H. CohnHegelA. DöringDas Bedürfnis | |||
(1862-1914) Zur Lehre von den Bedürfnissen [3/3]
III. Von den Gefühlen [Fortsetzung] 55. Um etwas verwenden zu können, muß man es bekanntlich vorerst erst haben. Das will sagen: jene Teil der uns umgebenden Körperwelt, welchen solche Kräfte innewohnen, deren Verwendung das Ziel menschlicher Verwendungsbegehren bildet, müssen sich in dem Zeitpunkt, in welchem sich das Verwendungsbegehren regt, in einem bestimmten örtlichen Verhältnis zum Begehrenden befinden und zwar in jenem Verhältnis, welches erforderlich ist, damit der Verwendungsakt vor sich gehen könne. Dieses Verhältnis ist bei verschiedenen Verwendungsbegehren nach Speisen und Getränken erfordert, daß sich letztere wenigstens im Mund, wenn nicht gar im Magen des Begehrenden befinden, die Befriedigung der Verwendungsbegehren nach Kleidern, daß letztere vom Begehrenden nach einer Wohnung, daß der Begehrende diese betreten habe, die Befriedigung der Verwendungsbegehren nach dem Lesen eines Buches, daß dieses, entsprechend beleuchtet, in einer gewissen Entfernung vor den Augen des Begehrenden gehalten werde, die Befriedigung der Verwendungsbegehren nach dem Anhören von Musik, z. B. in einem Konzert, daß sich der Begehrende in den Konzertsaal begeben hat usw. Aus den angeführten Beispielen ist zu ersehen, daß die zu verwendenden Mittel sich in einer je nach der Natur des betreffenden Verwendungsaktes sehr verschiedenen Entfernung vom Begehrenden befinden müssen, damit der Verwendungsakt erfolgen könne. Wir wollen dieses örtliche Verhältnis kurz das verwendungsmäßige Verhältnis der zu verwendenden Mittel zum Begehrenden oder die verwendungsmäßige Verfügung des Begehrenden über dieselbe nennen. 56. Nun ist es aber bekannt, daß sich die zu verwendenden Mittel in aller Regel nicht schon von Natur aus in jedem Augenblick, wo sich das betreffende Verwendungsbegehren regt, in einem verwendungsmäßigen Verhältnis zum Begehrenden befinden. Eine Ausnahme von dieser Regel besteht nur bei der atmosphärischen, zum Atmen erforderlichen Luft, welche alle Körper auf der Erdorberfläche umgibt und vermöge ihres Drucks in die Atmungsorgane selbst eindringt, dann bei den Wärme- und Lichtstrahlen der Sonne und den Lichtstrahlen des Mondes, soweit sie den Menschen überhaupt zugänglich sind. Alle übrigen Befrieidungsmittel müssen vorerst durch menschliche Tätigkeit aus ihrer natürlichen Lage in das verwendungsmäßige Verhältnis versetzt werden oder es muß der Begehrende seine örtliche Lage so verändern, daß zwischen ihm und den zu verwendenden Mitteln das verwendungsmäßige Verhältnis eintritt. Diese Tätigkeit ist je nach der Art des verwendungsmäßigen Verhältnisses und der Art jenes Verhältnisses, in welchem sich die zu verwendenden Mittel von Natur aus befinden, sehr verschieden. Befindet sich z. B. das zu trinkende Wasser in einer einige Schritte entfernten Quelle, so wird die oben erwähnte Tätigkeit jedesmal dann ausgeführt werden können, wenn sich das Verwendungsbegehren regt. Ist aber die Quelle vom Wohnort des Begehrenden einige Kilometer entfernt, so wird man vielleicht eine Wasserleitung anlegen oder sich das Wasser in größeren Gefäßen immer für einen oder mehrere Tage auf einmal holen. Handelt es sich aber um Mittel, die von der Natur nicht fertig geliefert werden, sondern für welche in der Natur nur die Rohstoffe zu finden sind, so müssen die zu verwendenden Mittel vorerste erzeugt werden. In solchen Fällen wird die in Rede stehende Tätigkeit, durch welche die zu verwendenden Mittel aus ihrem natürlichen Verhältnis in das verwendungsmäßige versetzt werden, in der Regel nicht uno tractu [zusammennhängend - wp] ausgegeführt, sondern in zwei oder mehrere Stadien geteilt. In jedem dieser Stadien befinden sich die zu verwendenden mittel zum Begehrenden oder zu jener Person, die statt seiner tätig ist, in einem anderen Verhältnis, welches sich dem verwendungsmäßigen umso mehr nähert, je mehr Stadien bereits durchgemacht wurden. Für jedes dieser Stadien paßt der Ausdruck Verfügung des Begehrenden über die zu verwendenden Mittel. Das wichtigste von diesen Stadien ist für uns vorläufig das unmittelbar vor dem verwendungsmäßigen die verwendungsbereite Verfügung immer zugleich auch eine rechtliche ist. Welches örtliche Verhältnis der zu verwendenden Mittel zum Begehrenen, bzw. zu derjenigen Person, welche statt seiner den letzten Abschnitt der in Rede stehenden Tätigkeit ausführen soll, als verwendungsbereite Verfügung über diese Mittel zu bezeichnen ist, ist je nach der Natur des betreffenden Verwendungsaktes sehr verschieden und innerhalb gewisser Grenzen gar nicht genau zu bestimmen. Kann von einer solchen Verfügung, z. B. über Speisen, erst dann die Rede sein, wenn sie schon auf dem Tisch serviert sind, oder schon dann, wenn sie sich fertig gekocht in der Küche befinden, oder auch schon dann, wenn sie noch ungekocht in der Speisekammer liegen? Da für die Wirtschaftswissenschaft in der Regel nicht die verwendungsbereite, sondern die wirtschaftliche Verfügung in Betracht kommt, (1) so genügt es zu sagen, daß im Allgemeinen jene Befriedigungsmittel (es sind immer Genußgüter oder Güter erster Ordnung gemeint) als in der verwendungsbereiten Verfügung des Begehrenden befindlich anzusehen sind, welche zu ihm in einem solchen örtlichen Verhältnis stehen, daß jederzeit, wenn bei ihm das betreffende Verwendungsbegehren rege wird, nur wenig anstrengende und wenig zeitraubende Bewegungen erforderlich sind, um sie aus diesem Verhältnis in das verwendungsmäßige zu versetzen. 