine Billigung fand; von hier zur Äußerung des Mißfallens ist nur ein Schritt. Schließlich lag es im Interesse des Königs, sich dem zweifelhaften Ausgang des Krieges gegenüber (ein schlechter konnte ihm den Thron kosten) zu sichern; so konnte er schließlich dazu veranlaßt werden, an die Volksversammlung die Frage zu stellen, ob sie den Krieg wollte oder nicht; damit wälzte er die Verantwortung wenigstens teilweise auf das Volk. Wurde das Volk in Waffen aber überhaupt einmal versammelt und im Frieden gemustert, so lag es nahe , auch im Frieden wichtige Mitteilungen und Maßregeln dem Volk zu verkünden; daß auch hier Beifall und Mißfallen als Äußerung der öffentlichen Meinung nicht ausbleiben konnte, war klar. Was aber anfangs bloß eine Meinungsäußerung war, konnte schließlich eine Beschlußfassung werden - oft traute man sich wohl nicht, von Senat und König beschlossene Maßregeln durchzuführen, wenn das Volk dagegen war. Ausnahmsweise konnte es nun geschehen, daß in den friedlichen Volksversammlungen besonders noch kleiner Gemeinschaften auch die Frauen anwesend waren, wenn sie wirtschaftlich eine angesehene Stellung einnahmen. Die Regel wird es kaum gebildet haben, wenn der kriegerische Ursprung der Volksversammlungen angenommen werden kann. So waren es also drei politische Faktoren, König, Senat und Volksversammlung, welche das Geschick selbständiger Gemeinschaften in gewissen Zeitperionden zu bestimmen pflegten. Dabei konnte und mußte der eine Faktor verkümmern oder verschwinden, je weiter sich die selbständigen Gemeinwesen entwickelten. Neue politische Grundverhältnisse sind aber dabei, soviel ich weiß, nirgends an den Tag getreten, alles Neue ist in dieser Beziehung nur eine Modifikation des Alten. Der aber zunächst am meisten gefährdete politische Faktor war das Königtum, weil es bei kleineren Gemeinwesen entbehrlich und dem Adel lästig und gefährlich war. In kleineren Gemeinwesen konnte nämlich die Einheit der Leitung, die Übersicht über die äußeren Angelegenheiten der Gemeinschaft auch in einer Versammlung (Vertretung der Altfamilien) vorhanden sein, und weil jeder die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen besaß, die Interessen gleichartig waren, so konnten auch leicht einhellige und rasche Entschlüsse gefaßt werden. Das war umso weniger der Fall, je größer das Gemeinwesen wurde und je mehr die Interessen der Einzelnen auseinandergingen. Dann hatten in verwickelten Verhältnissen nicht alle die gleiche Einsicht und Erfahrung, nicht alle die gleichen Interessen, es entschied immer mehr die Partei und das Schlagwort und die einheitliche und gleichförmige Leitung war gefährdet, weil auch in der leitenden Versammlung nun nicht mehr das Wohl des Staates, sondern das Parteiinteresse das bewegende Motiv bildete. Dazu kam noch der Streit der Parteien, der eine gleichförmige Politik nach außen und innen verhinderte und auch zu Revolutionen und Bürgerkriegen führte. Es entstand in der Masse das Bedürfnis nach Ordnung und Ruhe und nach Ausgleich der Interessen, und das konnte durch keine Partei bewerkstelligt werden, sondern nur durch die Macht, die über den Parteien stand und die Interessen der unpolitischen Massen vertrat, durch den Cäsarismus. Deswegen sehen wir, daß unter sonst gleichen Umständen kleine Gemeinwesen die republikanische Staatsform, große die monarchische vorziehen, besonders dann, wenn die beschränkte Monarchie noch nicht organisiert ist, die bis zu einem gewissen Grad die Vorteile, aber auch die Nachteile beider Regierungsformen vereinigt aber auch abdämpft. In kleineren, selbständigen Staatswesen ist daher die monarchische Spitze entbehrlich und die anfangs vielleicht beratende Versammlung der Unterhäuptlinge, welche die öffentliche Meinung repräsentiert, gewinnt dem Oberhäuptling gegenüb, der ursprünglich doch nur ihresgleichen war, an Macht und Ansehen, das