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KARL von AMIRA
(1848-1930)
Vom Wesen des Rechts

"Denken wir uns eine kleine und isolierte Dauergesellschaft wie eine umherwandernde Horde. Ihre Glieder haben sich räumlich aneinander geschlossen, dem Trieb des Gleichen zum Gleichen gehorchend, einem Trieb, den ein stark empfindendes Schutzbedürfnis unterstützt. Schon dort zeigt sich eine gewisse Gleichförmigkeit und Sicherheit in der Wiederkehr bestimmter Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern. ... Schon dort also stoßen wir auf regelmäßige Lösungen von Interessenkonflikten - Lösungen, die im letzten Grund auf gegenseitige Anpassung zurückgehen und die wir vielleicht als Rechtsverhältnisse bezeichnen könnten."

"Gewiß ist, daß Gesetze auf vorzügliche Weise das rechtzeitige Bewußtwerden von Normen befördern. Aber die Normen entstehen nicht im letzten Grund durch das Gesetz. Denn das Gesetz kann selbst nur in Gemäßheit von Normen entstehen und wirken. Nicht der Gesetzgeber hat erstmals die Ordnung geschaffen. Er hat schon eine vorgefunden, der er sein eigenes Dasein, d. h. seine Zuständigkeit, verdankt. Die Normen, die er ausspricht, können darum, ihrer Menge ungeachtet, wie man auch schon bemerkt hat, nur sekundär sein. Die primären stecken in jener Ordnung, worauf die Wirksamkeit der Gesetzgebung beruth."

"Auch der Gesetzgeber kann nicht mehr als Menschenwerk vollbringen. Seine Aussprüche werden also schwerlich jemals eine absolute Verläßlichkeit besitzen, selbst wenn er sich nicht über die Ausführbarkeit seiner Satzungen täuscht. Deshalb werden sie stets der Auslegung bedürfen. Da jedoch die Auslegung mißraten kann, so ergibt sich die Möglichkeit, daß die Rechtsordnung ihren Weg im Widerspruch zum Gesetz geht, woraus sich nicht nur abermals das sekundäre Verhältnis des Gesetzes zum Recht, sondern auch die Verkehrtheit des blinden Gesetzeskultus und die Schwierigkeit eines richtigen Umgangs mit dem Gesetz erhellt."

"Der Gleichheitstrieb der Masse macht sie abgeneigt, dem Individuellen in den Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen, weswegen zwar Privilegien Ausnahmen bleiben, aber auch das Individuum zur Klage über die Ungerechtigkeit des Rechts gereizt und zum Unrecht verlockt wird. Inbesondere kommt zu bedenken, daß der Einzelne einen Widerspruch entdecken kann zwischen den Normen seiner Moral und denen, welche die gesellschaftliche Masse als Recht durchsetzt."

Mit der Natur des Rechts haben sich seit Jahrtausenden die Denker fast aller Kulturvölker beschäftigt. Allein das Ergebnis bestand aus Meinungsgegensätzen, die mit zunehmender Schärfe hervortraten. Und doch, je bewußter sich unser gesamtes Leben gestaltet, desto mehr drängt es uns - und zwar auch diejenigen, die sich nicht berufsmäßiig mit dem Recht befassen -, Klarheit zu erlangen über die Grundfrage allen Wissens um das Recht. Denn an uns alle ergeht stündlich das Gebot und wir alle fordern von uns gegenseitigf, daß wir uns dem Recht fügen, und hinwiederum erwarten wir voneinander, daß wir für das Recht kämpfen. Außerdem aber: was es uns leisten kann, wie mit ihm umgehen und unter welchen Bedingungen einer berufen ist, es zu pflegen, das alles scheint doch davon abzuhängen, was das Recht selbst ist.

Wenn ich mich nun anschicke, zur Antwort hierauf meinen Beitrag zu liefern, so vermesse ich mich nicht nur nicht, das letzte Wort darüber zu sprechen, sondern auch nicht, eine durchweg neue Ansicht aufzustellen. Vielmehr dürfte es sich darum handeln, die Gesichtspunkte zu finden, worunter einiges von dem, was andere geäußert haben, sich halten läßt, und sodann dieses Haltbare unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen.

Um uns dem Gegenstand zu nähern, müssen wir vorerst einige Hindernisse aus dem Weg räumen. Nimmer läßt sich eine Verständigung erwarten, solange jeder nach eigenem Gutdünken einer Erscheinung oder einem Zusammenhang von Erscheinungen den Namen des Rechts beilegt, sondern wir müssen uns auf dem Boden der gewöhnlichen Vorstellungen bewegen, die auftauchen, wenn wir vom Recht sprechen und wenn andere Nationen, insbesondere die, mit denen wir unsere Gedanken austauschen oder austauschen könnten, sich eines im Sprachgebrauch gleichwertigen Wortes bedienen, und zwar auch auf die Gefahr hin, daß diese Vorstellungen nicht ohne weiteres und nicht vollständig mit dem Wesen der Sache übereinstimmen sollten.

Da zeigt sich dann vor allem, daß wir das Recht nicht suchen dürfen, wo keine menschliche Gesellschaft ist. Wir sagen: es besteht bei dem und dem Volk, wonach wir es sogar benennen (deutsches, französisches, englisches, römisches Recht usw.) Wir sagen auch, es besteht unter den Mitgliedern eines bestimmten Geschlechts, einer Körperschaft, einer religiösen Gesellschaft. Dagegen zaudern wir, es tierischen Gesellschaften zuzuschreiben. Wir würden uns auf eine solche Übertragung erst einlassen, wenn die wesentlichen Merkmale des menschlichen Rechts schon feststehen und ferner feststehen würde, daß sie nicht notwendig eine menschliche Gesellschaft voraussetzen.

