p-3F. BrentanoO. F. GruppeA. RiehlSchopenhauer    
 
JONAS COHN
(1869-1947)
Der Fortschritt in der Philosophie

"Die Einsicht, daß Normen nicht aus Urteilen über Seiendes ableitbar sind, beruth auf der strengen Absonderung der Seinswissenschaften, die sich in der Naturforschung wie in der kritischen Geschichtsforschung vollzogen hat. Das eigentlich philosophische Interesse aber beginnt jenseits jener Sonderung: ist die Trennung von Sein und Wert im letzten Sinn gültig, oder muß sie irgendwie aufgehoben werden? Sobald uns diese Fragen quälen, d. h. sobald wir uns dem echt philosophischen Trieb hingeben, sinkt alle Sonderung der Gebiete zu etwas Vorläufigem, zu einer bloßen Vorbereitung herab."

"Der Logiker geht vom einzelnen Urteil aus, als von dem Gegenstand, für den die Norm der Wahrheit gilt. Auch der Einzelforscher betont wohl den Wert des einzelnen wahren Urteils, der Tatsache oder des Gesetzes. Aber das Urteil, das so fest auf eigenen Füßen zu stehen scheint, hat seine Wahrheit doch nur im Zusammenhang mit anderen Urteilen. Ein Urteil, das einzelne Realitäten unter seinen Gegenständen hat, muß diese räumlich und zeitlich bestimmen, d. h. einem allgemeinen Ordnungssystem eingliedern. Sind aber die Bestandteile des Satzes alle ohne Beziehung auf einen besonderen Ort der Wirklichkeit bestimmt, so weisen sie umso notwendiger auf ein Begriffssystem hin, dessen Grundbegriffe dann immer nur in gegenseitiger Rücksicht aufeinander feststellbar sind, ähnlich den Steinen eines Gewölbes, die einander stützen."

Wenn das Ziel der Philosophie im Unendlichen liegt, dann müssen die Philosophierenden danach streben, bestimmte Richtungen der Näherung an dieses Ziel zu entdecken. Noch bei SPINOZA, obwohl die Unendlichkeit den Inhalt seiner Philosophie kennzeichnet, herrscht der antik-mittelalterliche Glaube an ein vollständig erreichbares, geschlossenes Ganzes der Philosophie selbst - darum wehrt er sich gegen die Behauptung, er glaube, die beste die Philosophie zu haben. Vielmehr: er weiß, daß er die wahre hat. Bei KANT dagegen ist das moderne Forscherbewußtsein in die Philosophie eingetreten, daher bemüht er sich, ihr den sicheren Gang einer Wissenschaft vorzuschreiben. Man weiß, daß ihm das mißlungen ist. Während in den Einzelwissenschaften das Tempo und die Stetigkeit des Fortschritts wuchs, blieb in der Philosophie das Nebeneinander verschiedener Richtungen erhalten. Die Klagen über den Mangel des sicheren Wissens und einheitlich anerkannter Sätze erhoben sich immer von Neuem: aus dem Mund der Philosophierenden bald als Seufzer über ein notwendiges Geschick, bald als Anlaß zu einem Besserungswillen, aus dem Mund des Fernstehenden als Anklagen und Vorwürfe, vielfach als Begründung dafür, daß man die Philosophie durch etwas anderes, durch Naturwissenschaft, durch einzelwissenschaftlich verfahrende Psychologie, durch Geschichte der Philosophie ersetzen wollte. Man nimmt dabei ohne weitere Untersuchung an, daß, wenn es einen Fortschritt in der Philosophie geben soll, er die Form des einzelwissenschaftlichen Fortschritts haben muß. Zu prüfen, ob diese Annahme richtig ist, oder welche anderen Formen der philosophische Fortschritt etwa hat, ist die Aufgabe dieser Untersuchung.

Vorher aber muß die Frage erörtert werden, ob der Wert der Philosophie überhaupt davon abhängt, daß es in ihr einen Fortschritt gibt. Den modernen Geist freilich mag diese Frage paradox anmuten, hat er sich doch in seiner Fortschrittsgläubigkeit sogar die gegen jede Richtung also jedes Fortschreiten gleichgültige Selektionstheorie DARWINs in eine Fortschrittslehre umgefabelt. Daß aber hier ein ernstes Problem vorliegt, zeigt die Analogie der Kunst. Ein vollendetes Kunstwerk beharrt in seiner Geschlossenheit - die Sonne HOMERs ist nicht untergegangen, sie ist auch von keiner anderen Sonne je überstrahlt worden. Neue Geschlechter schaffen neue Kunstwerke, finden neue Ausdrucksformen, gestalten neue Inhalte, aber man kann nicht sagen, daß sie damit über ältere vollendete Werke fortschreiten - nur, daß sie den Besitz der Menschheit an großen Kunstwerken mehren. So - könnte man denken - ergreift auch die Philosophie immer neu ihren ewigen Gegenstand. Verschieden ist Eigenart und Ausgangspunkt der Strebenden, aber keiner kommt über die Früheren hinaus. Dabei bliebe zwischen Philosophie und Kunst der Gegensatz bestehen, daß die Philosophen (gerade nach einer solchen Auffassung) immer das Gleiche zu erfassen, die Künstler immer Wechselndes darzustellen suchen. In der Tat, wenn man LAO-TSE liest, MEISTER EKKEHARD und das 5. Buch von SPINOZAs Ethik, so erlebt man das Gefühl, daß hier verschiedene Menschen in verschiedenen Zungen dasselbe sagen wollen, daß jeder von ihnen zu einem - zwar unvollständigen, aber doch in seiner Art unüberbietbaren - Ausdruck dieses Einen gelangt. Indessen, dieses Eine ist nur die Versenkung alles Endlichen in die Ruhe des Ewigen, ist philosophische Mystik. Daher jene Unüberbietbarkeit und Unangreifbarkeit bei EKKEHART dem scholastischen Einschlag, bei SPINOZA dem rationalistischen und naturalistischen keineswegs eignet. Man mag darüber streiten, ob jenes mystische Element überhaupt noch in die Philosophie gehört, unzweifelhaft bildet es nicht die ganze Philosophie. Diese vielmehr will gewiß das Ganze der Welt und des Lebens ergreifen, aber im Wissen. Es mag dieses höchste Wissen in einen Zustand übergehen, der mehr als Wissen, der nicht mehr Wissen ist - auch dann ist der Weg des Wissens das für die Philosophie Wesentliche. Die Wissenschaft ist für den Philosophen nicht, wie für den Mystiker, ein bloßes Gerüst, das abgebrochen wird, wenn der Bau steht. Man kann aus der Bedeutung, die sie dem Weg des Wissens beilegen, entscheiden, inwieweit mystisch gerichtete Denker noch der Philosophie angehören. Erkennen aber zerliegt sich in Einzelurteile, schreitet von wahrem Urteil zu wahrem Urteil fort dem Ziel eines vollständigen Systems wahrer Urteile entgegen. Liegt dieses Ziel im Unendlichen, so ist ein Erkenntnisstreben nur dann erfolgreich, wenn ihm eine Fortschrittsrichtung innewohnt. Es ist also die Frage des philosophischen Fortschritts in der Tat eine Lebensfrage der Philosophie, keineswegs ein ihr äußerliches, von einer Mode herangebrachtes Problem. Um es zu lösen, muß man die Philosophie mit den Einzelwissenschaften vergleichen, daher zuerst die Art und die Bedingungen des regelmäßigen Fortgangs der Einzelwissenschaften aufsuchen.