57. Auch in diesem Verhältnis befinden sich von Natur aus sehr wenige Befriedigungsmittel: manchmal das Wasser, noch seltener einige wildwachsende Früchte, Wild, Fische und dgl. Es ist daher für jeden Menschen, der für die Befriedigung seiner Verwendungsbegehren selbst zu sorgen hat, diese letztere von der Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung über die zu verwendenden Mittel abhängig; diese setzt aber darauf gerichtete willkürliche Handlungen und diese wiederum darauf gerichtete Begehren voraus. So werden also die Verwendungsbegehren fast für alle Erwachsenen zur Ursache einer neuen Kategorie von Begehren, welche wir Verfügungsbegehren nennen wollen. Nach dem bisher Gesagten könnte es den Anschein haben, als ob das unmittelbare Ziel eines Verfügungsbegehrens nur die Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung über die zu verwendenden Kräfte, bzw. die materiellen Träger derselben sein könnte. Dem ist aber nicht so. Denn da die schon erlangte Verfügung über die zu verwendenden Mittel, wenn man sich bis zum Zeitpunkt ihrer Verwendung um sie nicht kümmern würde, in den meisten Fällen durch Naturkräfte, oder Tiere oder durch andere Menschen verloren ginge, so muß man erstens nicht bloß auf die Erlangung, sondern auch auf die Erhaltung der bereits erlangten verwendungsbereiten Verfügung bedacht sein. Mit Rücksicht darauf zerfallen die Verfügungsbegehren in Verfügungserwerbs- und in Verfügungsbesitzbegehren. Zweitens ist zu erwägen, daß die auf die Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung gerichtete Tätigkeit in der Regel nicht uno tractu ausgeführt zu werden pflegt, sondern daß die meisten Befriedigungsmittel auf dem Weg von ihrem natürlichen Verhältnis (Standort) bis zu einer verwendungsbereiten Verfügung in mehreren Stationen haltmachen. Demgemäß bestehen auch die Verfügungserwerbsbegehren in den meisten Fällen aus mehreren Stadien. Nur im letzten Stadium bildet die Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung das unmittelbare Ziel des Verfügungsbegehrens, in den früheren Stadien ist sie nur ein mittelbares, entfernteres Ziel desselben. Schließlich ist es keineswegs notwendig, daß jeder die Erlangung der Verfügung über einen Gegenstand für sich selbst begehrt; man kann sie auch für einen anderen schlechthin oder als Voraussetzung der Erlangung der eigenen Verfügung über einen anderen Gegenstand begehren. Danach unterscheidet man ipsile, alterile und mutuelle Verfügungsbegehren [eigene, andere und gegenseitige - wp]. Die alterilen Verfügungsbegehren brauchen keineswegs durch alterile Verwendungsbegehren hervorgerufen zu sein; es ist ja nicht selten der Fall, daß ein A die Erlangung der Verfügung über einen Gegenstand für einen B deshalb begehrt, weil er weiß, daß der letztere ihm später diesen Gegenstand schenken wird. Eine besonders hervorragende Bedeutung haben für die Wirtschaftswissenschaft die mutuellen Verfügungsbegehren, denn auf ihnen beruth nicht nur alle wirtschaftliche Kooperation, sondern auch der ganze Tausch- und Kreditverkehrt. 58. Aufgrund des im § 57 Gesagten können wir nun folgende Definition aufstellen:
Wie beim Verwendungsbegehren, so ist es auch beim Verfügungsbegehren nicht notwendig, daß es bereits in das Stadium des Willens getreten ist. 60. Zur Entstehung eines Verfügungsbegehrens ist erforderlich:
2. a) bei Verfügungserwerbsbegehren: ein gewisses oder wenigstens wahrscheinliches Urteil des Inhalts, daß sich die zu verwendenden Befriedigungsmittel nicht bereits in der Verfügung des Begehrenden oder jener Person, welche sie erwerben soll, befinden, oder des Inhalts, daß sie sich nicht in seiner Verfügung oder in der Verfügung jener Person, welche sie erwerben soll, zur Zeit der Entstehung des Verwendungsbegehrens befinden werden, wenn er untätig bleibt; b) bei Verfügungsbesitzbegehren: ein gewisses oder wenigstens wahrscheinliches Urteil darüber, daß die Verfügung über die zu verwendenden Mittel verloren gehen wird, wenn der Begehrende untätig bleibt, und 3. ein gewisses oder doch wenigstens wahrscheinliches Urteil des Inhalts, daß die Erlangung, bzw. Erhaltung der Verfügung über die zu verwendenden Mittel möglich ist, wenn der Begehrende nicht untätig bleibt. 61. zu 1a: Für jene Verfügungsbegehren, die durch gegenwärtige Verwendungsbegehren hervorgerufen werden, können wir hinsichtlich des Entstehens und Erlöschens dieser Verwendungsbegehren auf die §§ 44 - 53 verweisen. Zu beachten ist hier, daß das Ziel des Verfügungsbegehrens nicht immer die Erlangung der Verfügung seitens derselben Person bilden muß, welche das Verwendungsbegehren hegt oder hegen wird, dessen unmittelbares Ziel die Verwirklichung des Verwendungsaktes zwecks Herbeiführung eines eigenen oder fremden Wohlfahrtszuwachses bildet. Dafür liefern unzählige Belege die Erwerbungen der Verfügung nicht nur über solche Güter, die bloß als Tauschgüter verwendet werden können, sondern auch über solche, deren Besitz nur deshalb angestrebt wird, um sie zu verschenken oder zu anderen karitativen Widmungen zu verwenden. Auch in solchen Fällen haben die Verfügungsbegehren die Existenz aufrechter Verwendungsbegehren zur Voraussetzung. Bei den Verfügungsbegehren nach Tauschgütern ist die Richtigkeit dieser Behauptung einleuchtend, da solche Verfügungsbegehren ihren Ursprung in den Verwendungsbegehren nach jenen Gütern haben, welche man sich für die Tauschgüter einzutauschen hofft. Wird aber die Verfügung über gewisse Mittel angestrebt, um sie zu verschenken, so ist das Verschenken gleichfalls als ein Verwendungspunkt anzusehen, durch welchen der subjektive Wohlfahrtszustand des Schenkenden erhöht wird. 62. zu 1b: Damit durch ein noch nicht aktuelles Verwendungsbegehren ein Verfügungsbegehren nach gewissen Befriedigungsmitteln hervorgerufen werden kann, muß die betreffende Person das gewisse oder wenigstens wahrscheinliche Urteil fällen, daß sie in einem künftigen Zeitpunkt ein Verwendungsbegehren nach diesen Befriedigungsmitteln haben werde. Künftige Verwendungsbegehren, über welche eine Person kein - sei es gewisses oder doch wahrscheinliches - Urteil fällt, daß sie in einem zukünftigen Zeitpunkt eintreten werden, können bei dieser Person kein Verfügungsbegehrenn hervorrufen. Das psychische Phänomen, durch welches das auf die eben beschriebene Weise entstandene Verfügungsbegehren hervorgerufen wird, stellt sich als der gegenwärtige Reflex ("psychische Widerschein" [von WIESER]) dessen dar, was man in der Wirtschaftswissenschaft mit dem Namen künftiges Bedürfnis bezeichnet. 