Finden wir aber das Recht bei den Menschen, dann muß es etwas sein, was sich beobachten läßt, kann es folglich nichts Supranaturalistisches, nichts Mystisches sein, woraus sich dann auch erklärt, daß eine anerkannte Wissenschaften das Recht zu ihrem Gegenstand machen kann. Wohl messen gewisse, insbesondere orientalische Völker und gewisse Religionsgesellschaften ihrem eigenen Recht eine übernatürliche, eine göttliche Herkunft bei. Aber die Wissenschaft davon hat zum Gegenstand nur den der Beobachtung zugänglichen Glauben an ein solches Recht, seine Bedingungen, seine Erhaltungf, seine Veränderungen, nicht das Recht selbst. Sie ist nicht Rechtswissenschaft, sondern Mythologie oder Theologie.

Und weiter: treffen wir das Recht nur bei sozialen Gruppen von Menschen an, so kann es nichts sein, was sich am einzelnen Individuum beobachten lassen würde, und also nichts, worüber die Individualpsychologie belehren könnte, nichts z. B., das Sache des menschlichen Gewissens und aus ihm zu entwickeln wäre, nichts auch, was der Mensch für sich allein aus einer sonstigen inneren Wahrnehmung schöpfen könnte.

Schreiben wir aber einmal irgendeiner sozialen Gruppe ein Recht zu, so geschieht das in der Vorstellung eines Regelkomplexes, der das gegenseitige Verhalten ihrer Glieder zu bestimmen scheint. Wir sagen, das Recht gilt bei ihnen, wird von ihnen befolgt oder angewandt. Zugleich freilich sind wir uns auch darüber klar, daß diese Bestimmung ihres Verhaltens nicht ausnahmslos stattfindet. Also nur ein engerer Kreis von regelmäßigen sozialen Erscheinungen heißt uns Recht, keinesfalls diejenigen, worin wir bloß das Wirken von Naturgesetzen erkennen. Andererseits werden wir wegen Mangels der Regelmäßigkeit kein Recht dort suchen, wo die Geltung nur so kurze Zeit andauert, daß eine häufige Wiederkehr von Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern nicht vorkommen kann, aber auch dort nicht, wo ihr Verhalten lediglich durch einen willkürlichen - und sei es auch nur psychischen - Zwang bestimmt wird. Den Willen eines beliebigen Machthabers oder einer Bande von Machthabern als Recht zu benennen, waren wir bisher so wenig geneigt, daß wir ihn viel eher dem Recht entgegensetzen. Immerhin verbindet sich mit der Vorstellung des Regelmäßigen noch der Gedanke an gewisse Folgen, die sich an das Übertreten der Regeln knüpfen, Folgen, die gemeinhin der Übertreter als ihm nachteilig empfindet. Auf den Vorhalt, daß etwas Rechtens ist, stellt sich oft genug die Frage ein, was einem geschieht, wenn man es anders macht. Allerdings die nähere Bestimmung dieser Folgen gehört zu den gerade neuerdings meist problematischen Seiten unseres Gegenstandes.

Halten wir dies alles fest, so scheiden wir schon damit unter den vielen Theorien, welche die Prinzipien des Rechts ergründen wollten, eine ganze Reihe aus, von rein mythologischen abgesehen, die theologischen, die metaphysischen, die (vermeintlich) "realistischen". Bleiben übrig jene anderen, die auf dem Grund reiner Beobachtung des Gegebenen dem Problem beizukommen suchen. Aber auch unter ihnen geraten die meisten schon darum auf Abwege, weil sie die Zahl und die Art der sozialen Gruppen, woran sie ihre Beobachtungen sammeln, viel zu eng begrenzen. Gewöhnlich berücksichtigt man nur zivilisierte Nationen; ja man liebt es, sich auf die europäischen zu beschränken, und auch diesen schenkt man zumeist nur auf ihren jüngeren Entwicklungsstufen und nur in derjenigen Organisationsform Aufmerksamkeit, die man den Staat nennt. Viel seltener beachtet man die Gruppen über den Staaten, seltener auch die Religionsgesellschaften, am seltensten die Gruppen innerhalb des Staates und der Religionsgesellschaft. Und doch scheint die Meinung zumindeste vorzuherrschen, es gebe ein Recht einer Völkergemeinschaft, die mehrere Staaten umfaßt, hat ferner die Wissenschaft seit Jahrhunderten ein Recht von Religionsgesellschaften, insbesondere ein Kirchenrecht, aber auch ein Recht von Gemeinden und anderen Körperschaften in Staat und Kirche gelehrt, hat sie ferner das Recht der Kulturvölker zurückverfolgt bis zu den frühesten erreichbaren geschichtlichen, ja - auf vergleichendem Weg - bis zu vorgeschichtlichen Stufen, ist sie endlich dazu übergegangen, das Recht auch bei solchen Völkern aufzusuchen, die auf jenen frühen Entwicklungsstufen noch heute verharren. Vor diesen Erscheinungen den Blick zu verschließen, wäre unwissenschaftlicher Eigensinn, den man nur schlecht bemänteln würde, wenn man sich auf die angebliche Unvollkommenheit der Rechtsmerkmale bei ihnen berufen wollte, während die Merkmale ja überhaupt erst aufgeklärt werden sollen. Außerdem ist aber noch zu überlegen, daß uns das Recht weit weniger dort, wo seine Erscheinungsform verwickelt, als dort, wo sie einfach ist, seine wesentlichen Züge offenbaren wird. Denn je verwickelter die Form, desto eher kann sie uns dazu verleiten, sie mit der Sache zu verwechseln. Aus diesem Grund gehe ich jetzt von einem Schema primitiver Rechtszustände aus.

