ra-2A. ExnerE. TroeltschM. WentscherSchopenhauerA. Riehl    
 
FRANZ BRENTANO
Über die Zukunft der Philosophie
[Mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von
Adolf Exner "Über politische Bildung" als Rektor der Wiener Universität]

[1/2]

"Statt einer Wissenschaft soll jetzt ein künstliches Geistesspiel Exner tragen, das, ohne auf objektive Wahrheit Anspruch zu erheben, aufgrund augenblicklich gangbarer Ansichten eine Systematisierung von Verstandenem und Unverstandenem erstrebt, die, töricht genug, von Zeit zu Zeit dem heutigen Tag möglich scheint, und die er, dadurch in eine falsche Sicherheit gewiegt, vielleicht als Abschluß allen Wissens bewundert, die aber der morgige Tag schon widerlegen und, wie es zu geschehen pflegt, verlachen wird."

Vorwort

Der Vortrag sucht zu zeigen, wie unbegründet die Meinung Derjenigen ist, welche heutzutage an der Zukunft der Philosophie verzweifeln und insbesondere ihr die Möglichkeit absprechen, die naturwissenschaftliche Forschungsweise mit Erfolg auf ein Geistesgebiet zu übertragen. In beiden Beziehungen wendet er sich polemisch gegen die Ausführungen von ADOLF EXNER in seiner Inaugurationsrede als Rektor unserer Universität (am 22. Oktober 1891).

Eine solche Kritik einer Rektoratsrede mag ungewöhnlich sein, ungebührlich aber wird sie Niemand nennen, der beachtet, wie der Redner selbst nachdrücklich zu ihr aufgefordert hat. "Der Kritik", sagt er Seite 22, "sollen alle Tore offen stehen." Immerhin ziehe ich vor, erst jetzt, nach Ablauf des Studienjahres, die schon im Winter gehaltene Vorlesung (1) im Druck zu veröffentlichen.

Ich habe sie mit einigen Anmerkungen versehen, von denen die dringlichste mich dagegen verwahrt, gewisse Erscheinungen, die ich wie EXNER beklage und verdamme, in Schutz nehmen zu wollen. Andere enthalten die kurze Begründung einzelner im Text ausgesprochener Behauptungen. Ich weiß wohl, daß manche von ihnen nichtsdestoweniger gar Vielen paradox erscheinen werden; aber auch darin sehe ich mich mit EXNER einig, daß man bei wichtigen Fragen voll und offen seine Überzeugung bekennen soll, auch wenn man mit ihr zunächst nicht auf den Beifall der Mehrheit wird rechnen dürfen.

Das Manuskript war dem Buchhändler bereits übergeben, als mir die dritte Auflage der Rede zu Gesicht kam, und ich fand in ihr (Seite 34) eine Bemerkung eingefügt, von der ich annehmen darf, daß sie durch meine Schrift veranlaßt wurde. Sie sagt mir, daß ich irre, wenn ich die Worte des Redners "Das ist dahin" (Seite 54 der ersten Auflage) nach ihrem sensus obvius [offensichtlichen Sinn - wp] deutete. In der Tat konnte ich hier nicht wohl ahnen, welche Auferstehung EXNER für die Philosophie in einer fernen Zukunft erhoffte.

Doch was sage ich! für die Philosophie? - nicht doch! für etwas ganz Anderes, dem weder Psychologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik, noch Ästhetik, Logik, Ethik usw. entsprechen würden, und was nur, ander wirklichen Philosophie irre geworden, EXNER mit ihrem hohen Namen zu bezeichnen sich erlaubt. Statt einer Wissenschaft soll jetzt ein künstliches Geistesspiel ihn tragen, das, ohne auf objektive Wahrheit Anspruch zu erheben, aufgrund augenblicklich gangbarer Ansichten eine Systematisierung von Verstandenem und Unverstandenem erstrebt, die, töricht genug, von Zeit zu Zeit dem heutigen Tag möglich scheint, und die er, dadurch in eine falsche Sicherheit gewiegt, vielleicht als Abschluß allen Wissens bewundert, die aber der morgige Tag schon widerlegen und, wie es zu geschehen pflegt, verlachen wird. - War diese "Philosophie" das Ziel, welches einem SOKRATES oder ARISTOTELES, einem DESCARTES oder LOCKE vorschwebte, und das sie für würdig hielten, es mit der allerhöchsten Anstrengung ihrer Geisteskraft zu verfolgen? Und soll diese "Philosophie" uns die echtgeborene Königin sein, mit der verglichen wie wir jetzt erfahren, selbst EXNERs politische Wissenschaft, nur wie eine interimistische [zeitweise - wp] Regentin walten würde, um ihr am Tag der Mündigkeit den Thron der Ahnen in Demut wieder abzutreten? - Wahrhaftig nein! Die Königin muß immer eine ihres Volkes und die Königin der Wissenschaften notwendig selbst eine Wissenschaft sein.