63. Über die Natur dieses psychischen Reflexes herrscht unter den hervorragendsten Vertretern unserer Wissenschaft eine sehr große Meinungsverschiedenheit. So bezeichnet ihn JEVONS (2) als ein "present anticipated feeling"; ihm schließt sich SAX an (3), welcher von einem "Vorempfinden" (im Sinne von Vorfühlen) und "Vorfühlen" künftiger Bedürfnisse spricht. Die Meinung beider bekämpft aber sehr energisch von BÖHM-BAWERK (4). Insofern der letztgenannte Autor gegenüber den beiden früheren behauptet, daß, wenn durch künftige Bedürfnisse gegenwärtige Verfügungsbegehren hervorgerufen werden, die wesentliche Ursache der letzteren nicht aktuelle Gefühle bilden, können wir ihm vollkommen beistimmen. Wenn das, was wir oben in den §§ 25 - 29 über das Entstehen der Begehren gesagt haben, richtig ist, wenn also selbst zur Entstehung eines Verwendungs-, bzw. Wohlfahrtsbegehrens nicht immer ein aktuelles Gefühl erforderlich ist, sondern in dem in § 26 besprochenen Fall eine Diskrepanz zwischen zwei vorgestellten Gefühlen dazu hinreicht, so können wir sagen, daß zwar die Vorstellung jener künftigen Gefühle, bzw. Gefühlsvorstellungen, welche seiner Zeit das Verwendungsbegehren hervorrufen sollen, von einem aktuellen Gefühl (Vorfreude, Sorge) begleitet sein kann, daß aber dieses Gefühl für das Entstehen des Verfügungsbegehrens nicht wesentlich ist. Dagegen können wir von BÖHM-BAWERK, falls er der Ansicht ist, daß die bloße Vorstellung einer künftigen Lust oder eines künftigen Leides genügt, um ein gegenwärtiges Verfügungsbegehren hervorzurufen, keineswegs beipflichten. Meines Erachtens ist die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen eines Verfügungsbegehrens bei einer Person in dem in Rede stehenden Fall das gewisse oder wahrscheinliche Urteil oder doch eine ohne die Fällung eines förmlichen Urteils gehegte Überzeugung derselben, daß sie in einem künftigen Zeitpunkt ein Verwendungsbegehren nach den betreffenden Befriedigunsmitteln haben werde. Selbst wenn man das Verfügungsbegehren ohne Einschiebung des Verwendungsbegehrens direkt aus den Gefühlen, bzw. Gefühlsvorstellungen entstehen lassen wollte, könnte man namentlich in jenen Fällen, in welchen das Wohlfahrtsbegehren auf die Ersetzung eines positien Wohlfahrtszustandes durch einen anderen, auf der subjektiven Wohlfahrtsskala höher stehenden Wohlfahrtszustand hinzielt, nach dem, was wir in den §§ 26 bis 28 erfahren haben, die vorerwähnte Ansicht nicht für richtig erklären, denn in solchen Fällen genügt die Vorstellung des auf der subjektiven Wohlfahrtsskala höher stehenden Wohlfahrtszustandes nicht zum Entstehen des Begehrens, sondern es sind hierzu noch mehrere Existenzialurteile erforderlich. Aber auch in solchen Fällen, wo das Wohlfahrtsbegehren nur die Nichtverwirklichung eines drohenden negativen Wohlfahrtszustandes zum Ziel hat (§ 25), reicht die bloße Vorstellung der Unlust, wie die tägliche Erfahrung zeigt, zur Entstehung eines Verfügungsbegehrens nicht aus. Wenn z. B. jemand von Zeit zu Zeit an heftigen Kopfschmerzen leidet, gegen welche es kein Heilmittel gibt, infolgedessen er auch kein Verwendungsbegehren nach einem bestimmten Heilmittel haben kann, so wird selbst die lebhafteste Vorstellung des in einigen Tagen zu erwartenden Übels bei ihm kein Begehren nach der Erzeugung oder dem Erwerb eines Heilmittels hervorrufen. Ebenso wird, wenn sich z. B. jemand vornimmt, in 14 Tagen zu fasten, selbst die lebhafteste Vorstellung des Hungers, welchen er an einem Fasttag empfinden wird, in ihm kein Begehren nach der Erzeugung von oder nach der Verfügung über Nahrungsmittel für diesen Tag hervorrufen. (5) 64. Es ist eine unschätzbare Gabe des Menschen, der er den größten Teil seiner gegenwärtigen hohen Kultur verdankt, daß er eine große Zahl seiner künftigen Verwendungsbegehren nicht bloß vorauszusehen vermag, sondern daß das Vorauswissen derselben unter gewissen Voraussetzungen gegenwärtige Verfügungsbegehren nach solchen Gütern auszulösen fähig ist, welche er für die seinerzeitige Befriedigung der künftigen Verwendungsbegehren für erforderlich hält. (6) Für unsere Wissenschaft haben die künftigen Verwendungsbegehren eine ganz besondere Bedeutung; denn hätte der Mensch die eben erwähnte Gabe nicht, so würde die menschliche Wirtschaft auf eine verschwinden kleine Anzahl von Handlungen zusammenschrumpfen, welche nie den Anlaß zur Bildung einer selbständigen Wirtschaftswissenschaft hätten geben können. (7) 65. zu 2 und 3: Daß zum Entstehen eines Verfügungsbegehrens wenigstens ein wahrscheinliches Urteil darüber notwendig ist, daß, wenn der Betreffende untätig bleibt (nicht begehrt), die zu verwendenden Mittel ihm nicht verfügbar sein werden oder daß seine Mühe, die Verfügung über diese Mittel zu erlangen oder zu erhalten, nicht vergeblich sein wird, erhellt sich bereits aus § 59. Hat der Begehrende die volle Überzeugung, daß das zu verwendende Mittel nicht existiert, so kann in ihm kein Verwendungsbegehren und mithin auch kein Verfügungsbegehren nach diesem Mittel entstehen. Doch ist es nicht notwendig, daß der Begehrende das zu verwendende Mittel seiner Spezies nach genau kennt; es genügt, wenn er bloß eine annähernde oder indirekte Vorstellung desselben hat; denn wäre dies nicht der Fall, so könnten die Erfinder kein Verfügungsbegehren nach den erst zu erfindenden Gegenständen haben (8). 