Denken wir uns eine kleine und isolierte Dauergesellschaft wie eine umherwandernde Horde. Ihre Glieder haben sich räumlich aneinander geschlossen, dem Trieb des Gleichen zum Gleichen gehorchend, einem Trieb, den ein stark empfindendes Schutzbedürfnis unterstützt. Schon dort zeigt sich eine gewisse Gleichförmigkeit und Sicherheit in der Wiederkehr bestimmter Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern. Einander gegenüber enthalten sie sich leiblicher Verletzungen, je öfter und je entschiedener sie gegen gemeinschaftliche Feinde zusammenstehen. Sie pflegen engeren Verkehr innerhalb der eigenen Altersklasse und vermeiden insbesondere den sexuellen außerhalb eben dieser Klasse. Das Werkzeug, die Waffe, das Kleid, das Schmuckstück, das sich einer selbst gefertigt hat, vielleicht sogar die Jagdbeute, die er mit fortgetragen hat, lassen sie in seinem Besitz. Schon dort also stoßen wir auf regelmäßige Lösungen von Interessenkonflikten - Lösungen, die im letzten Grund auch wieder auf gegenseitige Akkomodation [Anpassung - wp] zurückgehen und die wir vielleicht als Rechtsverhältnisse bezeichnen könnten, wenn wir sie mit analogen bei zivilisierten Völkern vergleichen, wo wir an ihrem rechtlichen Charakter keinen Augenblick zweifeln. Denn auch hier ein Schutz von Leib, Leben und Besitz, eine Gruppierung innerhalb der Gesellschaft, eine Regelung des Geschlechtsverkehrs. Oder sollte die Ähnlichkeit nur scheinbar sein? Darauf könnte deuten, daß die Regelmäßigkeit sich auf noch mancherlei andere Beziehungen erstreckt, als da sind Tracht und Wohnung, Material und Gestalt von Werkzeugen, Geräten und Waffen, Suche und Zubereitung von Nahrungsmitteln, Spiele und Feste, Pflege von Kranken und Gestorbenen, von Geistern und Fetischen, kurz alles, was unter den Begriff von Sitte und Brauch fällt. Man hat dann auch geglaubt, das Vorhandensein von Recht auf dieser Kulturstufe leugnen zu müssen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, man hat gesagt, es handelt sich da höchstens um eine Vorstufe des Rechts, um ein Recht, das noch ganz mit der Sitte zusammenfällt.

Jedoch bei genauerem Zusehen entdecken wir erhebliche Unterschiede. Die Regelmäßigkeit wird keineswegs in allen Fällen auf dieselbe Art erhalten. Die Gleichheit von Tracht, Werkzeug, Waffe, Gerät und noch manche andere Gleichheiten reichen nicht weiter als die Kraft des Nachahmungstriebes, auf dem sie beruhen. Sie lassen nicht nur zahllose Abweichungen im Einzelnen zu, sondern sie werden auch von dem Streben nach Zweckmäßigkeit überwunden, das die Gebrauchsgegenstände vervollkommnet, ja sogar schon von der Selbstgefälligkeit und Eitelkeit, die nach Unterscheidungszeichen, zum Beispiel im Schmuck, verlangt. Anderes wird zwar unverbrüchlich festgehalten. Aber dies bewirken Rücksichten der Kultur, wie zum Beispiel bei vielen Festen und bei allen Totengebräuchen. Man folgt peinlich den Ritualen, weil man sich vor den Geistern fürchtet. Wesentlich anders liegt die Sache bei der übriggebliebenen dritten Klasse von regelmäßig wiederkehrenden Beziehungen. Von der zweiten unterscheidet sie sich dadurch, daß sie nichts mit dem Kult zu schaffen hat und schon darum Störungen leichter unterliegt, von der ersten aber dadurch, daß an Störungen der einen und der anderen sich höchst verschiedene Folgen knüpfen. Wer etwa in Bezug auf Tracht, Werkzeug, Waffe, Gerät, Spiel seine eigenen Wege geht, setzt sich schlimmstenfalls einer ungünstigen Bewertung in den Augen seiner Genossen aus. Wer dagegen einen Angehörigen der Horde tötet oder verletzt, oder ihm den Besitz der von ihm gefertigten Sachen entzieht, wer mit einem Angehörigen einer anderen Altersklasse geschlechtlich verkehrt, der erregt in der Masse der selbständigen Gruppenmitglieder einen solchen Abscheu, daß sie sich gegen ihn zusammenrottet und ihn erschlagen oder zur Flucht aus ihrem Wohngebiet nötigen. Sie empfinden sein Verhalten als "Missetat", das heißt als fremdartig und insofern als abnorm, weil er sich ihnen nicht in ausreichendem Maß assimiliert hat; aber diesmal ist die Empfindung des Fremdartigen von einem Unlustgefühl begleitet, das sich nur durch die Abstoßung des entarteten Gesellschaftsteils beschwichtigen läßt. Eben durch das Motiv unterscheidet sich dieser Vorgang von anderen sonst ganz ähnlichen, wie z. B. wenn der bei einem Kulttanz hinstürzende Tänzer sofort von den Genossen getötet wird, oder wenn gar leblose Gegenstände, durch die jeman seinen Tod gefunden hat, aus dem Wohngebiet weggeschafft werden. Hier ist es nicht Abscheu vor menschlichem Verhalten, sondern Furcht vor einer über- oder außermenschlichen Macht, was zum Beseitigen des gefährlichen Objekts veranlaßt. Das Verfahren hält sich auf der Linie einer hygienischen Maßnahme, ganz so wie das Töten von neugeborenen Kindern und von Greisen.