immer viele einem gegenüber, wenn sie einig sind, besitzen. Schließlich erscheint der Oberhäuptling (König) unnütz, eine bloße Exekutivbehörde an seiner Stelle tut es auch. Die Altfamilien, der Adel und seine Vertretung (der Senat) haben aber noch ein anderes Interesse an der Abschaffung des Königtums. Hat sich nämlich ein Stand der Freien neben dem Adel gebildet, so liegt es für den König nahe, sich auf diesen gegen den Adel zu stützen, und er kann das überall da leicht tun, wo der Kriegsdienst nicht ein Privileg des Adels ist, sondern auch dem Freien zukommt. Das wird mit der Zeit überall da stattfinden, wo der Adel nicht mehr hinreicht, um den Staat nach außen zu schützen und seine Macht aufrecht zu erhalten. Dann aber findet der nicht-adelige Freie auch Aufnahme in die Wehr- und Volksversammlung und sie bildet den Hebel, den der König einsetzen kann, um die Macht des Adels zu brechen. Hier handelt es sich darum, wer siegt, Fürst oder Adel. In Rom war jedenfalls Macht und Ansehen des Volkes noch zu schwach und der Adel blieb Sieger. In den romanisch-germanischen Staaten siegte das absolute Fürstentum mit Hilfe des Bürgerstandes über den Adel, es organisierte das Bürgertum, es brachte ihm seine Bedeutung zu Bewußtsein, es stützte sich auf seine Geld- und Wissensmacht - und doch legte es die Standesvorurteile nicht ab, der Bürger sollte nur ein willenloses Werkzeug des absoluten Fürstentums sein, er war nicht hoffähig und der Mensch fing doch erst mit dem Baron an. Da aber die Macht des Staates immer mehr geistig und materiell im Bürgerstand wurzelte, so war es nur eine Frage der Zeit, wann dieser friedlich oder gewaltsam seine Macht für seine eigenen Interessen auch geltend machte. Es kam zu einem Kompromiß zwischen Adel, Bürgerstand und Fürstentum, zur konstitutionellen Monarchie. In Rom und Griechenland aber kam es zur Republik, zunächst zur Adelsrepublik, dann zur mehr oder weniger demokratischen Republik mit Ausnahme (teilweise nur scheinbare Ausnahme) Spartas. Doch machte Griechenland einen Zustand durch, der dem des absoluten Fürstentum in einer Beziehung glich, die Tyrannis stützte sich auf das Volk gegen den Adel, aber eben deswegen organisierte sie das Volke, sie setzte es in einen Gegensatz zum Adel. Deswegen konnte nach der Vertreibung der Tyrannen das Volk nicht mehr politisch beiseite geschoben werden und errang mit der Zeit mehr oder weniger die Herrschaft im Gemeinwesen. Auch hier aber erwies sich die Herrschaft des Volkes in einer Versammlung (Volksversammlung) nicht imstande, eine einheitliche, gleichförmige und kraftvolle Leitung der Staatsangelegenheiten durchzuführen, wo diese durch ein Wachstum des Gemeinwesens (Athen) verwickelter und umfangreicher geworden waren. Ein Umschlag erfolgte zwar zunächst nicht zur Tyrannis und nicht zum Cäsarismus, obgleich die Hegemonie Spartas sehr nahe an die Tyrannis streift, sondern zur konservativen Republik. Doch auch diese konnte sich nicht halten, die Macht der Masse stieg wieder, soziale Kämpfe fanden überall statt und der Einfluß Griechenlands nach außen (Antalkidischer Friede) nahm bedrohlich ab. Die Niederwerfung des persischen Reiches war aber nicht nur eine Ehrensache, sie war eine politische Notwendigkeit, wie in viel späterer Zeit die Parteikämpfe zeigten; der Orient hat sich immer durch ein plötzliches Aufraffen und eine plötzliche Konzentrierung seiner Kräfte ausgezeichnet, was seiner despotischen, auf Persönlichkeiten beruhenden Regierungsmacht entspricht. Deswegen ermöglichste sowohl die Furcht vor inneren sozialen Umwälzungen wie die Notwendigkeit einer Konzentrierung der Macht gegen Persien die mazedonische Herrschaft, die doch nur im wesentlichen eine Vorwegnahme des späteren Cäsarismus bildete. Doch Griechenland verblutete sich an seiner mehr geistigen Weltherrschaft ebensosehr wie später Rom an seiner