So mildern die Bemerkungen, die EXNER, teils der Rede eingeschaltet, teils im Vorwort beigefügt hat, unseren Gegensatz in keiner Weise.

Doch Manches zeigt sich nach ihnen allerdings in einem neuen Licht, und für gewisse Betrachtungen, wie ich sie weiter unten angestellt habe, wäre dann der Anlaß entfallen.

Indem ich dies bekenne, wird es nun aber wohl Niemand mehr als Unrecht erscheinen, wenn ich den Vortrag in seiner ursprünglichen Gestalt unverstümmelt vor den Leser bringe. Wie sich zumeist Gutes und Übles aneinanderknüpfen, so hat meine Deutung der Worte nach ihrem nächstliegenden Sinn mir Gelegenheit gegeben, über einige besondere Fragen, die EXNER in seiner reichen Darstellung zur Sprache bringt, meine abweichende Meinung geltend zu machen, und auch hier mag der Vergleich der Anschauungen anregen und fördern.



Meine Herren!

1. Die Inaugurationsrede unseres Herrn Rektors (2), der, mit hochgeehrtem Namen, zu den vorzüglichsten Zierden der Schule zählt, ist in weiten Kreisen beachtet worden; insbesondere aber hat sie unsere "Philosophische Gesellschaft" in Aufregung versetzt wegen gewisser Behauptungen, welche die Absichten des Vereis zu entmutigen drohen. Eine Diskussion hat darüber stattgefunden, und ich bedauere umso mehr nicht dabei zugegen gewesen zu sein, als Seine Magnifizenz uns bei diesem Anlaß mit ihrem Besuch beehrte, und dialektische Wechselrede die angeregten Fragen gewiß am besten gefördert haben würde. Aber auch heute noch, wurde mir gesagt, erscheint eine Meinungsäußerung von meiner Seite Vielen erwünscht.

Zu diesem Zweck habe ich die Rede nochmals aufmerksam gelesen, mit erneutem Genuß wegen des Reichtums der Gedanken, die in schöner, durchsichtiger Darstellung geboten werden, und der hohen Ziele wegen, die der Redner in der wohlwollendsten Absicht verfolgt; zugleich aber auch mit besonderer Befriedigung, weil ich nunmehr die Gesellschaft hinsichtlich der erregten Besorgnisse mit bestem Gewissen beruhigen zu können glaube.

Insbesondere sind uns zwei Aufstellungen entgegen.

Erstens: Dem Redner gilt die Philosophie als etwas völlig Überlebtes. Sie hat nach seiner Überzeugung ihre Herrschaft eingebüßt, und keinerlei Hoffnung, sie wiederzugewinnen, ist ihr geblieben. Nur darum kann es sich noch handeln, wer der Erbe des erledigten Thrones werden soll.

Zweitens: Der Redner mißbilligt auf das Entschiedenste die Übertragung dder naturwissenschaftlichen Methode auf das Gebiet der Geisteswissenschaften. Auch dieser Spruch trifft die Bestrebungen des Vereins, und kaum weniger hart als der frühere, da wir, oder zumindest unsere rührigsten Glieder, durchaus nur in einem Verfahren nach Analogie der Naturwissenschaft das Heil philosophischer Forschung zu erblicken vermögen.

Diese beiden Behauptungen also haben Sie erregt in einem begreiflichen, aber doch, wie mir zumindest scheint, im Grunde nicht ganz berechtigten Maß.

2. Und eines ist Ihnen allen wohl mit mir ersichtlich: die beiden Behauptungen bieten uns dem Inhalt nach nichts Neues. Die eine vom Verlebt- und Verwebtsein der Philosophie haben wir längst als eine weitverbreitete Meinung gekannt und uns über sie hinweggesetzt; die andere aber, die sich auf die Methode bezieht, war zumindest in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vorherrschend, als SCHELLING nach seiner genial-konstruktiven, HEGEL nach seiner dialektischen Methode vorging, Jeder vom Andern verschieden, aber doch darin, daß in der Philosophie mit einer naturwissenschaftlichen Methode nichts zu richten ist, durchaus mit ihm einig. Die Forschungsweise eines BACON, DESCARTES, LOCKE, CONDILLAC galt allgemein als ein längst überwundenes kindliches Unterfangen. Da vor einem Vierteljahrhundert ich selbst in Würzburg meine philosophische Lehrtätigkeit begann, stellte ich allerdings die These auf: Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est [Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften. - wp]. Sie erschien aber damals keineswegs wie etwas Hergebrachtes; vielmehr wurde sie als höchst auffällig empfunden und unter meinen fünfundzwanzig zur Disputation angeschlagenen Thesen zur vorzüglichsten Zielscheibe der Angriffe gewählt. Und auch jüngst wieder ist es geschehen, daß Professor DILTHEY, welcher in seiner "Einleitung in die Geisteswissenschaften" der Philosoph der historischen Schule zu werden beanspruht, sich in eigentümlich neuer Weise polemisch zu ihr stellte. Es sind Zeichen dafür vorhanden, daß sich der Herr Rektor wesentlich auf dem gleichen Standpunkt wie dieser Schriftsteller befindet.