Die Geschichte auch der am besten begründeten Einzelwissenschaften weist immer irrationale Momente auf: das Auftreten einer ganz eigenartigen Begabung, Neigungen und Abneigungen einflußreicher Forscher, Anregungen und Anforderungen anderer Wissenschaften oder der Praxis. Wir sehen jetzt einmal von all dem ab, suchen einen rein einzelwissenschaftlichen, rational-sachlichen Fortschrittstyp zu gewinnen. Immerhin ist dieser kein bloß Gebilde philosophischer Konstruktion, vielmehr nähern sich Physik und Chemie stark diesem Typus. Daher entnehmen wir unsere Beispiele zunächst wesentlich den Naturwissenschaften. Die Geschichte und die systematischen Kulturwissenschaften zeigen bereits einen viel weniger einfachen Fortschrittstyp. Aus dem entgegengesetzten Grund lassen wir die mathematischen Wissenschaften beiseite, weil sie der notwendigen Beziehung auf eine außerwissenschaftliche Wirklichkeit entbehren, daher keine so vollständige Belehrung geben. Die erste Antwort auf die Frage, wodurch sich ein vollkommenerer von einem unvollkommenen Zustand einer Einzelwissenschaft unterscheidet, wird lauten: durch ein Doppeltes, eine erweiterte Kenntnis der Tatsachen und ihre bessere theoretische Beherrschung. Beides ist aber sicher nicht unabhängig voneinander, und diese gegenseitige Abhängigkeit ist umso größer, je geordneter der Gang der Wissenschaft wird. Die Alchemisten verdankten ihre Entdeckungen dem Zufall, die moderne Wissenschaft rühmt sich, voraussagen zu können, was unter bestimmten Umständen entdeckt werden muß. Gewiß, wenn ein solches Experiment wider Erwarten ausfällt, bereichert es die Wissenschaft zuweilen um ein neues Gebiet - aber nur, indem dadurch das Mitwirken eines unvorhergesehenen, daher für unser Wissen neuen Faktors bewiesen wird. Als Bestätigung, Verwerfung, Ergänzung der Vorhersage erscheint das neue Faktum und wird sogleich dem theoretischen Zusammenhang eingeordnet. Die Theorie ihrerseits geht in die Bewegung der Wissenschaft nur ein, wenn sie bis an die Tatsachen herangebaut ist. Darum blieb der Gedanke der Erhaltung der Energie bei LEIBNIZ außerhalb der Mechanik wirkungslos. Erst als Wege gefunden wurden, die Umwandlungskonstanten der Energiearten ineinander zu bestimmen, begann jenes Erhaltungsgesetz die ganze Physik zu beherrschen. Die Theorie wählt aus der Unübersehbarkeit der Erlebnisse die wesentlichen Tatsachen aus und die so gefundenen Tatsachen begrenzen die unbestimmte Theorie. Beides ist nur möglich durch eine strenge Isolierung, die von ganz bestimmten Erkenntnisabsichten beherrscht wird. Bei den Gestirnen war eine Beschränkung auf die Bewegungen dem Menschen durch die Entfernung vorgeschrieben: darum wurde die Astronomie Vorbild aller Naturwissenschaften. Man hat die astronomische Kenntnis eines Systems mit vollstänständiger Kenntnis gleichgesetzt - man übersah dabei, daß sie zugleich die beschränkteste, einseitigste Kenntnis ist, und daß diese Beschränkung jene Vollständigkeit erst möglich macht. Das Ziel, die Vorgänge durch Rechnung beherrschbar zu machen, ist das erste Auswahlprinzip der Physik. Alle Theorien, die sich innerhalb des so umschriebenen Bereichs von Begriffen bewegen, sind ineinander übersetzbar, so daß den meisten Formeln der einen Formeln der anderen zugeordnet werden können und nur an ganz bestimmten Stellen die Unterschiede hervortreten. Auf diesen Stellen beruth dann die Entscheidung zwischen den Theorien, während die übrigen wahren Urteile mit einer Umänderung der Ausdrucksweise aus der alten in die neue Theorie herübergenommen werden. Wo aber das gemeinsame Ziel nicht erkannt wird, da ist schon der Gesichtspunkt des Wesentlichen völlig verändert. Darum gibt es von der Emissionstheorie des Lichts zur Undulations- und zur elektromagnetischen Theorie einen regelmäßigen Fortgang, während etwa GOETHEs Farbentheorie ganz außerhalb dieses geschichtlichen Zusammenhangs bleibt, gleichsam eine andere Sprache redet. Man hat gesagt, daß die Wissenschaften an ihren Grenzen wachsen. Das mag richtig sein - aber es ist dabei vorausgesetzt, daß sie Grenzen haben, daß sich eine bestimmte Einzelwissenschaft in ihrer Getrenntheit ausgebildet hat. Die wahren Sätze einer solchen Wissenschaft werden dann vielleicht in einen weiteren Kreis hineingestellt, dadurch vollständiger verstanden; aber sie bleiben in ihrer Einzelwahrheit erhalten. Die chemischen Elemente mögen sich als zusammengesetzt, ihre Atome sich als Systeme erweisen, die chemische Verwandtschaft mag in Zukunft einmal als Spezialfall sehr viel allgemeinerer Anziehungsgesetze zwischen komplexen Systemen erkannt werden - deshalb bleiben die Unterscheidungen der Elemente, die Sätze über ihre Verbindungen bestehen, ebenso wie die entwicklungsgeschichtliche Auffassung der Tier- und Pflanzenarten die Arbeit der Artunterscheidung nicht überflüssig gemacht hat. An der Aussonderung der Gegenstände und der Erkenntnisziele hängt also der geregelte Forschritt der Naturwissenschaften.