Militärweltherrschaft. Weder eine geistige, noch eine materielle und auch keine bloß militärische Einheit konnte geschaffen werden, die Interessen gingen überall auseinander und das herrschende Volk zerstob, sich selbst als Rasse vernichtend, über das Mittelmeer: bald gab es zwar noch ein römisches Reich aber keine Römer mehr. Einer ähnlichen Entwicklung treibe auch die Gegenwart entgegen. Freilich tritt an die Stelle der Republik vielfach die konstitutionelle Monarchie, bei der aber auch die monarchische Spitze zur bloßen dekorativen Krönung des Staates herabsinken kann; die Tendenz in der Entwicklung ist republikanisch, sie strebt mindestens dahin, einen lebenslänglichen, wenn auch selbst erblichen Präsidenten an die Spitze des Staates zu stellen. Die sozialen Kämpfe, Revolutionen (wenn auch noch kein eigentlicher Bürgerkrieg), die immer tiefergehende Spaltung der Interessen der verschiedenen Bevölkerungsklassen einerseits, die Ausbreitung der Herrschaft der europäischen Kulturstaaten (Amerika, was seine Kultur und Rassen anbelangt, mitgerechnet) über die ganze Welt andererseits gleichen den Zuständen in der römisch-griechischen Welt vor der mazedonischen Herrschaft und vor dem römischen Kaisertum. Wird, um den sozialen Kämpfen ein Ende zu machen und die Weltherrschaft aufrecht zu erhalten, ein neuer über die ganze Welt herrschender Cäsar entstehen? Werden auch die europäischen Kulturvölker sich an dem Versuch verbluten, die ganze Welt kulturell und politisch zu einigen? Das letzte möchte ich fast glauben: der Verfall der europäischen Kultur beginnt mit ihrer Ausbreitung über die ganze Erde. Insoweit hat, glaube ich, GOBINEAU recht, daß die Rasse die Kultur verändert, die sie aufsaugt; eine Kultur kann nicht wie ein Kleid angezogen werden, sie muß durch jahrhunderte- und jahrtausendelange Kämpfe selbst errungen sein. Eine Kultur, die verhältnismäßig mühelos auf eine Rasse übertragen wird, geht nicht tief und verfällt schnell. Es scheint das eine Tatsache zu sein, die freilich noch nicht genügend erklärt ist. Ich glaube nicht, daß die Rasse ein Hindernis für eine tiefergehende Kultur bildet, aber sie muß sich diese selbst errungen haben. Meines Erachtens ist der Neger grundsätzlich ebenso kulturfähig wie der Weiße, wenn er eine jahrhundertelange eigene Kulturentwicklung durchgemacht hat; daß bei ihm (woran die äußere Natur seines Landes wohl schuld war) der Zwang dazu gefehlt hat, hielt ihn in seiner Entwicklung zurück und bestimmte seinen Charakter. Die Kultur besteht nicht bloß im Wissen, das kann freilich leicht übertragen werden, ebenso wie eine Kultursprache selbst, sie besteht auch in einem geistigen und moralischen Charakter, der eben nur durch jahrhundertelange Entwicklung einer Kultur im Kampf mit der Natur und Menschenwelt erworben und vererblich wird. Wo dieser Charakter, diese sittliche und geistige Anlage fehlt, bringt die übertragene Kultur nicht diese Anlage hervor, sondern ihr Mangel wirkt degenerierend auf die übertragene Kultur. Das ist freilich eine bloße Hypothese und Ansicht und wird mit Sicherheit kaum je beweisbar sein, es sprechen jedoch viele Tatsachen für sie und kaum eine dagegen. Ich möchte hier noch nachträglich ergänzend hinzufügen, daß sich ähnlich wie im Altertum auch in der neuen Zeit den Übergang zur demokratischen Monarchei, allerdings mit fester Organisierung der demokratischen Elemente durch das absolute Fürstentum hindurch, auch republikanische Zustände gebildet haben. Die mittelalterlichen Staaten glichen oft Adelsrepubliken mit einem lebenslänglichen oder erblichen Präsidenten an der Spitze. Oft unterschied ihn nur die zu Zeiten wenig beachtete Heiligkeit seiner Stellung, die von der Geistlichkeit unterstützt wurde, von der republikanischen Präsidentengewalt. Dieser kurze philosophiegeschichtliche Überblick mußte vorausgeschickt werden, sowohl um