Also nochmals, die beiden Sätze sind nicht neu, und so könnten sie uns ansich wenig Eindruck machen; vielmehr nur etwa wegen der größeren Autorität, mit der sie uns hier entgegentreten, oder wegen der kräftigeren Beweise, durch welche der Redner sie stützt.

3. Irre ich nicht, so hat besonders der erstere Umstand beunruhigend gewirkt. Die Gelehrsamkeit des Sprechenden, das Feierliche der Gelegenheit, die erhabene Stelle, von der herab die Worte erklangen, - das Alles schien ihnen ein besonderes Gewicht zu verleihen.

Aber gerade in dieser Hinsicht hoffe ich Ihre Sorgen am leichtesten zum Schweigen zu bringen.

EXNER ist gewiß ein Mann von begründetem wissenschaftlichen Ruf, und die Würde, mit welcher ihn das einmütige Votum der Fakultäten betraut hat, gibt ihm heute für uns noch ein besonderes Ansehen. Aber dennoch hat der Gelehrte kaum jemals mit weniger Autorität gesprochen, und auch weniger die Absicht gehabt, autoritativ eindringlich seine Überzeugungen geltend zu machen, als in diesem Vortrag.

Seine eigenen Worte lassen dies auf das Deutlichste erkennen.

Wann, frage ich, spricht ein Forscher mit größerer Autorität, dann, wenn er sich über Fragen äußert, die zu seinem Fach gehören, oder dann, wenn er die Grenzen des Gebietes, auf welchem er sich einen Namen erworben hat, weit überschreitet? - Offenbar im ersten Fall. Aber der Herr Rektor unterläßt nicht, gleich von Anfang an zu erklären, er werde nicht von seinem speziellen Fach handeln, sondern zu einem viel allgemeineren Thema greifen.

Ferner: wann beansprucht ein Forscher mehr Autorität? Dann, wenn er etwas als sein Wissen geltend macht, oder dann, wenn er, im Gegensatz zum Wissen, etwas als seine bloß subjektive Überzeugung hinstellt? - Offenbar im ersten Fall. Aber der Herr Rektor trägt Sorge, uns gleich im Eingang nachdrücklichst zu erklären, daß, was er sagen wird, ein wissenschaftliches "Glaubensbekenntnis" ist und daß er seine subjektive "Persönlichkeit" darin zum Ausdruck bringt? Diese Worte sind an und für sich schon deutlich genug, werden es aber noch mehr, wenn wir gleich darauf ein doppeltes Gebiet unterscheiden hören, deren eines weit vom andern absteht. Jenes nennt EXNER den Intellekt, der allein nach ihm das Arbeitsfeld der lehrhaften Tätigkeit und sozusagen "die aus Begriffen gewebte Oberfläche der Seele" ist; dies bezeichnet er als die "Summe des Fühlens, Glaubens und Wollens", welche nach seiner Meinung erst unter jener Oberfläche "in unnahbarer Tiefe ruht".

Und schließlich noch einmal: wann nimmt ein Forscher mehr Autorität in Anspruch? Dann, wenn er auf die zweifellose Annahme seiner Lehre rechnet, oder dann, wenn er, statt allgemeiner Zustimmung, überwiegend Widerspruch erwartet und selbst zur kritischen Beleuchtung auffordert? - Offenbar im ersten Fall. Aber der Herr Rektor spricht es auf das Bestimmteste aus, daß er gewiß ist, vielfachen Widerspruch zu erregen, und er hegt diese Erwartung insbesondere darum, weil er sich bewußt ist, daß sein persönlicher Glaube in vielen Punkten ein fast vereinzelter ist. Indem er sich selbst wiederholt durch das Ansehen hochbedeutender Männer nicht anfechten läßt, gibt er uns ein wohl zu beherzigendes Beispiel, nicht sowohl auf den, der sagt, als auf das, was gesagt wird, zu achten. Und dieses uns zunutze machend, wollen wir jezt, durch keine Autorität befangen, seine Gründe in Erwägung ziehen.