Soweit nun in der Philosophie eine ähnliche Aussonderung möglich ist, vermag dieser einzelwissenschaftliche Fortschrittstyp auch in ihr sich durchsetzen. Schon die aristotelische Logik bietet ein Beispiel hierfür. Gerade was für uns die Bücher des Organon so sehr zurücksetzt hinter die über die erste Philosophie, die Beschränkung auf die Folgerungsregeln, das bloß aufnehmende, nicht untersuchende Verhalten gegen die Axiome, hat diesen Büchern ihre langdauernde Geltung erhalten, macht ihre Sätze zu einem Teil - nicht mehr dem einzigen oder herrschenden, aber immer zu einem irgendwie umzubildenen und einzuordnenden Teil - auch jeder künftigen Logik. Ebenso muß etwa die Einsicht, daß die Induktion allgemeine Obersätze voraussetzt, von jeder logischen Theorie verarbeitet werden. Außerhalb der Logik sind ähnliche isolierbare Theorien bisher seltener ausgebildet worden, aber Ansätze dazu sind doch auch auf anderen Gebieten vorhanden und müssen in Zukunft weiter entwickelt werden. Daß gültige Normen sich aus Urteilen über Seiendes nur scheinbar ableiten lassen, daß dabei immer schon irgendwelche Werturteile vorausgesetzt werden, ist ebenso sicher beweisbar wie irgendein mathematischer Satz. Die Einführung dieser - obgleich negativen - Einsicht in die Ethik, die wesentlich erst KANTs Werk ist, bezeichnet allen früheren ethischen Systemen gegenüber einen Fortschritt von einzelwissenschaftlichem Typus.

Bei der Abwehr der Vorwürfe über die Unfruchtbarkeit der Philosophie pflegt man diese und ähnliche Errungenschaften sehr zu betonen; und in der Tat sind sie wichtig genug. Aber es beschleicht wohl jeden dabei das Gefühl, daß er sich noch in den Vorhöfen der Philosophie aufhält und ihr innerstes Heiligumg nicht betreten hat. In der Tat: die Bedingung des einzelwissenschaftlichen Fortschrittstypus ist die Isolation der Theorien und Tatsachen mit Hilfe gesonderter Erkenntnisziele und ihnen angepaßter Methoden. Jene Einsicht etwa, daß Normen nicht aus Urteilen über Seiendes ableitbar sind, beruth auf der strengen Absonderung der Seinswissenschaften, die sich in der Naturforschung wie in der kritischen Geschichtsforschung vollzogen hat. Das eigentlich philosophische Interesse aber beginnt jenseits jener Sonderung: ist die Trennung von Sein und Wert im letzten Sinn gültig, oder muß sie irgendwie aufgehoben werden? Sobald uns diese Fragen quälen, d. h. sobald wir uns dem echt philosophischen Trieb hingeben, sinkt alle Sonderung der Gebiete zu etwas Vorläufigem, zu einer bloßen Vorbereitung herab. Wenn man einmal alle diese einzelwissenschaftlichen Hilfen und Einschläge aus der Philosophie wegdenkt, um einen schroffen (so nie verwirklichten) Gegensatz gegen die Einzelwissenschaft und ihren Fortschrittstyp zu gewinnen, so kann man sagen: während die Einzelwissenschaft ausgesonderte Tatsachen zu isolierten Theorien verbindet, dann zwischen diesen Theorien wieder Verbindungen schafft, bewegt sich alle Philosophie zwischen den Extremen des Erlebnisses und des Systems. Das philosophische System unterscheidet sich von der einzelwissenschaftlichen Theorie durch den Anspruch, allumfassend zu sein, das Erlebnis im Sinne der Philosophie von den Tatsachen der Einzelwissenschaften durch die Abwesenheit der zugleich bestimmenden und beschränkenden Auswahlprinzipien des besonderen Erkenntniszieles. Es besteht also in der Philosophie ein ähnlicher Gegensatz wie in den Einzelwissenschaften, nur rüken die Pole so weit auseinander, daß ihr notwendiger Zusammenhang unterbrochen ist. Es gilt, diesen Gegensatz aufzuklären, um zu beweisen, daß seine Verschärfung in der Philosophie mehr als eine bloße - vielleicht Abänderung erfordernde - geschichtliche Tatsache, daß sie notwendig ist. Der Logiker geht vom einzelnen Urteil aus, als von dem Gegenstand, für den die Norm der Wahrheit gilt. Auch der Einzelforscher betont wohl den Wert des einzelnen wahren Urteils, der Tatsache oder des Gesetzes. Aber das Urteil, das so fest auf eigenen Füßen zu stehen scheint, hat seine Wahrheit doch nur im Zusammenhang mit anderen Urteilen. Ein Urteil, das einzelne Realitäten unter seinen Gegenständen hat, muß diese räumlich und zeitlich bestimmen, d. h. einem allgemeinen Ordnungssystem eingliedern. Sind aber die Bestandteile des Satzes alle ohne Beziehung auf einen besonderen Ort der Wirklichkeit bestimmt, so weisen sie umso notwendiger auf ein Begriffssystem hin, dessen Grundbegriffe dann immer nur in gegenseitiger Rücksicht aufeinander feststellbar sind, ähnlich den Steinen eines Gewölbes, die einander stützen. Ob ein Urteil die Erkenntnis analytisch erläutert oder synthetisch erweitert, läßt sich nur aus dem Urteilszusammenhang ersehen, dem es eingegliedert ist. Das Wort "Wahrheit" ist mehrdeutig, es bezeichnet einmal den Wert des einzelnen wahren Urteils, dann aber auch den idealen Inbegriff alles Wahren, aus dem das einzelne wahre Urteil nur ein winziger, in sich haltloser Abschnitt ist. Dieses Verhältnis des Einzelurteils zum Urteilsganzen, das das vorwissenschaftliche Denken oft vergißt, erkennt die Einzelwissenschaft umso bewußter an, je sicherer sie sich begründet. Aber sie begrenzt zugleich den Zusammenhang und das Einzelne durch ein gemeinsames Ziel, einen Gesichtspunkt des Wesentlichen. Es war demgegenüber stets das vergebliche Sehnen der Philosophen, ein "Wesen ansich" aus der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse und Ordnungsprinzipien auszusondern, und es bedeutet einen der größten einzelwissenschaftlichen Fortschritte der Philosophie, daß die Relativität im Begriff des Wesentlichen erkannt wurde. Der dilettantisch philosophierende Einzelforscher faßt gewöhnlich noch heute den wesentlichen Gesichtspunkt seiner Wissenschaft, die Quantifizierung etwa oder die biologische Anpassung, naiv als das Wesentliche ansich. Er vermag die notwendige und nützliche Einschränkung seiner Wissenschaft nicht mehr als bloße Einschränkung zu durchschauen, er setzt sie absolut - und dadurch wird sie unwahr. Ihre Wahrheit also gilt nur unter der einschränkenden Bedingung, daß sie der Ergänzung bedarf. Noch der ideale Urteilszusammenhang einer vollständig durchdachten Einzelwissenschaft, ein Zusammenhang, den kein Mensch vollständig zu beherrschen vermag, erweist sich als bloßes Fragment; daher die Aufgabe der Philosophie sich von der Einzelforschung her als ihre Vollendung darstellt. Dieses Ganze ist gewiß "nur für einen Gott gemacht", aber ebenso gewiß vollendet sich die Menschheit lediglich im Streben nach ihm. Nicht in der Ausgestaltung der Teile bereitet sich die Ganzheit vor; vielmehr, je schärfer die Teile herausgearbeitet werden, umso entschiedener sondern sie sich gegeneinander ab. Nur der immer erneute Versuch des Systems lehrt uns die Bedeutung der Teile abschätzen. Jeder große Systematiker hat die Versuche seiner Vorgänger genutzt, aber keiner konnte ihre Sätze einfach aufnehmen. Aus einer neuen Idee des Ganzen mußte sich alles Einzelne erneuern. Woher aber kamen die Anstöße dieser Erneuerung? Nicht aus den alten Systemen, die immer bei den Schülern zu erstarren drohten, sondern von außen - ganz entsprechend wie sich die Theorien der Einzelwissenschaften vervollkommnen durch den Zwang, neue Tatsachen zu umfassen. Aber während dort die Tatsache selbst bereits die Isolation der Theorie in sich birgt, bleibt hier der äußere Anstoß der systematischen Richtung gegenüber etwas Fremdes. Dies wollen wir hervorheben, wenn wir den Gegenpol des Systems als Erlebnis bezeichnen, d. h. ihm den voll erlebenden Menschen, nicht den abstrakten, denkenden Geist zuordnen. Die erste Form in der das Erlebnis der Region des Denkens einverleibt wird, ist das auszeichnende Bemerken. Das Apercu [prägnant formulierte Bemerkung - wp], so können wir mit einem Lieblingsausdruck GOETHEs sagen, ist die dem System gegenüberstehende philosophische Form. Wo sich das Apercu eine geschlossene Gestalt gibt, entsteht der Aphorismus; daher bewegt sich die philosophische Darstellung zwischen den Polen: System und Aphorismus.