nachzuweisen, daß sich überall in allen Verfassungen die drei Elemente des Königtums (Fürstentums), des Senats (Rat der Unterhäuptlinge) und der Volksversammlung (der wehrhaften Bürger) vorfinden (wenn auch in der Folge das eine oder andere Element verkümmer kann), als auch um den Charakter dieser Verfassungselemente verständlicher zu machen. Diesen Charakter zu schildern, soll die nächste Aufgabe sein. Das Königtum oder, wie ich es hier vielleicht besser, weil allgemeiner nennen kann, das Fürstentum zeigt vor allem den Charakter der durchgängigen Einheit. Jeder Plan, mag er wie auch immer beschaffen sein, der bewußterweise durchgeführt werden soll, muß im Bewußtsein eines Individuums als Ganzes vorhanden sein; sind die Teile des Plans in verschiedenen Individuen getrennt vorhanden ohne wenigstens ein sie vereinigendes Individuum, so können sie bewußterweise überhaupt nicht in ihrer Einheit verwirklicht werden. Die einheitliche Durchführung von irgendwelchen Maßregeln und ganzen Zwecksystemen wird am besten durch eine dazu geeignete Persönlichkeit gewährleistet. - Diese Eignung muß allerdings vorausgesetz werden und bildet in gewissem Sinne die schwache Seite des Fürstentums. Noch eine politische Charaktereigentümlichkeit kommt aber dem Fürstentum zu, und das ist die Schnelligkeit in der Beschlußfassung und Durchführung politischer Maßnahmen. Eine Versammlung muß beraten und abstimmen und kann dann erst noch nicht den Beschluß selbst durchführen, sondern bedarf dazu schon bestimmter oder noch zu bestimmender Persönlichkeiten, die sich bei zusammengesetzteren Maßnahmen erst noch in die Maßnahmen einleben müssen. Einheit und Schnelligkeit in der Durchführung politischer Maßnahmen heißt aber Konzentration und Beweglichkeit gesellschaftlicher Macht zur Staatszwecken, d. h. eben politische Kraft. Ergänzend muß hier noch darauf hingewiesen werden, daß nicht nur die Beschlußfassung und Durchführung individuell am einheitlichsten erfolgt, sondern daß auch, was eigentlich eine selbstverständliche Vorbedingung ist, der Überblick über vorhandene Umstände nur in einem Individuum in voller Einheit bestehen kann. Zwei sehen mehr als einer, aber nur in einem kann das Gesehene eine widerspruchslose Einheit bilden. Diesen Vorzügen des Fürstentums stehen aber auch Fehler gegenüber, einer wurde schon genannt, das Fürstentum gewährleistet nicht seine Geeignetheit für seine Aufgaben selbst. Will man diese Geeignetheit aber durch eine Wahl sichern, dann ist sie nicht nur kein Charakterzug des Fürstentums selbst, sondern die Wahl nimmt dem Fürstentum wenigstens teilweise die Einheitlichkeit und Schnelligkeit seiner Maßnahmen in dem Grad, als sie ihm seine Selbständigkeit nimmt. Die Erblickeit kann bei einer tüchtigen Herrscherrasse zwar eine gewisse Geeignetheit der Anlage wahrscheinlich machen, sie kann aber die Entwicklung dieser Anlagen nicht gewährleisten. Doch wenn der Fürst auch wirklich die volle Eignung zu seinem Amt besitzt, so ist er doch abhängig von seiner Umgebung sowohl im Überblick, wie im Entschluß und in der Durchführung. Er kann, je umfangreicher die Gemeinschaft ist, der er vorsteht, umso weniger alles selbst in Augenschein nehmen, überall eigene Erfahrungen machen, er ist auf die Berichte und Erfahrungen anderer angewiesen und kann selbst gleichsam nur Stichproben machen, ob den Erfahrungen anderer zu trauen ist. Gerade wenn ein Fürst aber glaubt, in einem großen Gemeinwesen überall selbst die nötigen Erfahrungen machen zu können, ist er in einer verderblichen Täuschung befangen, er muß entweder voreilige Schlüsse und Verallgemeinerungen machen oder aber unbewußterweise fremde Erfahrungen als eigene verwerten; das letzte aber raubt ihm diesen gegenüber das notwendige kritische Verhalten. Auch muß der Fürst am Anfang seiner Regierung, ich möchte sagen, eine bestimmte Organisation des