ra-2H. CohnHegelA. DöringDas Bedürfnis    
 
FRANZ CUHEL
(1862-1914)
Zur Lehre von
den Bedürfnissen

[3/3]

"Nehmen wir an, wir hätten zu erklären, warum gewisse Menschen die Verfügung über eine bestmmte Quantität Brot begehren und warum diese Begehren die und nicht jene Intensität haben. Wir sagen, daß dies auf zwei Ursachen zurückzuführen ist, von welchen die eine (die andere ist bekanntlich die Beschränktheit des Vorrats) darin besteht, daß die betreffenden Menschen das Begehren haben, diese Quantität Brot zu verzehren, und daß diese Begehren die und die Intensität besitzen.  Warum  aber die betreffenden Menschen diese Quantität Brot zu verzehren begehren und warum ihre Begehren die und die Intensität haben, mit anderen Worten, warum die Menschen gesättigt sein wollen und warum sie die und die Quantität Brot für ein geeignetes Mittel zur Befriedigung dieses Begehrens halten, das zu untersuchen überschreitet den Wirkungskreis der Wirtschaftswissenschaft."

"Von einem verschwommenen Bedürfnisbegriff sind  fast alle Volkswirtschaftslehrer  ausgegangen, welche sich bisher mit der Definition des wirtschaftswissenschaftlichen Bedürfnisbegriffs befaßt haben, und je nachdem dem einen diese, den andern jene von den möglichen Bedeutungen geläufiger war, sind sie zu sehr verschiedenen Definitionen gelangt."

"Unter einem  wirtschaftlichen Bedürfnis  versteht Dietzel das Begehren einer Person nach der Willensherrschaft über einen begrenzten Teil des Stoffes oder über die Materie oder über stoffliche Dinge oder deren Kräfte oder über die Sachenwelt, oder das Streben nach Reichtum oder nach Gewinnung wirtschaftlicher Macht."

III. Von den Gefühlen
[Fortsetzung]

55.  Um etwas verwenden zu können, muß man es bekanntlich vorerst erst haben.  Das will sagen: jene Teil der uns umgebenden Körperwelt, welchen solche Kräfte innewohnen, deren Verwendung das Ziel menschlicher Verwendungsbegehren bildet, müssen sich in dem Zeitpunkt, in welchem sich das Verwendungsbegehren regt, in einem bestimmten örtlichen Verhältnis zum Begehrenden befinden und zwar in jenem Verhältnis, welches erforderlich ist, damit der Verwendungsakt vor sich gehen könne. Dieses Verhältnis ist bei verschiedenen Verwendungsbegehren nach Speisen und Getränken erfordert, daß sich letztere wenigstens im Mund, wenn nicht gar im Magen des Begehrenden befinden, die Befriedigung der Verwendungsbegehren nach Kleidern, daß letztere vom Begehrenden nach einer Wohnung, daß der Begehrende diese betreten habe, die Befriedigung der Verwendungsbegehren nach dem Lesen eines Buches, daß dieses, entsprechend beleuchtet, in einer gewissen Entfernung vor den Augen des Begehrenden gehalten werde, die Befriedigung der Verwendungsbegehren nach dem Anhören von Musik, z. B. in einem Konzert, daß sich der Begehrende in den Konzertsaal begeben hat usw. Aus den angeführten Beispielen ist zu ersehen, daß die zu verwendenden Mittel sich in einer je nach der Natur des betreffenden Verwendungsaktes sehr verschiedenen Entfernung vom Begehrenden befinden müssen, damit der Verwendungsakt erfolgen könne. Wir wollen dieses örtliche Verhältnis kurz das  verwendungsmäßige Verhältnis  der zu verwendenden Mittel zum Begehrenden oder die  verwendungsmäßige Verfügung  des Begehrenden über dieselbe nennen.

56. Nun ist es aber bekannt, daß sich die zu verwendenden Mittel in aller Regel nicht schon von Natur aus in jedem Augenblick, wo sich das betreffende Verwendungsbegehren regt, in einem verwendungsmäßigen Verhältnis zum Begehrenden befinden. Eine Ausnahme von dieser Regel besteht nur bei der atmosphärischen, zum Atmen erforderlichen Luft, welche alle Körper auf der Erdorberfläche umgibt und vermöge ihres Drucks in die Atmungsorgane selbst eindringt, dann bei den Wärme- und Lichtstrahlen der Sonne und den Lichtstrahlen des Mondes, soweit sie den Menschen überhaupt zugänglich sind.  Alle übrigen Befrieidungsmittel müssen vorerst durch menschliche Tätigkeit aus ihrer natürlichen Lage in das verwendungsmäßige Verhältnis versetzt werden  oder es muß der Begehrende seine örtliche Lage so verändern, daß zwischen ihm und den zu verwendenden Mitteln das verwendungsmäßige Verhältnis eintritt.

Diese Tätigkeit  ist je nach der Art des verwendungsmäßigen Verhältnisses und der Art jenes Verhältnisses, in welchem sich die zu verwendenden Mittel von Natur aus befinden,  sehr verschieden.  Befindet sich z. B. das zu trinkende Wasser in einer einige Schritte entfernten Quelle, so wird die oben erwähnte Tätigkeit jedesmal dann ausgeführt werden können, wenn sich das Verwendungsbegehren regt. Ist aber die Quelle vom Wohnort des Begehrenden einige Kilometer entfernt, so wird man vielleicht eine Wasserleitung anlegen oder sich das Wasser in größeren Gefäßen immer für einen oder mehrere Tage auf einmal holen. Handelt es sich aber um Mittel, die von der Natur nicht fertig geliefert werden, sondern für welche in der Natur nur die Rohstoffe zu finden sind, so müssen die zu verwendenden Mittel vorerste erzeugt werden. In solchen Fällen wird die in Rede stehende Tätigkeit, durch welche die zu verwendenden Mittel aus ihrem natürlichen Verhältnis in das verwendungsmäßige versetzt werden,  in der Regel nicht uno tractu  [zusammennhängend - wp]  ausgegeführt, sondern in zwei oder mehrere Stadien geteilt.  In jedem dieser Stadien befinden sich die zu verwendenden mittel zum Begehrenden oder zu jener Person, die statt seiner tätig ist, in einem anderen Verhältnis, welches sich dem verwendungsmäßigen umso mehr nähert, je mehr Stadien bereits durchgemacht wurden. Für jedes dieser Stadien paßt der Ausdruck Verfügung des Begehrenden über die zu verwendenden Mittel. Das wichtigste von diesen Stadien ist für uns vorläufig das unmittelbar vor dem verwendungsmäßigen die  verwendungsbereite Verfügung  immer zugleich auch eine  rechtliche  ist.

Welches örtliche Verhältnis  der zu verwendenden Mittel zum Begehrenen, bzw. zu derjenigen Person, welche statt seiner den letzten Abschnitt der in Rede stehenden Tätigkeit ausführen soll,  als verwendungsbereite Verfügung  über diese Mittel  zu bezeichnen ist,  ist je nach der Natur des betreffenden Verwendungsaktes  sehr verschieden  und innerhalb gewisser Grenzen gar nicht genau zu bestimmen. Kann von einer solchen Verfügung, z. B. über Speisen, erst dann die Rede sein, wenn sie schon auf dem Tisch serviert sind, oder schon dann, wenn sie sich fertig gekocht in der Küche befinden, oder auch schon dann, wenn sie noch ungekocht in der Speisekammer liegen? Da für die Wirtschaftswissenschaft in der Regel nicht die verwendungsbereite, sondern die  wirtschaftliche Verfügung  in Betracht kommt, (1) so genügt es zu sagen, daß im Allgemeinen jene Befriedigungsmittel (es sind immer  Genußgüter  oder  Güter erster Ordnung  gemeint) als in der verwendungsbereiten Verfügung des Begehrenden befindlich anzusehen sind, welche zu ihm in einem solchen örtlichen Verhältnis stehen, daß jederzeit, wenn bei ihm das betreffende Verwendungsbegehren rege wird, nur wenig anstrengende und wenig zeitraubende Bewegungen erforderlich sind, um sie aus diesem Verhältnis in das verwendungsmäßige zu versetzen.

57.  Auch in diesem Verhältnis befinden sich von Natur aus sehr wenige Befriedigungsmittel:  manchmal das Wasser, noch seltener einige wildwachsende Früchte, Wild, Fische und dgl. Es ist daher für jeden Menschen, der für die Befriedigung seiner Verwendungsbegehren selbst zu sorgen hat, diese letztere von der  Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung über die zu verwendenden Mittel  abhängig; diese setzt aber darauf gerichtete willkürliche Handlungen und diese wiederum darauf gerichtete Begehren voraus. So werden also die Verwendungsbegehren fast für alle Erwachsenen zur Ursache einer neuen Kategorie von Begehren, welche wir  Verfügungsbegehren  nennen wollen.

