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AUGUST MESSER
Philosophie und Wirklichkeit

"Man verleidet sich als Erkenntnistheoretiker selbst die Fühlung mit dem wirklichen Leben und der wirklichen Wissenschaft, wenn man die darin herrschende Überzeugung, daß Gegenstände unabhängig von wahrnehmenden Menschen existieren, von vornherein als naiven Dogmatismus oder gar als Mythenbildung ächtet."

Es ist eine grundlegende und weit über die Grenzen der deutschen Wissenschaft hinaus allgemein interessierende Frage, die unter dem obigen Titel THEODOR LIPPS, der ausgezeichnete Münchner Philosoph, in einer jüngst erschienen Schrift (1) behandelt. Er wählt als Ausgangspunkt den ersten besten Vorgang sinnlicher Wahrnehmung, und in seiner eindringlichen Art zu argumentieren, die den Eindruck strenger Geschlossenheit erweckt, führt er uns zu einem sehr bedeutsamen Ergebnis. Dieses lautet kurz gesagt: Die Naturwissenschaft "zielt" zwar auf das Wirkliche, wie es ansich ist, aber sie erkennt nur seine (mechanische) Gesetzmäßigkeit, ohne darüber, was das gesetzmäßig Geordnete "ansich" ist, etwas aussagen zu können. Die Philosophie dagegen erfaßt das Wirkliche unmittelbar, wie es ansich ist. Und worin besteht es? Es besteht in der objektiven Wirklichkeit der Vernunft, d. h. in einem Inbegriff der logischen, ethischen und ästhetischen Normen, die jedes individuelle Subjekt als etwas Gegebenes, ohne sein Zutun Vorhandenes in sich erlebt. Daß diese Normen aber "gelten", setzt voraus, daß sie "existieren" und dies heißtt nichts anderes, als daß ein überindividueller gesetzgebender Wille existiert. Dieser ist zu fassen als ein "absolutes Subjekt", das jedes individuelle Ich in sich und doch als ihm transzendent erlebt.

Es dürfte dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen, ein solches substantielles Wesen, von dem uns die Normen des Geisteslebens als "kategorische Imperative" vorgeschrieben sind, als - Gott zu bezeichnen. Somit wäre dann hier ein "Gottesbeweis" geliefert, als dessen Quell LIPPS in besonders nachdrucksvoller Weise den Sinn für das Tatsächliche, das Wirkliche namhaft macht.

Die erste Behauptung von LIPPS, die eine kritische Prüfung fordert, ist die, daß die Naturwissenschaft an Erkenntniswert wesentlich nahesteht: jene dringe hinaus über die "Erscheinungen", diese aber erfaßt das "Ding ansich". Zu begründen sucht LIPPS diesen Satz durch eine psychologische Zergliederung der Wahrnehmung. Er zerlegt sie in Empfindungen, d. h. einfache anschauliche Bewußtseinsinhalte wie grün, süß, hart, kalt usw., in die Räumlichkeit als Anschauungsform und in den Gedanken an ein "Etwas", das die Eigenschaften "hat" oder "trägt", die empfunden werden.
    "Indem ich dem empfundenen Süß, Hart oder Weich Wirklichkeit oder Dasein unabhängig von meinen zufälligen Empfindungen zuschreibe, muß ich zugleich dieses Wirkliche an eine Stelle in der Welt der Wirklichkeit überhaupt anknüpfen."
Diese Stelle nun ist das "Ding". Dies ist somit der Name für etwas, "das uns völlig unbekannt ist". Und auch für alle Bemühungen der naturwissenschaftlichen Forschung bleibt nach LIPPS die objektive Wirklichkeit der Dinge ein völlig Unbekanntes, ein bloßes X.