Die Grundzüge dieses Bildes ergeben eine Ordnung von Lebensverhältnissen, entstanden durch Anpassung an die zur Zeit förderliche Lösung von Interessenkonflikten, erhalten aber nicht lediglich durch eine erneute Anpassung, sondern auch durch die Abstoßung all dessen, was sich nicht anpaßt. Eine sehr belangreiche Möglichkeit allerdings, wovon ich bis jetzt noch nicht gesprochen habe, müssen wir hier vorbehalten. Das Unlustgefühl, welches in der Masse durch das Abnorme erweckt wird, kann unter Umständen Lustgefühlen weichen, wie sie namentlich der Anblick des Zweckmäßigeren hervorruft. In solchen Fällen sieht sich die Masse statt zur Abstoßung des immer noch Fremdartigen zur eigenen Anpassung an dieses getrieben, so daß die gestörte Ordnung einner neuen Platz macht - einer der gewöhnlichsten Vorgänge beim Aufkommen von Herrschergewalten und von privilegierten Klassen, ganz zu schweigen von den weniger tief einschneidenden Änderungen in den überkommenen Institutionen.

Weder bei dieser, noch bei irgendeiner anderen Anpassung nun und auch nicht bei der Abstoßung geht es in der primitiven Gesellschaft ohne Überlegen, ohne Vergleichen, ohne Urteilen, kurz ohne Vernunfttätigkeit ab. Jedoch die Regeln, die sich in der Ordnung äußern, sind von niemand ersonnen oder gelehrt. Vom wissenschaftlichen Forscher sind sie aus der Fülle der Einzelvorkommnisse abgezogen. Die Gruppenglieder selbst befolgen sie, indem sie ihrer unbewußt dem Hergebrachten oder auch dem Neuen sich anbequemen, also gewohnheitsmäßig. Da das begriffliche Denken bei ihnen noch unentwickelt ist, wären sie schlechterdings außerstande, Regeln zu formulieren. Selbst den Gegensatz des Normalen und des Abnormen, nachdem sie einmal auf ihn aufmerksam gemacht worden sind, veranschaulichen sie sich nur unter Bildern. Die vorgeschichtlichen Germanen, Kelten und Slawen, vielleicht sogar Indogermanen z. B. nannten das normale Verhältnis unter den Gruppengliedern das Gerade, das Abnorme das Ungerade, Krumme, die vorgeschichtlichen Lateiner jenes wahrscheinlich das Reine, Saubere, dieses das Unreine, Schmutzige. Damit aber stehen wir vor den Grundbedeutungen von germanisch und keltisch "Recht" (recto) und Unrecht, slawisch prawu und kriwu, lateinisch jus und injuria. "Recht" heißt jedoch einstweilen nur das dem Assimilationsbedürfnis entsprechende konkrete Lebensverhältnis. Was der moderne Systematiker "subjektives" Recht nennt, ist davon eine unter mehreren Erscheinungsformen - die individuelle Willensmacht in einem bestimmten Interessenkreis.