Wenn es besondere Typen philosophischen Fortschrittes gibt, so müssen sie sich aus den Begriffen des Systems und des Erlebnisses ableiten lasen. Ist diese Ableitung gelungen, so muß sich aus ihr zugleich das Verhältnis des Ganzen der Philosophie zu seinen nach dem Typus der Einzelwissenschaften fortschreitenden Teilen ergeben.

Die philosophisch bedeutsamen Erlebnisse lassen sich einteilen in solche, die sich immer wiederholen, die wohl auf jeden seiner Eigenart gemäß verschieden wirken, doch aber grundsätzlich jedem zuteil werden, und in inhaltlich neue Erlebnisse, die entweder überhaupt in einer bestimmten Zeit zum ersten Mal vorkommen oder doch erst in einer bestimmten Periode in den Stand eines Apercu, der philosophischen Beachtung treten. Zur ersten Gruppe gehört z. B. das Erlebnis der Vergänglichkeit, des Todes, oder das eine unüberwindlichen Widerstandes gegen unser Streben, alles Erfahrene einheitlich rational zu begreifen. Solche Grunderfahrungen werden immer neu verarbeitet, treten bei verschiedenen Denkern verschieden stark hervor, tönen aber als ein dauernder Grundklang in der ganzen philosophischen Entwicklung mit. Eigenart und Stärke dieser Erlebnisse, ihr vollendeter Ausdruck und ihre Ausgestaltung zu Leitmotiven der Weltanschauung machen einen Philosophen zu unserem zeitlosen Vorbild und Genossen. Dies ist der Ort, an dem sich auch das mystische Erlebnis in das Ganze der philosophischen Entwicklung einfügt. Grundsätzlich Neues würde der geschichtslose Mensch wohl selten erfahren, aber die geschichtliche Entwicklung bringt es hervor. ALEXANDER und seine Diadochen [Feldherren - wp] schufen in ihren Reichen einen übernationalen Zusammenhang und bereiteten dadurch den Boden, auf dem die humanitäre Moral und Religion des späten Altertums wachsen konnte. Die hohe Verfeinerung und der Kulturstolz des 18. Jahrhunderts erregten in ROUSSEAU jenen tiefen Gegensatz, der dann auf die deutsche Philosophie entscheidend wirkte. Aus der Kultur also, die in der Geschichte sich wandelt, stammen die neuen Erlebnisse, ihr verdanken auch die stets wiederkehrendenn eine neue Färbung. Alle Seiten und Zweige der Kultur kommen hier gleichmäßig zu ihrem Recht: Religion und Kunst, Staat und Wirtschaft, Wissenschaft und Technik. Verschieden befähigte und verschieden gerichtete Philosophen holen ihr Neues bald mehr von dieser, bald mehr von jener Seite. Daher die Regellosigkeit dieser Antriebe. Aber was einmal in den Kreis philosophischer Interessen aufgenommen wurde, darf nie wieder verloren gehen. So bringt eine Änderung der Kultur zuweilen einen Fortschritt der Philosophie mit sich, auch wenn es sehr zweifelhaft ist, ob sie selbst als Fortschritt gewertet werden kann. Den heute herrschenden Geist geregelten Spezialistentums ängstet die ordnungslose Folge dieser Antriebe, daher sucht er die Philosophie zu regeln, indem er fordert, daß sie nur zum Gegenstand nimmt, was schon durch das Sieb einer Einzelwissenschaft hindurch geläutert ist. Es soll keine Philosophie der Kunst, der Religion mehr geben, nur eine der Kunstwissenschaft oder der Theologie. Selbst Männer, die viel zu tief denken, um die Ethik von Tatsachenwissenschaften, von Ethnologie oder Soziologie her aufzubauen, wollen aus der Jurisprudenz einen Kanon der Ethik machen. Der Geist der Mittelbarkeit, des technisch-ökonomischen Zeitalters dringt so tief in die Philosophie ein, leider nicht als befruchtendes Erlebnis einer neuen Kulturlage, sondern aus ungeprüfte Voraussetzung und falsche Analogie. Wie jedes Extrem seinen Gegensatz herbeiruft, so stellt sich dieser Mittelbarkeit ein bewußt unmittelbares Philosophieren entgegen: BERGSON verwirft das Denken zugunsten des Schauens, NIETZSCHE bildet den Aphorismus als ihm allein gemäße philosophische Form aus.