4. Was also, fürs Erste, hat den Herrn Rektor zu seiner für die Philosophie so traurigen Meinung geführt? wodurch hält er sich für berechtigt, ihre Zeit für völlig abgelaufen zu erklären? - Die Stelle des Vortrags, welche diesen Artikel seines Glaubensbekenntnisses formuliert, macht einen doppelten Grund dafür namhaft: einmal den "Verfall der philosophischen Produktion" "seit den Zeiten Kants, Hegels, Schellings"; dann das Erlöschen der "ehedem so lebendigen und verbreiteten Teilnahme an philosophischen Fragen".

Wir wollen, einen um den andern, diese Gründe in Erwägung ziehen.

5. Seit KANT, HEGEL, SCHELLING, sagt uns der Redner, sei die philosophische Produktion im Verfall. Ist dem so, und wie sollen wir überhaupt dieses Wort vom Verfall der Produktion verstehen? - Mein der Herr Rektor vielleicht, daß unsere Zeit überhaupt aufgehört hat, originell philosophisch tätig zu sein, dahingehend, daß nur noch das von jenen berühmten Männern Überlieferte wiederholt oder in handwerksmäßiger Art verarbeitet wird? - Kaum ist es denkbar, daß er eine solche Ansicht hegt, da ja vielmehr ggerade der durchgängige Bruch mit der jüngsten Vergangenheit für die Jetztzeit charakteristisch ist. SCHELLING ist zuerst und rasch nach ihm HEGEL gefallen, während KANT sich zunächste behauptete, ja eine Zeit lang an Ansehen stieg. Aber auch über ihn lehrte ich schon vor einem Vierteljahrhundert, daß er einen Abweg eingeschlagen hat und daß seine willkürlichen Konstruktionen und sein widernatürliches a priori die Einleitung zu den Extravaganzen der Nachfolger gebildet haben. Heute ist hiervon eigentlich jeder wahre Fachmann mehr oder weniger überzeugt, wenn es auch nicht jeder gerade für ratsam hält, es bereits so unumwunden, wie ich es tue, auszusprechen.

So wenig also wäre es richtig, daß unsere Zeit in der Philosophie nichts Neues versucht und sich nur sklavisch von den Urteilen der Vorfahren bestimmen läßt, daß vielmehr die Gegenwart als die Zeit einer universellen Revolution oder, besser gesagt, einer Reformation der Philosophie von Grund auf bezeichnet werden muß. Das also konnte unmöglich die Meinung des Herrn Rektor sein, wenn er von einem Verfall philosophischer Produktion gesprochen hat.

Was er aber sonst gemeint hat, ist mir zumindest hiermit noch nicht klar geworden.

Oder sollte er vielleicht nur haben sagen wollen, daß mit jener Vorzeit verglichen, die Gegenwart an neuen philosophischen Erzeugnissen arm erscheint? - Wenn das so sein sollte, so könnten wir ihm wohl nicht widersprechen. Denn damals, in der Tat, wucherten die Systeme in üppigster Fülle empor; bändeweise und über Alles, was man nur verlangte, gaben die Meister ihre Weisheitssprüche von sich: heute dagegen verwendet so Mancher, der nicht zu den weniger Geachteten gehört, sein ganzes Leben auf die Erörterung weniger, engumgrenzter Fragen und hat als Schriftsteller vielleicht nur ein paar magere Heftchen aufzuweisen. Aber seltsam wäre es dann doch, wenn, wegen der verminderten Qualität allein, sofort von einem Verfall der Produktion zu sprechen. Wie müßten wir sonst z. B. die Wendung nach Abschluß des Mittelalters beurteilen, als BACON und DESCARTES die moderne Philosophie inaugurierten? BACONs Novum organon war ein schmales Büchlein, und die Meditationen, an denen DESCARTES jahrelang gearbeitet hat, zählten nur wenige Blätter. Ja Ähnliches gilt auch von den philosophischen Schriften eines PASCAL, eines LOCKE, und selbst eines Mannes, der auf anderen Gebieten so fruchtbar war, wie der Verfasser der Monadologie. Sie alle, was hätten sie, nur auf Zahl und Umfang ihrer Werke geachtet, gegen die Riesenbände der Scholastiker, oder auch nur gegen die 25 mächtigen Folianten des einzigartigen SUAREZ, eines älteren Zeitgenossen von DESCARTES, in die Waage zu legen?