Nachrichtendienstes vorfinden, und es ist nicht leicht für ihn, die Mängel desselben zu erkennen und auch abzuschaffen. Die politischen Grundfehler des Fürstentums sind desegen seine Abhängigkeit von seiner Umgebung und der Mangelan Gewährleistung für die Geeignetheit seiner Persönlichkeiten. Sie sind es auch, die stets zur organisierten (verfassungsmäßigen, gesetzlichen) Beschränkung seiner Macht geneigt machen werden. Daraus kann man auch entnehmen, wo das Fürstentum sich in seiner Unbeschränktheit am besten erhalten wird. Da sein Vorzug seine Einheitlichkeit ist, so wird es sich da am reinsten finden, wo eben eine große Verschiedenheit in den Bestandteilen eines Staatswesens vorhanden ist; diese Verschiedenheit kann dann oft nur durch die Persönlichkeit des Herrschers zur Einheit zusammengefaßt werden. Diese Unbeschränktheit des Fürstentums wird sich aber am reinsten auch da vorfinden, wo äußere Umstände eine Konzentration der politischen und militärischen Macht, sowie eine rasche Beschlußfassung erfordern, also dort, wo es gilt, ständig drohende innere und (oder) äußere Gefahren zu bewältigen, indem man ihnen kraftvoll und rasch entgegentritt. Das absolute Fürstentum wird aber vorübergehend auch auftreten können, wo eine Reform des Gemeinwesens von unten nicht erfolgen kann, weil die Organisation dazu fehlt, wo sie aber doch notwendig ist. Hier tritt das absolute Fürstentum als vereinheitlichende, Kräfte konzentrierende Macht auf, um gewisse Zweck zu erreichen. Denn die Masse vermag unorganisiert oft gegen eine kleine organisierte Menge nichts, sie muß erst organisiert werden, sei es durch eigene Führer (ein langsamer und gefährlicher Vorgang), sei es gleichsam sich selbst kristallisieren oder sie muß schon einer organisierten Macht irgendwie eingefügt werden, um wirken zu können. Der Senat (Rat der Unterhäuptlinge, des Adels, der Vornehmen) hat besonders die Vorzüge der Vereinigung staatsmännischer Erfahrung und Tradition. In ihm sind solche Männer vereinigt, die sich an der Leitung des Staates beteiligt haben (wenn auch nicht alle), die daher am besten über die innere und äußere Lage des Gemeinwesens unterrichtet sind. Das gilt sowohl für kleinere wie für größere Gemeinwesen und verleiht einer solchen Versammlung, auch wo sie nur beratend auftritt, großes Ansehen und bedeutende Würde. Sie hat auch noch den Vorteil, daß sie großenteils Erfahrungen in sich vereinigt, die unmittelbar gemacht worden sind und die vielseitig sind, so daß sie sich weniger auf die Berichte anderer verlassen muß und, wo sie doch dazu genötigt ist, ein besseres Urteil über ihre Zuverlässigkeit besitzt als ein Fürst, der nur auf seine (am Anfang seiner Regierung oft spärliche) eigenen Erfahrungen angewiesen ist, sowohl um die Berichte anderer zu beurteilen als auch um selbst Beschlüsse zu fassen. Man sollte glauben, daß der Senat weniger geeignet ist, eine Tradition aufrecht zu erhalten als der Fürst: in einer Versammlung muß es immer Meinungsspaltungen geben, der Einzelne kann viel leichter die Tradition vom Vater auf den Sohn aufrechterhalten. Die Geschichte zeigt meines Erachtens das Gegenteil: der Sohn ist oft geneigt, im Gegensatz zum Vater, der Nachfolger im Gegensatz zum Vorgänger, einen anderen Weg einzuschlagen, entweder weil er persönlich noch sehr wenig oder weil er andere Erfahrungen gemacht hat. Diese Verschiedenartigkeit der Erfahrungen gleicht sich in einer in ihren Persönlichkeiten nur wenig wechselnden Versammlung von meist erfahrungsreichen Männern aus, es kristallisieren sich gemeinsame Grundsätze heraus, die nicht leicht wechseln, sowohl weil sie auf vielseitigen Erfahrungen beruhen, als auch weil der Wechsel von Persönlichkeiten in einem Senat ein sehr langsamer und stetiger ist. Auch will es aus Ehrgeiz der Sohn oft besser machen als der Vater, der Nachfolger besser als der Vorgänger, dieser Ehrgeiz