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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt
II. Die Bestimmtheit des Begriffs
III. Die Geltung des Begriffs
IV. Dingbegriffe und Relationsbegriffe
V. Die mechanische Naturauffassung
VI. Beschreibung und Erklärung

Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Die Welt dadurch zu erkennen, daß man alle Einzelgestaltungen, so wie sie sind, einzeln vorstellt, ist eine für den endlichen Menschengeist prinzipiell unlösbare Aufgabe."

"Wir müssen, weil jede Fläche eine Farbe hat und es eine absolut gleichmäßige Färbung auch der kleinsten Fläche nicht gibt, eine Anzahl von Farbennuancen auf ihr vorfinden, die erschöpfend einzeln zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, ein unausführbares Unternehmen ist. Daraus ergibt sich, daß auch der kleinste Teil der Welt nicht durch abbildende Vorstellungen, so wie er ist, erkannt werden kann."

"Ich kann dieselbe Mannigfaltigkeit in der Körperwelt sowohl als extensiv als auch als intensiv bezeichnen, je nachdem ich den betreffenden Teil der Körperwelt als aus mehreren Einzeldingen bestehend oder als ein einheitliches Ding ansehe."

"Für den wissenschaftlichen Menschen ist das Bedürfnis und zwar das theoretische Bedürfnis nach Erkenntnis maßgebend für seine Teilnahme am Anschaulichen. Er verläßt die Anschauung, sobald er sie sich soweit ausdrücklich zu Bewußtsein gebracht hat, daß er sich über ihr Verhältnis zum Inhalt seiner Begriffe klar zu werden vermag. Er muß einen Maßstab dafür haben, wann er die Anschauung verlassen, d. h. in ihren Einzelheiten unbeachtet lassen darf. Sonst würde er mit der Untersuchung eines einzigen Objektes niemals fertig werden."

Erstes Kapitel
Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt

"Das Höchste wäre, zu begreifen, daß
alles Faktische schon Theorie ist."

- Goethe -

Wir wissen, daß unsere erste Aufgabe darin besteht, das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung festzustellen. Wir haben ferner beschlossen, diese Begriffsbildung zunächst nur insoweit kennen zu lernen, als sie für die Erkenntnis der Körperwelt von Bedeutung ist.

Der Weg zur Lösung dieser Aufgabe ist uns vorgezeichnet. Da unsere Untersuchung keine psychologische, sondern eine logischeist, so betrachten wir den naturwissenschaftlichen Begriff, wie jedes logische Gebilde, als Mittel zu einem wissenschaftlichen Zweck und daraus ergibt sich, daß wir sein Wesen in einer ihm eigentümlichen Leistung suchen müssen, die er zur Erreichung der von der naturwissenschaftlichen Arbeit verfolgten Ziele erfüllt. Von vornherein ist hiermit klar, daß wir in diesem Zusammenhang das Wort "Begriff" niemals für Vorstellungen gebrauchen können, deren Bedeutung darin aufgeht, daß sie als Tatsachen in unserem Seelenleben vorhanden sind, sondern nur für Gebilde, durch die schon etwas für den Zweck des wissenschaftlichen Erkennens getan ist. Denn eine Logik, die Wissenschaftslehre sein will, wird die logischen Termini nur für wissenschaftlich bedeutsame Denkgebilde verwenden dürfen. Unsere erste Frage muß also lauten: worin besteht die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Begriffs und wodurch löst er sie?


I.
Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt und ihre
Vereinfachung durch die allgemeine Wortbedeutung

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, gehen wir von einer jedem geläufigen Meinung aus. Der Mensch steht einer körperlichen Wirklichkeit gegenüber, auf die sich seine Erkenntnis richtet. Wir kümmern uns hier nicht darum, ob diese Wirklichkeit ein vom erkennenden Subjekt in jeder Hinsicht unabhängiges Sein bildet, das "im Bewußtsein" entweder ganz oder zum Teil sich ebenso darstellt, wie es unabhängig davon existiert oder ob diese Welt nur die "Erscheinung", die menschliche Auffassungsweise einer anderen uns völlig unbekannten, Realen Welt von Dingen ansich ist oder endlich, ob die uns unmittelbar gegebene Wirklichkeit die einzige ist, die wir anzunehmen ein Recht haben und ihr daher ein "dahinterliegendes" Sein nicht entsprechen kann. Wir begnügen uns mit der Tatsache, daß jeder eine Körperwelt kennt als eine in Raum und Zeit ausgebreitete Wirklichkeit von anschaulichen Gestaltungen und daß die Wissenschaft von den Körpern, soweit sie empirische Wissenschaft ist, als Objekt ihrer Untersuchungen jedenfalls nur diese eine Wirklichkeit kennt. Es ist in diesem Zusammenhang daher ganz gleichgültig, ob wir diese Welt die erfahrene, die vorgefundene, die gegebene Welt oder ob wir sie den Inhalt des Bewußtseins nennen.

Wohl aber müssen wir uns eine in einer anderen Richtung liegende Eigentümlichkeit dieser körperlichen Erfahrungs- oder Bewußtseinswelt vergegenwärtigen, die damit zusammenhängt, daß es sich um eine anschauliche, in Raum und Zeit vorhandene Welt handelt. Diese Eigentümlichkeit wird uns am leichtesten klar werden, sobald wir den Versuch machen, die anschauliche körperliche Wirklichkeit dadurch zu erkennen, daß wir sie genau so, wie sie ist, mit unseren Vorstellungen abbilden und dann in Urteilen alles das, was wir vorstellen, aussagen. Wir müssen dabei nämlich auf Schwierigkeiten stoßen, die sich bald als unüberwindliche Hindernisse für eine derartige Erkenntnis der Welt herausstellen und in denen die von uns gemeinte Besonderheit der Körperwelt am besten zum Ausdruck kommt.