Begleiten wir die Gesellschaft, nachdem sie die Seßhaftigkeit erreicht hat, noch auf ihre nächsten Entwicklungsstufen. In Varianten kehren hier die Charakterzüge des frühesten Rechtszustandes wieder, und der Hauptunterschied beruth nun darin, daß die Menschen sich ihrer rechtlichen Ordnung bewußt werden. Diese differenziert sich weiter. Die "rechten" Lebensverhältnisse und ebenso die Bedingungen ihres Eintritts, ihrer Veränderungen, ihres Untergangs vermehren sich. Alte werden durch neue, die sich als die besseren bewähren, ersetzt. Alle bekommen sie ihre technischen Namen. Besondere Beachtung aber verdient, daß mehr und mehr zum Typus aller Rechtsgründe der Vertrag wird, d. h. das Sichversöhnen oder die Form des bewußt gegenseitigen Sichanbequemens. Das Abstoßen des Unrechten vollzieht sich auf weniger leidenschaftliche Art. Die Masse überläßt es vorerst dem Verletzten, seinen Altersgenossen, seinen Verwandten, Genugtuung zu nehmen, was aber noch im Affekt geschehen darf und darum nicht immer unmittelbar am Täter zu geschehen braucht. Die Tendenz, sich seiner zu entledigen, bleibt doch bei der Gesamtheit der Gruppengenossen zurück, weshalb dann auch noch lange Zeit jeder Beliebige seinen Mut an ihm kühlen mag. Ohne diesen Hintergrund - die "Friedlosigkeit" des "Friedensbrechers" - würde ein freies Spiel von Selbsthilfe oder Rache die Ordnung nich erhalten, sondern stürzen. Bleibt es aber nicht bei der Friedlosigkeit, so kleidet sich - besonders unter dem Einfluß von Kultzwecken - das Ausstoßungsverfahren in die festen, aber sich auch wieder differenzierenden Formen der Todesstrafe. Andererseits zweigen sich von der Friedlosigkeit mildere Arten ab, die es dem Ausgestoßenen ermöglichen, sich durch Unterwerfungsakte die Rückkehr in die Genossenschaft zu erkaufen, d. h. sich nachträglich der bestehenden Ordnung anzupassen. Man sieht, die Gegenwirkungen gegen das Unrechte vervielfältigen sich. Denn das Unrechte wird jetzt gemessen, die Gegenwirkungen treten zu ihm in ein quantitatives Verhältnis. Der Sinn für Gerechtigkeit ist erwacht. Geweckt haben ihn dieselben Fortschritte des begrifflichen Denkens, die auch die schon angedeutete Befestigung der Terminologie mit sich brachten. Sie sind es, die nun auch einen allgemeinen Begriff des Rechten ermöglichen. Das Gerade oder Rechte erblickt man nicht mehr bloß in dem zu einem bestimmten Zeitpunkt geordneten Lebensverhältnis, sondern in dem Typus, den man von ihm und seinesgleichen abstrahiert, und weiterhin in der Gesamtheit aller derartigen Typen. Damit tritt in das Bewußtsein, was wir das "objektive" Recht nennen. Vielleicht beginnt auch schon das Nachdenken über seinen Ursprung. Dann entspricht es durchaus einem Mangel an Selbstbeobachtung und dem phantastischen Charakter des Geisteslebens gewisser jugendlicher Völker, wenn sie sich die Typen alles Geordneten erklären als Erfindungsprodukte eines Heroen oder eines Gottes, den sie sich als Lehrer, als Ordner, als Gebieter denken. Von hier aus erscheinen jene Typen als vorgezeichnet in Ratschlägen oder in Geboten oder Verboten, oder, wie Neuere sagen, in "Normen". Für uns aber bleibt auch jetzt noch das Recht, solange sich unser Blick durch solche mythologische Zutaten nicht trüben läßt, was es zuvor war: eine soziale Massenerscheinung, die Ordnung entstanden durch Anpassung und erhalten durch Abstoßung des Assimilationsunfähigen. Durch das letztgedachte Merkmal bleibt es auch unterschieden von einer inzwischen neugegründeten Ordnung, worin die Menschen ihr gegenseitiges Verhalten durch ihre Werturteile bestimmen, der moralischen Ordnung, die nach dem Mythos häufig mit dem Recht zusammenfällt und in Wirklichkeit, je nach Verbreitung der Werturteile, den Inhalt des Rechts beeinflußt.

Einen durchaus veränderten Anblick nun freilich gewährt, wenn wir die vermittelnden Zwischenstationen überspringen, das Rechtsleben auf den Höhen der Kultur. Schon sein Schauplatz nimmt sich ganz anders aus. Es spielt sich ab, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vornehmlich innerhalb einer Gemeinschaft von Wesen, der ungezählte Zwecke gesetzt, und worin die dazu nötigen Funktionen auf höchst komplizierte Weise verteilt sind - im Staat. Die Menge aller Typen des Geordneten hat sich bis zum Unübersehbaren vermehrt, und gleichwohl sindd sie alle logisch definiert, in "Normen" und "Rechtssätzen" beschrieben, nach ihren Zwecken analysiert, systematisiert. Ein besonderer Berufsstand hat diese Arbeit vollbracht, und in Bergen von Büchern fährt er fort, ihre Früchte anzuhäufen. Aber nicht genug damit. Den Staat selbst sehen wir an einem derartigen Schreibwerk. Eines seiner obersten Organe, der "Gesetzgeber", hat seit Jahrhunderten das Erlassen von Geboten und Verboten jenen legendären Heroen und Göttern aus den Hand genommen, und kaum eine Lebensbeziehung gibt es mehr, worüber er nicht irgend etwas "verordnet" hat. Manche hat er sogar selbst erst dadurch hervorgerufen. Und stets zeigt er sich dabei vin einer zumindest vermeintlich zweckmäßigen Erwägung beseelt. So gewinnt man den Eindruck, als gingen aller rechtlichen Ordnung Normen und Satzungen voraus, als werde jene erst in diesen geplant und durch sie ermöglicht. Wie aber ihr Schöpfer, so scheint der Staat auch ihr Erhalter. Mittels eines reich gegliederten Systems von Zwangshandlungen sucht er den Normen die Befolgung zu sichern. Nur noch ausnahmsweise und unter sorgfältig abgemessenen Bedingungen duldet er Selbsthilfe. Soll es aber zu einer Zwangshandlung kommen, so will er durch seine Gerichte geprüft haben, ob und inwieweit die Ordnung geschädigt ist und der Erhaltung oder des Ausgleichs bedarf. Darum steigert sich der vorhin gewonnene Eindruck. Es scheint jetzt, als sei überhaupt das Recht nur durch den Staat da. "Das ganze Recht", hat man gesagt, stellt sich dar "als die durch die Staatsgewalt organisierte und gehandhabte Zwangsmaschinerie". Nun sind aber die Organe, wodurch der Staat seine Tätigkeit für das Recht entfaltet, außer dem Gesetzgeber hauptsächlich seine Beamten. Das Recht sieht daher so aus, als sei es von diesen gemacht und demgemäß von spezifisch bürokratischer Art, eine Vorstellung, deren wir uns umso weniger leicher erwehren, je öfter wir einen beträchtlichen Teil des Rechts in Schreibstuben gepflegt sehen.