66. Dieselben Bedingungen, welche zum Entstehen der Verfügungsbegehren erforderlich sind, bilden auch die Voraussetzung ihres Fortbestehens. Erlischt das Verwendungsbegehren, welches ein Verfügungsbegehren hervorgerufen hat, oder gelangt der Begehrende nachträglich zu der in § 59 angeführten Überzeugung, so muß auch das Verfügungsbegehren erlöschen. Treffen mehrere Verfügungsbegehren, die mit ihrer Realisierung auf dieselbe Zeit oder auf dasselbe Erwerbsmittel angewiesen sind, so zusammen, daß die Befriedigung des einen die Befriedigung der anderen ausschließt, so wird das schwächere durch das stärkere verdrängt. Das überwundene Verfügungsbegehren erlischt aber solange nicht, als das zugehörige Verwendungsbegehren aufrechterhalten bleibt. 67. So haben wir also in den bisherigen Abschnitten dieses zweiten Kapitels eine Trias von Begehrensbegriffen kennengelernt, welche für die Wirtschaftswissenschaft von größter Wichtigkeit ist. Aus diesem Grund dürfte es nicht überflüssig sein, sich das Verhältnis dieser drei Begriffe in Kürze nochmals vor Augen zu führen. Beim Wohlfahrtsbegehren denkt man in erster Linie an eine Wirkung im passiven Sinn des Wortes (= ein Bewirktes), also in der Regel an einen Zustand oder ein Verhältnis, beim Verwendungsbegehren dagegen an eine Wirkung im aktiven Sinn des Wortes (= ein Wirken), also an einen Vorgang; wenn dieser Vorgang aus mehreren Stadien besteht, so entstehen Verwendungsbegehren verschiedener Ordnungen. Die Wohlfahrtsbegehren, deren Ziel immer irgendein Zustand des körperlichen Organismus oder des Bewußtseins bildet, gehören im Grunde alle nur einer einzigen Ordnung an. Mit den Wohlfahrtsbegehren sind die Verfügungsbegehren insofern verwandt, als man bei ihnen gleichfalls an eine Wirkung im passiven Sinne des Wortes, an einen Zustand oder ein Verhältnis denkt: da aber diese Zustände nicht selbst Zweck, sondern bloß Mittel zu einem Endzweck - dem Wohlfahrtszuwachs - sind, so könnte man die Verfügungsbegehren als mittelbare Wohlfahrtsbegehren oder als Wohlfahrtsbegehren entfernterer Ordnungen bezeichnen, was umso zutreffender wäre, als ihre Erfüllung bei den meisten Menschen eine kürzere oder längere Ruhepause in der auf die betreffenden Befriedigungsmittel sich beziehenden Tätigkeit zur Folge hat. Andererseits stehen aber die Verfügungsbegehren in Anbetracht dessen, daß bei jedem Wollen nicht bloß die Vorstellung des Zwecks, sondern auch die der Mittel vorhanden sein muß, auch mit den Verwendungsbegehren entfernterer Ordnungen in so inniger Verbindung, daß in der Regel dieselbe Begehrenserscheinung, je nachdem man den Zweck oder die Mittel ins Auge faßt, als Verfügungs- oder als Verwendungsbegehren bezeichnet werden könnte. 68. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, sich in eine eingehende Untersuchung über die Grenzen des Forschungsgebietes der Wirtschaftswissenschaft einzulassen; doch ist auch die genaue Feststellung desselben für den vorliegenden Zweck keineswegs erforderlich. Es genügt zu konstatieren - und dieszbezüglich hoffen wir auf keinen Widerspruch zu stoßen - daß sie sich jedenfalls - ob ausschließlich oder nicht, das ist jetzt gleichgültig - mit solchen Handlungen zu befassen hat, deren unmittelbarer oder mittelbarer Zweck die Erlangung und Erhaltung der verwendungsbereiten Verfügung über die, gewissen Teilen der Körperwelt innewohnenden Kräfte ist. Da es willkürliche Handlungen sind, so werden sie durch ein Begehren hervorgerufen und diese Begehren, welche die unmittelbare Ursache der wirtschaftlichen Handlungen bilden, das sind die uns bereits bekannten Verfügungsbegehren. Nun kann sich aber die Wirtschaftswissenschaft nicht damit begnügen, die existierenden wirtschaftlichen Handlungen und deren Ergebnisse festzustellen, zu beschreiben und zu klassifizieren, sondern sie hat auch die Aufgabe, sie zu erklären, d. h. sie auf eine möglichst geringe Zahl von Typen, sowohl des Seins wie des Geschehens - mit anderen Worten auf eine möglichst kleine Zahl von Begriffen und Gesetzen - zurückzuführen und die Ursachen der festgestellten Erscheinungen zu erforschen. Dieser letzteren Aufgabe würde aber nicht entsprochen sein, wenn sie sich darauf beschränkte, die festgestellten wirtschaftlichen Handlungen bloß als die Wirkungen von Verfügungsbegehren nachzuweisen, da dieser Zusammenhang für jedermann selbstverständlich erscheint. Was wir von ihr erfahren wollen, ist vielmehr - wenn sie eine theoretische Wissenschaft ist - die Beantwortung der Frage nach den Ursachen des so ungleichen Verhaltens der Menschen gegenüber verschiedenen Teilen der Körperwelt: nämlich warum sie die Verfügung über einen Teil derselben begehren, über einen anderen Teil aber nicht, und warum diese Verfügungsbegehren bei verschiedenen Personen, gegenüber verschiedenen Körpern, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten so bedeutende Unterschiede der Intensität aufweisen. Ist sie aber eine praktische Wissenschaft, so hat sie zu lehren, über welche Teile der Körperwelt wir die Verfügung begehren sollen (über welche Teile der Körperwelt die Verfügung zweckmäßig oder begehrenswert ist), über welche nicht, und welche Intensität diese Verfügungsbegehren gegenüber verschiedenen Teilen der Körperwelt, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten haben sollen, (welche Intensität der Verfügungsbegehren gegenüber verschiedenen Teilen der Körperwelt, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten zweckmäßig oder begehrenswert ist), und für diese Lehren die Gründe anzugeben. 