kann einen Senat schwer beseelen, weil fast immer eine große Zahl wenigstens teilweise an den Regierungshandlungen einer nicht zu fernen Vergangenheit beteiligt war und daher nicht den Ehrgeiz besitzen kann, sich selbst zu übertreffen. Ein Senat wird daher meistens Vertreter einer festen Tradition und einer konservativen Politik sein. Dagegen kann einem Senat leicht die Einheitlichkeit der Durchführung von Maßnahmen und die Raschheit des Entschlusses fehlen. Über Grundsätze im Großen und Ganzen, auch über die Notwendigkeit einer Maßnahme im allgemeinen wird vielleicht Einigkeit wenigstens unter der großen Mehrzahl herrschen, denn im allgemeinen stimmen die Erfahrungen (die vom gleichen Standpunkt von oben herab, nicht von unten herauf gemacht worden sind) überein, im einzelnen gehen sie auseinander; so einheitlich daher eine Maßnahme auch beschlossen worden sein kann ihrem allgemeinen Charakter nach, so zerfahren kann sie in den einzelnen Teilen sein, aus denen sie sich zusammensetzt, indem hier bald die Erfahrungen dieser bald jener den Ausschlag geben, und es kann sogar leicht geschehen, daß die Teile dem Ganzen derart widersprchen, daß sie es aufheben oder wenigstens daß Kompromisse im einzelnen die Kraft des Ganzen lähmen. Das ist freilich eine Gefahr, die den Beschlüssen jeder Versammlung anhaftet. Ein Senat wird aber auch leicht in den Fehler des zu langsamen Entschließens verfallen oder sogar in den Fehler der Kopflosigkeit und Entschlußlosigkeit bis zu naher Gefahr. Das Für und Wider in einer Versammlung wird sehr gern erörtert und jeder liebt es, seine Meinung zu äußern, wenn er halbwegs dazu imstande ist, jeder gibt gern seinen "Kren" [Meerrettich, bzw. Senf - wp] dazu, auch wenn er gar nicht beißt. Ist die Gefahr daher nicht zu nahe, die Notwendigkeit eines raschen Entschlusses nicht allzu einleuchtend, so kann es leicht geschehen, daß die richtige Zeit verpaßt wird und ein Entschluß erst erfolgt, nachdem es zu spät ist. Ist die Gefahr aber sehr nahe und die Einigkeit nicht groß oder reißt nicht ein Einzelner durch seine Geistesgegenwart den Senat mit sich fort, so kann in der Eile der Beratung leicht Kopflosigkeit eintreten, die verschiedenen Meinungen schwirren durcheinander und niemand kann sie zu einem einheitlichen Entschluß zusammenfassen. Entweder hat das Beschlossene dann weder Hand noch Fuß d. h. erreicht seinen Zweck nicht oder es kommt überhaupt zu keinem Entschluß: der Senat läuft auseinander. Schließlich aber leidet ein Senat leicht an Einseitigkeit des Standpunktes. Er kennt die Angelegenheiten des Gemeinwesens, aber er kennt sie nur von oben herab, er ist ein Vertreter der Vornehmen, der Lenker des Staates, er weiß, wie Maßnahmen zu fassen und durchzuführen sind, aber er kann oft nicht beurteilen, ob sie ihren Zweck erreichen, und kennt auch oft nicht das Ziel, das zu erreichen ist. Diejenigen, für die sie bestimmt sind, können allein wissen, wie sie sich dabei befinden, und können auch allein wissen, wo sie der Schuh drückt, auch wenn sie sich selbst nicht helfen können, weil sie keine Schuster sind. Schließlich ist ein Senat, wenn auch nicht am Anfang seines Bestehens, so doch später, wenn eine Bevölkerung entstanden ist, die er eigentlich nicht vertritt und nicht kennt, Vertreter von einseitigen Standesinteressen, er wird es wenigstens leicht. Jedem ist das Hemd näher als der Rock, das liegt in der Natur der Sache und gilt auch für den Fürsten; nur hat der Fürst bloß ein Hemd, ein Senat aber viele. Auch der Fürst leidet an einer Einseitigkeit des Standpunktes, auch er sieht die Sachen von oben herab, er braucht aber nicht einseitige Standesinteressen zu vertreten, er kann auch gegen den Adel für das Volk auftreten, doch ist er immer in Gefahr, die Dinge durch seine Umgebung hindurch zu sehen, und das ist meist der Adel. Betrachtet man die Funktionen der