Nach dem bisher Gesagten könnte es den Anschein haben, als ob das unmittelbare Ziel eines Verfügungsbegehrens nur die Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung über die zu verwendenden Kräfte, bzw. die materiellen Träger derselben sein könnte. Dem ist aber nicht so. Denn da die schon erlangte Verfügung über die zu verwendenden Mittel, wenn man sich bis zum Zeitpunkt ihrer Verwendung um sie nicht kümmern würde, in den meisten Fällen durch Naturkräfte, oder Tiere oder durch andere Menschen verloren ginge, so muß man erstens nicht bloß auf die Erlangung, sondern auch auf die  Erhaltung der bereits erlangten verwendungsbereiten Verfügung  bedacht sein. Mit Rücksicht darauf zerfallen die Verfügungsbegehren in  Verfügungserwerbs-  und in  Verfügungsbesitzbegehren. 

Zweitens ist zu erwägen, daß  die auf die Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung gerichtete Tätigkeit in der Regel nicht uno tractu ausgeführt zu werden pflegt,  sondern daß die meisten Befriedigungsmittel auf dem Weg von ihrem natürlichen Verhältnis (Standort) bis zu einer verwendungsbereiten Verfügung in mehreren Stationen haltmachen.  Demgemäß bestehen auch die Verfügungserwerbsbegehren in den meisten Fällen aus mehreren Stadien.  Nur im letzten Stadium bildet die Erlangung der verwendungsbereiten Verfügung das unmittelbare Ziel des Verfügungsbegehrens, in den früheren Stadien ist sie nur ein  mittelbares, entfernteres Ziel  desselben.

Schließlich ist es keineswegs notwendig, daß jeder die Erlangung der Verfügung über einen Gegenstand für sich selbst begehrt; man kann sie auch für einen anderen schlechthin oder als Voraussetzung der Erlangung der eigenen Verfügung über einen anderen Gegenstand begehren. Danach unterscheidet man  ipsile, alterile  und  mutuelle  Verfügungsbegehren [eigene, andere und gegenseitige - wp].

Die alterilen Verfügungsbegehren brauchen keineswegs durch alterile Verwendungsbegehren hervorgerufen zu sein;  es ist ja nicht selten der Fall, daß ein  A  die Erlangung der Verfügung über einen Gegenstand für einen  B  deshalb begehrt, weil er weiß, daß der letztere ihm später diesen Gegenstand schenken wird.

Eine besonders hervorragende Bedeutung haben für die Wirtschaftswissenschaft die  mutuellen Verfügungsbegehren,  denn auf ihnen beruth nicht nur alle wirtschaftliche Kooperation, sondern auch der ganze Tausch- und Kreditverkehrt.

58. Aufgrund des im § 57 Gesagten können wir nun folgende  Definition  aufstellen:
    IV. Unter einem Verfügungsbegehren ist jenes Begehren zu verstehen, dessen, sei es unmittelbares, sei es mittelbares, Ziel die Erlangung oder Erhaltung der verwendungsbereiten Verfügung über solche Kräfte, bzw. über die materiellen Träger derselben bildet, deren Verwendung das Ziel eines Verwendungsbegehrens, sei es des Begehrenden selbst, sei es einer oder mehrerer anderer Personen ist.
59. Auch das Verfügungsbegehren ist vor allem ein  Begehren  und  nicht ein bloßer Wunsch.  Wenn also jemand vollständig überzeugt ist, daß ihm die zu verwendenden Mittel schon verfügbar sind oder daß sie ihm  auch ohne irgendein Zutun  von seiner Seite zur rechten Zeit und am rechten Ort verfügbar sein werden, oder wenn er das gewisse Urteil fällt, daß es  nicht in seiner Macht liegt,  die Verfügung über die zu verwendenden Mittel zu erlangen, so kann bei ihm  kein  Verfügungserwerbsbegehren nach diesen Mitteln entstehen. Desgleichen kann ein  Verfügungsbesitzbegehren  hinsichtlich eines bestimmten Befriedigungsmittels nicht bei jener Person rege werden, welche vollständig überzeugt ist,  daß ihr die Verfügung über dieses Befriedigungsmittel nicht entzogen werden kann,  selbst wenn sie ganz untätig bliebe (nicht begehrte), oder daß es nicht in ihrer Macht steht, den Verlust der Verfügung über dieses Mittel hintanzuhalten.

Wie beim Verwendungsbegehren, so ist es auch beim Verfügungsbegehren  nicht notwendig,  daß es bereits in das  Stadium des Willens  getreten ist.

60. Zur  Entstehung eines Verfügungsbegehrens  ist erforderlich:
    1. entweder a) ein  aufrechtes  aktuelles Verwendungsbegehren  oder b) ein  gewisses oder doch wahrscheinliches Urteil, daß ein Verwendungsbegehren  nach den betreffenden Befriedigungsmitteln  in einem künftigen Zeitpunkt eintreten wird; 

    2.  a)  bei  Verfügungserwerbsbegehren:  ein gewisses oder wenigstens wahrscheinliches  Urteil  des Inhalts, daß sich die zu verwendenden Befriedigungsmittel  nicht bereits in der Verfügung des Begehrenden  oder jener Person, welche sie erwerben soll,  befinden,  oder des Inhalts, daß sie sich nicht in seiner Verfügung oder in der Verfügung jener Person, welche sie erwerben soll, zur Zeit der Entstehung des Verwendungsbegehrens befinden werden, wenn er untätig bleibt;  b)  bei  Verfügungsbesitzbegehren:  ein gewisses oder wenigstens wahrscheinliches  Urteil  darüber, daß die Verfügung über die zu verwendenden Mittel  verloren gehen wird,  wenn der Begehrende untätig bleibt, und

    3. ein gewisses oder doch wenigstens wahrscheinliches  Urteil  des Inhalts, daß die  Erlangung, bzw. Erhaltung der Verfügung  über die zu verwendenden Mittel  möglich  ist, wenn der Begehrende nicht untätig bleibt.
61.  zu 1a:  Für jene  Verfügungsbegehren, die durch gegenwärtige Verwendungsbegehren hervorgerufen werden,  können wir hinsichtlich des Entstehens und Erlöschens dieser Verwendungsbegehren auf die §§ 44 - 53 verweisen. Zu beachten ist hier, daß  das Ziel des Verfügungsbegehrens nicht immer die Erlangung der Verfügung seitens derselben Person  bilden muß, welche das Verwendungsbegehren hegt oder hegen wird, dessen unmittelbares Ziel die Verwirklichung des Verwendungsaktes zwecks Herbeiführung eines eigenen oder fremden Wohlfahrtszuwachses bildet. Dafür liefern unzählige Belege die Erwerbungen der Verfügung nicht nur über solche Güter, die bloß als  Tauschgüter  verwendet werden können, sondern auch über solche, deren Besitz nur deshalb angestrebt wird, um sie zu verschenken oder zu anderen  karitativen Widmungen  zu verwenden.

Auch in solchen Fällen haben die Verfügungsbegehren die Existenz aufrechter Verwendungsbegehren zur Voraussetzung.  Bei den Verfügungsbegehren nach  Tauschgütern  ist die Richtigkeit dieser Behauptung einleuchtend, da solche Verfügungsbegehren ihren Ursprung in den Verwendungsbegehren nach jenen Gütern haben, welche man sich für die Tauschgüter einzutauschen hofft. Wird aber die Verfügung über gewisse Mittel angestrebt, um sie zu  verschenken,  so ist das Verschenken gleichfalls als ein Verwendungspunkt anzusehen, durch welchen der subjektive Wohlfahrtszustand des Schenkenden erhöht wird.

62.  zu 1b: Damit durch ein noch nicht aktuelles Verwendungsbegehren ein Verfügungsbegehren nach gewissen Befriedigungsmitteln hervorgerufen werden kann,  muß die betreffende Person das  gewisse oder wenigstens wahrscheinliche Urteil fällen, daß sie in einem künftigen Zeitpunkt ein Verwendungsbegehren nach diesen Befriedigungsmitteln haben werde.  Künftige Verwendungsbegehren, über welche eine Person kein - sei es gewisses oder doch wahrscheinliches - Urteil fällt, daß sie in einem zukünftigen Zeitpunkt eintreten werden, können bei dieser Person kein Verfügungsbegehrenn hervorrufen. Das  psychische Phänomen, durch welches das  auf die eben beschriebene Weise entstandene  Verfügungsbegehren hervorgerufen wird,  stellt sich als der gegenwärtige Reflex ("psychische Widerschein" [von WIESER]) dessen dar, was man in der Wirtschaftswissenschaft mit dem Namen  künftiges Bedürfnis  bezeichnet.