Doch gewiß, es wäre unbillig, dem Redner einen so niederen Gesichtspunkt zuzschreiben. Sicher ist er mit uns darin einig, daß, wer von einem Verfall der philosophischen Produktion spricht, nicht bloß der Quantität, sondern vor allem auch der Qualität der Werke Rechnung tragen muß.

Wenn dies nun aber so ist, dann erlaube ich mir, als Fachmann, dem Herrn Rektor zu versichern, daß die philosophische Produktioin der Gegenwart die der ersten Hälfte des Jahrhunderts nicht bloß erreicht, sondern bei weitem übertrifft, und daß z. B. Alles, was SCHELLINGs umfangreiche Bücher enthalten, aufgewogen wird von ein paar Blättern, welche selbst Mancher, der nicht ausschließlich Philosoph ist, wie z. B. die Physiologen HELMHOLTZ und HERING, gelegentlich zum Fortschritt unserer Wissenschaft beiträgt. Und warum darf ich das so kühn behaupten? - Darum, weil von diesen bewiesen wird, während dort nur Willkür, ja volle Unverständlichkeit herrschte. Schon unser GRILLPARZER hatte diese in den Werken von HEGEL erkannt und sich daraufhin mit Abscheu von ihnen abgewendet. Er war mit dem Philosophen in Berlin persönlich bekannt geworden und wollte ihn, der ihm auf das Liebenswürdigste begegnet war, nun auch in seinen Schriften kennen lernen. Aber, so ansprechend und bescheiden er mir persönlich erschien, erzählt er uns in seiner Selbstbiographie (3), so unleidlich abstrus und anmaßend zeigte er sich mir in seinen Werken.

Doch die Frage nach dem qualitativen Wert hängt natürlich mit der Methodenfrage zusammen, auf welche wir später eingehender zurückzukommen haben.

6. Es bleibt der andere Grund, weswegen unsere Wissenschaft dem Herrn Rektor für verloren gilt, nämlich das Erlöschen des philosophischen Interesses in weiteren Kreisen.

Aber auch hier muß ich die Tatsache selbst auf das Entschiedenste in Abrede stellen. EXNER, der sie behauptet, hat sich an trügerische Zeichen gehalten und würde, hätte er genauer untersucht, zu ganz entgegengesetzem Urteil gekommen sein. Er würde gefunden haben, daß das philosophische Interesse nicht im Geringsten abgenommen, die philosophische Bildung aber sogar entschieden zugenommen hat.

Es ist wahr, die damals übervollen Hörsäle sind heute vielfach verödet. Aber nicht darum sind sie es, weil jetzt weniger Interesse bestände, sondern darum, weil man weniger Hoffnung hegt, das Interesse hier befriedigt zu finden. Und an diesem verringerten Vertrauen ist insbesondere der Mißbrauch schuld, der in jenen gepriesenen Zeiten damit getrieben worden ist. So sind dann auch die Vorlesungen der alten Richtung ganz besonders vernachlässigt. Einst lief man zu den Herren wie zu Wunderdoktoren, heute läßt man sie wie erkannte Scharlatane vergeblich ihre Künste anpreisen. Sehr natürlich, daß das Mißtrauen dann weiter griff und auch Solche traf, die sich nicht mitschuldig gemacht hatten. Aber doch beginnt man bereits zu unterscheiden. Als ich mich im Jahre 1866 in Würzburg habilitierte, war der Lehrstuhl der Philosophie mit einem eifrigen Baaderianer, also mit einem Philosophen besetzt, dessen Richtung der SCHELLINGschen verwandt war. Der Saal war verlassen und auf der Tür stand von eines dreisten Studenten Hand das Wort "Schwefelfabrik" mit großen Lettern geschrieben. Aber siehe! ich, obwohl gewiß nur ein unreifer Anfänger, fand sofort eifrige Zuhörer, und als ich nach sechs Jahren von der Universität schied, hatten die Verhältnisse sich so verändert, daß an der ganzen Hochschule, selbst die berühmte medizinische Fakultät nicht ausgenommen, kein Kolleg so viele Teilnehmer zählte als das philosophische. Ich sehe noch die jungen Leute vor mir, wie sie manchmal eng zusammengedrängt saßen, so daß die Ellenbogen sich beim Schreiben beirrten.

Nun mag freilich Einer, der dies hörtf, mir ein "hic Rhodus, hic salta" [Zeige jetzt, was du kannst! - wp] zurufen, aber ich antwortete getrost: Gar wohl! nur soll man mir zum Tanzen erst die Beine frei machen. Und auch jetzt schon deutet das Entstehen unserer "Philosophischen Gesellschaft" darauf hin, daß trotz empfindlicher Störungen das philosophische Leben Wiens einigermaßen im Aufschwung begriffen ist.

