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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
I. Das Problem der historischen Begriffsbildung
II. Das historische Individuum
III. Die teleologische Begriffsbildung
IV. Der historische Zusammenhang
V. Die geschichtliche Entwicklung
VI. Die naturwissensch. Bestandteile i. d. histor. Wissenschaften
VII. Geschichtswissenschaft und Geisteswissenschaft
VIII. Die historischen Kulturwissenschaften
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie


Viertes Kapitel
Die historische Begriffsbildung

II. Das historische Individuum

Das Historische in seiner denkbar weitesten Bedeutung, in der es mit der empirischen Wirklichkeit selbst zusammenfällt, bildete die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung sowohl durch seine Anschaulichkeit als auch durch seine Individualität. Nun kann die wirkliche empirische Anschauung von keiner Wissenschaft so dargestellt werden, wie sie ist, denn sie bleibt unter allen Umständen unübersehbar mannigfaltig. Anders dagegen steht es mit der Individualität. Wenn sie uns auch stets anschaulich gegeben ist, so folgt daraus noch nicht, dass sie mit der Anschauung identisch sei. Das Problem der historischen Begriffsbildung besteht demnach darin, ob eine wissenschaftliche Bearbeitung und Vereinfachung der anschaulichen Wirklichkeit möglich ist, ohne dass wie in der Naturwissenschaft zugleich auch die Individualität verloren geht, d. h. ob aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des anschaulichen Inhalts bestimmte Bestandteile so herausgehoben und zu Begriffen zusammengeschlossen werden können, dass sie nicht das einer Mehrheit Gemeinsame, sondern das nur an einem Individuum Vorhandene darstellen. So allein werden Denkgebilde entstehen, die auf den Namen eines historischen Begriffes Anspruch haben.

Doch hier scheint uns sofort ein Einwand zu begegnen. Ist die Aufgabe, Begriffe mit individuellen Inhalt zu bilden, nicht in sich widerspruchsvoll? Kann es wissenschaftliches Denken ohne allgemeine Begriffe geben? Ist nicht vielmehr jede wissenschaftliche Bearbeitung der Wirklichkeit mit einer Beseitigung des Individuellen verknüpft?

Selbstverständlich sind wir weit davon entfernt, die Unentbehrlichkeit eines Allgemeinen für jede Wissenschaft zu bestreiten. Schon der flüchtige Blick auf eine geschichtliche Darstellung zeigt, dass auch sie fast durchweg aus Worten besteht, welche allgemeine Bedeutungen haben, und es kann das nicht anders sein, denn nur solche Worte sind allen verständlich. Zwar finden sich daneben Eigennamen, und diese scheinen eine Ausnahme zu bilden. Sie bedeuten aber nur für den etwas, der das damit bezeichnete Individuum aus der Wahrnehmung kennt und die dadurch gewonnene Anschauung in der Erinnerung zu reproduzieren vermag. Die Kenntnis solcher individuellen Anschauungen darf der Historiker jedoch niemals voraussetzen, und, falls er selbst sie besitzen sollte, was nur dann möglich ist, wenn Tatsachen und Quellenmaterial zusammenfallen, kann er sie doch nur so auf einen anderen übertragen, dass er ihren Inhalt mit Hilfe von allgemeinen Wortbedeutungen angibt. Es dürfen also auch die Eigennamen in einer historischen Darstellung nur als Stellvertreter für einen Komplex von Worten mit allgemeiner Bedeutung auftreten, denn nur dann ist die Darstellung für jeden verständlich, der sie hört oder liest.

Wir müssen sogar noch mehr sagen. Es ist nicht dieser äußerliche Umstand allein, der den Historiker zwingt, alles mit Hilfe von allgemeinen Begriffen darzustellen. Wir fanden früher (1), dass jedes Urteil eines Allgemeinen bedarf, und deshalb schon die Elemente, mit denen wir einen allgemeinen naturwissenschaftlichen Begriff bilden, selbst immer allgemein sind. Wenn aber dies erste Allgemeine unentbehrlich ist für jedes logische Denken überhaupt, so kann es selbstverständlich bei einer geschichtlichen Darstellung ebensowenig fehlen wie bei der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. In dem Sinne, dass die Elemente der Urteile und Begriffe allgemein sind, muss vielmehr jedes wissenschaftliche Denken ein Denken in allgemeinen Begriffen sein, und wollte man also der Geschichte die Aufgabe zuerteilen, nichts anderes als individuelle Vorstellungen zugeben, so wäre der Begriff der Geschichtswissenschaft in der Tat eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] Um es noch einmal zu wiederholen: die Wirklichkeit selbst in ihrer anschaulichen und individuellen Gestaltung geht in keine Wissenschaft ein (2).

Folgt aber hieraus etwa, dass die Verwendung der unwillkürlich entstandenen allgemeinen Wortbedeutungen oder der für jedes Denken unentbehrlichen allgemeinen Begriffselemente nur in der einen Richtung möglich ist, die wir in der Naturwissenschaft finden? Freilich, die Elemente unseres Denkens müssen für sich genommen allgemein sein, aber wir haben ja früher gesehen, dass sie selbst noch gar keine wissenschaftlichen Begriffe sind, sondern erst in ihrer Zusammenstellung etwas für die Wissenschaft bedeuten, und diese Zusammenstellung braucht durchaus nicht immer so vorgenommen zu werden, dass dadurch wieder ein Begriff mit allgemeinem Inhalt entsteht. Sie kann vielmehr auch so erfolgen, dass der sich ergebende Komplex von allgemeinen Elementen als Ganzes einen Inhalt hat, der sich nur an einem einmaligen und besonderen Objekt findet, und also gerade das darstellt, wodurch dieses Objekt sich von allen anderen Objekten unterscheidet. Mehr als diese Möglichkeit aber brauchen wir nicht, um den prinzipiellen Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte auch für die Begriffsbildung aufrecht zu erhalten. Wir können ihn mit Rücksicht darauf, dass alles Denken des Allgemeinen bedarf, dann so formulieren: in der Naturwissenschaft ist das Allgemeine, das bereits in den unwillkürlich entstandenen Wortbedeutungen vorliegt, zugleich das, was die Wissenschaft weiter auszubilden sich bemüht, d. h. ein allgemeiner Begriff, dem die Fülle des Einzelnen sich unterordnen lässt, ist ihr Zweck. Die Geschichte dagegen benutzt zwar ebenfalls das Allgemeine, um überhaupt unabhängig von unübertragbaren individuellen Anschauungen wissenschaftlich denken und urteilen zu können, aber dies Allgemeine ist für sie lediglich Mittel. Es ist der Umweg, auf dem sie wieder zum Individuellen als ihrem eigentlichen Gegenstand zurückzukommen sucht, und den sie nur in der Folge der Eigentümlichkeit unseres Sprechens und Denkens machen muss. Wir wollen hier die Wisssenschaften nicht mit Rücksicht auf ihre Umwege, sondern mit Rücksicht auf ihre Ziele charakterisieren. Behauptungen, wie die, dass alles wissenschaftliche Denken mit Allgemeinbegriffen arbeitet, sind also zwar anfechtbar, in dieser Unbestimmtheit jedoch für die Frage, ob die Geschichtswissenschaft dieselben Ziele wie die Naturwissenschaft verfolgt, ganz bedeutungslos. Alle Begriffe müssen sich in Urteile auflösen lassen, deren letzte Bestandteile allgemein sind, diese Urteile aber können in ihrer Gesamtheit sowohl etwas Allgemeines als auch etwas Einmaliges und Besonderes darstellen.

Trotzdem hat man den Umstand, dass jedes Urteil allgemeine Begriffe enthält, geradezu zum Angelpunkt der Geschichtsmethodologie machen wollen, und ganz besonders merkwürdig ist dabei, dass man nicht etwa die Möglichkeit einer Darstellung des Individuellen überhaupt bestreitet, sondern dies als Aufgabe der Kunst bezeichnet. Wenn nicht nur die bildende Kunst, sondern auch die Poesie gemeint ist, so wird nämlich gerade durch den Hinweis auf sie die Möglichkeit einer Darstellung des Individuellen mit Hilfe des Allgemeinen bewiesen. Oder verwendet etwa die Poesie nicht allgemeine Wortbedeutungen, um jedem Leser oder Hörer verständlich zu sein, und bringt sie nicht trotzdem Darstellungen zu stande, die gerade nach den Behauptungen der naturwissenschaftlichen Geschichtstheoretiker etwas Besonderes und Individuelles enthalten? Freilich, Poesie ist nicht Geschichte, schon aus dem einfachen Grunde, weil die Aussagen der Geschichte wahr sein müssen, aber die bloße Existenz der Poesie genügt bereits, um die angedeuteten Theorien zu widerlegen. Wäre die Unentbehrlichkeit allgemeiner Wortbedeutungen für das menschliche Denken schon Einwand gegen die Möglichkeit einer Darstellung des Individuellen, so könnte es Dichtung ebenso wenig wie Geschichte geben. Mit dem Hinweis darauf, dass jedes Urteil allgemeine Wortbedeutungen enthalten muss, sind also die Probleme der Methodenlehre wirklich nicht zu lösen.