69. Diese Antworten und Lehren kann aber die Wirtschaftswissenschaft nur dann erteilen, wenn sie auf die Verwendungsbegehren zurückgeht, denn in diesen liegt der Schlüssel für das Verständnis des so verschiedenartigen Verhaltens der Menschen gegenüber der Körperwelt, da die Existenz und Intensität der Verfügungsbegehren unter gewissen Bedingungen von der Existenz und Intensität der Verwendungsbegehren abhängig ist. 70. Nun wissen wir aber bereits, daß zum Entstehen eines Verwendungsbegehrens ein aufrechtes Wohlfahrtsbegehren erforderlich ist, und so sollte man also meinen, daß die Wirtschaftswissenschaft, um zum vollen Verständnis der wirtschaftlichen Handlungen zu gelangenn, auch die Wohlfahrtsbegehren in den Kreis ihrer Untersuchungen ziehen muß. Diese Vermutung ist aber nicht gerechtfertigt. Es ist ja bekannt, daß für das ganze menschliche Wissen nicht eine einzige Wissenschaft besteht, sondern daß es eine große Anzahl von Einzeldisziplinen gibt, zwischen welchen eine Art Arbeitsteilung stattfindet. Infolge dieser Arbeitsteilung ist keine einzelne Wissenschaft berufen, die in ihren Bereich fallenden Erscheinungen bis zu deren letzten Ursachen zu verfolgen, sondern jede muß bei der Untersuchung des Kausalzusammenhangs der Dinge bei irgendeiner Zwischenursache innehalten, indem sie gewisse Erscheinungen, die sich keineswegs als letzte Ursachen der Dinge darstellen, also ohne Zweifel einer weiteren Erklärun bedürfen, als "gegebene" Tatsachen und Größen betrachtet. Es kommt nur auf den Zweck an, den sie verfolgt, und auf den Zweck oder Besitzstand der Nachbarwissenschaften, "ob sie dies schon bei einer näheren oder erst bei einer entfernteren Zwischenursache tun darf." (9) Was nun den Zweck der Wirtschaftswissenschaften anbelangt, so wissen wir, daß sie hinter die Verfügungsbegehren nur deshalb zurückzugehen hat, um die Existenz und Intensität derselben zu erklären. Für diesen Zweck haben aber die Wohlfahrtsbegehren keine Bedeutun. Denn in der Regel verknüpft sich die Vorstellung jenes Wohlfahrtszustandes, mit welchem der Impuls des Wohlfahrtsbegehrens assoziiert ist, sogleich mit der Vorstellung jener wirkenden Kräfte, welche der Begehrende für die geeignete Ursache zur Hervorbringung des vorgestellten Wohlfahrtszustandes hält, und diese Verbindung wird durch mehrmalige Wiederholung in den meisten Fällen so innig, daß Wohlfahrts- und Verwendungsbegehren in der Regel in eine einzige Bewußtseinserregung zusammenfallen und nur durch Abstraktion in die zwei selbständigen Bestandteile, aus welchen sie besteht, aufgelöst werden können. In vielen Fällen wird sich der Begehrende der Vorstellung des zu erreichenden Wohlfahrtszustandes gar nicht bewußt, so daß solche Handlungen den Charakter von instinktiven Handlungen annehmen. So kommt es, daß der Impuls des Wohlfahrtsbegehrens in der Regel mit dem Impuls des Verwendungsbegehrens verschmolzen ist, infolgedessen zwischen der Intensität der beiden Impulse - und auf diese kommt es der Wirtschaftswissenschaft hauptsächlich an, nachdem es schon bekannt ist, daß die Existenz eines Wohlfahrtsbegehrens die unumgängliche Voraussetzung jedes Verwendungsbegehrens ist - nur dann eine Differenz besteht, wenn der Begehrende das Bewirken des das Ziel des Wohlfahrtsbegehrens bildenden Wohlfahrtszustandes durch die zu verwendenden Mittel nicht mit voller Gewißheit sondern nur mit einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit erwartet. 71. Aber, selbst wenn diese Übereinstimmung zwischen den beiden Begehrenskategorien nicht bestünde, spräche noch ein anderer sehr wichtiger Grund dafür, daß die Wirtschaftswissenschaft bei den Verwendungsbegehren haltmacht. Wir wissen ja schon, daß zum Entstehen eines Verwendungsbegehrens nicht bloß ein aufrechtes Wohlfahrtsbegehren, sondern auch ein bejahendes, sei es gewisses, sei es wenigstens wahrscheinliches, Urteil des Begehrenden über die Eignung der zu verwendenden Kräfte zur Herbeiführung des vorgestellten Wohlfahrtszuwachses erforderlich ist. Wollte die Wirtschaftswissenschaft den Kausalzusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen über die Verwendungsbegehren hinaus verfolgen, so müßte sie auch alle diese Urteile in den Kreis ihrer Untersuchungen ziehen. Diese Urteile bilden aber schon seit langem eine allseits anerkannte Domäne der technologischen, medizinischen und ähnlichen praktischen Wissenschaften. Wenn die bisherigen Volkswirtschaftslehrer keine vollkommen befriedigende Antwort auf die Frage, warum die Technik nicht in den Bereich der Wirtschaftswissenschaft gehört, zu geben vermochten, so erklät sich dies nach dem eben Gesagten sehr leicht dadurch, daß sie von den Wohlfahrtsbegehren ausgehen zu müssen glaubten. Gehen wir aber erst vom Verwendungsbegehren aus, so liegt die Technik schon hinter uns und es kann die Frage, ob die Technik in die Wirtschaftswissenschaft gehört, gar nicht aufkommen. 