63.  Über die Natur dieses psychischen Reflexes  herrscht unter den hervorragendsten Vertretern unserer Wissenschaft eine sehr  große Meinungsverschiedenheit.  So bezeichnet ihn JEVONS (2) als ein  "present anticipated feeling";  ihm schließt sich SAX an (3), welcher von einem  "Vorempfinden"  (im Sinne von Vorfühlen) und  "Vorfühlen"  künftiger Bedürfnisse spricht. Die Meinung beider bekämpft aber sehr energisch von BÖHM-BAWERK (4). Insofern der letztgenannte Autor gegenüber den beiden früheren behauptet, daß, wenn durch künftige Bedürfnisse gegenwärtige Verfügungsbegehren hervorgerufen werden, die wesentliche Ursache der letzteren nicht aktuelle Gefühle bilden, können wir ihm vollkommen beistimmen. Wenn das, was wir oben in den §§ 25 - 29 über das Entstehen der Begehren gesagt haben, richtig ist, wenn also selbst zur Entstehung eines Verwendungs-, bzw. Wohlfahrtsbegehrens nicht immer ein aktuelles Gefühl erforderlich ist, sondern in dem in § 26 besprochenen Fall eine Diskrepanz zwischen zwei vorgestellten Gefühlen dazu hinreicht, so können wir sagen, daß zwar die Vorstellung jener künftigen Gefühle, bzw. Gefühlsvorstellungen, welche seiner Zeit das Verwendungsbegehren hervorrufen sollen, von einem aktuellen Gefühl (Vorfreude, Sorge) begleitet sein kann, daß aber  dieses Gefühl für das Entstehen des Verfügungsbegehrens nicht wesentlich  ist.

Dagegen können wir von BÖHM-BAWERK, falls er der Ansicht ist, daß die  bloße Vorstellung  einer künftigen Lust oder eines künftigen Leides genügt, um ein gegenwärtiges Verfügungsbegehren hervorzurufen, keineswegs beipflichten. Meines Erachtens ist die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen eines Verfügungsbegehrens bei einer Person in dem in Rede stehenden Fall  das gewisse oder wahrscheinliche Urteil oder doch eine ohne die Fällung eines förmlichen Urteils gehegte Überzeugung derselben, daß sie in einem künftigen Zeitpunkt ein Verwendungsbegehren nach den betreffenden Befriedigunsmitteln haben werde. 

Selbst wenn man das Verfügungsbegehren ohne Einschiebung des Verwendungsbegehrens direkt aus den Gefühlen, bzw. Gefühlsvorstellungen entstehen lassen wollte, könnte man namentlich in jenen Fällen, in welchen  das Wohlfahrtsbegehren auf die Ersetzung eines positien Wohlfahrtszustandes durch einen anderen, auf der subjektiven Wohlfahrtsskala höher stehenden Wohlfahrtszustand hinzielt,  nach dem, was wir in den §§ 26 bis 28 erfahren haben,  die vorerwähnte Ansicht nicht für richtig  erklären, denn in solchen Fällen genügt die Vorstellung des auf der subjektiven Wohlfahrtsskala höher stehenden Wohlfahrtszustandes nicht zum Entstehen des Begehrens, sondern es sind hierzu noch mehrere Existenzialurteile erforderlich. Aber auch in solchen Fällen,  wo das Wohlfahrtsbegehren nur die Nichtverwirklichung eines drohenden negativen Wohlfahrtszustandes zum Ziel hat  (§ 25),  reicht die bloße Vorstellung der Unlust,  wie die tägliche Erfahrung zeigt, zur Entstehung eines Verfügungsbegehrens  nicht aus.  Wenn z. B. jemand von Zeit zu Zeit an heftigen Kopfschmerzen leidet, gegen welche es kein Heilmittel gibt, infolgedessen er auch kein Verwendungsbegehren nach einem bestimmten Heilmittel haben kann, so wird selbst die lebhafteste Vorstellung des in einigen Tagen zu erwartenden Übels bei ihm kein Begehren nach der Erzeugung oder dem Erwerb eines Heilmittels hervorrufen. Ebenso wird, wenn sich z. B. jemand vornimmt, in 14 Tagen zu fasten, selbst die lebhafteste Vorstellung des Hungers, welchen er an einem Fasttag empfinden wird, in ihm kein Begehren nach der Erzeugung von oder nach der Verfügung über Nahrungsmittel für diesen Tag hervorrufen. (5)

64. Es ist eine  unschätzbare Gabe des Menschen,  der er den größten Teil seiner gegenwärtigen hohen Kultur verdankt, daß er eine große Zahl seiner künftigen Verwendungsbegehren nicht bloß vorauszusehen vermag, sondern daß das Vorauswissen derselben unter gewissen Voraussetzungen gegenwärtige Verfügungsbegehren nach solchen Gütern auszulösen fähig ist, welche er für die seinerzeitige Befriedigung der künftigen Verwendungsbegehren für erforderlich hält. (6)  Für unsere Wissenschaft haben die künftigen Verwendungsbegehren eine ganz besondere Bedeutung;  denn hätte der Mensch die eben erwähnte Gabe nicht, so würde die menschliche Wirtschaft auf eine verschwinden kleine Anzahl von Handlungen zusammenschrumpfen, welche nie den Anlaß zur Bildung einer selbständigen Wirtschaftswissenschaft hätten geben können. (7)

65.  zu 2 und 3:  Daß zum Entstehen eines Verfügungsbegehrens wenigstens ein  wahrscheinliches Urteil  darüber notwendig ist, daß, wenn der Betreffende untätig bleibt (nicht begehrt), die zu verwendenden Mittel ihm nicht verfügbar sein werden oder daß seine Mühe, die Verfügung über diese Mittel zu erlangen oder zu erhalten, nicht vergeblich sein wird, erhellt sich bereits aus § 59.

Hat der Begehrende die volle Überzeugung, daß das zu verwendende Mittel nicht existiert,  so kann in ihm kein Verwendungsbegehren und mithin auch kein Verfügungsbegehren nach diesem Mittel entstehen. Doch ist es  nicht notwendig, daß der Begehrende das zu verwendende Mittel seiner Spezies nach genau kennt;  es genügt, wenn er bloß eine annähernde oder indirekte Vorstellung desselben hat; denn wäre dies nicht der Fall, so könnten die  Erfinder  kein Verfügungsbegehren nach den erst zu erfindenden Gegenständen haben (8).

66. Dieselben Bedingungen, welche zum Entstehen der Verfügungsbegehren erforderlich sind, bilden auch die  Voraussetzung ihres Fortbestehens.  Erlischt das Verwendungsbegehren, welches ein Verfügungsbegehren hervorgerufen hat, oder gelangt der Begehrende nachträglich zu der in § 59 angeführten Überzeugung, so muß auch das  Verfügungsbegehren erlöschen. 

Treffen mehrere Verfügungsbegehren, die mit ihrer Realisierung auf dieselbe Zeit oder auf dasselbe Erwerbsmittel angewiesen sind, so zusammen, daß die Befriedigung des einen die Befriedigung der anderen ausschließt, so wird  das schwächere durch das stärkere verdrängt.  Das überwundene Verfügungsbegehren erlischt aber solange nicht, als das zugehörige Verwendungsbegehren aufrechterhalten bleibt.

67. So haben wir also in den bisherigen Abschnitten dieses zweiten Kapitels eine  Trias  von Begehrensbegriffen kennengelernt,  welche für die Wirtschaftswissenschaft von größter Wichtigkeit ist.  Aus diesem Grund dürfte es nicht überflüssig sein, sich das Verhältnis dieser drei Begriffe in Kürze nochmals vor Augen zu führen.

Beim  Wohlfahrtsbegehren  denkt man in erster Linie an eine  Wirkung im passiven Sinn des Wortes  (= ein Bewirktes), also in der Regel an einen Zustand oder ein Verhältnis, beim  Verwendungsbegehren  dagegen an eine  Wirkung im aktiven Sinn des Wortes  (= ein Wirken), also an einen Vorgang; wenn dieser Vorgang aus  mehreren Stadien  besteht, so entstehen  Verwendungsbegehren verschiedener Ordnungen.  Die Wohlfahrtsbegehren, deren Ziel immer irgendein Zustand des körperlichen Organismus oder des Bewußtseins bildet, gehören im Grunde alle nur einer einzigen Ordnung an.