Nur eine Bemerkung sei noch hinzugefügt, die erklären soll, wie man glauben konnte, dass wegen der unvermeidlichen Verwendung allgemeiner Begriffe die Geschichte zur Naturwissenschaft werden müsse. Weil die als Mittel der Darstellung benutzten allgemeinen Wortbedeutungen immer mehr oder weniger unbestimmt sind, so ist es nicht ausgeschlossen, dass der Historiker an ihre Stelle im Interesse der größeren Bestimmtheit wirklich naturwissenschaftliche Allgemeinbegriffe zu setzen sucht. Man könnte sogar behaupten, dass, weil die Naturwissenschaft allmählich auch den Sprachgebrauch beeinflusst, ihre Ergebnisse selbst dann auf die historischen Darstellungen einen Einfluss gewinnen müssen, wenn der Historiker sich dessen gar nicht bewusst ist. Wollte man freilich die vorhandene Geschichtswissenschaft auf die Spuren hin untersuchen, die von einer solchen Beeinflussung erzählen, so würde dies wohl nicht viel Material zu Tage fördern. Aber vielleicht ist der geringe Gebrauch, den die Geschichte bisher von den Ergebnissen der Naturwissenschaft gemacht hat, wirklich ein Mangel, und auf jeden Fall wird man die Möglichkeit nicht bestreiten können, dass in demselben Maße, in dem die Vollkommenheit gewisser naturwissenschaftlicher Allgemeinbegriffe wächst, auch die wissenschaftliche Bestimmtheit einer historischen Darstellung zunimmt. Es ist also eine Förderung der Geschichte durch die Naturwissenschaft im Prinzip nicht ausgeschlossen. Trotzdem brauchen wir hierbei nicht lange zu verweilen, denn wie groß auch der Gebrauch naturwissenschaftlicher Begriffe in einer historischen Darstellung werden möge, so können doch diese allgemeinen naturwissenschaftlichen Bestandteile, so lange mit ihrer Hilfe ein einmaliger Vorgang dargestellt werden soll, an dem logischen Verhältnis von Naturwissenschaft und Geschichte nicht das Geringste ändern. Sie spielen unter logischen Gesichtspunkten keine andere Rolle als die allgemeinen Begriffselemente überhaupt, d. h. sie sind zwar, für sich betrachtet, allgemein, aber sie sind niemals der Zweck oder das Ziel einer historischen Darstellung, und sie müssen sich in ihrer Gesamtheit stets wieder zu historischen Begriffen oder zu Begriffen mit individuellem Inhalt zusammenschließen.

Unser Problem beginnt erst mit der Frage, welches Prinzip die Zusammenstellung der historischen Begriffselemente leitet. Auch in der Geschichte müssen diese Elemente eine Einheit bilden, und auf das Band also, welches sie zu einem Begriff mit individuellem Inhalt zusammenschließt, kommt es für uns an. Worin besteht diese Einheit, wenn die Zusammengehörigkeit nicht wie bei einem naturwissenschaftlichen Begriff darauf beruht, dass die Begriffselemente das einer Mehrheit von Individuen Gemeinsame enthalten? Um diese Frage ganz allgemein zu beantworten, knüpfen wir wieder an den denkbar umfassendsten Begriff des Historischen, nämlich an den Begriff des Individuums an, und zwar heben wir hervor, dass das Wort nicht nur die Bedeutung hat, die wir bisher allein berücksichtigt haben, nämlich die des Besonderen und Einzigartigen, sondern zugleich auch die des Unteilbaren.

Wir wissen, dass jede Wirklichkeit, um einzigartig zu sein, zusammengesetzt sein muss, denn das Einfache, wie das Atom, ist individualitätslos. Deshalb liegt die Frage nahe, ob es vielleicht mehr als ein Zufall ist, dass in dem Worte Individuum zwei Bedeutungen stecken, die für unser Problem des historischen Begriffes notwendig zusammengehören: die der Einheit einer Mannigfaltigkeit und die der Einzigartigkeit. Es ist doch zum mindesten auffallend, dass wir etwas, das immer mannigfaltig ist, zugleich ein Individuum nennen. Hat der Ausdruck seinen Wortsinn verloren, wenn er zur Bezeichnung von einzigartigen Mannigfaltigkeiten verwendet wird, und ist nur das einfache Atom unteilbar, oder gibt es vielleicht Individuen auch in dem Sinne, dass ihre Mannigfaltigkeit wegen ihrer Einzigartigkeit eine Einheit bildet? Wenn dies der Fall ist, so wären hier Einzigartigkeit und Einheit einer Mannigfaltigkeit so miteinander verknüpft, wie sie auch in einem historischen Begriffe verknüpft sein müssen. Enthält also vielleicht schon der Begriff des Individuums selbst das Prinzip, das im geschichtlichen Stoff das Zusammengehörige verbindet und dadurch vom bloß Zusammengeratenen scheidet? Wir suchen festzustellen, ob der Begriff der Einheit und Unteilbarkeit sich mit dem der Einzigartigkeit so verbinden kann, dass die Einzigartigkeit der Grund oder die Voraussetzung der Unteilbarkeit und Einheit ist.

Dafür, dass individuelle Gestaltungen als Einheiten aufgefasst werden, kann man mehrere Gründe anführen, und sie mögen alle mit dazu beigetragen haben, jenen Sprachgebrauch zu befestigen, der mit einem Ausdruck Einzigartigkeit und Unteilbarkeit bezeichnet. So besteht die Wirklichkeit, die das Objekt jeder empirischen Wissenschaft ist, für das entwickelte Bewusstsein aus individuellen Dingen, die zwar miteinander verbunden, zugleich aber auch in sich abgeschlossen sind, denn jedes Ding ist ein Ding nur dadurch, dass es die Einheit eines Mannigfaltigen darstellt. Kann so etwa die Dinghaftigkeit die von uns gesuchte Einheit sein? Wenn wir zunächst nur an Körper denken, so ist diese Frage ohne Weiteres zu verneinen. Die Einheit des physischen Dinges ist nicht individuell. Die Synthese der Mannigfaltigkeit, die wir Ding nennen, verträgt sich mit den allerverschiedensten individuellen Inhalten, d. h. niemals hört durch Teilung ein körperliches Ding auf, dinghaft zu sein, sondern es werden zwei oder mehrere Dinge daraus. Und umgekehrt kann man durch Zusammensetzung mehrerer Dinge ein neues Ding bilden, das wiederum neu nur durch den Komplex seiner Eigenschaften, nicht aber wegen seiner Dinghaftigkeit ist. Wenn also durch Teilung oder Vereinigung mit anderen Dingen ein Ding zwar aufhört, dieses bestimmte Ding zu sein, aber die Einheit an ihm, die in der Dinghaftigkeit als solcher steckt, sich mit jedem beliebigen individuellen körperlichen Sein verbinden kann, so liegt in ihr auch nichts, was für unsern Zweck von Bedeutung wäre, d. h. wenn wir einen Körper als Individuum auffassen, so kann das nicht auf seiner Dinghaftigkeit beruhen.

Wie aber steht es mit der Verbindung von Einheit und Einzigartigkeit bei den Dingen, in die das geistige Leben sich gliedert? Sind die "Seelen" nicht doch in ganz anderer Weise unteilbar, als die Körper, und ist ihre Einheit nicht untrennbar mit ihrer Einzigartigkeit verknüpft? Hier liegen doch die Teile nicht nebeneinander, und von faktischer Teilbarkeit, die uns sofort deutlich macht, wie die nicht individuelle Einheit sich mit jedem beliebigen individuellen Teilinhalt verbindet, kann hier nicht in der Weise die Rede sein wie bei körperlichen Dingen. Auch mag der Gedanke der Einheit, der in dem Worte Individuum zum Ausdruck kommt, sich besonders auf die unteilbare Seele beziehen, und jedenfalls ist es sicher, dass wir Seelen eher Individuen nennen als Körper. Dieser Umstand ist für uns von Bedeutung, da seelisches Leben vorwiegend das Objekt historischer Darstellung bildet. Wir müssen also feststellen, ob im Psychischen als solchem schon die gesuchte Einheit der einzigartigen Mannigfaltigkeit steckt, oder ob nicht die Möglichkeit vorliegt, auch hier begrifflich sowohl die Einheit der Seele von ihrem individuellen Inhalt zu trennen, als auch diesen individuellen Inhalt wiederum so geteilt zu denken, dass dann ebenfalls die Einheit sich von der Einzigartigkeit ganz loslösen lässt.