Das ist aber ein Ergebnis, das höchst seltsam anmuten muß. Man ist im allgemeinen doch überzeugt, von den Dingen der umgebenden Welt gar manches schon durch die alltägliche Erfahrung zu wissen, und durch die naturwissenschaftliche Forschung glaubt man noch reichere und tiefere Erkenntnisse davon zu gewinnen. Jetzt wird uns verkündet, die Dinge blieben uns - gänzlich unbekannt. Irgendwo muß also doch wohl ein Fehler in LIPPS' Argumentation sein. Zwar seiner (freilich etwas summarischen) Wahrnehmungsanalyse können wir beistimmen; mit Recht polemisiert er insbesondere gegen die Behauptung, das "Ding" sei für unser Bewußtsein lediglich ein "Empfindungskomplex", - eine Ansicht, die durch MACH auch in den Kreisen der Naturforscher Eingang gefunden hat. In seinem weiteren Gedankengang aber übersieht LIPPS eines: unvermerkt wird ihm jenes "Etwas", das er losgelöst von seinen Eigenschaften denkt, zum "objektiv Wirklichen", zum "Ding ansich". Nun ist aber der Begriff jenes "Etwas" nur - ein Teil, eine Komponente unseres gewöhnlichen "Ding"bewußtseins, wie es auch dem allgemeinen Sprachgebrauch zugrunde liegt. Die Dinge unserer Umgebung z. B. sind uns deshalb durchaus kein unbekanntes Etwas, weil wir mit dem Wort "Ding" (oder bestimmteren Dingnamen wie "Haus", "Tisch", "Uhr") nicht lediglich das Etwas meinen, das wir als Träger von Eigenschaften denken, sondern dieses Etwas mitsamt seinen Eigenschaften. Nicht den "Gegenständen" der sinnlichen Wahrnehmung werden "Dinge zugrunde gelegt" (wie LIPPS einmal sagt), sondern darin unterscheiden sich die "Wahrnehmungen" von den bloßen "Empfindungen", daß Inhalte wie süß, hart, kalt als "Eigenschaften eines Etwas" gedacht werden. Damit eben konstituiert sich in der Wahrnehmung das Bewußtsein des Gegenstandes, während (nach der hier festgehaltenen Terminologie) in der "Empfindung" noch kein Akt des "Gegenstands"bewußtseins vorliegt. Den "Gegenständen" der sinnlichen Wahrnehmung werden aber nicht nochmals "Dinge" zugrunde gelegt, sondern den sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand nennen wir eben "Ding".

Bei LIPPS liegt also (wie überhaupt bei den Vertretern eines erkenntnistheoretischen Phänomenalismus) eine unzulässige Verdoppelung des Dings und damit der Wirklichkeit vor. Das, was alle Welt "Ding" nennt, ist dadurch zur "bloßen Erscheinung" geworden; das "wahrhaft wirkliche Ding" wird "hinter" diesen Erscheinungen gesucht. Damit wird zugleich die Erkenntnis des praktischen Lebens wie die der Naturwissenschaft, da sie sich ja mit den "bloßen Erscheinungsweisen der Dinge" beschäftigt, in ihrem Wert herabgedrückt. Eine viel wertvollere Erkenntnis erhofft man, wenn man an irgendeiner Stelle hinter den Schleier der Erscheinungen blicken könnte, wozu der Truggedanke des "Dings ansich" unwiderstehlich verlockt.

Wie sollte man übrigens Erkenntnisse über dieses Phantom formulieren können? Doch nur so, daß man es abermals als "Träger" von Beschaffenheiten und Beziehungen denkt; denn nur so kann ich ein Etwas positiv bestimmen. (Dies zeigt sich auch bei LIPPS, wenn er die Frage aufwirft, ob ein solches X "Träger von Räumlichkeitsprädikaten" sein kann.) Ziehe ich nun diese Beschaffenheiten und Beziehungen des "Dings ansich" abermals von ihrem "Träger" ab, und nenne ich diesen letzteren wieder "Ding ansich", so stände ich diesem aufs Neue als einem gänzlich Unbekannten gegenüber. Und dasselbe Spiel ließe sich ins Unendliche wiederholen.

Wir müssen also gegen LIPPS Widerspruch erheben, wenn er durch eine psychologische Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins uns darlegen will, die Dinge, die wir bis dahin als mehr oder weniger bekannt ansehen, seien eigentlich ein unbekanntes Etwas und sie blieben es auch für alle naturwissenschaftliche Forschung. Was würde man von einer psychologischen Analyse der Liebe sagen, die zu dem Ergebnis führt, dieses Gefühl besteht eigentlich in Gleichgültigkeit oder in einem Mangel an Gefühl. Eine psychologische Betrachtung darf doch nicht das Erlebnis, das sie untersucht, wegdeuten oder in sein Gegenteil verkehren. Mancher, der sehr wohl weiß, was etwa ein Teleskop ist, wird z. B. nicht wissen, was ein Tachistoskop ist. So besteht ein deutlicher Erlebnisunterschied, je nachdem wir es mit bekannten oder unbekannten Dingen zu tun haben, und es dürfte eine nützliche psychologische Aufgabe sein, den verschiedenen Bewußtseinsbestand bei solchen Erlebnissen näher zu beschreiben, aber nimmermehr wird uns die psychologische Analyse davon überzeugen, die Dinge, die wir durch Wahrnehmung kennen, seien eigentlich ein X für uns. Sie mögen uns durch die Anschauung nicht vollständig bekannt sein und weitere wissenschaftliche Erforschung herausfordern, sie sind uns aber schon vor dieser nichts schlechthin Unbekanntes.