Doch was spreche ich von Lokalem und Partiellem, wo vollere und allgemeinere Zeugnisse zu Gebote stehen?

Wir alle haben erlebt und erleben noch heute die Bewegung, welche DARWINs Hypothese hervorgerufen hat. Keine andere, oder vermeintliche Entdekung hat in der neuesten Zeit ein ähnliches Aufsehen erregt, weder der allumfassende Satz von der Erhaltung der Kraft, noch die segenverheißende Kunde von den zu hoch gelobten und zu tief verdammten Impfungen des ROBERT KOCH. Fragen wir aber warum, so liegt der Grund unverkennbar darin, daß die Hypothese DARWINs Licht zu geben versprach für die große Frage, ob eine wirkliche oder nur scheinbare Zweckordnung in der lebendigen Natur besteht, und ob infolge davon das Weltall vielleicht ohne einen schöpferischen Verstand begreiflich wird. Es war also ein metaphysisches, ein in einem eminenten Sinn philosophisches Interesse, welches sich in jener Bewegung als mächtig erwiesen hat.

Wiederum haben wir erlebt und erleben wir noch heute, wie der Hypnotismus, ja wie der Spirituismus überall in der Gesellschaft und in den Blättern besprochen wird. Und auch diese, was sind sie anderes als Erscheinungen, die zum Gebiet der Psychologie gehören, ja zum Teil solche, die ebenfalls in das Gebiet der Metaphysik hineinreichen würden? Ganz unzweifelhaft sind es also auch hier philosophische Interessen, die ihr Leben bekunden.

In vielen Städten sehen wir spiritistische Vereine sich bilden, in anderen aber, wie dies namentlich in England und Amerika geschiehtf, neben diesen auch ethische, also Vereine, die auf praktischem Gebiet die höchsten philosophischen Fragen verfolgen. Was sind sie anderes als neue Belege für den Bestand, ja für die Ausbreitung philosophischer Interssen in weiteren und weiteren Kreisen?

Ja aus Basel kam uns kürzlich der Bericht, daß ein dortiger Bürger sein ganzes Gut, ein Vermögen von mehreren Hunderttausenden, testamentarisch Demjenigen bestimmt hat, der die Natur der Seele ergründen wird. Die Bedingungen, welche der Eifer des Erblassers gesetzt hat, waren etwas seltsamer Art. Denn der Forscher sollte sich in eine Art Konklave [Klausur - wp] begeben und es nicht eher verlassen, bis die Lösung des Rätsels gefunden ist. Und dieses Ungestüm hatte schließlich begreiflicherweise die Annullierung des Testaments zur Folge. Vielleicht sagt einer daraufhin: der Mann war offenbar unklug, der Vorfall darum ohne jede Bedeutung. Aber ESQUIROL belehrt uns eines anderen. Er konstatiert, daß die Wahnvorstellungen der Irren mit den Geschichtsperioden wechseln, jetzt religiös, jetzt politisch, jetzt wieder einem anderen Gebiet zugehörig, immer aber von den die Zeit bewegenden Interessen beeinflußt sind.

Blicken wir auf das Gebiet der schönen Literatur, so begegnet uns auch hier, was unsere Behauptung bestätigt. Der große Erfolg, den ein Romanschriftsteller wie TOLSTOI und ein Dramatiker wie IBSEN erringen, führt sich anerkanntermaßen besonders auch darauf zurück, daß bei ihnen neue philosophische Lebensanschauungen zu einem dichterischen Ausdruck gelangen. Auch da WILBRANDT im Meister von Palmyra an die Seelenwanderung, und so an eine philosophische Frage rührte, hat dieses Drama vor allem, was er sonst geschaffen hat, so vorzügliche Beachtung gefunden, daß Einer zu prophezeien wagte, man werde den Dichter einmal den Meister des Meisters von Palmyra nennen. Ja selbst bei GOETHE ist es unleugbar, daß sein Faust, sogar den zweiten Teil mitinbegriffen, unter allen seinen Werken als das interessanteste gilt, und daß dies damit zusammenhängt, daß er in dieser Dichtung vor allen, wie ein Philosoph, eine weltumfassende Anschauung entwickelt.

Abermals und immer wieder stoßen wir auf Wirkungen jenes Interesses, das unser Redner der Gegenwart absprechen will.