Greifen wir auf die Kritik der Ansichten zurück, die prinzipielle methodologische Unterschiede zwischen Körper- und Geisteswissenschaften daraus ableiten wollen, dass das körperliche Sein aus Objekten, das seelische Sein dagegen aus Subjekten besteht, um zu entscheiden, ob im Begriffe des Subjektes vielleicht die gesuchte Einheit des Individuums steckt. Wir haben zwischen einem psychologischen und einem erkenntnistheoretischen Subjekt unterschieden, und natürlich kann an der Einheit des erkenntnistheoretischen Subjekts nicht gezweifelt werden. Aber offenbar ist es allein das psychologische Subjekt, welches für die Geschichte in Frage kommt, denn nur dieses ist individuell, und außerdem muss der Historiker ebenso wie der Psychologe sein Material, um es darstellen zu können, objektivieren. Wenn also die Einheit des Subjekts soviel Einheit des Bewusstseins ist, so finden wir, dass diese Einheit mit der Einheit der psychischen Individualität nichts zu tun hat. Sie gehört allein dem Subjekt an, das seinem Begriffe nach niemals Objekt, niemals individuell und überhaupt niemals Material einer empirischen Wissenschaft sein kann.

Einer vollkommenen Scheidung der beiden Subjekte stand allerdings die Schwierigkeit im Wege, dass wir die Objektivierung unseres eigenen Seelenlebens niemals faktisch so vornehmen können, dass alle seine Teile zu gleicher Zeit zu Objekten werden. Das erkenntnistheoretische Subjekt bleibt faktisch stets mit einem Teil des psychologischen Subjektes verbunden, und deshalb scheint auch die überindividuelle erkenntnistheoretische Einheit des Bewusstseins mit dem individuellen psychologischen Subjekt untrennbar verschmolzen zu sein. Dies aber kann uns nur veranlassen, die faktische und die begriffliche Trennbarkeit der beiden Subjekte auseinanderzuhalten, und sobald dies geschieht, enthält die Mannigfaltigkeit des individuellen Seelenlebens jedenfalls begrifflich von der Einheit des Bewusstseins nichts. Wir können sogar sagen, dass auch faktisch unser gesamtes individuelles Seelenleben von dem erkenntnistheoretischen Subjekt zu trennen ist. Der Teil des psychologischen Subjekts, der mit dem erkenntnistheoretischen verschmolzen bleibt, ist nämlich variabel, und es steht prinzipiell nichts dem Versuch entgegen, ihn so variieren zu lassen, dass schließlich jeder Teil unseres individuellen Seelenlebens einmal objektiviert und damit vom erkenntnistheoretischen Subjekt losgelöst worden ist. So können wir auch im psychologischen Subjekt die Einheit des Bewusstseins ebenso vollständig von der Mannigfaltigkeit der empirischen Seele trennen, wie bei einem Körper die Einheit des Dinges von der Mannigfaltigkeit seiner Eigenschaften, und in beiden Fällen ist es daher ausgeschlossen, dass die Einheit mit der Individualität so verknüpft ist, dass sie auf ihr beruht.

Sehen wir aber auch vom erkenntnistheoretischen Subjekt ab und halten wir daran fest, dass die erkenntnistheoretischen Synthesen des Psychischen für unseren Zweck von keiner anderen Bedeutung sein können als die erkenntnistheoretischen Synthesen des Physischen, so scheint trotz dieser erkenntnistheoretischen Koordination der beiden Gebiete doch auch die objektivierte psychische Mannigfaltigkeit einer Seele in noch ganz anderer Weise eine Einheit zu bilden als die Mannigfaltigkeit eines Körpers. Zwar wird man nicht leugnen, dass jedes individuelle Seelenleben sich faktisch fortwährend verändert, d. h. gewisse Bestandteile verliert und durch andere Bestandteile bereichert wird. Aber man wird trotzdem meinen, dass diese Teilbarkeit und Veränderung eine Grenze habe, und dass der eigentliche individuelle "Kern" einer Seele ein einheitliches Ganzes bilde. Die psychische Individualität wäre danach gewissermaßen als das unteilbare Zentrum der Seele aufzufassen, und nur an der Peripherie spielten sich die Prozesse der Veränderung ab. Hier wäre dann die Einzigartigkeit wirklich mit der Unteilbarkeit verbunden, und auf eine Persönlichkeit passte das Wort Individuum in seinen beiden Bedeutungen. Wir werden also vor die Frage gestellt, was diese Scheidung von einheitlichem Zentrum und veränderlicher Peripherie im objektivierten Dasein einer Seele für unser Problem zu bedeuten hat.

Der Kern einer psychischen Mannigfaltigkeit kann in verschiedener Weise aufgefasst werden. Es ist möglich, ihn als absolut unveränderliche Realität von den empirisch konstatierbaren psychischen Vorgängen prinzipiell zu unterscheiden, so dass man ihn als transzendente Wesenheit der veränderlichen Erscheinung des Seelenlebens gegenüberstellt und zu Grunde legt. Die Frage aber, mit welchem Rechte eine solche jenseits der Erfahrungswelt liegende, also metaphysische individuelle Seele angenommen wird, dürfen wir hier unerörtert lassen, da auch, wenn es eine solche Seele gibt, sie doch ebensowenig wie das erkenntnistheoretische Subjekt zum Material einer empirischen Wissenschaft gerechnet werden kann. Die für die Geschichte in Betracht kommende Einheit des Seelenlebens darf nur innerhalb der empirisch konstatierbaren psychischen Vorgänge gesucht werden.

Aber lässt sich nicht auch hier ein Unterschied von Zentrum und Peripherie feststellen? Wenigstens bei entwickelten und uns bekannten Menschen werden wir überall die zufälligen von den zusammengehörigen Bestandteilen trennen, also einen individuellen Kern aus der Gesamtheit des Seelenlebens herausheben, in dem für uns die eigentliche Person des betreffenden Menschen besteht. Es scheint demnach so, als ob ein Unterschied zwischen physischen und psychischen Mannigfaltigkeiten auch mit Rücksicht auf die Verbindung von Einzigartigkeit und Einheit vorhanden ist. Die Mannigfaltigkeit jedes Körpers wäre danach zwar einzigartig aber teilbar, die Mannigfaltigkeit jeder Seele dagegen nicht nur einzigartig sondern auch einheitlich, und Seelen wären also in prinzipiell anderer Weise Individuen als Körper. Ja, uns ist sogar früher bereits eine Tatsache begegnet, welche diese Ansicht zu bestätigen scheint. Wir mussten uns erst ausdrücklich zum Bewusstsein bringen, dass auch jeder Körper ein Individuum ist. Die Verwendung dieses Ausdrucks zur Bezeichnung einer Nuss oder eines Stückes Schwefel klang paradox, während alle Persönlichkeiten sich ohne Weiteres als Individuen bezeichnen lassen. Beruht dies vielleicht darauf, dass ein Körper kein Individuum ist, sondern immer nur bei Seelen mit der Einzigartigkeit sich auch die Einheit verknüpft?

Es soll nicht geleugnet werden, dass in der Tat das Widerstreben, jeden beliebigen Körper ein Individuum zu nennen, zum Teil darauf zurückzuführen sein mag, dass ihm die Einheit der individuellen Mannigfaltigkeit seines Inhaltes fehlt, aber trotzdem bedingt der Gegensatz des Geistigen und des Körperlichen noch nicht den Unterschied zwischen Einzigartigkeit und einheitlicher Einzigartigkeit, sondern dieser Unterschied lässt sich auf ein Prinzip zurückführen, das man ebensogut auf körperliche wie auf geistige Wirklichkeiten anwenden kann, denn es gibt einerseits auch Körper, deren einzigartige Mannigfaltigkeit eine Einheit bildet, so dass die Einheit auf der Einzigartigkeit beruht, und die sich dadurch von anderen Körpern, die bloß einzigartig sind, unterscheiden, und andererseits besitzt nicht jedes Seelenleben schon die Einheit seiner Einzigartigkeit, die uns bei Personen deutlich entgegentritt. Es lassen sich vielmehr ganz allgemein Individuen im engeren von solchen im weiteren Sinne unterscheiden, so dass nur die eine Art wirklich aus Individuen besteht, ja wir können uns sogar das Prinzip, worauf die durch Einzigartigkeit entstehende Einheit beruht, zuerst an der Gegenüberstellung zweier Körper klar machen.