Mit den Wohlfahrtsbegehren sind die  Verfügungsbegehren  insofern verwandt, als man bei ihnen gleichfalls an eine Wirkung im passiven Sinne des Wortes, an einen Zustand oder ein Verhältnis denkt: da aber diese Zustände nicht selbst Zweck, sondern bloß Mittel zu einem Endzweck - dem Wohlfahrtszuwachs - sind, so könnte man die  Verfügungsbegehren  als  mittelbare Wohlfahrtsbegehren  oder als  Wohlfahrtsbegehren entfernterer Ordnungen  bezeichnen, was umso zutreffender wäre, als ihre Erfüllung bei den meisten Menschen eine kürzere oder längere  Ruhepause  in der auf die betreffenden Befriedigungsmittel sich beziehenden Tätigkeit zur Folge hat. Andererseits stehen aber die Verfügungsbegehren in Anbetracht dessen, daß bei jedem Wollen nicht bloß die Vorstellung des Zwecks, sondern auch die der Mittel vorhanden sein muß, auch mit den Verwendungsbegehren entfernterer Ordnungen in so inniger Verbindung, daß in der Regel dieselbe Begehrenserscheinung, je nachdem man den Zweck oder die Mittel ins Auge faßt, als Verfügungs- oder als Verwendungsbegehren bezeichnet werden könnte.


IV. Die Bedeutung des Begriffs des Verwendungsbegehrens für die Wirtschaftswissenschaft

68. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, sich in eine eingehende Untersuchung über die  Grenzen des Forschungsgebietes der Wirtschaftswissenschaft  einzulassen; doch ist auch die genaue Feststellung desselben für den vorliegenden Zweck keineswegs erforderlich. Es genügt zu konstatieren - und dieszbezüglich hoffen wir auf keinen Widerspruch zu stoßen - daß sie sich jedenfalls - ob ausschließlich oder nicht, das ist jetzt gleichgültig -  mit solchen Handlungen zu befassen hat, deren unmittelbarer oder mittelbarer Zweck die Erlangung und Erhaltung der verwendungsbereiten Verfügung über die, gewissen Teilen der Körperwelt innewohnenden Kräfte ist.  Da es  willkürliche Handlungen  sind, so werden sie durch ein Begehren hervorgerufen und  diese Begehren, welche die unmittelbare Ursache der wirtschaftlichen Handlungen bilden, das sind die uns bereits bekannten Verfügungsbegehren. 

Nun kann sich aber die Wirtschaftswissenschaft nicht damit begnügen, die existierenden wirtschaftlichen Handlungen und deren Ergebnisse festzustellen, zu beschreiben und zu klassifizieren, sondern sie hat auch die Aufgabe, sie zu erklären, d. h. sie auf eine möglichst geringe Zahl von Typen, sowohl des Seins wie des Geschehens - mit anderen Worten auf eine möglichst kleine Zahl von Begriffen und Gesetzen - zurückzuführen und die  Ursachen der festgestellten Erscheinungen zu erforschen.  Dieser letzteren Aufgabe würde aber nicht entsprochen sein, wenn sie sich darauf beschränkte, die festgestellten wirtschaftlichen Handlungen bloß als die Wirkungen von Verfügungsbegehren nachzuweisen, da dieser Zusammenhang für jedermann selbstverständlich erscheint. Was wir von ihr erfahren wollen, ist vielmehr - wenn sie eine  theoretische Wissenschaft  ist - die  Beantwortung der Frage  nach den Ursachen des so ungleichen Verhaltens der Menschen gegenüber verschiedenen Teilen der Körperwelt: nämlich warum sie die Verfügung über einen Teil derselben begehren, über einen anderen Teil aber nicht, und warum diese Verfügungsbegehren bei verschiedenen Personen, gegenüber verschiedenen Körpern, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten so  bedeutende Unterschiede der Intensität  aufweisen. Ist sie aber eine  praktische Wissenschaft,  so hat sie zu lehren,  über welche Teile der Körperwelt wir die Verfügung begehren sollen (über welche Teile der Körperwelt die Verfügung zweckmäßig oder begehrenswert ist),  über welche nicht, und  welche Intensität diese Verfügungsbegehren  gegenüber verschiedenen Teilen der Körperwelt, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten  haben sollen, (welche Intensität der Verfügungsbegehren  gegenüber verschiedenen Teilen der Körperwelt, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten  zweckmäßig oder begehrenswert ist),  und  für diese Lehren die Gründe  anzugeben.

69. Diese Antworten und Lehren kann aber die Wirtschaftswissenschaft nur dann erteilen,  wenn sie auf die Verwendungsbegehren zurückgeht,  denn in diesen liegt der Schlüssel für das Verständnis des so verschiedenartigen Verhaltens der Menschen gegenüber der Körperwelt, da die  Existenz und Intensität der Verfügungsbegehren unter gewissen Bedingungen von der Existenz und Intensität der Verwendungsbegehren abhängig ist. 

70. Nun wissen wir aber bereits, daß zum Entstehen eines Verwendungsbegehrens ein aufrechtes Wohlfahrtsbegehren erforderlich ist, und so sollte man also meinen, daß die Wirtschaftswissenschaft, um zum vollen Verständnis der wirtschaftlichen Handlungen zu gelangenn,  auch die Wohlfahrtsbegehren in den Kreis ihrer Untersuchungen ziehen muß. Diese Vermutung ist aber nicht gerechtfertigt.  Es ist ja bekannt, daß für das ganze menschliche Wissen nicht eine einzige Wissenschaft besteht, sondern daß es eine  große Anzahl von Einzeldisziplinen gibt,  zwischen welchen eine Art  Arbeitsteilung  stattfindet. Infolge dieser Arbeitsteilung ist keine einzelne Wissenschaft berufen, die in ihren Bereich fallenden Erscheinungen bis zu deren letzten Ursachen zu verfolgen, sondern  jede muß  bei der Untersuchung des Kausalzusammenhangs der Dinge  bei irgendeiner Zwischenursache innehalten,  indem sie  gewisse Erscheinungen, die sich keineswegs als letzte Ursachen der Dinge darstellen,  also ohne Zweifel einer weiteren Erklärun bedürfen,  als "gegebene" Tatsachen und Größen  betrachtet. Es kommt nur auf den Zweck an, den sie verfolgt, und auf den Zweck oder Besitzstand der Nachbarwissenschaften, "ob sie dies schon bei einer näheren oder erst bei einer entfernteren Zwischenursache tun darf." (9)

Was nun den Zweck der Wirtschaftswissenschaften anbelangt, so wissen wir, daß sie hinter die Verfügungsbegehren nur deshalb zurückzugehen hat, um die Existenz und Intensität derselben zu erklären.  Für diesen Zweck haben aber die Wohlfahrtsbegehren keine Bedeutun.  Denn in der Regel verknüpft sich die Vorstellung jenes Wohlfahrtszustandes, mit welchem der Impuls des Wohlfahrtsbegehrens assoziiert ist, sogleich mit der Vorstellung jener wirkenden Kräfte, welche der Begehrende für die geeignete Ursache zur Hervorbringung des vorgestellten Wohlfahrtszustandes hält, und diese Verbindung wird durch mehrmalige Wiederholung in den meisten Fällen so innig, daß  Wohlfahrts- und Verwendungsbegehren in der Regel in eine einzige Bewußtseinserregung zusammenfallen und nur durch Abstraktion in die zwei selbständigen Bestandteile, aus welchen sie besteht, aufgelöst werden können.  In vielen Fällen wird sich der Begehrende der Vorstellung des zu erreichenden Wohlfahrtszustandes gar nicht bewußt, so daß solche Handlungen den Charakter von instinktiven Handlungen annehmen. So kommt es, daß der  Impuls des Wohlfahrtsbegehrens in der Regel mit dem Impuls des Verwendungsbegehrens verschmolzen ist,  infolgedessen  zwischen der Intensität der beiden Impulse  - und auf diese kommt es der Wirtschaftswissenschaft hauptsächlich an, nachdem es schon bekannt ist, daß die Existenz eines Wohlfahrtsbegehrens die unumgängliche Voraussetzung jedes Verwendungsbegehrens ist -  nur dann eine Differenz besteht,  wenn der Begehrende das Bewirken des das Ziel des Wohlfahrtsbegehrens bildenden Wohlfahrtszustandes durch die zu verwendenden Mittel  nicht mit voller Gewißheit  sondern nur  mit einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit  erwartet.