72. Nehmen wir an, wir hätten zu erklären, warum gewisse Menschen die Verfügung über eine bestmmte Quantität Brot begehren und warum diese Begehren die und nicht jene Intensität haben. Wir sagen, daß dies auf zwei Ursachen zurückzuführen ist, von welchen die eine (die andere ist bekanntlich die Beschränktheit des Vorrats) darin besteht, daß die betreffenden Menschen das Begehren haben, diese Quantität Brot zu verzehren, und daß diese Begehren die und die Intensität besitzen. Warum aber die betreffenden Menschen diese Quantität Brot zu verzehren begehren und warum ihre Begehren die und die Intensität haben, mit anderen Worten, warum die Menschen gesättigt sein wollen und warum sie die und die Quantität Brot für ein geeignetes Mittel zur Befriedigung dieses Begehrens halten, das zu untersuchen überschreitet den Wirkungskreis der Wirtschaftswissenschaft. Für diese Wissenschaft sind also die Verwendungsbegehren gegeben Tatsachen und ihre Intensitäten gegebene Größen. Die Untersuchung dessen, welche Wohlfahrtsbegehren die Menschen haben, aus welchen Ursachen dieselben entstehen, welche Intensität sie aufweisen und welche Mittel zur Befriedigung derselben geeignet sind oder für geeignet gehalten werden, ist den Nachbarwissenschaften der Ökonomik zu überlassen. 73. Noch weniger als die Wohlfahrtsbegehren können die Lust- und Schmerzgefühle, durch welche die Wohlfahrtsbegehren hervorgerufen werden, den Ausgangspunkt der Wirtschaftswissenschaft bilden, da sie ja noch um eine Station hinter den Wohlfahrtsbegehren zurückliegen. (10) Der Zusammenhang zwischen Gefühlen und Begehren ist, wie wir in § 21 zu bemerken Gelegenheit hatten, ein bisher ziemlich stark umstrittenes Problem der Psychologie. Es ist ja bekannt, daß hervorragende Philosophen (KANT !) es für ein Privilegium des Menschen erklärt haben, unabhängig von Gefühlen (Neigungen) Willensentschlüsse zu fassen und so nach den höheren Geboten der Vernunft (kategorischer Imperativ) zu handeln. Andererseits gibt es Psychologen, welche behaupten, daß man Gefühle ohne gleichzeitige Begehren haben kann. (11) 74. Es ist somit nicht das Wohlfahrtsbegehren, sondern das Verwendungsbegehren eine jener Grenzstationen, in welchen die Wirtschaftswissenschaft das Vehikel der Forschung von ihren Nachbarwissenschaften zu übernehmen hat, um es auf der ihr zugewiesenen Strecke weiter zu befördern und sodann in den, auf der entgegengesetzten Seite liegenden Grenzstationen an andere Nachbarwissenschaften zu übergeben. 75. Auf dem Begriff des Verwendungsbegehrens beruth, wie sich leicht zeigen läßt, der Begriff des Gutes, auf beiden zum Teil der Begriff der Wirtschaft, auf diesem letzteren wiederum der Begriff des Wertes; so können direkt oder indirekt auf dem Begriff des Verwendungsbegehrens alle übrigen Grundbegriffe (Elementarbegriffe) der Wirtschaftswissenschaft aufgebaut werden, während zu seiner Definition die Kenntnis keines der übrigen Begriffe erforderlich erscheint. Der Begriff des Verwendungsbegehrens ist daher der erste Grundbegriff, oder genauer gesagt: (vgl. § 82) der Hauptbestandteil des ersten Grundbegriffs der Wirtschaftswissenschaft. Andere Volkswirtschaftslehre haben diese Ehre bekanntlich anderen Begriffen zuteil werden lassen (12). In eine Kontroverse hierüber können wir uns aber diesmal nicht einlassen; denn um zu zeigen, welcher Begriff als der erste Begriff einer Wissenschaft gelten soll, müßte man nicht bloß die richtige, sondern, da die meisten Begriffe auf verschiedene Art richtig definiert werden können, auch die zweckmäßigste Definition jedes Begriffs, welcher auf die Ehre des ersten Anspruch erheben kann, feststellen und sodann das Filiationsverhältnis zwischen allen diesen Begriffen nachweisen. Dies würde aber den Rahmen der Aufgabe, die ich mir in dieser Schrift gestellt habe, bedeutend überschreiten. 76. Alle drei Begehrensbegriffe, welchen wir die Namen Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbegehren gaben, werden im gewöhnlichen Sprachgebauch, namentlich wenn das Ziel derselben die Beseitigung eines negativen Wohlfahrtszustandes bildet, mit ein und demselben Wort: "Bedürfnis" bezeichnet. Damit ist aber die Reihe der sprachüblichen Bedürnisbegriffe noch lange nicht erschöpft. Außer der eben genannten Trias werden nämlich im gewöhnlichen Sprachgebrauch unter Bedürfnissen noch verstanden:
5. die negativen objektiven Wohlfahrtszustände; 6. die Schmerzgefühle, durch welche letztere unserem Bewußtsein signalisiert werden; 7. die Instinkte, welche durch die unter 6 angeführten Gefühle ausgelöst werden.
Da sich der jeweilige Gesamtwohlfahrtszustand einer Peron nach den §§ 6 und 12 aus einer größeren oder kleineren Zahl positiver und negativer Partialwohlfahrtszustände zusammensetzt, so bewirkt jeder hinzukommende positive Partialwohlfahrtszustand W irgendeines Teils des Organismus oder Bewußtseins ceteris paribus [unter den gleichen Umständen - wp] einen Wohlfahrtszuwachs. man kann somit auch das Verhältnis der Person P, die sich in einem auf der Wohlfahrtsskala tiefer stehenden Gesamtwohlfahrtszustand befindet, zu einem positiven Partialwohlfahrtszustand irgendeines Teils des Organismus oder Bewußtseins W als die Relation R1 ansehen. Auch über diese Relation kann sowohl die Person P als auch jede andere, der die diesbezüglichen Verhältnisse bekannt sein, ein Urteil fällen. 9. Jeder aktuelle positive Gesamtwohlfahrtszustand einer Person P ist von einer größeren oder kleineren Anzahl von Mitteln M derart abhängig, daß, wenn dieselben nicht vorhanden wären, der aktuelle Gesamtwohlfahrtszustand um eine gewisse Anzahl von Stufen tiefer stünde. Es besteht demnach auch zwischen einer Person P, die sich in einem aktuellen positiven Gesamtwohlfahrtszustand befindet, und irgendeiner Bedingung M, von deren Vorhandensein der weitere Bestand dieses Gesamtwohlfahrtszustandes abhängt, eine Relation, die wir vorläufig mit der Chiffre R2 bezeichnen wollen.