Während so die spezialistische Methode und das Erlebnis um die Herrschaft in der Philosophie kämpfen, scheint das System von beiden Seiten her bedroht zu sein. Ihm wird zugleich vorgeworfen, daß es aus ungeprüften Materialien aufbaut und daß es das Erleben vergewaltigt. Überzeugt, daß er in einer unendlichen Welt lebt, widerstrebt der moderne Mensch der Geschlossenheit d. h. Begrenztheit des Systems. Ja, er entdeckt dieses Widerstreben als heimlichen Trieb in den großen Systematikern der Vergangenheit. ARISTOTELES und LEIBNIZ, die umfassendsten Systematiker je eines ganzen Kulturkreises, haben nie eine wirklich systematisch aufgebaute Darstellung ihrer Lehren geschrieben. HEGELs dialektische Methode gar zerstört immer zugleich das System, das sie errichtet; denn über jede Synthese treibt notwendig eine neue Antithese hinaus. Nur durch ein Machtwort, das logisch genommen ein Widerspruch gegen den Geist des Systems ist, dekretiert HEGEL den Abschluß des Denkens in seiner eigenen Philosophie. Nirgends in der Geschichte hat sich daher auch eine Philosophie so aus sich selbst heraus zersetzt und innerlich zerrieben wie das HEGELs - ein Schicksal, dessen echte Tragik die Größe dieser Philosophie beweist. Trotzdem bleibt es dabei, daß die Aufgabe der Philosophie, zugleich umfassend und Wissenschaft zu sein, nur im System soweit gelöst werden kann, wie es einem Menschen dieser besonderen Art, Zeit und Nation überhaupt möglich ist. Nur warnen uns die Beispiele eines ARISTOTELES und LEIBNIZ davor, die systematische Darstellung als Kriterium für systematisches Denken zu benutzen. Gewiß hat, was "innerlich" ist, noch nicht seine volle Wirklichkeit, es muß sich nach HEGELs richtiger Forderung auch äußerlich darstellen. Allein diese Veräußerung ist im Falle des Systems fast schon eine Entäußerung, nämlich eine Selbstprüfung und daher beginnende Selbstzersetzung. Auch eine der Form nach nicht systematische Darstellung kann einen echt systematischen Geist zeigen. Diesen also gilt es zu kennzeichnen.

Der Systematiker weiß, daß ein vereinzeltes Urteil nicht in seiner wahren Form erfaßt werden kann, daß alles auf alles angewiesen ist, er sucht daher jedes Einzelne in einer Beziehung zum Ganzen zu denken. Dazu bedarf es eines Entwurfs dieses Ganzen. Das kann nun, sobald die Unendlichkeit des Ganzen wirklich das Denken beherrscht, kein Bild leisten und keine Aufzählung der Bestandsstücke, sondern nur ein Inbegriff von Beziehungen und eine Gewichtsverteilung der Werte aller einzelnen Stücke und Seiten der Welt. Der systematische Denker ist also dadurch ausgezeichnet, daß jedes Ergebnis seines Denkens, mag es sich auch scheinbar außerhalb jeden Zusammenhangs darstellen, beherrscht bleibt von jenem Inbegriff der Grundbeziehungen und Gewichtsverteilungen. So ist bei LEIBNIZ alles Einzelne bestimmt durch seine Zuordnung zu einer bestimmten Deutlichkeitsstufe der Vorstellungen einer Monade von bestimmtem Rang im Reich der Geister. Alle Beziehungen sind ferner funktional gedacht und bilden aus den Wesen ein System lückenloser Kontinuität. Diese metaphysische Konzeptioin beherrscht alles; an ihr ist z. B. auch die Erkenntnislehre orientiert, obwohl sie, ebenso wie alle empirischen Einzelwissenschaften ihren methodischen Ausgangspunkt in einem proteron pros hemas [das Spätere vor dem Früheren - wp] hat. Sogar diese Anerkennung einer empirischen Erkenntnis ist in das rationale System eingeordnet; denn da das System der Monaden absolut unendlich ist, kann ein endlicher Verstand das Besondere nicht aus ihm ableiten.

Aus der Grundeigenschaft des echten Systems, dem Zusammenhang jedes seiner Teile mit jedem anderen folgt, daß kein einziger Satz unverändert bleibt, wenn irgendein anderer geändert wird. Daher die Schwierigkeit der philosophischen Verständigung, die schon bei der Terminologie beginnt. Es ist übrigens ein wichtiger Vorzug der systematischen Darstellung, daß sie die Verständigung erleichtert, weil sich aus ihr der Grund jeder von früheren Systemen abweichenden Ausdrucksweise ableiten läßt, während bei unsystematischen Darstellungen dieser Grund vielfach nur geahnt werden kann. Nur scheinbar ist die streng geschlossene Form ungesellig, in Wahrheit erleichtert gerade sie sogar die Verständigung, wenn nur der rechte Geselle hinzutritt.