71. Aber, selbst wenn diese Übereinstimmung zwischen den beiden Begehrenskategorien nicht bestünde, spräche noch ein anderer sehr wichtiger Grund dafür, daß die Wirtschaftswissenschaft bei den Verwendungsbegehren haltmacht. Wir wissen ja schon, daß zum Entstehen eines Verwendungsbegehrens nicht bloß ein aufrechtes Wohlfahrtsbegehren, sondern auch ein bejahendes, sei es gewisses, sei es wenigstens wahrscheinliches, Urteil des Begehrenden über die Eignung der zu verwendenden Kräfte zur Herbeiführung des vorgestellten Wohlfahrtszuwachses erforderlich ist. Wollte die Wirtschaftswissenschaft den Kausalzusammenhang der wirtschaftlichen Erscheinungen über die Verwendungsbegehren hinaus verfolgen, so  müßte sie auch alle diese Urteile in den Kreis ihrer Untersuchungen ziehen. Diese Urteile bilden aber schon seit langem eine allseits anerkannte Domäne der technologischen, medizinischen und ähnlichen praktischen Wissenschaften.  Wenn die bisherigen Volkswirtschaftslehrer  keine vollkommen befriedigende Antwort auf die Frage, warum die Technik nicht in den Bereich der Wirtschaftswissenschaft gehört,  zu geben vermochten, so erklät sich dies nach dem eben Gesagten sehr leicht dadurch, daß sie von den Wohlfahrtsbegehren ausgehen zu müssen glaubten. Gehen wir aber erst vom Verwendungsbegehren aus, so liegt die Technik schon hinter uns und es kann die Frage, ob die Technik in die Wirtschaftswissenschaft gehört, gar nicht aufkommen.

72. Nehmen wir an, wir hätten zu erklären, warum gewisse Menschen die Verfügung über eine bestmmte Quantität Brot begehren und warum diese Begehren die und nicht jene Intensität haben. Wir sagen, daß dies auf zwei Ursachen zurückzuführen ist, von welchen die eine (die andere ist bekanntlich die Beschränktheit des Vorrats) darin besteht, daß die betreffenden Menschen das Begehren haben, diese Quantität Brot zu verzehren, und daß diese Begehren die und die Intensität besitzen. Warum aber die betreffenden Menschen diese Quantität Brot zu verzehren begehren und warum ihre Begehren die und die Intensität haben, mit anderen Worten, warum die Menschen gesättigt sein wollen und warum sie die und die Quantität Brot für ein geeignetes Mittel zur Befriedigung dieses Begehrens halten, das zu untersuchen überschreitet den Wirkungskreis der Wirtschaftswissenschaft.

Für diese Wissenschaft sind also die Verwendungsbegehren gegeben Tatsachen und ihre Intensitäten gegebene Größen. 

Die Untersuchung dessen, welche Wohlfahrtsbegehren die Menschen haben, aus welchen Ursachen dieselben entstehen, welche Intensität sie aufweisen und welche Mittel zur Befriedigung derselben geeignet sind oder für geeignet gehalten werden, ist den Nachbarwissenschaften der Ökonomik zu überlassen. 

73.  Noch weniger  als die Wohlfahrtsbegehren  können die Lust- und Schmerzgefühle,  durch welche die Wohlfahrtsbegehren hervorgerufen werden,  den Ausgangspunkt der Wirtschaftswissenschaft bilden,  da sie ja noch um eine Station hinter den Wohlfahrtsbegehren zurückliegen. (10) Der Zusammenhang zwischen Gefühlen und Begehren ist, wie wir in § 21 zu bemerken Gelegenheit hatten, ein bisher ziemlich stark umstrittenes Problem der Psychologie. Es ist ja bekannt, daß hervorragende Philosophen (KANT !) es für ein Privilegium des Menschen erklärt haben, unabhängig von Gefühlen (Neigungen) Willensentschlüsse zu fassen und so nach den höheren Geboten der Vernunft (kategorischer Imperativ) zu handeln. Andererseits gibt es Psychologen, welche behaupten, daß man Gefühle ohne gleichzeitige Begehren haben kann. (11)

74.  Es ist somit nicht das Wohlfahrtsbegehren, sondern das Verwendungsbegehren eine jener Grenzstationen, in welchen die Wirtschaftswissenschaft das Vehikel der Forschung von ihren Nachbarwissenschaften zu übernehmen hat, um es auf der ihr zugewiesenen Strecke weiter zu befördern und sodann in den, auf der entgegengesetzten Seite liegenden Grenzstationen an andere Nachbarwissenschaften zu übergeben. 

75. Auf dem Begriff des Verwendungsbegehrens beruth, wie sich leicht zeigen läßt, der Begriff des Gutes, auf beiden zum Teil der Begriff der Wirtschaft, auf diesem letzteren wiederum der Begriff des Wertes; so können direkt oder indirekt auf dem Begriff des Verwendungsbegehrens alle übrigen Grundbegriffe (Elementarbegriffe) der Wirtschaftswissenschaft aufgebaut werden, während zu seiner Definition die Kenntnis keines der übrigen Begriffe erforderlich erscheint.  Der Begriff des Verwendungsbegehrens ist daher der erste Grundbegriff,  oder genauer gesagt: (vgl. § 82) der Hauptbestandteil des ersten Grundbegriffs der Wirtschaftswissenschaft.  Andere Volkswirtschaftslehre haben diese Ehre bekanntlich  anderen Begriffen  zuteil werden lassen (12). In eine Kontroverse hierüber können wir uns aber diesmal nicht einlassen; denn um zu zeigen, welcher Begriff als der erste Begriff einer Wissenschaft gelten soll, müßte man  nicht bloß die richtige,  sondern, da die meisten Begriffe auf verschiedene Art richtig definiert werden können, auch die  zweckmäßigste Definition jedes Begriffs,  welcher auf die Ehre des ersten Anspruch erheben kann, feststellen und sodann das  Filiationsverhältnis zwischen allen diesen Begriffen  nachweisen. Dies würde aber den Rahmen der Aufgabe, die ich mir in dieser Schrift gestellt habe, bedeutend überschreiten.


V. Die Trias der obersten Bedürfnisbegriffe

76.  Alle drei Begehrensbegriffe,  welchen wir die Namen Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbegehren gaben, werden im  gewöhnlichen Sprachgebauch,  namentlich wenn das Ziel derselben die Beseitigung eines negativen Wohlfahrtszustandes bildet,  mit ein und demselben Wort: "Bedürfnis" bezeichnet.  Damit ist aber die Reihe der sprachüblichen Bedürnisbegriffe noch lange nicht erschöpft. Außer der eben genannten Trias werden nämlich im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch unter Bedürfnissen noch verstanden:
    4. die  Dispositionen  zu den unter 1 - 3 angeführten Begehren;

    5. die  negativen  objektiven Wohlfahrtszustände;

    6. die  Schmerzgefühle,  durch welche letztere unserem Bewußtsein signalisiert werden;

    7. die  Instinkte,  welche durch die unter 6 angeführten Gefühle ausgelöst werden.
Dabei ist auf einen  grammatischen Unterschied  aufmerksam zu machen. Es wird nämlich das Wort "Bedürfnis" in den Bedeutungen  5  und  6  ohne Ergänzung, in allen übrigen Bedeutungen  mit einer Ergänzung  in der Gestalt eines Zeitwortes im Infinitiv oder eines Hauptwortes im Genitiv oder mit der Präposition "nach" gebraucht. Im  Genitiv  pflegt das Hauptwort zu stehen, wenn das Ziel des Wohlfahrtsbegehrens ausdrückt,  mit der Präposition  "nach" dann, wenn der Vorgang ausgedrückt werden soll, dessen Verwirklichung das Ziel des Verwendungsbegehrens bildet, oder wenn es das Mittel bedeutet, dessen Verwendung den Inhalt des Verwendungsbegehrens oder dessen Besitz das Ziel des Verfügungsbegehrens bildet. In dieser letzterwähnten Konstruktion hat aber das Wort "Bedürfnis" noch eine Reihe anderer Bedeutungen.
    8. Stellen wir uns eine Person  P  vor, welche ein Verwendungsbeghren nach einem Mittel  M  hat und abstrahieren wir sodann vom Vorhandensein dieses Verwendungsbegehrens, so liegt uns nur mehr eine  logische Relation zwischen dem Begriff einer Person P,  die sich in einem auf der subjektiven oder objektiven Wohlfahrtsskala tiefer stehenden Wohlfahrtszustand befindet,  und dem Begriff des Mittels M,  welches der Urteilende für geeignet hält, den aktuellen Wohlfahrtszustand der Person  P  in einen auf der subjektiven oder objektiven Wohlfahrtsskala höher stehenden zu verwandeln, vor. Dieses Verhältnis wollen wir vorläufig als die  Relation R1  bezeichnen. Über das Vorhandensein dieser Relation kann sowohl die Person  P  als auch jede andere Person, welcher der aktuelle Wohlfahrtszustand der Person  P  und die Beziehung des Mittels  M  zu demselben bekannt ist, aussprechen.

    Da sich der jeweilige Gesamtwohlfahrtszustand einer Peron nach den §§ 6 und 12 aus einer größeren oder kleineren Zahl positiver und negativer Partialwohlfahrtszustände zusammensetzt, so bewirkt jeder hinzukommende positive Partialwohlfahrtszustand  W  irgendeines Teils des Organismus oder Bewußtseins  ceteris paribus  [unter den gleichen Umständen - wp] einen Wohlfahrtszuwachs. man kann somit auch das  Verhältnis der Person P,  die sich in einem auf der Wohlfahrtsskala tiefer stehenden Gesamtwohlfahrtszustand befindet,  zu einem positiven Partialwohlfahrtszustand  irgendeines Teils des Organismus oder Bewußtseins  W  als die Relation  R1  ansehen. Auch über diese Relation kann sowohl die Person  P  als auch jede andere, der die diesbezüglichen Verhältnisse bekannt sein, ein Urteil fällen.