Volksversammlung vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus, so wird man zunächst finden, daß sie viele Fehler der beiden erörterten politischen Faktoren hat aber kaum einen ihrer Vorzüge. Ausgenommen dabei ist nur der Fall, wo das Gemeinwesen sehr klein ist, hier ist die Volksversammlung ebenso über alles unterrichtet wie ein Senat und kann auch tatsächlich an seine Stelle treten; nur ein Übelstand kann auch hier eintreten, ein Vorwiegen junger, unerfahrender Elemente, dem aber durch ein genügendes Hinaufsetzen des stimmfähigen Alters vorgebeugt werden kann. Wo die Volksversammlung aber ein größeres Gemeinwesen mit verschiedenartigen Interessen seiner Bevölkerungskreise regieren soll, hat sie alle Fehler eines Senates oft noch in verstärktem Grad. Es fehlt ihr nicht nur die Einheitlichkeit in der Durchführung von Maßnahmen, es fehlt ihr auch die Einheitlichkeit des Standpunktes. Die verschiedenartigen Interessen, welche eine solche Versammlung bewegen, haben auch eine Verschiedenartigkeit des Standpunktes zur Folge; dazu kommt, daß auch, was teilweise damit zusammenhängt, die Erfahrungen der Einzelnen sehr verschiedene und sehr oft ganz unzureichende sind. In einer bestimmten Frage steht daher meistens eine kleine Anzahl Erfahrener einer großen Anzahl Unerfahrener gegenüber; zu beschließen hat aber nicht die erfahrene Minorität, sondern die unerfahrene Majorität. Schließlich kann es in einer kleinen Versammlung gereifter Männer leichter zu einem gegenseitigen, möglichst vollkommenen Meinungsaustausch kommen und dadurch zu einem Ausgleich und einem einheitlichen Beschluß. In einer großen Versammlung mit vielen unreifen Elementen ist der Meinungsaustausch viel schwieriger; Unverständnis und Ungestüm macht ihn oft unmöglich, deswegen kommt es auch schwerer zu einheitlichen Beschlüssen. Weil die Einzelnen sich weder klar über ihre eigenen Meinungen (im Gegensatz zu denen anderer) noch über die anderer sind, so gewinnt sehr leicht ein Einzelner, der es versteht, die Leidenschaften der Massen (Eitelkeit auf ihre Macht, Habsucht, Neid usw.) zu benützen, Einfluß auf sie. Ja, es genügen oft ganz unklare Schlagworte, die sich in irgendwelchen einzelnen Fällen als Losungen zur Organisation der Masse bewährt haben, um die Menge zu begeistern, ohne daß sie selbst recht weiß wrum. Die Unerfahrenheit und Unbehilflichkeit der Masse, die keine Einheit bildet, gibt sie daher oft genug Volksführern preis, die richtiger Volksverführer genannt werden sollten. Die Masse fühlt selbst allzuwohl, daß sie weder einen gemeinsamen Leib noch eine gemeinsame Seele besitzt und daß ihr darin ein einzelnes Individuum aushelfen muß, welches ihr beide leiht. Daß der Volksversammlung auch die Einheitlichkeit in der Durchführung von Maßnahmen fehlt, ist nach dem Gesagten selbstverständlich und kann daher kürzer behandelt werden. Wo Erfahrung, Interesse, gegenseitige Kenntnis des Charakters und der Meinungen fehlt, kann es auch keine Übereinstimmung im Detail der beschlossenen Maßnahmen geben - außer das Detail ist das Werk eines Einzelnen, der aus welchen Gründen auch immer das Vertrauen der Volksversammlung besitzt, und dann ist es eben nich das Werk der Volksversammlung selbst. Auch die Raschheit des Entschluses fehlt der Volksversammlung überall da, wo sie nicht nur das Echo eines einzelnen Führers oder wenigstens einzelner Führer bildet. Eine Versammlung, die an Erfahrungen, Interessen und gegenseitiger Kenntnis der Ansichten so verschieden ist, kann zu keinem raschen Entschluß kommen, wo sich eine Ansicht erst selbst bilden soll. Ausgleich und Kompromiße sind ein langer Prozeß und einer raschen Beschlußfassung wenig förderlich. Ist es aber notwendig, einen raschen Beschluß zu fassen, vielleicht um irgendeiner Gefahr vorzubeugen, dann wird die Volksversammlung noch leichter kopflos als ein Senat; irgendwelche