Doch seine Rede, ist sie nicht zugleich selbst ein Zeichen für das, was sie in solcher Weise bestreitet? - Der Herr Rektor sagt uns zu Beginn, er habe sein Thema gewählt, obwohl es nicht zum engeren Gebiet seiner Wissenschaft gehört, indem er ein lebendigeres und allgemeineres Interesse für eine solche Frage erwartet hat, und der Erfolg hat bewiesen, daß er sich hierbei nicht verrechnet hat; denn kaum jemals früher wurde ein Wort von einem erhabenen Stuhl gesprochen, welches so vielseitig berücksichtigt worden wäre, wie das seinige. Aber dieses Thema, was ist es? - Ich sage: es ist ein philosophisches Thema, so gewiß wie die Frage, welchen fördernden oder irrenden Einfluß der Aufschwung einer Kulturbestrebung auf eine andere übt und welches wissenschaftliche Interesse dem zwanzigsten Jahrhundert die Signatur aufdrücken wird, nichts anderes als ein Stück Philosophie der Geschichte genannt werden kann.

Und wie im Ganzen seiner Rede, so zeigt der Herr Rektor in jedem ihrer Teile sich wieder und wieder in eine philosophische Betrachtung vertieft. Psychologisches, Logisches, Ethisches, Metaphysisches führt er in rascher Folge an unseren Augen vorüber. Er forscht nach dem Wesen des Patriotismus und seinen Quellen - das ist Psychologie. Er bestimmt den Begriff der Bildung und fragt, woraus sie hervorgeht. - Das ist wieder Psychologie. Er gibt eine Einteilung der psychischen Tätigkeiten und macht jene schon erwähnte Scheidung zweier Gebiete, des Intellekts, welcher "die aus Vorstellungen und Begriffen gewebte Oberfläche der Seele sei" und eines anderen Gebietes, welches "die Summe des Fühlens, Glaubens, Wollens" umfassen soll, und von dem er sagt, daß es mehr in der Tiefe liegt. - Also wieder ein Stück Psychologie und von sehr eigentümlicher Art.

Daran reiht sich sofort eine ethische Bemerkung. Jener Intellekt macht keinen Teil des Werts des Menschen aus; sein Fühlen, Glauben, Wollen aber tut es.

Und wenn hier die Ethik, so begegnet uns anderwärts die Logik, denn Seite 35 handelt er vom Weg der Kausalzusammenhänge zu erkennen und Seite 45 von der Frage nach der Übertragbarkeit der naturwissenschaftlichen Methode auf geistige Gebiete.

Andere Sätze wieder greifen in die Ontologie und Metaphysik über. So wird uns gelehrt, daß alles von notwendigen Kausalgesetzen beherrscht ist, das moralisch politische Gebiet ebenso wie das mechanische. Und Seite 35 wird sogar behauptet, daß das Gesetz von der Erhaltung und Verwandlung der Kraft ganz allgemein besteht und auch für die politischen Kräfte Geltung hat. Dann, daß die Gemeinde, daß der Staat "wesenhafte" Dinge sind, daß sie nicht aus der Summe der zugehörigen Menschen und Territorien bestehen, sondern etwas sind, was "hinter beiden liegt", ein "wesentlich Anderes", aber ebenso "Reales". Wiederum hören wir, daß der Panmechanismus, d. h. die allgemeine mechanische Weltanschauung, welche manche Physiker vertreten, zu verwerfen ist. Und ebenso, daß eine teleologische Ordnung in der Natur besteht, wonach alles in ihr sich selbst Zweck ist. So sind auch die Staaten, als Naturprodukte, sich selber Zweck.

Also wirklich Psychologie, Ethik, Logik, Metaphysik, mit einem Wort Philosophie und wieder Philosophie ist, was der Rede des Herrn Rektor Zeichnung und Farbe gibt; und so finden wir ihn dann auch wiederholt die Autorität berühmter Philosophen anrufen. Er zitiert ARISTOTELES und HEGEL, dessen Spruch: "Alles Wirkliche ist vernünftig", sich der Redner zueigen macht.

Wer mit einer solchen Rede ein allgemeines Interesse erwartet und allgemeines Interesse findet, klingt es von dem nicht wie contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp], wenn er in ihr erklärt, daß das philosophische Interesse in weiteren Kreisen erstorben ist? - Jedenfalls beweist er durch sein Unternehmen und durch seinen Erfolg das Gegenteil von dem, was er lehrt: das philosophische Interesse lebt auch heute.

7. Ich habe gesagt, in unseren Tagen ist das philosophische Interesse nicht geschwunden, die philosophische Bildung aber hat sich in ihnen vermehrt. In letzterer Beziehung bin ich den Beweis noch schuldig.