Aber noch ein weiteres wichtiges Argument hält uns LIPPS entgegen:
    "Auch der Naturforscher steht nicht an, die spezifisch sinnlichen Qualitäten, die Farben und Töne, Gerüche und Geschmäcke, das Hart, Warm usw. für bloße Erscheinungsweisen zu erklären".
Wird also nicht schon von der Naturwissenschaft das Ding der vorwissenschaftlichen Erkenntnis für eine "bloße Erscheinung" erklärt und vom wahrhaft wirklichen Ding unterschieden? Machen wir uns jedoch klar, welchen Grund und welche Tragweite dieses Verfahren der Naturwissenschaft hat! Ihr Ziel ist, die Dinge und ihre Verhaltensweisen möglichst so zu bestimmen, wie sie unabhängig von den Einzelindividuen und den Einseitigkeiten und Mängeln ihrer Auffassung zu denken sind. Nur dadurch kann sie auch dem praktischen Bedürfnis genügen, uns vorauszusagen, was wir von den Dingen selbst zu erwarten haben. Da nun die Qualitäten der Dinge, wie sie sich uns vermöge der Empfindungen anschaulich darstellen, nicht bloß durch die wahrgenommenen Dinge selbst, sondern auch durch die Beschaffenheit unserer Sinnesorgane und die jeweiligen Umstände der Wahrnehmung bedingt sind, so sucht die Naturwissenschaft in der Bestimmung ihrer Gegenstände die Empfindungen auszuschalten und mit rein begrifflichem Denken auszukommen. Es handelt sich also für den Naturforscher nicht darum "hinter" den Dingen der Wahrnehmung andere "wahrhaft wirkliche" Dinge zu entdecken, sondern eben diese anschaulich wahrgenommenen Dinge durch unanschauliche, abstrakte Begriffe zu bestimmen. Wie die Empfindungen oder richtiger die in ihnen sich anschaulich darstellenden Eigenschaften der Dinge den unentbehrlichen Ausgangspunkt der Naturforschung bilden, so werden sie von dieser auch nicht einfach ohne Ersatz aus der Wirklichkeit gestrichen, sondern das Wirkliche, das wir in ihnen unmittelbar erleben, wird nunmehr lediglich mittels des begrifflichen Denkens erfaßt. Damit wird es zugleich einer exakten mathematischen Behandlung zugänglich. Nicht mehr optische und akustische usw. Empfindungen, sondern Begriffe von Äther- und Luftwellen bilden so die Erkenntnismittel des Physikers, mit denen er das Wirkliche bestimmt.

Es ist darum eine unberechtigte Folgerung aus diesem Verfahren der Naturwissenschaft, wenn man meint, der "Glaube an die Realität", die Wirklichkeit der Farben, der Temperaturen usw. muß deshalb "zergehen".

Ebensowenig braucht dem Naturforscher selbst der Glaube an die Realität der räumlichen (und zeitlichen) Prädikate zu zergehen, die er seinen Gegenständen beilegt. Auch hier wird er sich freilich von der anschaulichen Raumvorstellung, wie sie ihm an und mit den Empfindungen unmittelbar gegeben ist, die sich bei jeder Ortsveränderung, bei jeder Augendrehung wandelt, zu emanzipieren haben. Auch hier erfordert es sein oberstes Forschungsziel, daß er die räumlichen Eigenschaften und Beziehungen der Dinge vom Standpunkt des Individuums losgelöst und zugleich unanschaulich, begrifflich denke; andererseits aber kann er nicht umhin, die räumlichen Bestimmungen (ebenso wie die zeitlichen) als den Dingen selbst zukommend, und damit als wirklich, als objektiv-real zu denken. Was wir aber auf Grund sachlicher Einsicht als wirklich denken müssen, von dem sagt jedermann: es ist wirklich.

Man kann ohne Weiteres zugeben, daß die Naturwissenschaft uns die Wirklichkeit nicht vollständig und allseitig erschließt, weil sie sich auf das Quantitative beschränkt, aber man sollte nicht bestreiten, daß sie die Dinge erfaßt, wie sie wirklich, wie sie "ansich" sind.