Die Grundeigenschaft des Systems, die Abhängigkeit jedes Satzes von jedem anderen muß nun bewirken, daß systematischer Fortschritt sich nicht in einer zunehmenden Anzahl allgemein anerkannter Sätze aufweisen läßt. Vielmehr müssen, um die Frage des Fortschritts zu entscheiden, die Systeme als Ganze miteinander verglichen werden, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer systematischen Form wie hinsichtlich ihres Gehalts. Es kann sich dabei hier nur darum handeln, einige leicht sichtbare Linien zu verfolgen, während sich die tiefern Zusammenhänge erst einem eingehenden Studium offenbaren. Der Form nach muß das System Einheit und allumfassende Weite verbinden. Das scheint am einfachsten gelöst zu werden durch einen einzigen Satz, der das überall Wahre einheitlich heraushebt. In der Tat faßt PARMENIDES des systematischen Kern seiner Philosophie in der Antithese zusammen, daß das Seiende ist, das nicht Seiende aber nicht ist. Da über das Seiende außer dem Sein nichts auszusagen ist, die scheinhaften Sätze über den Schein aber der Wahrheit nicht angehören, so erschöpft sich mit diesem Satz das ganze System; alles Hinzukommende ist polemisches Außenwerk. Sobald aber eingesehen ist, daß mit der bloßen Herabsetzung zum Schein der Mannigfaltigkeit der Welt kein Genüge getan wird, muß auch das entschieden einheitlichste System ein Gefüge von Sätzen darstellen, das vom Prinzip abwärts führt zu den Erscheinungen. Wenn man sich ein solches System vollendet denkt, dann wird der oberste Satz für sich bestehen, die nächsten Sätze werden nur vom obersten abhängig sein, und so muß sich eine Stufenreihe von Urteilen ergeben bis herab zu den letzten, vom Prinzip entferntesten. Diese Ordnung bezeichnete ARISTOTELES als Voranstellung des von Natur Früheren, sie herrscht sehr lange in der Philosophie, ein Schulbeispiel für sie ist die Ethik SPINOZAs, deren systematische Darstellung zumindest bis zum vierten Buch ganz nach diesem Schema gebaut ist. Der nächste große Fortschritt der systematischen Form besteht in der Erkenntnis, daß auch der anscheinend unabhängige oberste Satz abhängig ist von allen anderen. Obwohl von früheren Denkern, besonders von KANT, vorbereitet, dringt doch diese Einsicht erst bei HEGEL wirklich durch. Wenn von HEGELs Systems nichts bestehen bliebe als der Ausspruch, daß auch das Unmittelbare vermittelt ist, so würde damit allein sein Platz unter den Größten gesichert sein. Verhältnismäßig leicht muß sich nun eine weitere Einsicht durchsetzen, daß nämlich die lineare Folge der zeitlichen Darstellung dem wahren Gehalt des Systems nicht entspricht. Schon relativ einfache Teilsysteme, etwa die Geometrie des euklidischen Raums, zeigen eine Nebeneinander gleich ursprünglicher Axiome, deren jedes an den Anfang gestellt werden kann. Der Zusammenhang der Sätze ist nicht linear sondern mehrdimensional. Erst recht gilt das vom Inbegriff aller Wahrheiten. Das wahre System ist ein vieldimensionales Gebilde; es muß daher von der systematischen Darstellung gefordert werden, daß sie - durch eine Nebeneinanderstellen mehrerer Wege oder durch andere Mittel - die notwendige Unvollkommenheit der eindimensionalen Abbildung wieder aufhebt. Indessen - nichts verschwindet spurlos aus der Philosophie, was einst in ihr lebendig war. Sogar jene überwundenen Formen des Systems bleiben in einer gewissen Art erhalten: die Einheit des Satzes in der mystischen Erlebniseinheit, die alles Einzelne durchdringt, die Einheit der deduktiven Theorie als Ideal vollendet wissenschaftlicher Darstellung, die Einheit des dialektischen Prozesses als Entwicklung im teleologischen Sinne, als menschliche Spiegelung des übermenschlichen, vieldimensionalen Systems.

Dieser Erweiterung der Systemform entspricht die Bereicherung des Gehalts, der im System sein Recht fordert. Wir gelangen hier dazu, die getrennten Pole - System und Erlebnis - doch wieder zusammenzubringen. Vom Bemerken eines Erlebnisses ist dabei seine Einwirkung auf die Philosophie und von dieser seine systematische Einordnung zu trennen. So bestimmt die Kunst vielfach die geschlossene Form, in der die Griechen sich die Welt denken, aber sie selbst vermag in der griechischen Philosophie keinen eindeutig bestimmten Ort zu gewinnen. Erst im 18. Jahrhundert wird die Ästhetik ein anerkannter Teil der Philosophie, erst KANT entdeckt ihre Grundlagen. Gerade dieses Beispiel zeigt, in wie eigenartiger Weise und doch wie stetig sich die Gedanken entwickeln. KANT nimmt nicht aus eigenem ursprünglichem Erleben, sondern aus einer ins Altertum zurückreichenden Überlieferung und aus den kritischen Schriftstellern Englands und Frankreichs die Grundformeln seiner Ästhetik auf, aber er gibt ihnen überall durch die Einstellung in sein System einen neuen, einen philosophischen Sinn. Die deutsche Philosophie der großen Zeit ist reich an ähnlichen Zusammenhängen. Die Entgegensetzung des Naiven und des Sentimentalischen entstammt sicher SCHILLERs tiefsten Erlebnissen; er hatte in sich erfahren, mit welcher Inbrunst sich die vertiefte Reflexion zur Natur, zum unmittelbaren Hervorbringen zurücksehnt. Aber den großen Einfluß auf die Geschichtsphilosophie erlangte jenes Erlebnis doch nur dadurch, daß es sich in SCHILLERs Geist mit dem Dreitakt bei KANT und FICHTE: Thesis, Antithesis, Synthesis verband. So wirkt die Philosophie auf das Erleben ein, indem sie ihm die Mittel darreicht, durch die es seiner selbst bewußt werden kann. Auch die einzelnen Kulturgebiete, aus denen sich das Erleben speist, erfahren seit es eine Philosophie gibt, ihren Einfluß, der sich auf den Gehalt von Religion, Kunst, Staat, Wissenschaft wie auf ihre Selbsterkenntnis erstreckt. Aber dieser Kreislauf gegenseitiger Einflüsse ist von der geregelten Beziehung zwischen einzelwissenschaftlicher Theorie und Tatsache dadurch unterschieden, daß das große Sammelbecken der lebendigen Gesamtkultur dazwischen liegt und die Wirkungen vermittelt. Jeder Begriff erhält in diesem tiefen See eine neue eigenartige Färbung - oder unbildlich gesprochen: er wird durch äußere Einflüsse in einer Art geändert, die man, je nach dem Standpunkt der Betrachtung, als Bereicherung oder als Mißverständnis ansehen kann.