Doch dürfen wir uns durch den äußeren Eindruck nicht täuschen lassen. Haften wir nicht an der Oberfläche, so erkennen wir, daß er nur von Begleiterscheinungen herrührt, die das Recht unter modernen Daseinsbedingungen umgeben. Daß der Staat nicht dem Recht vorangeht, das Recht nicht erst durch ihn geschaffen wird, ersehen wir schon daraus, daß kein Staat ohne Verfassung, d. h. ohne geordnete Funktionsverteilung unter seine Glieder gedacht werden kann, diese Funktionsverteilung aber selbst schon zum Inhalt des Rechts gehört. Doch wäre damit noch die Meinung vereinbar, Recht und Staat seien aufeinander angewiesen, folglich gleichzeitig und das Recht nur im Staat. Wie wenig jedoch selbst in moderner Zeit das Recht, um zu entstehen und zu bestehen, des Staates bedarf, beweisen die Rechte religiöser Verbände, insbesondere der Kirchen. Denn weit entfernt, ihr Recht vom Staat zu empfangen, erzeugen und bewahren sie es unter Umständen im Kampf mit dem Staat und im Widerspruch mit seinem Recht, erzeugen und bewahren sie es ferner ohne Rücksicht darauf, ob ihre Gläubigen zu einem bestimmten Staat gehören. Das Bekenntnis, das diese vereinigt, läßt sich nicht willkürlich wechseln wie ein Kleid. Es beherrscht daher ihre Rechtsvorstellungen, indem es sie zumindest begrenzt, vielleicht sogar erfüllt. Dies befähigt ihr Recht, was Dauerhaftigkeit seines Inhaltes und Sicherheit seiner Befolgung betrifft, es dem staatlichen sogar zuvorzutun. Den autonomen Vereinen innerhalb des Staates freilich fehlt ein eigenes Bekenntnis, das die Unterlage für eine selbständige Rechtsbildung abgeben könnte. Nichtsdestoweniger empfangen auch sie ihr Recht so wenig vom Staat wie die autonomen Vereine innerhalb einer Kirche ihr Recht von dieser empfangen. Man hat versucht, es vom Staat abzuleitenn, da es vom Staat "geduldet" wird. Eine wertlose, weil eine erschlichene Konstruktion. Denn jene Duldung, um die es sich hier handeln würde, besteht in reiner Untätigkeit. Dadurch aber kommt weder ein Recht noch irgendetwas anderes zustande. Wir haben es also mit einer baren Fiktion zu tun. Einen besseren Schein für sich hat ein Ableitungsversuch, der auf die Staatstätigkeit verweist, womit die Ordnung in der Kirche und den autonomen Verbänden erhalten wird. Dies trifft jedoch weder im vorausgesetzten Umfang, noch in der vorausgesetzten Weise zu. Nicht im vorausgesetzten Umfang: denn Kirche und autonomer Verband wenden, um ihre Ordnung zu erhalten, außer den staatlichen auch solche Mittel an, die der Staat nicht besitzt, die in seiner Hand auch gänzlich versagen würden. Aber auch die Art, wie der Staat im Dienst jener Ordnungen eingreift, unterscheidet sich von der, wie er seine eigene Ordnung erhält. Nur im ersten Fall, nicht auch im zweiten sagen wir, er "leiht" seinen Arm. Das heißt, er vermehrt die Mittel, die der ihm fremde, wenn auch von ihm begünstigte Verein selbst anwendet.

Die staatliche Beheimatung wird man also aus den Merkmalen selbst des gegenwärtigen Rechts wohl streichen müssen. Ebensowenig wesentlich ist ihm aber sein Dasein in einer organisierten Gemeinschaft überhaupt. Gewiß, nur in einer solchen kann es zu Gesetzen kommen, und nicht weniger gewiß ist, daß Gesetze auf vorzügliche Weise das rechtzeitige Bewußtwerden von Normen befördern. Aber die Normen entstehen nicht im letzten Grund durch das Gesetz. Denn das Gesetz kann selbst nur in Gemäßheit von Normen entstehen und wirken. Nicht der Gesetzgeber hat erstmals die Ordnung geschaffen. Er hat schon eine vorgefunden, der er sein eigenes Dasein, d. h. seine Zuständigkeit, verdankt. Die Normen, die er ausspricht, können darum, ihrer Menge ungeachtet, wie man auch schon bemerkt hat, nur "sekundär" sein. Die "primären" stecken in jener Ordnung, worauf die Wirksamkeit der Gesetzgebung beruth. Das ist aber jenes Recht, das wir Gewohnheitsrecht nennen, jenes einzige Recht, das wir in der primitiven Gesellschaft vorgefunden haben. Das einzige bleibt es in Wahrheit auch heute, weil es auch jetzt noch allein die primären Normen enthält und unter ihnen die Blanko-Normen, in deren Ausfüllung das Amt des Gesetzgebers besteht. Als prinzipiell verkehrt erweist sich damit der so oft wiederholte Versuch von Gelehrten, das Gewohnheitsrecht aus dem Gesetz abzuleiten, wobei man wieder vergeblich die Duldungstheorie zu Hilfe gerufen hat, - als verkehrt auch der Versuch von Gesetzgebern, das Gewohnheitsrecht für die Zukunft einzuschränken oder gar zu verbieten. Solchen Versuchen winkt keine praktische Aussicht, weil die Ordnung, wenn überhaupt einmal eingetreten, sich nicht an vorausgegangene Normen kehrt, sie vielmehr überwindet.