Diese Körper sollen ein bestimmtes Stück Kohle und ein bestimmter großer Diamant, z. B. der bekannte Cohinoor, sein. Dieses eine Kohlestück gibt es ebensowenig zweimal in der Welt wie den Diamanten, denn wie der Diamant ist es durch seine individuellen Eigentümlichkeiten nicht nur von allen anders gearteten Dingen, sondern auch von allen Kohlenstücken verschieden. Was also die Einzigartigkeit anbetrifft, so sind beide Körper Individuen in genau demselben Sinne. Ganz anders verhalten sie sich dagegen mit Rücksicht auf ihre Einheitlichkeit. Sie können zwar beide geteilt werden: ein Hammerschlag würde das eine Individuum so gut wie das andere zersplittern. Während jedoch eine Teilung der Kohle die gleichgültigste Sache von der Welt wäre, wird man den Diamanten vor ihr sorgfältig bewahren, und zwar will man nicht, dass er geteilt werde, weil er einzigartig ist. Bei dem Diamanten also ist die Einheit seiner individuellen Mannigfaltigkeit wirklich mit seiner Einzigartigkeit so verknüpft, dass seine Einheit auf seiner Einzigartigkeit beruht. Bei dem Stück Kohle dagegen ist eine Einzigartigkeit zwar auch vorhanden, aber sie wird gar nicht als Einheit auf eine eventuelle Teilung bezogen. Der Grund dafür ist aber der, dass an die Stelle des Kohlenstückes jederzeit ein anderes Kohlenstück treten kann, ein zweiter Cohinoor dagegen niemals zu beschaffen ist, und damit muss der Unterschied zwischen zwei Arten von Individuen klar sein. Das Einzigartige ist dann zugleich notwendig ein nicht zu Teilendes oder ein Individuum im engeren Sinne des Wortes, wenn seiner Einzigartigkeit eine unersetzliche Bedeutung zukommt. Dass nicht nur Seelen sondern auch Körper individuelle Einheiten bilden, kann also nicht zweifelhaft sein.

Selbstverständlich ist nun dieser Unterschied zwischen zwei Arten von Individuen nicht nur auf den einzelnen Fall sondern auf alle Körper anzuwenden, so dass also die gesamte physische Welt in zwei Gruppen von Wirklichkeiten zerfällt. Aus der unübersehbaren extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge sondert sich eine bestimmte Anzahl aus. Bei weitem die meisten Körper kommen nur als Exemplare allgemeiner Begriffe in Betracht. Diejenigen aber, die nicht nur einzigartig, sondern wegen ihrer Einzigartigkeit auch einheitlich sind, werden wir nicht unter allgemeine Begriffe bringen. Ja, wir können noch mehr sagen. Betrachten wir ein Individuum im engeren Sinne, also z. B. wieder den Diamanten, noch etwas näher, so finden wir, dass die Bedeutung seiner Individualität nicht etwa auf der Gesamtheit dessen beruht, was seine inhaltliche Mannigfaltigkeit ausmacht. Diese Mannigfaltigkeit besteht ja, wie die jedes Dinges, aus unübersehbar vielen Bestimmungen, und es kann nur ein Teil von ihnen sein, an dem seine Unersetzlichkeit hängt. Nur diesen Teil berücksichtigen wir, wenn wir den Diamanten beschreiben. Die Fülle dessen, woraus er sonst noch besteht, könnte auch anders sein, ohne dass die Bedeutung, die er hat, dadurch modifiziert oder gar aufgehoben würde. Wenn aber die Einheit, die er durch seine Individualität besitzt, nur einen Teil von ihm umfasst, dann liefert uns das gesuchte Prinzip nicht nur die Möglichkeit, seine Individualität überhaupt als Einheit anzusehen, sondern auch eine begrenzte und genau bestimmte Anzahl seiner Bestandteile zu einer individuellen Einheit zusammenzuschließen. Natürlich muss auch dieser Unterschied zwischen nur zusammenseienden und zusammengehörigen Merkmalen sich wieder bei jedem Körper feststellen lassen, der ein Individuum im engeren Sinne ist, und wir sehen also, wie aus der ganzen uns bekannten Körperwelt sich eine bestimmte Anzahl einzigartiger und einheitlicher Mannigfaltigkeiten herauslöst, von denen jede einen bestimmten und übersehbaren Inhalt hat.

Versuchen wir schließlich das Prinzip, welches dieser Scheidung zu Grunde liegt, ausdrücklich zu formulieren, so ist, wenn wir wieder an das gebrauchte Beispiel denken, klar, dass die Bedeutung, welche der Diamant besitzt, nur auf dem Werte beruht, auf den wir seine durch nichts zu ersetzende Einzigartigkeit beziehen. Der Diamant soll nicht geteilt werden, und auch dies muss für alle Körper gelten, die Individuen sind: nur dadurch, dass ihre Einzigartigkeit in Beziehung zu einem Wert gebracht wird, kann die charakterisierte Art von Einheit entstehen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es auch noch andere Gründe gibt, die einen Körper zu einer unteilbaren Einheit machen. Organismen z. B. können nicht geteilt werden, wenn sie nicht aufhören sollen, Organismen zu sein, und dasselbe gilt auch von Werkzeugen und Maschinen. Aber diese Einheit kommt hier für uns nicht in Betracht, weil sie nicht die Einzigartigkeit eines bestimmten individuellen Dinges betrifft. Wir fragen nur danach, wie die Einzigartigkeit den Grund der Einheit bilden kann, und da muss die Antwort lauten, dass Individuen stets auf den Wert bezogene Individuen sind.

Lässt sich nun diese Scheidung auch für alle denkbaren empirischen Wirklichkeiten durchführen, und ist sie insbesondere auch auf das psychische Sein zu übertragen? Wenn dies nicht sofort in die Augen springt, so liegt das daran, dass unter den näher bekannten und beachteten Seelenwesen sich wohl keines finden wird, in dessen individueller Eigenart nicht ein Teil der Bestandteile von den übrigen sich abhebt und zu einer einzigartigen individuellen Einheit zusammenschließt. Es gibt insbesondere keinen uns bekannten Menschen, in dessen Individualität nicht ein wesentlicher Kern als die eigentliche Persönlichkeit im Gegensatz zu den unwesentlichen peripherischen Vorgängen enthalten ist, und weil wir diese Einheit bei allem menschlichen Seelenleben finden, so glauben wir, sie hafte am Wesen des Psychischen selbst. Sehen wir aber sowohl von der erkenntnistheoretischen Einheit des Bewusstseins als auch von der metaphysischen Einheit ab, so ist der Grund für die Scheidung von Zentrum und Peripherie in der empirischen Mannigfaltigkeit einer Menschenseele kein anderer als der, den wir bei dem Vergleich des Diamanten mit einem Kohlenstück kennengelernt haben, d. h. die Einheit einer Persönlichkeit beruht ebenfalls auf nichts anderem als darauf, dass wir sie auf einen Wert beziehen, und dass in Folge dessen die mit Rücksicht auf diesen Wert unersetzlichen Bestandteile ein Ganzes bilden, das nicht geteilt werden soll. Kurz, die Einheit der Persönlichkeit ist keine andere, als die des auf einen Wert bezogenen Individuums überhaupt. Der Unterschied zwischen Körper- und Seelenindividuum besteht nur darin, dass die Individualität keines Menschen uns so gleichgültig ist wie die eines Stückes Kohle. Daraus aber folgt, dass an dem Psychischen als solchem die Einheit der Einzigartigkeit noch nicht haftet. Abgesehen von dem Wert können wir uns nicht nur begrifflich einzigartiges Seelenleben denken, das keine individuelle Einheit besitzt, sondern wenn wir z. B. Tiere betrachten, so ist auch faktisch sehr oft kein Band vorhanden, welches die Einzigartigkeit zur Einheit macht. Warum alle Menschen auf Werte bezogen und deshalb für uns auch Individuen sind, ist hier gleichgültig. Es kommt nur darauf an, zu zeigen, dass unser Prinzip wirklich ganz allgemein ist, und dass dadurch jede beliebige Wirklichkeit, gleichviel ob sie physisch oder psychisch ist, in Individuen im engeren und weiteren Sinen geschieden werden kann. Wir verstehen dann auch, warum wir es so leicht vergessen, dass mit Rücksicht auf die Einzigartigkeit alle Wirklichkeiten in vollkommen gleicher Weise als Individuen existieren. Sie sind eben zum bei weitem größten Teil nur einzigartig, und weil wir erst dann ,wenn sie auf einen Wert bezogen und dadurch einheitlich in ihrer Einzigartigkeit werden, auf die Einzigartigkeit achten und sie uns ausdrücklich zum Bewusstsein bringen Veranlassung haben, so klingt es paradox, wenn wir Blätter oder Nüsse Individuen nennen.