Doch noch ein ganz allgemeines Bedenken scheint dieser Auffassung entgegenzustehen. Die Erkenntnis, so sagt man ist doch ein Vorgang im Subjekt. Es muß also der Gegenstand in die Sphäre des Subjekts hineingezogen und dadurch gewissermaßen subjektiviert werden. Das Subjekt färbt sozusagen auf das Objekt ab. Eine derartige Behauptung könnte man aber doch nur dann begründen, wenn wir die Dinge, wie sie sind, ohne in die Erkenntnisbeziehung zum Subjekt zu treten, mit den Dingen als Objekten unserer Erkenntnis vergleichen könnten. Von einer Erkenntnis des "Dings ansich" in dieser Bedeutung zu reden, ist aber insich widersprechend. Von einem solchen widersinnigen Begriff aus ist wahrlich kein Bedenken zu erheben gegenüber der Überzeugung, von der überhaupt all unsere Erkenntnistätigkeit getragen ist, daß unser Erkennen, richtig gehandhabt, die Gegenstände nicht umgestaltet und also verfälscht, sondern sie uns treu vermittelt. Gewiß, wir merken allenthalben, wie beschränkt und mangelhaft unsere Erkenntnis ist, wir geraten in Irrtümer, und mit jedem Schritt vorwärts erheben sich neue Aufgaben für die Forschung. Es hat darum seinen guten Sinn, wenn man dem jeweils erreichten Stand der Naturwissenschaft die Wirklichkeit der Natur, wie sie "ansich" ist, gegenüberstellt. Aber damit soll dann kein von aller Beziehung zum Subjekt und zum Denken losgelöstes "Ding ansich" bezeichnet werden, noch ausgesagt sein, daß die Naturwissenschaft sich immer nur in der Sphäre von "Erscheinungen" bewegt und nie zur Wirklichkeit selbst vordringt. Vielmehr ist alles, was wir als gesicherte Naturerkenntnis ansehen können, auch als Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit, der "Dinge-ansich" zu betrachten, und deren immer vollkommenere Bestimmung ist das stetig der Naturwissenschaft vorschwebende Ziel.

Dasselbe Ziel gilt aber grundsätzlich auch für alle übrigen Wissenschaften, die den Charakter von Realwissenschaften tragen, d. h. die eine vom erkennenden Subjekt unabhängig bestehende Wirklichkeit erforschen wollen. Damit ist schon gesagt, daß wir den von LIPPS behaupteten Vorzug der Philosophie vor der Naturwissenschaft nicht anerkennen können.

Die Philosophie faßt er als Ich-Wissenschaft, als Psychologie. Das Ich ist zunächst das individuelle Ich. Dieses Ich ist weder mein Körper, noch mein Gehirn, sondern das Ich, das jeder meint, wenn er sagt: "Ich" denke, nehme wahr, bin traurig usw. Die Philosophie, sofern sie sich mit diesem Ich beschäftigt, soll vor allem das vor der Naturwissenschaft voraus haben, daß ihr dieses Ich kein X, sondern ein unmittelbar bekanntes ist.

Aber alles, was ich von meinem Ich weiß, besteht doch in Bewußtseinserlebnissen und mehr oder weniger dauernden Beschaffenheiten (Dispositionen, Fähigkeiten, Charaktereigenschaften), die ich ihm hypothetisch beilege. Wollte ich nun - in der Weise, wie LIPPS es gegenüber dem Ding der sinnlichen Wahrnehmung getan hat - dieses Ich als den "Träger" all dieser Bestimmungen von ihnen losgelöst denken und dann abermals fragen, was dieses "Ich ansich" sein soll, so müßte ich von ihm ebenfalls erklären: es ist ein unbekanntes Etwas, ein X; denn alsdann wäre (um mit KANT zu reden) "dieses Ich, oder Er, oder Es, welches denkt, eine für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung".

Das Ich, mit dem sich die Philosophie befaßt, ist aber nach LIPPS weiterhin das überindividuelle Ich, d. h. das "wirkliche" "Etwas, das in den Vernunftnormen uns entgegentritt, und das wir kurz als die Vernunft bezeichnen". "In dieser Vernunft haben wir das objektiv Wirkliche", "es offenbart sich uns unmittelbar im Vernunftgebot."