    9. Jeder aktuelle positive Gesamtwohlfahrtszustand einer Person  P  ist von einer größeren oder kleineren Anzahl von Mitteln  M  derart abhängig, daß, wenn dieselben nicht vorhanden wären, der aktuelle Gesamtwohlfahrtszustand um eine gewisse Anzahl von Stufen tiefer stünde. Es besteht demnach auch  zwischen einer Person P,  die sich in einem aktuellen positiven Gesamtwohlfahrtszustand befindet,  und irgendeiner Bedingung M,  von deren Vorhandensein der weitere Bestand dieses Gesamtwohlfahrtszustandes abhängt, eine  Relation,  die wir vorläufig mit der Chiffre  R2  bezeichnen wollen.
Diese Relation kann man in analoger Weise auch auf das Verhältnis einer Person zu einem der  positiven Partialwohlfahrtszustände,  aus welchen sich der jeweilige positive Gesamtwohlfahrtszustand derselben zusammensetzt, ausdehnen.
    10. Wenn der Handel eines Landes darniederliegt, oder wenn ein Haus baufällig ist, so kann derjenige, welcher diesen Zustand des Handels, bzw. des Hauses erkennt und welcher der Ansicht ist, daß ein Mittel  M  geeignet ist, den Zustand des Handels, bzw. des Hauses zu verbessern, das Urteil fällen, daß  zwischen diesen leblosen oder doch wenigstens nicht mit Begehrensvermögen begabten Dingen D,  die sich in einem vom Urteilenden nicht begehrten oder als nicht begehrenswert erkannten Zustand befinden,  und dem Mittel M ein Verhältnis  besteht, welches wir vorläufig die  Relation R3  nennen wollen.

    11. Auch bei den unter  10  angeführten leblosen oder nicht mit Begehrungsvermögen begabten Dingen (D) ist der aktuelle begehrenswerte Zustand von einer Reihe von Umständen (M) derart abhängig, daß, wenn diese nicht vorhanden wären, stattt jenes Zustandes ein nicht begehrenswerter oder minder begehrenswerter Zustand vorliegen würde. Es besteht demnach  zwischen  den Begriffen D und M ein Verhältnis, welches wir die  Relation R4  nennen wollen.
Zwischen den Fällen  8  und  10  einerseits und  9  und  11  andererseits besteht der  Unterschied,  daß  M  in den erstgenannten Fällen als Mittel  zur Herbeiführung eines noch nicht aktuellen,  in den letztgenannten zwei Fällen aber als  Bedingung der Erhaltung eines aktuellen Wohlfahrtszustandes  erscheint.

Um diese vier verschiedenen Relationen von den Subjekten  P,  bzw.  D  auszusagen, bedient sich der gemeine Sprachgebrauch der gleichen Ausdrücke  "etwas brauchen", "etwas bedürfen"  oder  "ein Bedürfnis nach etwas haben."  Wird etwas von dieser Relation selbst ausgesagt, so bezeichnet man sie mit dem Ausdruck  "Bedürfnis nach etwas"  oder kurz  "Bedürfnis",  wobei das letztere Wort auch zur Bezeichnung des Zustandes oder Verhältnisses verwendet wird, in welchem sich die Subjekte  P  oder  D  befinden, wenn von hnen die Relation  R1  und  R2,  bzw.  R3  und  R4  ausgesagt werden können. Um die Fälle  8  und  9  auseinanderzuhalten, spricht man im letzteren Fall von einem  "befriedigten Bedürfnis"  oder von einem  "Zustand der Bedürfnisbefriedigung",  im ersteren dagegen von einem  "nicht befriedigten Bedürfnis",  von  "unzureichender"  oder  "mangelnder Bedürfnisbefriedigung". 
    12. Schließtlich wird das Wort  Bedürfnis  manchmal  auch zur Bezeichnung des Mittels M  verwendet, welches zu Subjekt  1  oder  D  in der Relation  R1  oder  R2,  bzw.  R3  oder  R4  steht. So spricht man z. B. von  Lebensbedürfnissen  und meint die Lebensmittel, von  Reisebedürfnissen  und meint die Reiserequisiten.
77.  Wenn diese so verschiedenen Vorstellungen miteinander verschwimmen, so muß daraus ein sehr unklarer Begriff resultieren und einen solchen verschwommenen Begriff verbinden die meisten Menschen mit dem Wort "Bedürfnis".  Von diesem verschwommenen Bedürfnisbegriff sind  fast alle Volkswirtschaftslehrer  ausgegangen, welche sich bisher mit der Definition des wirtschaftswissenschaftlichen Bedürfnisbegriffs befaßt haben, und je nachdem dem einen diese, den andern jene von den oben aufgestellten Bedeutungen geläufiger war, sind sie zu sehr verschiedenen Definitionen gelangt. Eine kurze Übersicht der bemerkenswertesten unter den bisherigen Ansichten über den Bedürfnisbegriff, bzw. die Bedürfnisbegriffe enthält das dritte Kapitel dieser Schrift, woraus zu entnehmen sein wird,  daß man auf die Frage, was der richtige Bedürfnisbegriff der Wirtschaftswissenschaft ist, aus der bisherigen Literatur kaum die erwünschte Antwort erhalten kann. 

78. Wie wir oben nachgewiesen zu haben glauben, hat es unsere Wissenschaft vorzugsweise mit den Begriffen des Verfügungs- und des Verwendungsbegehrens zu tun, während der Begrif des Wohlfahrtsbegehrens für sie nur eine geringe Bedeutung hat. Alle diese drei voneinander wesentlich verschiedenen Begriffe werden aber nach dem bisherigen Sprachgebrauch der volkswirtschaftlichen Schriftsteller mit demselben Terminus "Bedürfnis" bezeichnet, obgleich es doch  eines der elementarsten Erfordernisse der wissenschaftlichen Terminologie ist, daß für verschiedene Begriffe verschiedene Namen gebraucht werden. 

79.  Um dem eben erwähnten terminologischen Übelstand abzuhelfen,  kann man  zwei verschiedene Wege  wählen, und zwar entweder
    1.  den bisherigen Terminus "Bedürfnis" ganz aufgeben  und für jeden der drei Begehrungsbegriffe neue Termini einführen oder

    2. den bisherigen Terminus "Bedürfnis" zwar beibehalten, aber  durch eine Zusammensetzung desselben mit anderen Hauptwörtern oder mit Eigenschaftswörtern  für jeden der drei Begehrensbegriff einen besonderen Ausdruck bilden.
Der erste, radikalere Weg verspricht einen sicheren Erfolg,  denn bei den vielen Bedeutungen des Wortes "Bedürfnis", mit dem jedermann von Jugend an vertraut ist, besteht die Gefahr, daß dieses Wort auch in Zusammensetzungen mit anderen Wörtern bei den Lesern wirtschaftswissenschaftlicher Werke nicht immer dieselben Vorstellungen erwecken wird, welche der betreffende Autor hervorzurufen beabsichtigt. Da aber  kaum zu erwarten ist,  daß sich die Fachgenossen entschließen werden,  einen so alteingesessenen Kunstausdruck aus unserer Wissenschaft zu verbannen,  so wage ich es nicht, einen derartigen Vorschlag zu machen.