11. Auch bei den unter 10 angeführten leblosen oder nicht mit Begehrungsvermögen begabten Dingen (D) ist der aktuelle begehrenswerte Zustand von einer Reihe von Umständen (M) derart abhängig, daß, wenn diese nicht vorhanden wären, stattt jenes Zustandes ein nicht begehrenswerter oder minder begehrenswerter Zustand vorliegen würde. Es besteht demnach zwischen den Begriffen D und M ein Verhältnis, welches wir die Relation R4 nennen wollen. Um diese vier verschiedenen Relationen von den Subjekten P, bzw. D auszusagen, bedient sich der gemeine Sprachgebrauch der gleichen Ausdrücke "etwas brauchen", "etwas bedürfen" oder "ein Bedürfnis nach etwas haben." Wird etwas von dieser Relation selbst ausgesagt, so bezeichnet man sie mit dem Ausdruck "Bedürfnis nach etwas" oder kurz "Bedürfnis", wobei das letztere Wort auch zur Bezeichnung des Zustandes oder Verhältnisses verwendet wird, in welchem sich die Subjekte P oder D befinden, wenn von hnen die Relation R1 und R2, bzw. R3 und R4 ausgesagt werden können. Um die Fälle 8 und 9 auseinanderzuhalten, spricht man im letzteren Fall von einem "befriedigten Bedürfnis" oder von einem "Zustand der Bedürfnisbefriedigung", im ersteren dagegen von einem "nicht befriedigten Bedürfnis", von "unzureichender" oder "mangelnder Bedürfnisbefriedigung".
78. Wie wir oben nachgewiesen zu haben glauben, hat es unsere Wissenschaft vorzugsweise mit den Begriffen des Verfügungs- und des Verwendungsbegehrens zu tun, während der Begrif des Wohlfahrtsbegehrens für sie nur eine geringe Bedeutung hat. Alle diese drei voneinander wesentlich verschiedenen Begriffe werden aber nach dem bisherigen Sprachgebrauch der volkswirtschaftlichen Schriftsteller mit demselben Terminus "Bedürfnis" bezeichnet, obgleich es doch eines der elementarsten Erfordernisse der wissenschaftlichen Terminologie ist, daß für verschiedene Begriffe verschiedene Namen gebraucht werden. 79. Um dem eben erwähnten terminologischen Übelstand abzuhelfen, kann man zwei verschiedene Wege wählen, und zwar entweder
2. den bisherigen Terminus "Bedürfnis" zwar beibehalten, aber durch eine Zusammensetzung desselben mit anderen Hauptwörtern oder mit Eigenschaftswörtern für jeden der drei Begehrensbegriff einen besonderen Ausdruck bilden. 80. Was den zweiten Weg betrifft, so hat einen solchen Versuch bereits DIETZEL unternommen, indem er den Terminus "wirtschaftliche Bedürfnisse" gebraucht.
81. Es ist nämlich zu beachten, daß nicht alle Verwendungsbegehren in den Bereich der Wirtschaftswissenschaft fallen. Sehr viele Menschen begehren z. B. täglich nach einem Spaziergang, da sie denselben für ein geeignetes Mittel zur Erhaltung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte halten, welche das unmittelbare Ziel ihrer Wohlfahrtsbegehren bildet. Und doch hat diese Art von Verwendungsbegehren bei gesunden Menschen mit der Wirtschaftswissenschaft nichts zu tun. Ebenso begehren die meisten Menschen eines bestimmten Alter nach dem ehelichen Umgang mit einer Person des anderen Geschlechts, da sie denselben für das geeignete Mittel zur Erhaltung ihres körperlischen und geistigen Wohlbefindens halten, welche das unmittelbare Ziel ihrer Wohlfahrtsbegehren bildet. Auch mit der Ehe, wenigstens in dieser Beziehung, hat die Wirtschaftswissenschaft ohne Zweifel nichts zu schaffen. Wir können an dieser Stelle nicht untersuchen, wie sich die Mittel, mit welchen gewirtschaftet wird oder werden soll, von jenen, bei welchen dies nicht der Fall ist, unterscheiden. Für unseren gegenwärtigen Zweck genügt es, zu konstatieren, daß ein solcher Unterschied tatsächlich besteht und daß daher auch zwischen den Verwendungsbegehren, je nachdem sie die Verwendung von Mitteln der einen oder der anderen Art zum Ziel haben, unterschieden werden muß. Welcher Name wäre nun für die Verwendungsbegehren der ersten Kategorie, wenn man den Terminus "Bedürfnis" beibehält, zutreffender als "wirtschaftliche Bedürfnisse"? So geraten wir wiederum in die mißliche Lage, für zwei verschiedene Begriffe denselben Terminus gebrauchen zu müssen. (16) 82. Wenn wir oben gesagt haben, daß das Verwendungsbegehren den Hauptbestandteil des ersten Grundbegriffs der Wirtschaftswissenschaft bildet, so haben wir damit schon angedeutet, daß das Verwendungsbegehren sich mit dem ersten Grundbegriff der Wirtschaftswissenschaft nicht vollständig deckt: der Begriff des Verwendungsbegehrens ist nämlich um einen kleinen Splitter enger als der erste Grundbegriff, wie ihn die Wirtschaftswissenschaft braucht. Das menschliche Bewußtsein ist bekanntlich sehr eng. Wir vermögen nur wenige Gegenstände auf einmal wahrzunehmen, nur wenige Vorstellungen auf einmal im Blickfeld unserer Aufmerksamkeit zu haben. Ebenso können sich nur wenige Begehren, d. h. solche Bewußtseinszustände, welche mit einem aktuellen Impuls oder Befriedigungstrieb verbunden sind, in unserem Bewußtsein befinden. Wie wir aber von jemandem auszusagen pflegen, er wisse etwas, auch in solchen Augenblicken, wo er das betreffende Urteil nicht fällt, wen er nur die Fähigkeit (Disposition) hat, es zu fällen, sobald sich seine Aufmerksamkeit auf das Subjekt des Urteils lenkt, ebenso können wir sagen, jemand habe ein Begehren auch in solchen Augenblicken, in welchen er sich des betreffenden Impulses nicht bewußt ist, wenn er nur die Fähigkeit (Dispositioin) hat, sich dieses Impulses oder Befriedigungstriebes bewußt zu werden, sobald sich seine Aufmerksamkeit auf die Vorstellung, mit welcher er assoziiert ist, auf das Ziel des Begehrens lenkt. Wie man also neben aktuellen Urteilen auch Urteilsdispositionen unterscheiden muß, so sind neben aktuellen Verwendungsbegehren auch Dispositionen zu Verwendungsbegehren zu berücksichtigen. Durch die Vereinigung dieser beiden Begriffe zu einem höheren Begriff erhalten wir den vollständigen Inhalt des ersten Grundbegriffs der Wirtschaftswissenschaft. Diesen Begriff wollen wir in der Voraussetzung, daß sich die Fachgenossen kaum entschließen werden, den Terminus Bedürfnis über Bord zu werden, mit dem Namen Verwendungsbedürfnis bezeichnen.