Es gibt ein Gebiet wissenschaftlicher Tätigkeit, das, ähnlich der Philosophie, seine wichtigsten Anstöße aus dem ungeregelten Leben der Gesamtkultur erhält: die Geschichtsschreibung. Kein Wunder, daß ihr von solchen, die an den geregelten Gang der Naturwissenschaften gewohnt sind, die Wissenschaftlichkeit oft abgesprochen wurde. Häufig ist betont worden, wieviel die Auffassung der Geschichte von der staatsmännischen Tätigkeit oder von der allgemeinen Weite des Gesichtskreises großer Historiker gefördert wurde. In FUETERs "Geschichte der neueren Historiographie" (1) findet man verzeichnet, wie gemäß den allgemeinen Kulturströmungen und gemäß der Lebensstellung der Geschichtsschreiber neue Seiten des geschichtlichen Lebens entdeckt werden. So sagt er von den Jesuiten (Seite 250):
    "Auch wenn sie Geschichte schrieben, merkt man den Jesuiten an, daß sie die Exercitia spiritualia [geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola - wp] durchgemacht haben. Sie waren nicht vergeblich von ihrem Meister dazu angehalten worden, ihr Denken zu beobachten und zu trainieren" ... "Sie hatten gelernt, religiöse Gefühlsbewegungen scharf zu beobachten und exakt zu behandeln" ... "Die realistische, sachkundige Zergliederung des religiösen Seelenlebens nimmt innerhalb der Historiographie ebenso mit den Jesuiten ihren Anfang, wie die brauchbare Analyse des politischen Kalküls mit Macchiavelli und Guicciardini."
Den Vertretern der Aufklärung wird nachgerühmt, daß sie zuerst Geschichte vom Standpunkt der Untertanen (in Frankreich des wohlhabenden dritten Standes) aus geschrieben haben,
    "Begebenheiten, die bisher nicht der Aufzeichnung für fähig erachtet wurden, erschienen wichtiger als andere, die in den offiziellen Annalen des langen und breiten erörtert worden waren. Die Geschichte der Industrie, des Handels und der Kultur erhielt einen selbständigen Wert."
Der Fortschrittstyp der Geschichtsschreibung ist daher dem philosophischen des Erlebens ähnlich, während sich die Geschichtsforschung wie eine Einzelwissenschaft verhält. Nur bleicht auch zwischen Geschichtsschreibung und Philosophie der wesentliche Unterschied, daß der Historiker den immer weiteren Kreis seiner Interessen an eine Vielheit von Stoffen heranbringt, während der Gegenstand der philosophischen Systematik immer der gleiche, aber ein unendlicher, ist.

Indessen gerade an diese Einheit des Gegenstandes kann der ernsteste Einwand gegen die Behauptung eines eigentümlich philosophischen Fortschritts angeknüpft werden. Er ist seinem Kern nach sehr alt, wurde aber in neuester Zeit von DILTHEY besonders klar und ausdrucksvoll herausgearbeitet. Zu allen Zeiten wiederholen sich gewisse Grundtypen des Denkens, von denen keine je die anderen verdrängen kann und die im tiefsten persönlichen Leben ihrer Bekenner verwurzelt sind. DILTHEY unterscheidet als solche Grundformen den Naturalismus, den Idealismus der Freiheit und den objektiven Idealismus (2). Es kann hier nicht erörtert werden, ob und in welchem Sinn es wahr ist, daß die Grundstellung jedes dieser Systeme unbeweisbar und unwiderleglich ist. Selbst wenn man diese Behauptung einmal zugibt, bleibt doch innerhalb jedes einzelnen Typus eine Entwicklung bestehen, die von der Entwicklung der anderen Typen abhängig ist. So wird der Naturalismus jedenfalls nicht mehr in der Form des naiven Materialismus auftreten dürfen, seine positivistischen Abwandlungen aber haben augenscheinlich Motive aus dem Idealismus der Freiheit, seine panpsychischen solche aus dem objektiven Idealismus aufgenommen. Andererseits müssen die idealistischen Systeme das Recht der quantifizierenden Naturauffassung anerkennen. Daß noch in der neuesten Zeit Systeme aufgetreten sind, die diese Forderungen nicht erfüllen, daß auch nach sehr viel vollkommeneren Formen gelegentlich unvollkommene Einfluß gewinnen, beweist gegen Möglichkeit und Forderung des philosophischen Fortschritts ebensowenig etwas, wie es gegen die Fortschritte in der Physik angeführt werden kann, daß sich auch jetzt noch manche Menschen mit der Erfindung eines perpetuum mobile beschäftigen. Auch die Rückständigkeit großer Männer auf einzelnen Gebieten besagt gar nichts; sonst müßte man aus der Existenz von GOETHEs Farbenlehre schließen, daß man NEWTONs Zerlegung des weißen Lichts in der Physik auch abweisen darf. Müssen aber jene Grundtypen philosophischer Stellungnahme jedenfalls voneinander lernen, gegenseitig ihren Motiven gerecht zu werden, so bedeutet das (selbst wenn man ihre unaufhebbare Verschiedenheit und ihre Gleichberechtigung einmal zugeben will), daß sie sich zumindest asymptotisch [annähernd ohne es zu erreichen - wp] einem gemeinsamen Ziel nähern.