Die Klarlegung des Prinzips, auf dem die Scheidung in zwei verschiedene Arten von Individuen beruht, bringt uns zunächst nichts anderes zum Bewusstsein als den Gesichtspunkt, von dem jeder fühlende, wollende und handelnde, kurz jeder stellungnehmende und also jeder wirkliche Mensch bei seiner Auffassung der Welt geleitet ist, und unter dem sich für ihn das Seiende in wesentliche und unwesentliche Bestandteile scheidet. Wer lebt, d. h. sich Zwecke setzt und sie verwirklichen will, kann die Welt niemals nur mit Rücksicht auf das Allgemeine, sondern er muss sie auch mit Rücksicht auf das Besondere ansehen, denn nur so vermag er in der überall individuellen Wirklichkeit sich zu orientieren und zu wirken. Ein Teil der Objekte kommt auch für ihn nur in soweit in Betracht, als sie Exemplare von Gattungsbegriffen sind, andere dagegen werden gerade durch ihre Einzigartigkeit wichtig und sind deshalb notwendig einheitliche Individuen. Diese Scheidung vollzieht sich mit so großer Selbstverständlichkeit, dass man ihren Grund nur selten bemerkt und gar nicht daran denkt, dass Wertgesichtspunkte dabei eine Auswahl leiten. In der Tat ist es auch die ursprünglichste Auffassung der Wirklichkeit, und für den wirklichen Menschen, der immer ein wollender, wertender, stellungnehmender Mensch ist, wird daher die in der angegebenen Weise aufgefasste Wirklichkeit geradezu zur Wirklichkeit überhaupt werden. Deshalb muss man es sich erst ausdrücklich zum Bewusstsein bringen, dass diese Welt, ebenso wie die künstlerisch angeschaute oder in allgemeinen Begriffen gedachte Wirklichkeit, ebenfalls nur eine bestimmte Auffassung ist, die wir neben die naturwissenschaftliche und künstlerische Auffassung als eine dritte sich prinzipiell von ihnen unterscheidende setzen und als die Welt des wirklichen Lebens bezeichnen können.

Worin besteht aber nun der Zusammenhang dieser Wirklichkeitsauffassung mit dem Problem der historischen Begriffsbildung? Unser Gedankengang hat den Zweck, vom Begriff der Grenzen der Naturwissenschaften aus durch allmähliche Determination den Begriff der Beschichtswissenschaft zu gewinnen, und wir werden nun sagen können, dass wenn die individuelle Wirklichkeit als solche mit dem allgemeinsten Begriffe des historischen Objektes gleich zu setzen war, die individualisierende Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens als die ursprünglichste historische Auffassung bezeichnet werden muss. Das historische Interesse haben wir mit dem Interesse am Individuellen gleichgesetzt, und die Individuen, die für den wollenden und wertenden Menschen Individuen sind, können wir daher historische Individuen nennen. Natürlich hat auch dieser engere Begriff des Individuums zunächst noch keine Bedeutung für den Begriff der wissenschaftlichen Geschichte, doch ist er trotzdem von Wichtigkeit, denn wir können mit Rücksicht auf ihn den umfassendsten logischen Begriff des Historischen, der bisher nur ein Problem enthielt, so bestimmen, dass wir der Problemlösung näher kommen. Wenn wir früher als Natur die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine, als Geschichte die Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Besondere bezeichneten, so war in dieser Formulierung nur der allgemeinste Begriff der Naturwissenschaft enthalten, aber noch nichts von dem Begriff der geschichtlichen Wissenschaft. Sagen wir dagegen jetzt: die Wirklichkeit wird Geschichte mit Rücksicht auf die Bedeutung, die das Besondere durch seine Einzigartigkeit für wollende und handelnde Wesen besitzt, so eröffnet sich uns auch sofort der Ausblick auf die Möglichkeit einer im logischen Sinne geschichtlichen Darstellung, denn da die in der angegebenen Weise historische Auffassung oder Individuenbildung sowohl die extensive als auch die intensive unübersehbare Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit überwindet, so muss der dabei maßgebende Gesichtspunkt auch zum Prinzip der Bildung von Begriffen mit individuellem Inhalt geeignet sein. Zugleich wird an dem prinzipiellen logischen Gegensatz zwischen Natur und Geschichte durch diese nähere Bestimmung nicht das Geringste geändert, denn die empirische Wirklichkeit, wie sie der wollende Mensch des wirklichen Lebens mit Rücksicht auf ihre Eigenart und Besonderheit darstellen würde, müsste der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ebenso eine Grenze setzen, wie die Wirklichkeit in ihrer überhaupt nicht darzustellenden unübersehbaren Anschaulichkeit.

Wie aber soll die Auffassung des wollenden Menschen oder des wirklichen Lebens uns dem Begriff der Geschichte als Wissenschaft näher führen? Ist sie nicht gerade, weil sie die Auffassung des wollenden Menschen ist, der wissenschaftlichen Auffassung entgegengesetzt? Gewiss, die geschichteliche Auffassung kann nicht mit der des wollenden Menschen identisch sein. Beide haben nur die Scheidung von Individuen im engeren und weiteren Sinne miteinander gemeinsam und schließen individuelle Mannigfaltigkeiten zu Einheiten zusammen. Sie unterscheiden sich aber auch prinzipiell voneinander, und zwar in zweifacher Hinsicht.

Zunächst muss der Historiker im Gegensatz zum wollenden Menschen nicht praktisch sondern theoretisch sein und sich daher immer nur darstellend und nicht beurteilend verhalten, d. h. er hat wohl die Gesichtspunkte der Betrachtung mit dem praktischen Menschen gemein, nicht aber das Wollen und Werten selbst. Wir werden genau feststellen, worin die bloße Betrachtung unter Wertgesichtspunkten oder das theoretische "Beziehen" auf Werte im Gegensatz zum Wollen und zum direkten Werten besteht. Sodann hat der individuelle wollende Mensch stets auch rein individuelle Werte und Zwecke, und so werden für ihn eine Menge von Individuen zu Individuen, ohne dass andere Menschen Veranlassung haben, diese individuellen Mannigfaltigkeiten ebenfalls als notwendige Einheiten anzuerkennen. Die Geschichte dagegen muss, so weit man den Begriff der Wissenschaft auch fassen will, jedenfalls immer eine Darstellung anstreben, die für alle gilt, und es können daher nur die inhaltlichen Bestimmungen ihrer Begriffe, niemals aber die leitenden Prinzipien ihrer Darstellung individuell sein. Wir werden also auch die Wertgesichtspunkte, die maßgebend für die Bildung von historischen Individuen sind, noch genauer zu bestimmen haben.

Um mit dem zweiten Punkt zu beginnen, so zeigt sich das Unzureichende des bisher gewonnen Begriffs vom historischen Individuum schon daran, dass im wirklichen Leben alle Menschen von uns als Individuen betrachtet werden. Die Individualität keines Menschen ist für uns so bedeutungslos wie die eines Kohlenstückchens. Die Geschichte stellt jedoch niemals die Individualität aller Menschen dar. Worauf aber beruht die Beschränkung auf einen Teil von ihnen? Offenbar darauf, dass sie sich nur für das interessiert, was, wie man zu sagen pflegt, eine allgemeine Bedeutung besitzt. Dies kann jedoch nichts anderes heißen, als dass der Wert, mit Rücksicht auf welchen für sie die Objekte zu historischen Individuen werden, ein allgemeiner Wert sein muss. Alle Menschen werden zu Individuen im engeren Sinne nur dadurch, dass wir jede menschliche Individualität auf irgendeinen Wert beziehen. Achten wir dagegen darauf, welches individuelle Leben sich nur mit Rücksicht auf allgemeine Werte durch seine Einzigartigkeit zu einer Einheit zusammenschließt, dann sehen wir, dass auch aus der Gesamtheit der Menschen wie aus der aller anderen Objekte sich nur eine bestimmte Anzahl heraushebt. Bei der Gegenüberstellung zweier Körper hatten wir den Diamanten gewählt, weil er mit Rücksicht auf einen allgemeinen Wert zu einem Individuum wird. Stellen wir nun eine Persönlichkeit wie Goethe irgendeinem Durchschnittsmenschen gegenüber und sehen wir davon ab, dass auch die Individualität des Durchschnittsmenschen mit Rücksicht auf irgendwelche beliebigen Werte etwas bedeutet, so ergibt sich, dass Goethe zu diesem Menschen sich verhält wie der Diamant Cohinoor zu einem Stück Kohle, d. h. mit Rücksicht auf den allgemeinen Wert kann die Individualität des Durchschnittsmenschen durch jedes Objekt, das unter den Begriff Mensch fällt, ersetzt werden, an Goethe wird dagegen gerade das von Bedeutung, was ihn von allen anderen Exemplaren des Begriffes Mensch unterscheidet, und es gibt keinen allgemeinen Begriff, unter den er gebracht werden kann. Das Individuum Goethe ist also in demselben Sinne wie das Individuum Cohinoor ein Individuum, und wir ersehen daraus, dass die Beziehung auf einen allgemeinen Wert es uns ermöglicht, nicht nur überhaupt in jeder beliebigen Wirklichkeit zwei Arten von Individuen zu unterscheiden, sondern diese Scheidung auch so zu vollziehen, dass wir sie jedem als richtig zumuten können. Die unter diesem Gesichtspunkt zu Individuen werdenden Objekte stellt dann die Geschichte dar, die als Wissenschaft in allgemeingültiger Weise das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und zu einer notwendigen Einheit zusammenzuschließen hat.