Statt des Ausdrucks Verfügungsbedürfnis trifft man sowohl im gemeinen Sprachgebrauch als auch in manchen wirtschaftlichen Werken noch das Wort Bedarf an. Da aber die Wirtschaftswissenschaft dieses Wort dringender zur Bezeichnung des Begriffs "bedurfte Gütermenge" nötig hat, so werde ich es in jenem Sinn nicht gebrauchen. 84. Werden die im vorletzten Paragraphen aufgestellten drei Bedürfnisbegriffe in einen höheren zusammengefaßt, so erhalten wir den allgemeinen Bedürfnisbegriff, welcher jedes Begehren und die Disposition zu jedem Begehren umfaßt. Da aber die Wirtschaftswissenschaft sich, wie schon dargelegt wurde, in erster Linie nur mit den Verfügungsbedürfnissen befaßt und die Verwendungsbedürfnisse nur insofern berücksichtigt, als es zur Erklärung der Existenz und der Intensität der Verfügungsbedürfnisse notwendig ist, so hat der allgemeine Bedürfnisbegriff für sie keine Bedeutung.
1) Eine Ausnahme von dieser Regel würde nur für jenen Teil der Wirtschaftswissenschaft gelten, welcher sich mit der Konsumwirtschaft befaßt. 2) siehe JEVONS, Political Economy, Seite 37 3) siehe SAX, Staatswirtschaft, Seite 178 und 314 4) Vgl. BÖHM-BAWERK, Kapital II, Seite 251 - 253 Anm.: "Wenn JEVONS dasjenige psychische Phänomen, welches uns zur Vorsorge für künftige Bedürfnisse ... treibt, ein "present anticipated feeling", ein "gegenwärtiges Vorausfühlen" nennt, ... so ist dies eine zur Irreführung sehr geeigente Ausdrucksweise. Man muß nämlich zwei grundverschiedene Dinge auseinanderhalten, die mir JEVONS nicht gehörig auseinandergehalten zu haben scheint. Eine Sache ist es, daß man sich eine künftige Lust (oder ein künftiges Leid) im Geist vorstellt, ... und eine ganz andere Sache ist es, daß man an dieser Vorstellung selbst eine Lust, eine wirkliche gegenwärtige "Vorfreude" empfindet. ... Diese Dinge hat nun JEVONS gründlich verwechselt. er läßt unsere wirtschaftlichen Handlungen durch "gegenwärtige Gefühle" motivieren, .... während nichts sicherer ist, als daß wir uns Gefühle ... zwar im voraus vorstellen, aber gewiß nicht als "present feelings" durchfühlen ... SAX spricht von einer - vom bloßen "Vorwissen" wohl zu unterscheidenden - "Vorempfindung" der künftigen Bedürfnisse und konstruiert aus diesen Vorempfindungen sogar wirkliche "gegenwärtige Bedürfnisse" und "Bedürfnisempfindungen". ... SAX hat wohl schwerlich bedacht, welche Folterqualen wir immerfort ausstehen müßten, wenn wir alle die künftigen Bedürfnisse und Leiden, gegen die wir uns durch Vorsorge schützen, ... beim Vorausbedenken wirklich durchempfinden müßten!" 5) Dieselbe Ansicht wie ich hat gegenüber von BÖHM-BAWERK bereits OSKAR KRAUS, Bedürfnis, Seite 28) vertreten. Auch SAX (Staatswirtschaft, Seite 178) scheint der richtige Sachverhalt vorgeschwebt zu haben, denn er sagt, "daß sich mit dem Wissen der Wiederkehr der betreffenden Zwecksetzung (d. h. also mit dem positiven Urteil über die Wiederkehr) die Erinnerung (d. h. die Vorstellung) an die im früheren Fall bis zur Befriedigung gehabte Unlust verbindet." Nur meint er, daß auf diese Weise das gegenwärtige Gefühl entsteht, welches er für einen wesentlichen Bestandteil des gegenwärtigen Reflexes des künftigen Bedürfnisses hält. 6) Vgl. FRIEDRICH von HERMANN, Staatswirtschaftliche Untersuchungen, Seite 91 und 92 7) Vgl. von BÖHM-BAWERK, Kapital II, Seite 254 8) Vgl. RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN, Das menschliche Glück und die soziale Frage, Seite 66 9) Vgl. GEORG SULZER, Die wirtschaftlichen Grundgesetze, Seite 54 und 116. 10) Ähnlich, aber weniger genau sagt FISHER (Value, Seite 11): "The plane of contact between psychology and economics is desire. No one never denied that economic acts have the invariable antecedent, desire. Whether the necessary antecedent of desire is pleasure or whether independently of pleasure it may sometimes be duty or fear, concerns a phenomenon in the second remove from the economic act of choice and is completely within the realm of psychology. We content ourselves therefore with the following simple psychological postulat: Each individual acts as he desires." 11) Siehe von EHRENFELS, Werttheorie I, Seite 13 12) Siehe GOTTLOB DIETZEL, Der Ausgangspunkt der Sozialwirtschaftslehre, Seite 20f 13) siehe DIETZEL, Ausgangspunkt etc., Seite 61 und 65; auch Sozialökonomik, Seite 25 14) siehe DIETZEL, Ausgangspunkt etc. Seite 60 und 61. 15) Bei dieser Bedeutung des Wortes "Bedürfnis" könnte man aber nicht von der "Deckung", sondern nur von der "Befriedigung" wirtschaftlicher Bedürfnisse sprechen. Denn ein solches Bedürfnis muß als befriedigt angesehen werden, sobald man die Willensherrschaft über den betreffenden Gegenstand erlangt hat. Nur wenn man unter den wirtschaftlichen Bedürfnissen eine spezielle Kategorie von Verwendungsbegehren in unserem Sinne versteht, kann man sowohl von der "Befriedigung" als auch von der "Deckung" derselben sprechen, denn letztere bedeutet dann soviel wie die Sicherstellung der Befriedigung durch Verschaffung der Verfügung über die zu verwendenden Befriedigungsmittel. 16) Wenn COURCELLE-SENEUIL definiert: "Le besoin économique est un désire qui a pour but la possession et la jouissance d'un objet matériel [Das wirtschaftliche Bedürfnis ist der Wunsch in den Besitz oder Genuß eines materiellen Objekts zu gelangen. - wp] (Économie politique I, Seite 25, nach einem Zitat bei JEVONS, Political Economy, Seite 44), so ist das (abgesehen von anderen Mängeln) eine Verquickung der Verwendungs- und der Verfügungsbegehren. |