Dies führt uns sofort weiter. Alle Normen und Rechtssätze überschätzt man, wenn man in ihnen das Wesen des Rechts erblickt. Wenn wir auch abermals zugestehen, daß sie das bewußte Sicheinfügen in die Ordnung mächtig erleichtern, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß sie für sich allein etwas rein Theoretisches sind, gleichviel von wem, wo oder mit welcher Emphase [Nachdruck - wp] sie ausgesprochen sein mögen. Ordnung aber und also auch das Recht kann nur als Praxis Wirklichkeit gewinnen. Schon darum ist selbst das Gesetz für sich allein kein Recht, sondern nur ein Projekt des Rechts, ein Projekt, das erst noch auf Ausführung wartet, - vielleicht in Ewigkeit vergebens wartet, wenn es nämlich unausführbar ist. Einem unausführbaren Gesetz wird auch kein Paragraphenschwärmer den Namen des Rechts zugestehen - und dann wohl auch nicht einem Gesetz, das zwar ausführbar wäre, aber infolge des Mangels an gutem Willen nicht ausgeführt wird. Die Normen und Rechtssätze sind aber, weil nun einmal das Recht praktische Ordnung ist, nicht nur nicht das ganze Recht, sie sind auch kein Teil des Rechts, sie sind bloß Auskünfte über das Recht. Man hält sich an sie, sofern man ihrer Wahrhaftigkeit vertraut. Zeichnet man die gesetzlichen durch ein erhöhtes Vertrauen aus, so geschieht dies nur aufgrund der vorhin erwähnten primären Normen, d. h. weil die organisierte Gesellschaft den Gesetzgeber vor anderen dazu berufen hat, über den Inhalt ihres Rechts Auskunft zu erteilen. Darum kann einem fremden Gesetzbuch die gleiche Verläßlichkeit zukommen, wie einem einheimischen, wenn es nämlich durch die primären Normen, wie man zu sagen pflegt, "rezipiert" ist. Aber auch der Gesetzgeber kann nicht mehr als Menschenwerk vollbringen. Seine Aussprüche werden also schwerlich jemals eine absolute Verläßlichkeit besitzen, selbst wenn er sich nicht über die Ausführbarkeit seiner Satzungen täuscht. Deshalb werden sie stets der Auslegung bedürfen. Da jedoch die Auslegung mißraten kann, so ergibt sich die Möglichkeit, daß die Rechtsordnung ihren Weg im Widerspruch zum Gesetz geht, woraus sich nicht nur abermals das sekundäre Verhältnis des Gesetzes zum Recht, sondern auch die Verkehrtheit des blinden Gesetzeskultus und die Schwierigkeit eines richtigen Umgangs mit dem Gesetz erhellt. Sind aber alle Normen und Rechtssätze nur Auskünfte über das Recht, so erhellt sich endlich, daß die heiß umstrittene Frage nach ihrer logischen Klassifikation und nach dem Schema ihrer sprachlichen Fassung, welchen Wert man ihr auch sonst beilegen mag, nichts mit dem Wesen des Rechts zu tun hat.

Besteht dieses heute wie von jeher in einem geordneten Zusammenleben der Gesellschaftsglieder, so kommt es nur noch darauf an, ob diese Ordnung auch noch heute so erhalten wird wie ehedem. Sie wird größtenteils erhalten, indem der Einzelne ihre Regeln im Gefühl einer Notwendigkeit befolgt, d. h., wie wir wiederum sagen können, indem er sich der bestehenden Ordnung anpaßt. Die Anpassung spielt aber im modernen Recht keine stärkere, eher eine geringere Rolle als im primitiven, weil die fortschreitende Kultur die Individualität der Menschen schärfer ausprägt als die beginnende. In dieser Hinsicht liegt also ein spezifischer Unterschied nicht vor, und zwar umso weniger, als auch jetzt noch das Befolgen der Regeln keineswegs auch nur in der Mehrzahl der Fälle davon abhängt, daß sie deutlich erkannt sind. Ein spezifischer Unterschied zeigt sich aber auch nicht in dem äußersten und für das Wesen des Rechts entscheidenden Fall, wo die Anpassung an das Bestehende unterbleibt. Das Recht ist weder von der Sitte noch von der Moral absorbiert. Paßt sich nicht die Masse dem Abnormen an, so daß aus Unrecht Recht wird, - was sich auch in modernen Zeiten noch oft genug ereignet hat, - so schreitet sie zur Ausschaltung dessen, was ihrer Ordnung widerstrebt. Kirchen und autonome Gruppen machen von der Ausschließung assimilationsunfähiger Mitglieder einen unmittelbaren und reichlichen Gebrauch. Weniger deutlich tritt derselbe Vorgang allerdings in der Völkergemeinschaft zutage, und hierin liegt dann auch die Schwäche ihres Rechts. Da pflegt die Masse den Weg der eigenen Anpassung vorzuziehen, indem sie den Ausgang der Selbsthilfe abwartet und sich bei ihm beruhigt. Allein Kollektivinterventionen, Koalitionen und internationale Mandate erweisen, daß ihr doch noch eine andere Wahl offen steht. Nahezu verschwunden scheint auf den ersten Blick die Abstoßung des Normwidrigen aus dem staatlichen Recht. Nach Bedingungen und Formen geregelt, kommt sie nur noch ausnahmsweise als Todesstrafe vor, und selbst diese ist aus den modernsten Strafsystemen gänzlich beseitigt. Auch auf die Friedlosigkeit verzichtet die im heutigen Staat organisierte Gesellschaft. Sie glaubt es zu müssen, um nicht im Dienst der Ordnung die Ordnung zu gefährden, und sie glaubt es zu können, weil Staatseinrichtungen aller Art zumindest im gewöhnlichen Lauf der Dinge dafür sorgen, daß dem Unrecht sein Ausgleich folgt und so die Akkomodation sich verallgemeinert. Jedoch keines Staates Einrichtungen reichen aus, um elementare Ausbrüche der Massenreaktion gegen das Unrecht für immer auszuschließen. So sie versagen, droht die Lynchjustiz, wo sie überhaupt fehlen, die Staatsumwälzung, wobei noch zu bedenken ist, daß wohl der Jurist, nicht aber die Masse zwischen Unrecht und Mißbrauch des Rechts unterscheidet. Ob in solchen gewaltsamen Reaktionsformen eine Selbstbehauptung des Rechts gefunden werden kann, bestimmt keine Theorie, auch keine gesetzliche, sondern stets der Erfolg.