Aber ist damit nicht der früher aufgestellte Begriff des Historischen und insbesondere der Gegensatz zur Naturwissenschaft aufgehoben? Haben wir noch das Recht, von einer Wissenschaft des Besonderen und Individuellen zu sprechen, wenn der Wert, welcher die Objekte zu historischen Individuen macht, ein allgemeiner Wert ist? Es gibt in der Geschichte allerdings außer den bereits erörterten allgemeinen Begriffselementen noch ein zweites Allgemeines, und dieser Umstand erklärt es auch, warum in den Diskussionen über die Methode der historischen Wissenschaften der Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichte übersehen und eine Universalmethode proklamiert werden konnte. Es schien geradezu selbstverständlich: die Wissenschaft hat es immer mit dem "Allgemeinen" zu tun.

Macht man sich jedoch klar, was dieses zweite Allgemeine ist, so ergibt sich, dass der allgemeine Wert, der die Allgemeingültigkeit einer geschichtlichen Auffassung ermöglicht, mit dem naturwissenschaftlichen Allgemeinen noch weniger zu tun hat als die allgemeinen Elemente der historischen Begriffe. Diese sind nämlich wenigstens ihrem Inhalte nach in demselben Sinne allgemein wie ein naturwissenschaftlicher Begriff. Der allgemeine Wert dagegen soll erstens nicht etwa mehrere individuelle Werte als seine Exemplare umfassen sondern nur ein von allen anerkannter Wert oder ein Wert für alle sein, und zweitens ist das, was allgemeine Bedeutung hat, insofern es auf einen allgemeinen Wert bezogen wird, darum nicht selbst etwas Allgemeines. Im Gegenteil, die allgemeine Bedeutung eines Objektes kann sogar in demselben Maße zunehmen, in dem die Unterschiede größer werden, die zwischen ihm und anderen Objekten bestehen, und die Geschichte wird also, gerade weil sie nur von dem berichtet, was zu einem allgemeinen Wert in Beziehung steht, vom Individuellen und Besonderen zu berichten haben. Das historische Individuum ist dasnn für Alle durch das bedeutsam, worin es andere als Alle ist. Wer meint, dass niemals das Individuelle sondern nur das Allgemeine eine allgemeine Bedeutung habe, übersieht die einfache Tatsache, dass gerade die allgemeinsten Werte häufig am absolut Individuellen und Einzigartigen haften. Wohl bedarf also die Geschichte eines Allgemeinen als Prinzips der Auswahl, aber ebensowenig wie die allgemeinen Begriffselemente ist dieses Allgemeine das Ziel, nach dem sie strebt, sondern nur ein Mittel, das sie zu einer allgemein gültigen Darstellung des Individuellen benutzt.

Da die Scheidung des "mit allen Gemeinsamen" von dem "für alle Bedeutsamen" von entscheidender Wichtigkeit für das logische Verständnis der historischen Wissenschaften ist, so erörtern wir noch einen Versuch, den Gegenstand der Geschichte zu bestimmen, der besonders leicht zu der soeben dargelegten Verwechslung führen kann. Nicht selten nämlich hört man, dass der Historiker nur vom "Typischen" zu handeln habe, und das klingt vielen ebenso selbstverständlich, wie, dass nur das Wesentliche, Bedeutungsvolle, Wichtige oder Interessante dargestellt werden sollte. Im logischen Interesse jedoch hat man Grund, gerade diesen Ausdruck zur Bestimmung des Historischen zu vermeiden. Zunächst ist er mehrdeutig. Typus heißt einerseits soviel wie vollkommene Ausprägung oder Vorbild. Andererseits bezeichnet dieses Wort aber auch das für den Durchschnitt einer Gruppe von Dingen oder Vorgängen Charakteristische, und dann heißt es bisweilen geradezu soviel wie Exemplar eines allgemeinen Gattungsbegriffs. Diese beiden Bedeutungen wird man nur dann für gleich halten, wenn man in dem Inhalt eines allgemeinen Begriffs schon ein Vorbild oder Ideal sieht, nach dem die einzelnen Individuen sich zu richten haben, und das setzt voraus, dass die Individuen die unvollkommenen Abbilder des allgemeinen Begriffes sind. Auf dem Boden des platonischen Begriffsrealismus, auf dem die allgemeinen Werte das wahrhaft Wirkliche und zwar das allgemeine Wirkliche sind, hat diese Ansicht auch einen guten Sinn, und weil nicht selten naturwissenschaftliche Begriffsbildungen ebenfalls zu metaphysischen Realitäten umgedeutet werden, so ist es nicht wunderbar, wenn derartige Voraussetzungen bei den Anhängern einer naturwissenschaftlichen Universalmethode eine Rolle spielen. Will man dagegen keine metaphysischen Voraussetzungen machen, so muss das Typische als das Durchschnittliche von dem Typischen als dem Vorbildlichen sorgfältig geschieden werden, ja, weil das Durchschnittliche als Inhalt eines allgemeinen Begriffes immer weniger enthält als jedes seiner individuellen Exemplare, das Vorbildliche aber über das Durchschnittliche hinausgehen und mehr als der allgemeine Begriff enthalten muss, so schließen die beiden Bedeutungen des Wortes Typus einander prinzipiell aus, und die "typische" Verkörperung eines Ideals kann niemals die "typische" Verkörperung eines allgemeinen Begriffsinhaltes sein.

Der Satz, die Geschichte habe das Typische darzustellen, kann also etwas bedeuten, was zwar nicht eine erschöpfende Bestimmung des historischen Individuums, aber doch mit Rücksicht wenigstens auf einen Teil der historischen Objekte nicht geradezu falsch ist. Sagen wir z. B., dass Goethe oder Bismarck typische Deutsche sind, so kann das heißen, dass sie in ihrer Einzigartigkeit und Individualität vorbildlich sind, und weil sie als Vorbilder auch für alle bedeutsam sein müssen, so werden sie in der Tat als Typen auch zu historischen Individuen. Schiebt man dagegen dem Begriff des Typus die andere Bedeutung des Durchschnittlichen unter und erklärt dann, dass die Geschichte an allen Individuen nur das beachte, was sie mit der großen Masse gemeinsam haben. Werden dann Goethe oder Bismarck auch in diesem Sinne Typen genannt, so entsteht die sonderbare Konsequenz, dass sie für die Geschichte nur insofern in Betracht kommen, als sie Durchschnittsmenschen sind, und man glaubt so, einen Sinn mit der Behauptung verbinden zu können, dass auch die "großen Männer" nur "Massenerscheinungen" seien. Der Ausdruck Typus kann also nur dazu dienen, die Irrtümer über die Aufgaben und das Wesen der Geschichtswissenschaft zu befestigen, die aus der Verwechslung des "für alle Bedeutsamen" mit dem "mit allen Gemeinsamen" entstehen. Nur wenn wir Vorbildliches und Durchschnittliches, das sich in der Bedeutung des Wortes Typus oft unklar mischt, sorgfältig auseinander halten, wird der Glaube verschwinden, dass nur das Gemeinsame oder begrifflich Allgemeine von allgemeiner historischer Bedeutung sei.