Nur beiläufig sei bemerkt, daß wir Normen, "Gesetzen" als solchen nicht in dem gleichen Sinn "Existenz", "Wirklichkeit" beilegen dürfen, wie körperlichen Dingen oder seelischen Erlebnissen. Vor allem aber ist das Verfahren in solchen "Gesetzen" die Manifestation eines "Gesetzgebers" zu sehen, lediglich eine Argumentation aus bildlichen Redeweisen. Man bezeichne den Sachverhalt anders, und der ganze Beweis ist hinfällig. Was wir moralische, logische oder ästhetische Normen oder Gesetze nennen, kann man auch als Arten des Tuns charakterisieren, wodurch bestimmte Zwecke erreicht, bestimmte Werte verwirklicht werden. Damit ist auch ohne Weiteres ersichtlich, daß alle diese Normen für den Menschen nur so lange "kategorische" Imperative sind, als er sie gläubig hinnimmt und sich nicht auf die Zwecke besinnt, die durch ihre Beobachtung erreicht werden sollen. Tut er dies, so erkennt er sofort, daß sie nur "hypothetische" Geltung haben; nämlich nur unter der Bedingung, daß er diese Zwecke anstrebt. Gewiß mögen die Zwecke, deren Erreichung die moralischen, logischen und ästhetischen Normen dienen, eine besonders große und allgemeine Bedeutung haben, aber damit ist doch kein wesentlicher Unterschied gegeben gegenüber den zahllosen anderen Normen, von denen der Gesundheitspflege an bis etwa zu denen des Schach- oder Kartenspiels. Soweit überhaupt menschliche Betätigungen Zwecke realisieren sollen, gibt es auch für sie Normen. Unter diesem Gesichtspunkt aber verlieren die sittlichen, logischen und ästhetischen Normen jeglichen mystischen Charakter, und es erscheint phantastisch, in ihnen das Hereinwirken eines Welt-Ich sehen zu wollen. Man denke auch daran, daß über den Inhalt dieser Normen zum Teil sehr weitgehende Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen bestehen. Wie sollen wir uns das erklären? Und wie sollen wir uns ferner das Verhältnis der einzelnen Subjekte und der "objektiven Wirklichkeit" der Körperwelt zu überindividuellen, kosmischen Ich denken? Auf alle diese Fragen finden wir bei LIPPS keine Antwort.

LIPPS bezeichnet es als eine besonders große Gefahr für unsere heutige Philosophie, daß sie den "Tatsachensinn" einbüßt. Er scheint mir auch eine erfreuliche Probe vom Tatsachensinn zu geben, wenn er gegen den MACHschen Positivismus, der die Welt in Empfindungen auflösen will, energisch Front macht. Ich möchte aber hoffen, daß ihn dieser Tatsachensinn auch noch von seiner phänomenalistischen Auffassung der Naturwissenschaft wegführen wird.

Aber nicht bloß Positivismus und Phänomenalismus, auch der erkenntnistheoretische Idealismus in seinen verschiedenen Formen scheint mir an diesem Mangel an Tatsachensinn zu leiden. Man verleidet sich als Erkenntnistheoretiker selbst die Fühlung mit dem wirklichen Leben und der wirklichen Wissenschaft, wenn man die darin herrschende Überzeugung, daß Gegenstände unabhängig von wahrnehmenden Menschen existieren, von vornherein als "naiven Dogmatismus" oder gar als "Mythenbildung" ächtet. Menschliches Erkennen ist selbst etwas Wirkliches, Tatsächliches. Die Philosophie hat es nicht erst zu erfinden oder seine Gültigkeit erst zu beweisen, sondern es in seiner wirklichen Beschaffenheit und nach seinen Voraussetzungen, Zielen und Normen zu erforschen. Dazu aber muß sie das Erkennen untersuchen, wie es im praktischen Leben und in engster Beziehung damit in den Einzelwissenschaften geübt wird, und sie muß auf die Sprache lauschen, die dabei geredet wird, um nicht in eine Ausdrucksweise zu verfallen, die von der allgemein üblichen und verständlichen abweicht. Der diesem wirklichen Erkennen aber innewohnende Sinn scheint mir durch den erkenntnistheoretischen Realismus viel zutreffender und zugleich schlichter und unzweideutiger wiedergegeben zu werden als durch Phänomenalismus und Idealismus.

Erst vor Kurzem hat ein hervorragender Vertreter der Physik (2) den Sinn der physikalischen Weltbetrachtung dahingehend formuliert, daß sie "reale, von uns ganz unabhängige Naturvorgänge widerspiegelt" und darauf hingewiesen, daß die großen Schöpfer unserer modernen Naturwissenschaft überzeugt waren von der "Realität ihres Weltbildes". Ich sehe darin eine erfreuliche Bestätigung des oben Gesagten, und nicht weniger scheint mir die Bemerkung beachtenswert, jedenfalls ist es auch viel "denkökonomischer", sich der realistischen Ausdrucksweise zu bedienen, "die ja auch tatsächlich von den Physikern stets angewandt wird, wenn sie in der Sprache ihrer Wissenschaft reden."
LITERATUR - August Messer, Philosophie und Wirklichkeit, Internationale Wochenschrift für Wissenschaft Kunst und Technik, Bd. III, Berlin 1909