Bleibe ich nach all dem bei meiner Auffassung des Rechts als einer sozialen Massenbetätigung, so betone ich damit in einem noch höheren Sinn, als es gewöhnlich geschieht, seinen historischen Charakter. Geschichtlich ist es nicht etwa bloß in dem Sinn, wie ein literarisches Werk oder ein Kunstwerk geschichtlich ist, d. h. es hat nicht bloß wie diese Dauerwerke des Menschengeistes eine Vorgeschichte und übt nicht bloß wie sie Nachwirkungen aus auf seinesgleichen; nein, es ist selbst Geschichte, wie Sitte und Sprache Geschichte sind. Denn es ist nichts, was der Körperwelt angehört; es besteht nicht aus Gesetzbüchern noch aus anderen Büchern, sondern aus zusammenhängenden Ereignissen, nämlich aus menschlichen Willensbewegungen. Diese Einsicht verdunkelt man, wenn man, und sei es auch nur allegorisch, das Recht personifiziert, wenn man von ihm so spricht, als ob es Kenntnisse und Willen besitzt, etwas gebietet oder verbietet, redet oder schweigt, schafft oder zerstört. Denn so schleicht sich immer wieder die Vorstellung ein, als ob es ein selbständiges Dasein führt, außerhalb, über oder gegenüber der Gesellschaft. Ist es aber in Wirklichkeit eine Reihe von Geschehnissen in ihr, so versteht sich leicht, daß sein Inhalt und seine Erscheinungsform, insbesondere auch seine Grenzen zu Sitte und Moral, sich ändern müssen, und daß diese Veränderungen abhängen von jenen zahllosen, welche in physischer und geistiger Hinsicht die Menschen durchmachen, daß sie ferner viel weniger plötzlich und auffällig, wie zuweilen wohl nach der Publikation eines Gesetzes oder nach einer Volkserhebung, als allmählich und kaum merklich eintreten, was das Recht auch wieder mit Sitte und Sprache gemein hat. Damit erkennen wir zugleich, daß niemand die Veränderungen des Rechts in seiner Gewalt hat. Überlegtes Zutun von Gesetzgebern und Gerichtshöfen vermag sie wohl zu beeinflussen; aber sie beliebig aufzuhalten oder zu lenken, steht auch nicht in ihrer Macht.

Mit diesen Darlegungen fälle ich kein Werturteil über das Recht; ich stelle nur Tatsachen fest. Ein Werturteil würde wohl verschieden lauten je nach Gesichtspunkten. Auf der einen Seite wäre der Nutzen zu erwägen, den eine solche Ordnung nicht nur der Bekämpfung egoistischer Gefühle, dem Bestand der Gesellschaft und des Individuums, sondern auch ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl und damit ihrer Stärke und ihrem Gedeihen bringt, auf der anderen Seite, daß als Massenbetätigung das Recht unter allen Fehlern der Masse leidet. Ihre Unbestimmtheit kann die Grenze zwischen dem Normalen und dem Abnormen verflüssigen, wenn nämlich die Masse zu klein wird, wenn sie zur bloßen Mehrheit herabsinkt. Ihre natürliche Trägheit verhindert sie, sich rasch in neue Bedürfnisse und neue Erkenntnisse zu finden und macht so das Recht leicht aus einer Wohltat zur Plage. Ihre Führungsbedürftigkeit nötigt sie, je weiter ddie Arbeitsteilung fortschreitet, die eigentlich geistige Arbeit am Recht einem Berufsstand zu überlassen, damit aber auch die innere Harmonie des Rechts Störungen auszusetzen und sich selbst das unmittelbare Verständnis für den Rechtsinhalt mehr und mehr zu verschließen. Ihr Gleichheitstrieb macht sie abgeneigt, dem Individuellen in den Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen, weswegen zwar Privilegien Ausnahmen bleiben, aber auch das Individuum zur Klage über die Ungerechtigkeit des Rechts gereizt und zum Unrecht verlockt wird. Inbesondere kommt zu bedenken, daß der Einzelne einen Widerspruch entdecken kann zwischen den Normen seiner Moral und denen, welche die gesellschaftliche Masse als Recht durchsetzt. Denn jene sind etwas dem Individuum Eigenes, wenn es sie auch im Gedankenaustausch mit anderen gewonnen hat. Sie machen seine Gesinnung aus. Das Recht aber beruth weder von Haus aus, noch jemals allein auf Gesinnung, wenn auch die Gesinnung der Masse nicht gleichgültig für seinen Inhalt ist. So dürfen wir es als ein Glück für uns betrachten, daß das Recht nicht die einzige soziale Ordnung ist und daß nicht alle Fragen, die das Leben an uns richtet, Rechtsfragen sind, daß es noch Fragen gibt, die jedweder mit seiner Moral und mit seinem Geschmack abzumachen hat.
LITERATUR Karl von Amira, Vom Wesen des Rechts, München 1906