Freilich soll die Anlehnung des Ausdruckes Typus nicht heißen, dass die Geschichte niemals von Durchschnittstypen berichtet, denn viele Objekte kommen in der Tat auch für den Historiker nur durch das in Betracht, was sie mit einer Gruppe von Individuen teilen, und wir werden diese historischen Durchschnittstypen näher erörtern, wenn wir uns von den absolut historischen zu den relativ historischen Begriffen wenden. Hier jedoch kann der Umstand, dass die Geschichte unter anderem auch Durchschnittstypen darstellt, nur ein neuer Grund sein, das Wort, das die zwei einander ausschließenden Bedeutungen hat, mit großer Vorsicht zu verwenden. Ja, der Ausdruck würde, selbst wenn wir stets das Vorbildliche und Durchschnittliche auseinander hielten, sich zur Bestimmung dessen, was Objekt der Geschichte ist, nicht eignen, denn die Geschichte hat es durchaus nicht nur mit Objekten zu tun, die entweder Typen in dem einen oder Typen in dem anderen Sinne des Wortes sind. Das Vorbildliche ist nur wegen seiner Bedeutung für alle geschichtlich, und es ist nicht etwa jedes historische Individuum auch schon vorbildlich. Man kann sogar sagen, dass die eventuelle Vorbildlichkeit des für alle Bedeutsamen den Historiker nicht zu kümmern braucht, und jedenfalls werden zu historischen Individuen auch Objekte wie bestimmte geografische Situationen, z. B. der Schauplatz einer Schlacht, die doch gewiss weder Durchschnittstypen sind noch irgendwelche vorbildliche Bedeutung besitzen. Will man also einen wirklich umfassenden Begriff des historischen Individuums erhalten, so ist der Begriff des Typus ganz unbrauchbar. Wir zeigen hier zunächst nur, dass, wenn die Wirklichkeit mit Rücksicht auf einen allgemein anerkannten Wert in wesentliche und unwesentliche Bestandteile zerfällt und die wesentlichen Bestandteile sich zu individuellen Einheiten zusammenschließen, die dadurch entstehende Auffassung der Wirklichkeit nicht willkürlich und deshalb von vornherein unwissenschaftlich ist, sondern dass sie von jedem anerkannt werden muss und somit eine unerlässliche Bedingung jeder wissenschaftlichen Auffassung erfüllt.

Doch wir hatten noch einen zweiten Unterschied zwischen der historischen Auffassung und der Auffassung des wollenden Menschen im wirklichen Leben festgestellt. Denkt man nämlich an die beiden von uns gebrauchten Beispiele für den Begriff des historischen Individuums, also an den Cohinoor und an Goethe, so könnte man meinen, dass die Teile der Wirklichkeit zu historischen Individuen werden sollen, die selbst Werte verkörpern. Dieser Begriff aber wäre viel zu eng, und es genügt auch nicht, ihn dadurch zu erweitern, dass man die negativ bewerteten Wirklichkeiten ebenfalls zu den historischen Individuen rechnet. Es ist vielmehr überhaupt nicht Sache der Geschichtswissenschaft, zu sagen, ob die individuellen Wirklichkeiten, die sie darstellt, wertvoll oder wertfeindlich sind – denn wie sollte sie dabei zu allgemein gültigen Urteilen kommen –, sondern das, was wir unter der "Beziehung" eines Individuums auf einen Wert verstehen, ist von seiner direkten Bewertung sorgfältig zu unterscheiden. Ja, es wäre geradezu das schlimmste von allen Missverständnissen, wenn man unsere Ansicht so auffasste, als hielten wir die Fällung von Werturteilen für eine geschichtswissenschaftliche Aufgabe. In der Loslösung jedes Werturteils von der Wertbeziehung müssen wir vielmehr ein wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen historischen Auffassung erblicken.

Was aber heißt es, dass ein Objekt auf einen Wert bezogen ist, ohne als wertvoll oder wertfeindlich beurteilt zu sein? Greifen wir, um dies zu verstehen, noch einmal auf die Auffassung des wirklichen Lebens zurück, und denken wir dabei an zwei Menschen, die sehr stark in dem, was sie lieben und hassen, voneinander abweichen. Kann trotzdem nicht mit Rücksicht auf bestimmte Werte, wie z. B. die politischen Ideale es sind, die Wirklichkeit für beide in ganz übereinstimmender Weise in solche Objekte zerfallen, die für sie nur als Exemplare eines Gattungsbegriffes in Betracht kommen, und solche, deren Individualität für sie bedeutsam ist? Der eine von den beiden möge ein radikaler Demokrat und Freihändler, der andere ein radikaler Aristokrat und Schutzzöllner sein. Sie werden dann gewiss in ihren Werturteilen über die politischen Vorgänge in ihrer Zeit oder in der Vergangenheit, in ihrem Vaterlande oder bei anderen Völkern nur in wenigen Fällen übereinstimmen, aber wird darum etwa der eine von ihnen solche individuellen politischen Ereignisse mit Interesse verfolgen, die dem anderen vollkommen gleichgültig sind? Gewiss nicht. Auch unter den Politikern der denkbar verschiedensten Richtungen bilden immer dieselben individuellen Vorgänge den Gegenstand des Streits, d. h. die Differenzen der Wertung müssen sich auf eine gemeinsame Wirklichkeitsauffassung beziehen, denn die Streitenden würden ja sonst gar nicht von denselben Dingen sprechen, und es wäre daher ein Streit über ihren Wert überhaupt unmöglich.

Wenn sich dies aber so verhält, so müssen auch die voneinander abweichenden Werturteile sich von der gemeinsamen Wirklichkeitsauffassung, durch welche nur bestimmte Objekte zu Individuen werden, loslösen lassen, d. h. die Scheidung in wesentliche und unwesentliche Elemente vollzieht sich in einer von der Verschiedenheit der direkten Werturteile gänzlich unabhängigen Weise. Andererseits jedoch ist auch die den verschiedenen Parteien gemeinsame Auffassung nicht von jeder "Beziehung" zu Werten überhaupt frei. Wenn irgendein Objekt durch seine Individualität politische oder ästhetische oder religiöse Bedeutung erhalten, zum Gegenstand des Streites werden und sich als Individuum aus der unübersehbaren Fülle der Objekte herausheben soll, so darf man das politische, künstlerische oder religiöse Leben nicht für etwas absolut Gleichgültiges halten, sondern muss irgendwelche politischen, künstlerischen oder religiösen Werte ausdrücklich als Werte anerkennen, denn für Menschen, die dies nicht tun, würde gar keine Veranlassung bestehen, der individuellen Gestaltung bestimmter Objekte ein anderes Interesse zuzuwenden als der irgendwelcher beliebigen anderen. Bezeichnen wir also das, wodurch eine den verschiedensten Wertbeurteilungen gemeinsame Auffassung der Wirklichkeit entsteht, als die bloße Beziehung auf Werte, so kann man diese Beziehung streng von der direkten positiven oder negativen Bewertung scheiden. Durch das bloße Beziehen entsteht eine Welt von Individuen für alle in derselben Weise. Der Wert dieser Individuen dagegen wird immer sehr verschieden geschätzt werden.

Kehren wir nun von der Auffassung des Lebens wieder zur historischen Auffassung zurück, so ist ihr logisches Ideal, wenn sie Wissenschaft sein will, dadurch charakterisiert, dass sie von allem Wollen den Objekten gegenüber frei ist und daher auch von jeder direkten Wertbeurteilung absieht, dagegen die bloße Beziehung auf allgemeine Werte in dem angegebenen Sinne beibehält. Es gliedert sich dann für sie die Wirklichkeit in Individuen und Exemplare von Gattungsbegriffen in der Weise, dass auch die verschiedensten Parteien dieser Auffassung zustimmen können. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass nicht auch der Historiker bisweilen Werturteilen direkt fälle, oder dass die Logik ihm dies verbieten wolle. Nur gehört dies nicht notwendig zum logischen Wesen der Geschichte sondern geht über die im methodologischen Sinne geschichtliche Aufgabe hinaus. Das Beziehen der Objekte auf Werte ist dagegen von jeder geschichtlichen Darstellung begrifflich unabtrennbar, und wenn es Manchem vielleicht schwer wird, dies zuzugeben, so liegt das nur daran, dass wir gerade das Selbstverständliche am leichtesten übersehen. Als zugestanden dürfen wir voraussetzen, dass die Geschichte sich hauptsächlich mit Menschen beschäftigt, und dass innerhalb des Menschenlebens nicht alles für sie von gleicher Bedeutung ist. Das ist absolut selbstverständlich, wird man sagen. Gewiss, aber auch dafür muss es doch Gründe geben. Warum erzählt die Geschichte von dem einen Menschen und von dem anderen nicht? Die individuellen Unterschiede zwischen ihnen sind an sich nicht größer als die zwischen anderen Dingen, denn ohne das wir dieses als wesentlich hervorheben und jenes als unwesentlich bei Seite lassen, ist jedes Ding einer bestimmten Gattung von jedem anderen in unübersehbar vielen Beziehungen verschieden. Erst Wertbeziehungen bestimmen die Größe der individuellen Differenzen. Sie lassen uns den einen Vorgang bemerken und den anderen zurücktreten. Je mehr wir geneigt sind, an der Anerkennung gewisser Werte und der Beziehung gewisser Wirklichkeiten auf sie als an etwas Selbstverständlichem achtlos vorüberzugehen, desto mehr Grund hat die Logik, auf dies Selbstverständliche mit allem Nachdruck hinzuweisen und hervorzuheben, dass ohne die Beziehung auf Werte uns die individuellen Unterschiede der Menschen ebenso gleichgültig sein würden wie die Unterschiede der Wellen im Meer oder der Blätter im Winde.