80. Was den  zweiten Weg  betrifft, so hat  einen solchen Versuch bereits  DIETZEL  unternommen,  indem er den Terminus  "wirtschaftliche Bedürfnisse"  gebraucht.
    Unter einem  wirtschaftlichen Bedürfnis  versteht DIETZEL das Begehren einer Person nach der Willensherrschaft über einen begrenzten Teil des Stoffes oder über die Materie oder über stoffliche Dinge oder deren Kräfte oder über die Sachenwelt, oder das Streben nach Reichtum oder nach Gewinnung wirtschaftlicher Macht. (13) Dieser Begriff könnte somit als mit unserem Verfügungsbegehren identisch angesehen werden; DIETZEL scheint ihn aber nicht so aufzufassen. Wenn ich die betreffenden Sätze richtig verstanden habe, so dürfte sich  sein Begriff der wirtschaftlichen Bedürfnisse  vielmehr  mit unserem Begriff der Verwendungs- oder Wohlfahrtsbegehren decken.  Denn er sagt (14): "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit ist gerichtet auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Willenssubjekte durch verschiedene Arten von Sachen oder deren Nutzungen, welche Befriedigung eben dadurch erreicht wird, daß sich der Wille diese Objekte dienstbar macht ... Die Erkenntnis eines "Etwas" als  wirtschaftlichen  Wertdinges enthält aber bereits ein Urteil über seine Tauglichkeit für ein  bestimtes  Bedürfnis, für das Bedürfnis der Herrschaft über stoffliche Dinge oder deren Kräfte." Von einer Tauglichkeit der Wertdinge für bestimmte Bedürfnisse kann man aber meines Erachtens nur dann sprechen, wenn man unter Bedürfnissen Verwendungsbegehren oder gar Wohlfahrtsbegehren meint, wenn man also die "Herrschaft über stoffliche Dinge oder deren Kräfte" mit dem Anhören musikalischer oder poetischer Produktione auf die gleiche Stufe stellt (15). Es ist zwar richtig, daß für manche Menschen der Besitz wirtschaftlicher Güter Selbstzweck ist, doch sind diese Fälle verschwindend selten im Vergleich zu jenen, in welchen das Begehren nach der Verfügung über wirtschaftliche Güter abgeleitet ist vom Begehren nach gewissen Verwendungen derselben. Wenn sich aber DIETZEL an der angeführten Stellen nur ungenau ausgedrückt haben und unter wirtschaftlichen Bedürfnissen nur die Verfügungsbegehren gemeint haben sollte, so läßt sich nicht bestreiten, daß dieselben auf die Bezeichnung als  wirtschaftliche  Bedürfnisse einen gerechten Anspruch haben, denn solche Begehren sind ja die unmittelbare psychische Ursache der wirtschaftlichen Handlungen.
Trotzdem könnten wir uns aber für diesen Terminus solange nicht erwärmen, als die Wirtschaftswissenschaft nicht einen neuen Terminus für das Verwendungsbegehren eingeführt haben wird.

81. Es ist nämlich zu beachten, daß nicht alle Verwendungsbegehren in den Bereich der Wirtschaftswissenschaft fallen. Sehr viele Menschen begehren z. B. täglich nach einem Spaziergang, da sie denselben für ein geeignetes Mittel zur Erhaltung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte halten, welche das unmittelbare Ziel ihrer Wohlfahrtsbegehren bildet. Und doch hat diese Art von Verwendungsbegehren bei gesunden Menschen mit der Wirtschaftswissenschaft nichts zu tun. Ebenso begehren die meisten Menschen eines bestimmten Alter nach dem ehelichen Umgang mit einer Person des anderen Geschlechts, da sie denselben für das geeignete Mittel zur Erhaltung ihres körperlischen und geistigen Wohlbefindens halten, welche das unmittelbare Ziel ihrer Wohlfahrtsbegehren bildet. Auch mit der Ehe, wenigstens in dieser Beziehung, hat die Wirtschaftswissenschaft ohne Zweifel nichts zu schaffen. Wir können an dieser Stelle nicht untersuchen, wie sich die Mittel, mit welchen gewirtschaftet wird oder werden soll, von jenen, bei welchen dies nicht der Fall ist, unterscheiden. Für unseren gegenwärtigen Zweck genügt es, zu konstatieren, daß ein solcher Unterschied tatsächlich besteht und  daß daher auch zwischen den Verwendungsbegehren, je nachdem sie die Verwendung von Mitteln der einen oder der anderen Art zum Ziel haben, unterschieden werden muß.  Welcher Name wäre nun für die Verwendungsbegehren der ersten Kategorie, wenn man den Terminus "Bedürfnis" beibehält, zutreffender als  "wirtschaftliche Bedürfnisse"?  So geraten wir wiederum in die mißliche Lage, für zwei verschiedene Begriffe denselben Terminus gebrauchen zu müssen. (16)

82. Wenn wir oben gesagt haben, daß das Verwendungsbegehren den Hauptbestandteil des ersten Grundbegriffs der Wirtschaftswissenschaft bildet, so haben wir damit schon angedeutet, daß das Verwendungsbegehren sich mit dem ersten Grundbegriff der Wirtschaftswissenschaft nicht vollständig deckt:  der Begriff des Verwendungsbegehrens ist nämlich um einen kleinen Splitter enger als der erste Grundbegriff,  wie ihn die Wirtschaftswissenschaft braucht.

Das menschliche Bewußtsein ist bekanntlich sehr eng.  Wir vermögen nur wenige Gegenstände auf einmal wahrzunehmen, nur wenige Vorstellungen auf einmal im Blickfeld unserer Aufmerksamkeit zu haben. Ebenso können sich nur wenige Begehren, d. h. solche Bewußtseinszustände, welche mit einem  aktuellen  Impuls oder Befriedigungstrieb verbunden sind, in unserem Bewußtsein befinden. Wie wir aber von jemandem auszusagen pflegen, er wisse etwas, auch in solchen Augenblicken, wo er das betreffende Urteil nicht fällt, wen er nur die Fähigkeit (Disposition) hat, es zu fällen, sobald sich seine Aufmerksamkeit auf das Subjekt des Urteils lenkt, ebenso  können wir sagen, jemand habe ein Begehren auch in solchen Augenblicken, in welchen er sich des betreffenden Impulses nicht bewußt ist, wenn er nur die Fähigkeit (Dispositioin) hat, sich dieses Impulses oder Befriedigungstriebes bewußt zu werden, sobald sich seine Aufmerksamkeit auf die Vorstellung, mit welcher er assoziiert ist, auf das Ziel des Begehrens lenkt.  Wie man also neben aktuellen Urteilen auch Urteilsdispositionen unterscheiden muß, so sind neben  aktuellen Verwendungsbegehren  auch  Dispositionen zu Verwendungsbegehren  zu berücksichtigen.

Durch die Vereinigung  dieser beiden Begriffe zu einem höheren Begriff erhalten wir den vollständigen Inhalt des ersten Grundbegriffs der Wirtschaftswissenschaft.  Diesen Begriff wollen wir in der Voraussetzung, daß sich die Fachgenossen kaum entschließen werden, den Terminus  Bedürfnis  über Bord zu werden, mit dem Namen  Verwendungsbedürfnis  bezeichnen.
    V. Unter den Verwendungsbedürfnissen sind somit solche Begehren wie Dispositionen zu solchen Begehren zu verstehen, deren unmittelbares Ziel die Verwendung solcher Kräfte, bzw. der materiellen Träger derselben bildet, welche der Begehrende für ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung jenes Wohlfahrtszustandes hält, welche das unmittelbare Ziel eines Wohlfahrtsbegehrens des Begehrenden bildet.
In analoger Weise können wir  durch die Zusammenfassung der Begriffe Wohlfahrtsbegehren und Dispositionen zu Wohlfahrtsbegehren  zu dem höheren Begriff  Wohlfahrtsbedürfnisse  und  durch Zusammenfassung der Begriffe Verfügungsbegehren und Dispositionen zu Verfügungsbegehren  zu dem höheren Begriff  Verfügungsbedürfnisse  gelangen.
    Um Mißverständnissen vorzubeugen, betone ich, daß die Richtigkeit dieser Definitionen nicht danach zu beurteilen ist, ob sichdie Bedeutung des Grundwortes "Bedürfnis" im gemeinen Sprachgebrauch mit der hier diesem Wort gegebenen Bedeutung deckt, da ich ja die Ausdrücke Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbedürfnis nur mit dem Vorbehalt gebrauche,  daß man von den die Wirtschaftswissenschaft nichts angehenden acht Bedeutungen des Wortes Bedürfnis  (nämlich den in § 76 unter 5 - 12 angeführten)  abstrahiert  und nur an die dort unter 1 - 4 angeführten Bedeutungen denkt.  Es ist daher der Terminus Bedürfnis,  wenn ihn die Wirtschaftswissenschaft weiter beibehalten will,  gerade so zu behandeln, als ob er im gemeinen Sprachgebrauch gar nicht vorkäme  und als ob sich ihn unsere Wissenschaft für die obigen Begriffe eigens gebildet hätte.
Die Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbegehren kann man auch  aktuelle,  die Disopositionen zu denselben  potentielle  oder  dispositionelle Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbedürfnisse  nennen.
    Es braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß man die Ausdrücke Wohlfahrts-, Verwendungs- oder Verfügungsbedürfnis nur dort gebrauchen kann, wo die betreffende Aussage nicht bloß für die Wohlfahrts-, Verwendungs- oder Verfügungsbegehren, sondern auch für die Dispositionen zu solchen Begehren paßt. Wo etwas nur von den Wohlfahrts-, Verwendungs- oder Verfügungsbegehren ausgesagt werden soll, müssen diese Ausdrücke zur Anwendung kommen, ebenso wie die Ausdrücke Disposition zu einem Wohlfahrts-, Verwendungs- oder Verfügungsbegehren dort zu gebrauchen sind, wo sich die betreffenden Aussagen nur auf diese Dispositionen beziehen.
83. Sowohl im gewöhnlichen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauch kommt häufig der Ausdruck  Interesse  vor,  welcher noch vieldeutiger ist als das Wort "Bedürfnis".  Derselbe bezeichnet zwar in der Regel die Disposition zu einem Wohlfahrts- oder Verwendungs- oder Verfügungsbegehren, kommt aber auch in der Bedeutung aktueller Begehren dieser Art nicht selten vor.  Wegen seiner Vieldeutigkeit sollte dieser Ausdruck in der volkswirtschaftlichen Terminologie keinen Platz  haben.