Aber der Herr Rektor hat mir die Sache hier leicht gemacht. Er hat ein Kriterium angegeben, welches, wenn wir ihm vertrauen dürfen, auf das Deutlichste erkennen läßt, daß jene angeblich "goldenen" Zeiten der Philosophie die Zeiten höchster philosophischer Unbildung gewesen sein müssen. Der sicherste Maßstab für die Beurteilung des Bildungsgrades, lehrt er uns, ist der Takt für das Mögliche. Wer alles für möglich, nichts für unmöglich hält, der trägt, so sagt er, das untrügliche Zeichen der Unbildung an sich.

Wo nun, frage ich, könnte Einer dieses untrügliche Zeichen sicherer gegeben finden, als beim philosophierenden Publikum in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts? - Jede neue Schrift eines unreifen jungen Menschen, wie SCHELLING es damals war, begrüßte der philosophische Aberglaube seiner Zeitgenossen mit der Hoffnung auf die geisterlösende Offenbarung. Und bald darauf, von diesem Propheten abfallend, lag die Welt anbetend vor HEGEL auf den Knien und glaubte ihm, als er verkündete, er besitze in seiner absoluten Philosophie den endgültigen Abschluß aller Forschung und vermöge mit seiner dialektischen Methode von einem schlechthin leeren Begriff, einem völlig gedankenlosen Denken ausgehend, sich die ganze Fülle der Wahrheit spontan entwickeln zu lassen.

Über einen anderen Philosophen jener Zeit, Professor WAGNER in Würzburg, der, mit eng umgrenzter Herrschaft, sozusagen als "Philosoph der inneren Stadt", dort Sensation machte, hat uns unter Anderen der große Naturforscher KARL ERNST von BAER in seiner Selbstbiographie berichtet. Er gab neben einer hochtönenden Naturphilosophie und anderen Proben übermenschlicher Weisheit auch ein unfehlbares Rezept zur Fabrikation echt poetischer Werke. Wie bei HEGEL in einem Dreischlag, so ging bei WAGNER alles in einem Vierschlag vorwärts und natürlich, wie BAER sofort, aber wie es scheint unter den Zuhörern allein erkannte, war all dieser Fortschritt bloßer Schein. In Berlin durchreisend kam BAER dann zufällig in den Hörsal eines philosophischen Dozenten, der sich gewissenhaft mit einer Spezialforschung befaßte. Das Publikum wußte den Mann nicht zu würdigen, so, daß heute ohne BAERs Erwähnung sein Name selbst vergessen wäre. "So wenig", sagt BAER, "zog Horkels gründlich philosophischer Vortrag die Menge an, daß auch nach meinem Hinzutreten sich nur 6 Zuhörer in dem ansehnlichen Hörsal fanden als rari nantes in gurgite vasto [seltene Schwimmer in einem riesigen Meer - wp]. Wie voll hatte ich im Jahr vorher (1815) den Hörsal des alles vierteilenden WAGNER gefunden!" (4)

Unsere Zeit, die, wenn überhaupt, nur von bescheiden sorgsamer Einzelarbeit etwas erwartet, wie ganz anders zeigt sie sich dadurch im Sinne EXNERs als philosophisch gebildet! Gewiß auch gegenwärtig fehlt es nicht an solchen, die philosophisch Unmögliches für möglich halten, sahen wir doch selbst den geistvollen ZÖLLNER in tragischer Weise einem spiritistischen Betrug zum Opfer fallen: aber was ist aller spiritistische Wahn gegen den Glauben an monströse Unternehmungen, wie sie die erste Hälfte des Jahrhunderts kennzeichneten? Nichts Ähnliches hat heute Bestand und mit Staunen hören wir, daß solche Afterphilosopheme [Scheinphilosopheme - wp] jemals einen Anhang zu gewinnen und Epoche zu machen vermocht haben.
LITERATUR: Franz Brentano, Über die Zukunft der Philosophie, Wien 1893
    Anmerkungen
    1) am 22. März 1892 in der "Philosophischen Gesellschaft" in Wien.
    2) Über politische Bildung, Inaugurationsrede, gehalten am 22. Oktober 1891 im Feststsall der Universität von ADOLF EXNER, derzeit Rektor der Wiener Universität. (Seitdem ist die Rede in Leipzig in zweiter und dritter Auflage erschienen. Ich zitiere nach der ersten Ausgabe; nach der neuesten wäre jede Seitenzahl um 20 bis 21 Einheiten niedriger zu setzen.)
    3) Grillparzers sämtliche Werke, Bd. X, 1872, Seite 159
    4) Wie BAER urteilte auch der große französische Forscher, mit dem er sich in seiner zoologischen Klassifikation berührt. LÜTTROW erzählt von den Vorlesungen CUVIERs: "Sein Hauptwerk dabei war, seine Landsleute vor der damals in Frankreich immer mehr um sich greifenden deutschen Naturphilosophie zu warnen."