Wir unterscheiden also in der Philosophie drei Arten des Fortschreitens: die einzelwissenschaftliche, die irrationale des Erlebens und die systematische. Das Verhältnis von Erleben und System haben wir schon betrachtet; es bleibt uns noch übrig, zu untersuchen, welche Beziehungen den einzelwissenschaftlichen Fortschrittstyp in der Philosophie mit den beiden anderen verknüpfen. Die einzelwissenschaftliche Art des Fortschreitens setzt Isolation voraus. Isolieren nun läßt sich innerhalb der Philosophie am leichtesten die Logik, weil in ihr das Erkennen seine eigenen Voraussetzungen untersucht. Freilich wird dabei auch dabei abgesehen von der Frage, ob das Ziel des Erkennens selbst ein überlogisches ist und ob die Voraussetzungen des Erkennens eine transzendente Bedeutung haben oder nicht. Ähnlich kann man die Struktur anderer Teile der Philosophie z. B. der Ethik, Ästhetik isoliert untersuchen, indem man fragt, welche Beschaffenheit das haben muß, was ethisch (ästhetisch) gewertet werden kann. Dabei läßt man die Frage nach dem letzten Recht dieser Wertungen beiseite. Augenscheinlich bereiten solche Untersuchungen das System vor und begrenzen die Möglichkeiten neuer Systembildung, da ihre Ergebnisse in jedes System aufgenommen werden müssen. Man wird solche Untersuchnungen sicherer führen, wenn man von Gebilden ausgeht, die innerhalb des in Betracht kommenden Kulturkreises tatsächlich als wissenschaftlich, ethisch, ästhetisch wertvoll anerkannt werden. Die Logik gewinnt ihren festesten Halt an den Einzelwissenschaften, deren Selbstbewußtsein sie wird. Es liegt nahe, auch Ethik und Ästhetik auf Einzelwissenschaften zu gründen - nur daß die Kunstwissenschaft und die Wissenschaften von Sitte und Recht, sofern sie mehr als bloß historische oder soziologische Disziplinen sein wollen, selbst einer Normierung bedürfen, als historische oder soziologische Wissenschaften aber der Ethik und Ästhetik keinen Leitfaden, höchstens Material darbieten. Niemals dürfen die einzelwissenschaftlich fortschreitenden Teile der Philosophie diese vom Erleben und von der Gesamtkultur abtrennen wollen, vielmehr sollen sie ihr den Zugang dazu erleichtern. Denn die Gliederung widerstreitet dem anschaulichen Erleben keineswegs. Während manche Aussprüche der Marburger Schule den Anschein erwecken, als solle die Unmittelbarkeit im Philosophieren der Wissenschaftlichkeit geopfert werden, legen die Anhänger der phänomenologischen Methode das größte Gewicht auf die unmittelbare, anschauliche Erfassung des einzelnen logischen, ethischen, ästhetischen Gebildes. Sie suchen die echt philosophische Forderung der Ganzheit des Erlebens zu verbinden mit der - für den wissenschaftlichen Fortschrittstyp nötigen - Isolation. Aber sie glauben nun, daß die isolierende Beschreibung theoriefrei d. h. ohne einen Gesichtspunkt der Isolation möglich ist. Sie verbinden also zwei sehr berechtigte Motive in falscher Weise. Das Untertauchen im Vollerlebnis, die Bereicherung aus dem Unmittelbaren (oder doch zumindest im Verhältnis zur philosophischen Reflexion weniger Mittelbaren) läßt sich nicht methodisch regeln. Die regelbaren Teile der Philosophie kann man wohl gegeneinander isolieren, ihre Einzelbestimmungen aber sind ebensowenig gesondert zu fassen, wie sich ein Einzelgegenstand einer Einzelwissenschaft (ein mathematisches Axiom, ein chemisches Element, ein morphologischer Begriff, eine Tierart) ohne Rücksicht auf andere Gegenstände der gleichen Wissenschaft auszeichnen läßt.

Die Philosophie ist durch ihre einzelwissenschaftlich fortschreitenden Teile den Naturwissenschaften, durch die Fortschrittsart des Erlebens der Geschichtsschreibung verwandt; der Fortschrittstyp des Systems ist ihr eigen, und die umfassendsten Theorien der Einzelwissenschaften erhalten durch ihre Näherung an ihn einen philosophischen Anstrich. Aber solange sie einzelwissenschaftlich bleiben, behalten sie auch ihre Isoliertheit, während das philosophische System jede Sonderung immer wieder durch Verbindung aufheben muß. Man kann mit Hilfe dieser Begriffe auch die besondere Bedeutung der Philosophiegeschichte für die Philosophie beleuchten. Soweit es sich um einzelwissenschaftlich isolierbaren Probleme handelt, verhält es sich hier nicht anders als in den Einzelwissenschaften selbst: es bleibt - auch abgesehen vom Eigenwert geschichtlicher Forschung - lehrreicht, sich das Entstehen der einzelnen Einsichten vorzuführen, aber ein notwendiges Erfordernis der wissenschaftlichen Erkenntnis ist es nicht. Für das philosophische Erleben sind die Werte der großen Denker überhaupt nicht Vergangenheit sondern Gegenwart, sie sind "Quellen", aus denen wir uns erfrischen, in denen wir us den Staub der Mittelbarkeit von der Seele waschen. Systematisch zu denken lernt man am Ende nur aus dem kritischen Studium der Systeme. Die Abfolge der Systeme bleibt hier für jeden folgenden Systemversuch grundlegend. Es hieße, diesen Wert zerstören, wollte man die Werke der großen Philosophen einzelwissenschaftlich in besondere Sätze auflösen oder nur künstlerisch als Gestaltung besonderer Erlebnisse verstehen. Beide Betrachtungsarten haben ihr Recht, aber über beiden steht die Erfassung des systematischen Ganzen; ebenso wie die einzelne Erkenntnis und das einzelne Erlebnis erst dadurch philosophisch wird, daß es den ihm innewohnenden Trieb über sich selbst hinaus verwirklicht und seine Einzelheit im Ganzen des Systems aufgibt.
LITERATUR Jonas Cohn, Der Fortschritt in der Philosophie, Logos, Bd. 4, Tübingen 1913
    Anmerkungen
    1) EDUARD FUETER, Geschichte der neueren Historiographie, München und Berlin 1911. (Handbuch der neueren und mittelalterlichen Geschichte, hg. von GEORG von BELOW und FRIEDRICH MEINECKE, Abt. I)
    2) vgl. WILHELM DILTHEY, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. In dem Werk "Weltanschauung", Berlin 1911. Ferner: FRISCHEISEN-KÖHLER, Zur Phänomenologie der Metaphysik, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 148, 1912.