Statt des Ausdrucks Verfügungsbedürfnis trifft man sowohl im gemeinen Sprachgebrauch als auch in manchen wirtschaftlichen Werken noch das Wort  Bedarf  an. Da aber die Wirtschaftswissenschaft dieses Wort dringender zur Bezeichnung des Begriffs  "bedurfte Gütermenge"  nötig hat, so werde ich es in jenem Sinn nicht gebrauchen.

84. Werden die im vorletzten Paragraphen aufgestellten drei Bedürfnisbegriffe in einen höheren zusammengefaßt, so erhalten wir den  allgemeinen Bedürfnisbegriff,  welcher jedes Begehren und die Disposition zu jedem Begehren umfaßt. Da aber die Wirtschaftswissenschaft sich, wie schon dargelegt wurde, in erster Linie nur mit den Verfügungsbedürfnissen befaßt und die Verwendungsbedürfnisse nur insofern berücksichtigt, als es zur Erklärung der Existenz und der Intensität der Verfügungsbedürfnisse notwendig ist, so hat der  allgemeine Bedürfnisbegriff für sie keine Bedeutung. 
    Der Plural "Bedürfnisse" kann aber als  Abkürzung  für die Ausdrücke "Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbedürfnisse", der Singular "Bedürfnis" als Abkürzung für einen der Ausdrücke "Wohlfahrts- oder Verwendungs- oder Verfügungsbedürfnis" immerhin willkommen sein, wenn der jedesmalige Zusammenhang der betreffenden Stellen ergibt, in welchem Sinn sie gemeint sind.
In Anbetracht dessen, daß die  Lehre von den Bedürfnissen nicht bloß für die Ökonomik, sondern auch für andere praktische Wissenschaften, insbesondere für die Ethik von großer Wichtigkeit ist,  ist es sehr wahrscheinlich, daß dieselbe in späterer Zeit sich zu einer  selbständigen Grundwissenschaft der praktischen Wissenschaften  ausbilden wird, für welche wohl der Name  Chreonomie  (von chréos = Bedürfnis) sehr passend wäre. In dieser Wissenschaft dürfte den oben aufgestellten drei Bedürfnisbegriffen eine grundlegende Bedeutung zukommen und im Ausblick auf diese Zukunft wollen wir das  Wohlfahrts-, das Verwendungs- und das Verfügungsbedürfnis  als die  chreonomische Bedürfnistrias  bezeichnen.
LITERATUR Franz Cuhel, Zur Lehre von den Bedürfnissen - Theoretische Untersuchungen über das Grenzgebiet der Ökonomik und der Psychologie, Innsbruck 1907
    Anmerkungen
    1) Eine Ausnahme von dieser Regel würde nur für jenen Teil der Wirtschaftswissenschaft gelten, welcher sich mit der Konsumwirtschaft befaßt.
    2) siehe JEVONS, Political Economy, Seite 37
    3) siehe SAX, Staatswirtschaft, Seite 178 und 314
    4) Vgl. BÖHM-BAWERK, Kapital II, Seite 251 - 253 Anm.: "Wenn JEVONS dasjenige psychische Phänomen, welches uns zur Vorsorge für künftige Bedürfnisse ... treibt, ein "present anticipated feeling", ein "gegenwärtiges Vorausfühlen" nennt, ... so ist dies eine zur Irreführung sehr geeigente Ausdrucksweise. Man muß nämlich zwei grundverschiedene Dinge auseinanderhalten, die mir JEVONS nicht gehörig auseinandergehalten zu haben scheint. Eine Sache ist es, daß man sich eine künftige Lust (oder ein künftiges Leid) im Geist  vorstellt,  ... und eine ganz andere Sache ist es, daß man an dieser Vorstellung selbst eine Lust,  eine wirkliche gegenwärtige "Vorfreude" empfindet.  ... Diese Dinge hat nun JEVONS gründlich verwechselt. er läßt unsere wirtschaftlichen Handlungen durch "gegenwärtige Gefühle" motivieren, .... während nichts sicherer ist, als daß wir uns Gefühle ... zwar im voraus  vorstellen,  aber gewiß nicht als "present feelings"  durchfühlen  ... SAX spricht von einer - vom bloßen "Vorwissen" wohl zu unterscheidenden - "Vorempfindung" der künftigen Bedürfnisse und konstruiert aus diesen Vorempfindungen sogar wirkliche "gegenwärtige Bedürfnisse" und "Bedürfnisempfindungen". ... SAX hat wohl schwerlich bedacht, welche Folterqualen wir immerfort ausstehen müßten, wenn wir alle die künftigen Bedürfnisse und Leiden, gegen die wir uns durch Vorsorge schützen, ... beim Vorausbedenken wirklich durchempfinden müßten!"
    5) Dieselbe Ansicht wie ich hat gegenüber von BÖHM-BAWERK bereits OSKAR KRAUS, Bedürfnis, Seite 28) vertreten. Auch SAX (Staatswirtschaft, Seite 178) scheint der richtige Sachverhalt vorgeschwebt zu haben, denn er sagt, "daß sich mit dem  Wissen  der Wiederkehr der betreffenden Zwecksetzung (d. h. also mit dem positiven Urteil über die Wiederkehr) die Erinnerung (d. h. die Vorstellung) an die im früheren Fall bis zur Befriedigung gehabte Unlust verbindet." Nur meint er, daß auf diese Weise das gegenwärtige Gefühl entsteht, welches er für einen wesentlichen Bestandteil des gegenwärtigen Reflexes des künftigen Bedürfnisses hält.
    6) Vgl. FRIEDRICH von HERMANN, Staatswirtschaftliche Untersuchungen, Seite 91 und 92
    7) Vgl. von BÖHM-BAWERK, Kapital II, Seite 254
    8) Vgl. RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN, Das menschliche Glück und die soziale Frage, Seite 66
    9) Vgl. GEORG SULZER, Die wirtschaftlichen Grundgesetze, Seite 54 und 116.
    10) Ähnlich, aber weniger genau sagt FISHER (Value, Seite 11): "The plane of contact between psychology and economics is  desire.  No one never denied that economic acts have the invariable antecedent, desire. Whether the necessary antecedent of desire is  pleasure  or whether independently of pleasure it may sometimes be  duty  or  fear,  concerns a phenomenon in the second remove from the economic act of choice and is completely within the realm of psychology. We content ourselves therefore with the following simple psychological postulat:  Each  individual acts as he desires."
    11) Siehe von EHRENFELS, Werttheorie I, Seite 13
    12) Siehe GOTTLOB DIETZEL, Der Ausgangspunkt der Sozialwirtschaftslehre, Seite 20f
    13) siehe DIETZEL, Ausgangspunkt etc., Seite 61 und 65; auch Sozialökonomik, Seite 25
    14) siehe DIETZEL, Ausgangspunkt etc. Seite 60 und 61.
    15) Bei dieser Bedeutung des Wortes "Bedürfnis" könnte man aber nicht von der  "Deckung",  sondern nur von der  "Befriedigung" wirtschaftlicher Bedürfnisse  sprechen. Denn ein solches Bedürfnis muß als befriedigt angesehen werden, sobald man die Willensherrschaft über den betreffenden Gegenstand erlangt hat. Nur wenn man unter den wirtschaftlichen Bedürfnissen eine spezielle Kategorie von Verwendungsbegehren in unserem Sinne versteht, kann man sowohl von der "Befriedigung" als auch von der "Deckung" derselben sprechen, denn letztere bedeutet dann soviel wie die Sicherstellung der Befriedigung durch Verschaffung der Verfügung über die zu verwendenden Befriedigungsmittel.
    16) Wenn COURCELLE-SENEUIL definiert: "Le besoin économique est un désire qui a pour but la possession et la jouissance d'un objet matériel [Das wirtschaftliche Bedürfnis ist der Wunsch in den Besitz oder Genuß eines materiellen Objekts zu gelangen. - wp] (Économie politique I, Seite 25, nach einem Zitat bei JEVONS, Political Economy, Seite 44), so ist das (abgesehen von anderen Mängeln) eine Verquickung der Verwendungs- und der Verfügungsbegehren.