Schlagworte irgendwelche scheinbare Einsichten und Konsequenzen können sie leicht verführen, einem Führer zu folgen, der leichtsinnig oder ehrgeizig genug ist, sie selbst zu verderben. Ebensowenig wird man bei der Volksversammlung eine Vielseitigkeit des Standpunktes finden, daran verhindert sie das unvermeidliche Majoritätsprinzip. Diejenigen, die denken und ihre Erfahrungen selbständig verarbeiten, werden sich immer in der Minorität befinden, denn schwere geistige und körperliche Arbeit bedarf immer eines Zwangs der Umstände, dieser ist bei der geistigen Arbeit nur bei verhältnismäßig wenigen vorhanden.Ebenso werden diejenigen, welche Erfahrung in Regierungsangelegenheiten besitzen, sich in der Minorität befinden, weil in einer großen Volksversammlung doch nur wenige dazu Gelegenheit gehabt haben können. Schließlich werden auch die Besitzenden in der Minorität sein, wenigstens die in reicherem Maße Besitzenden. Die Majorität wird daher aus unerfahrenen, wenig nachdenkenden und wenig oder nichts besitzenden Individuen bestehen, die nur darin einen gemeinsamen Standpunkt haben, daßs sie alles von unten sehen, sowohl was Erfahrung und geistige Verarbeitung als auch was Besitz anbelangt. Im übrigen wird aber nicht die Vielseitigkeit des Standpunktes, sondern vielmehr eine Zerfahrenheit der Standpunkte herrschen. Denn ein vielseitiger Standpunkt ist derjenige, der Ausblicke nach allen Seiten gewährt: der Ausblick von oben. Wer unten steht, der sieht nur das Detail der Täler aber nicht das Ganze von Bergen und Talsystemen, es gibt dann Standpunkte der Einzelnen, aber keinen Standpunkt, der ihnen gemeinsam wäre und die vielen Standpunkte zu einer vielseitigen und vielseitig verwendbaren Einheit zusammenfassen würde - das kann nur jemand tun, der eben geistig oben steht. Auch der Besitzende steht insofern oben, als er die Einheit eines zusammengesetzten Besitzes und Erwerbs kennt - der Proletarier kennt nur seine getrennten Elemente.
1) Unter Gesetz verstehe ich hier nicht nur das geschriebene (gedruckte) Gesetz oder kodifizierte Recht, sondern jede Rechtsregel, nach der das Recht gehandhabt wir. Es ist klar, daß diese Regeln in entwickelten Gemeinschaften immer mehr zu Gesetzen im eigentlichen Sinn werden und schließlich im Rechtsstaat durchwegs geschriebenes (wenn auch nicht immer kodifiziertes wie in England) Recht sind. 2) Vgl. GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Seite 12f 3) Vgl. HEINRICH SCHURTZ, Urgeschichte der Kultur, Leipzig und Wien 1900, Seite 95f. 4) Der Begriff der öffentlichen Meinung ist, soviel weiß ich, noch wenig erörtert. Die Zergliederung ist sehr schwierig und das oben Geäußerte erhebt natürlich nicht den Anspruch, eine Erledigung des Problems zu sein. Jedenfalls ist aber dieser Begriff auch damit nicht erledigt, daß man die öffentliche Meinung als öffentlichen Tadel und öffentliches Lob bezeichnet. Denn nicht jedes öffentliche Lob und nicht jeder öffentliche Tadel ist auch eine öffentliche Meinung. Vgl. ANTON MENGER, Neue Staatslehre, Jena 1904, Seite 56f und desselben "Neue Sittenlehre", 2. Auflage, Jena 1905, Seite 10f. MENGER nimmt hier wie überall die außerrechtlichen Grundlagen des Rechts sehr leicht. Vgl. auch JELLINEK, a. a. O. Seite 92. 5) Vgl. E. MEYER, Geschichte des Altertums, Bd. 1, 1884, Seite 22f. Je weniger die öffentliche Meinung, desto mehr hatte natürlich das Herkommen (auch eine nicht organisierte öffentliche Meinung) in den orientalischen Monarchien zu bedeuten, und es war für jeden Herrscher gefährlich, dagegen zu verstoßen. 6) Auch MORGAN, Die Urgesellschaft, 1891, Seite 101f, nimmt diese drei Elemente aller Verfassungen an, glaubt jedoch seinen Anschauungen gemäß an einen demokratischen Anfang aller Verfassungen. Doch auch in diesem Fall könnten die obigen Erörterungen ihre Kraft behalten. 7) Vgl. MORGAN, a. a. O. Seite 72 |