Wegen der Wichtigkeit, die dieser Punkt hat, sei schließlich eine Erläuterung an Beispielen versucht. Will der Historiker eine Geschichte der Renaissance oder der romantischen Schule schreiben, so kann er sich gewiss ein Ideal von historischer "Objektivität" bilden, bei dessen Erreichung niemand merken würde, ob seine politischen oder künstlerischen überzeugungen ihm die Renaissance oder die Romantik sympathisch oder unsympathisch machen, ob sie ihm als höchste Blüten oder als Stadien des tiefsten Verfalls in der Entwicklung der Menschheit erscheinen. Er wird zwar dieses Ideal wohl nicht wirklich erreichen, aber er kann sich wenigstens eine Urteilsenthaltung über den Wert der behandelten Objekte zur wissenschaftlichen Pflicht machen, da nur über den tatsächlichen Verlauf, niemals aber über seinen Wert eine wissenschaftlich begründete Meinung möglich ist. Spielen jedoch darum Werte bei seiner Tätigkeit überhaupt gar keine Rolle? Viele Historiker mögen glauben, dass sie bei dem Streben nach wissenschaftlicher Objektivität wirklich mit Werten nichts zu tun haben. Tatsächlich aber würde kein Historiker sich um die einmaligen und individuellen, Renaissance oder romantische Schule genannten Vorgänge kümmern, wenn sie nicht durch ihre Individualität zu politischen, ästhetischen oder anderen allgemeinen Werten in Beziehung ständen, und der Glaube, in der Geschichte jemals einen absolut wertfreien Standpunkt zu vertreten, d. h. nicht nur Werturteile sondern auch Wertbeziehungen vermeiden zu können, ist daher immer eine Selbsttäuschung. Dass die Geschichte nur das "Wesentliche" darzustellen habe, gibt jeder ohne weiteres zu, ja man macht dem Historiker einen schweren Vorwurf daraus, wenn er diese Regel nicht befolgt. Die Worte "wesentlich" aber, oder auch "interessant", "charakteristisch", "wichtig", "bedeutsam", die man auf das Historische immer muss anwenden können, haben ohne die Voraussetzung irgendwelcher anerkannten Werte gar keinen angebbaren Sinn mehr. Wir bringen also im Grunde genommen durch die Behauptung, dass jedes Objekt, welches Gegenstand der Geschichte ist, auf einen Wert bezogen sein muss, nur die sehr triviale Wahrheit, dass alles, was die Geschichte darstellt, interessant, charakteristisch, wichtig oder bedeutsam ist, auf einen logischen brauchbaren Ausdruck.

Blicken wir jetzt noch einmal zurück. Die Begriffsbestimmung des historischen Individuums ist in drei Stufen erfolgt. Zuerst war das Historische das Wirklich schlechthin, das überall individuell im Sinne von einzigartig ist, und dieser Begriff genügte, um die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung klar zu legen. Sodann wurde das Historische das von einem wollenden Wesen mit einem Wert verbundene und in seiner Einzigartigkeit zugleich einheitliche Wirkliche, und damit lernten wir die Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens kennen. Endlich konnten wir das historische Individuum als die Wirklichkeit bestimmen, die sich durch Beziehung auf einen allgemeinen Wert zu einer einzigartigen und einheitlichen Mannigfaltigkeit für jeden zusammenschließen muss, und die dann so, wie sie unter dem Gesichtspunkt dieser bloß theoretischen Betrachtung in wesentliche und unwesentliche Bestandteile zerfällt, dargestellt werden kann. Damit ist erst der Begriff erreicht, der die Objekte der historischen Wissenschaften umfasst. Die beiden ersten Stufen der Begriffsbestimmung haben jetzt für uns kein Interesse mehr. Sie bilden nur den Weg, auf dem wir allmählich zum Begriff des eigentlichen historischen Individuums vordringen mussten, und wenn wir im Folgenden von historischen Individuen oder Individuen ohne weiteren Zusatz sprechen, so ist immer nur der Begriff auf der dritten Stufe der Bestimmung gemeint. Natürlich ist auch dieser Begriff noch rein formal und im Vergleich zum sachlichen Begriff der Geschichte noch immer viel zu weit. Aber logisch lässt sich jetzt der Begriff der Geschichte so angeben: Sie ist Wirklichkeitswissenschaft, insofern sie es mit einmaligen individuellen Wirklichkeiten als solchen zu tun hat, sie ist Wirklichkeitswissenschaft, insofern sie einen für alle gültigen Standpunkt der bloßen Betrachtung einnimmt und daher nur die durch Beziehung auf einen allgemeinen Wert bedeutungsvollen individuellen Wirklichkeiten oder die historischen Individuen zum Objekt ihrer Darstellung macht.

Es ist vielleicht nicht ganz überflüssig, darauf hinzuweisen, dass auch der Sprachgebrauch sich mit den drei Stufen unserer Begriffsbestimmung sehr gut verträgt. Das vieldeutige Wort "historisch" brauchen wir erstens, um die bloße Tatsächlichkeit eines Urteils zu bezeichnen. Wenn wir z. B. sagen, der viel zitierte Ausspruch Galileis: und sie bewegt sich doch, ist nicht historisch, so heißt das nur: Galilei hat diese Worte nicht gesprochen. Historisch bedeutet hier also genau so viel wie wirklich, und wir verstehen dann auch, warum alle Rationalisten sich über die tatsächlichen Wahrheiten als über die bloß "historischen" abfällig äußern. Dieser erste Sinn des Wortes war unser erster Begriff.

Zweitens aber sprechen wir mit Emphase von einem "historischen Moment"; wenn wir meinen, dass ein Ereignis eine große Bedeutung besitze, ja, wir kommen uns selbst wichtig vor, wenn es uns gestattet ist, einen solchen historischen Moment mitzuerleben, und diese Bedeutung kann natürlich nur durch die Verbindung mit einem Wert entstehen. Der zweite Sinn des Wortes historisch deckt sich also mit der zweiten Stufe unseres Begriffs.

Drittens sagen wir endlich: dies oder jenes ist "historisch geworden" oder "gehört der Geschichte an", und damit meinen wir wieder etwas ganz anderes. Wir wollen damit sagen, dass ein vergangenes Geschehen keinen direkten Wert mehr für das Leben der Gegenwart hat und von unserem Wollen losgelöst ist. Manche Philosophen wünschen z. B., dass Kant doch endlich "historisch" in diesem Sinne werden möge, d. h. sie wollen ihn aus dem philosophischen Kampfe der Gegenwart entfernen. Andererseits jedoch würde auch ein noch so "historisch" gewordener Kant immer in ganz bestimmten Beziehungen zu den wissenschaftlichen Werten bleiben und nur wegen dieser Beziehungen der Geschichte angehören. Wir sehen somit, wie die dritte Bedeutung des Wortes "historisch" sich wieder genau mit dem Begriff deckt, den wir als den letzten zu dem Begriff des Individuums hinzufügen mussten, um einen für die Wissenschaftslehre brauchbaren Begriff des historischen Individuums zu gewinnen. Kurz, wir können sagen, dass die drei verschiedenen Bedeutungen, die das Wort historisch hat, nämlich: wirklich, bedeutsam und dem Streit entzogen, von uns alle in gleicher Weise berücksichtigt und in unserem Begriffe "aufgehoben" werden konnten, und dies dürfte wenigstens einen kleinen Beitrag auch zur Rechtfertigung unserer Ausführungen liefern.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Vgl. weiter oben.
    2) Ich hebe dies hier noch einmal nachdrücklich hervor, obwohl es früher bereits genügend erörtert worden ist. In mehreren Kritiken der ersten Kapitel dieses Buches ist mir nämlich als einziger wesentlicher Einwand die Behauptung begegnet, dass ich der Geschichte eine in sich widerspruchsvolle Aufgabe stellte, da doch jede Wissenschaft eines Prinzips der Auswahl bedürfe. Wie ein derartiges Missverständnis bei einem aufmerksamen Leser möglich war, wird wohl niemand begreifen, der den Seiten 252-254 dieses Buches auch nur einen flüchtigen Blick gönnt.