Die eine dieser Schwierigkeiten ist jedem bekannt. Die körperliche Welt hat keinen für uns erreichbaren Anfang in der Zeit und keine für uns erreichbare Grenze im Raum. Sie bietet sich uns als eine unübersehbare Mannigfaltigkeit von Einzelgestaltungen und Vorgängen dar. Ja, wir werden, wenn wir mit einem allerdings mit Vorsicht zu gebrauchenden Ausdruck "unendlich" das nennen wollen, womit das Urteil notwendig verbunden ist, daß wir es niemals zu erschöpfen vermögen, diese anschauliche Mannigfaltigkeit der Körperwelt geradezu als eine unendliche bezeichnen müssen. Auch wenn man geneigt sein sollte, das Quantum von Materie aus dem die Welt besteht, endlich zu denken, so daß in dieser Hinsicht nur von vorläufiger Unübersehbarkeit und nicht von Unendlichkeit die Rede sein könnte, so nötigt uns doch auch ein endliches Quantum von Materie in einem unendlichen Raum und in einer unendlichen, eine unendliche Anzahl von Kombinationen und damit eine unendlich Anzahl von verschiedenen anschaulichen Einzelgestaltungen als wirklich anzunehmen. (1)

Was sich hieraus für eine Erkenntnis des körperlichen Weltganzen ergibt, ist klar. Die Welt dadurch zu erkennen, daß man alle Einzelgestaltungen, so wie sie sind, einzeln vorstellt, ist eine für den endlichen Menschengeist prinzipiell unlösbare Aufgabe. Jeder Versuch in dieser Richtung wäre geradezu widersinnig, denn wie groß wir auch die Anzahl der Einzelgestaltungen annehmen mögen, die mit unseren Vorstellungen abzubilden uns gelingen könnte, es stände ihnen noch immer eine prinzipiell unübersehbare, als unendliche Mannigfaltigkeit von unerkannten Dingen und Vorgängen gegenüber und es dürfte unter diesen Voraussetzungen niemals von einem Fortschritt in der Erkenntnis der Welt gesprochen werden. Wer also unter Erkenntnis der Welt ein wirkliches Abbild der Welt versteht, der muß auf eine Wissenschaft, die sich der Erkenntnis des Weltganzen auch nur annähert, von vornherein verzichten.

Aber auch ein Verzicht dieser Art und eine Beschränkung der Erkenntnis auf einen Teil der Welt würde dem Bedürfnis nach einem Abbild der Welt durch die Erkenntnis nur wenig helfen. Und damit stoßen wir auf eine zweite Schwierigkeit, die nicht minder wichtig, aber sehr viel weniger beachtet worden ist, als die eben dargestellte. Jede einzelne Anschauung nämlich, die wir aus der unendlichen Fülle herausgreifen, bietet uns, so einfach wir sie auch wählen mögen, immer noch eine Mannigfaltigkeit dar und wir werden, wenn wir uns an eine nähere Untersuchung machen, finden, daß diese Mannigfaltigkeit um so größer wird, je mehr wir uns in sie vertiefen. Wir meinen damit nicht nur die Mannigfaltigkeit, die jedem einzelnen Ding dadurch anhaftet, daß es in einer unübersehbaren Fülle von Beziehungen zu anderen Dingen steht. Auch wenn wir eine einzelne Anschauung von allen ihren Beziehungen loslösen und sie ganz für sich betrachten, werden wir bald zu der Überzeugung kommen müssen, daß auch im kleinsten Teil der Wirklichkeit, den wir noch vorzustellen vermögen, implizit wieder eine niemals zu erschöpfende, also in diesem Sinne unendliche Mannigfaltigkeit steckt. Achten wir bei irgendeinem Gegenstand z. B. nur auf das, was wir von ihm sehen, auf die Oberfläche, die er unserem Auge darbietet, so haben wir in jedem optischen Eindruck eine prinzipiell unübersehbare Mannigfaltigkeit sogar in zweifacher, in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht vor uns. Jede Fläche nämlich können wir einerseits in beliebig viele Teile zerlegen und wenn wir auch den kleinsten Teilm, den wir wahrnehmen können, genau untersucht haben, so bürgt nichts dafür, daß bei noch genauerer Zerlegung wir nicht etwas entdecken werden, das sich uns bisher entzogen hat. Andererseits müssen wir, weil jede Fläche eine Farbe hat und es eine absolut gleichmäßige Färbung auch der kleinsten Fläche nicht gibt, eine Anzahl von Farbennuancen auf ihr vorfinden, die erschöpfend einzeln zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, ein unausführbares Unternehmen ist. Daraus ergibt sich, daß auch der kleinste Teil der Welt nicht durch abbildende Vorstellungen, so wie er ist, erkannt werden kann. Sollen, um die Ausdrücke HUMEs zu gebrauchen, unsere Ideen im strengen Sinn des Wortes Kopien von Impressionen sein, so stehen wir auch bei größter Einschränkung des Erkenntnisgebietes wiederum vor einer prinzipiell unlösbaren Aufgabe.

Von den beiden angegebenen Besonderheiten der Körperwelt, die es hier nur ausdrücklich hervorzuheben galt, hat eine Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung auszugehen. Wir wollen, um bequeme Ausdrücke zu haben, die Eigentümlichkeit der Welt, die in Frage kommt, wenn unsere Erkenntnis auf das Ganze gerichtet ist, als die "extensive" und die Eigentümlichkeit, die jede einzelne anschauliche Gestaltung uns darbietet, als die "intensive" Mannigfaltigkeit oder Unendlichkeit der Dinge bezeichnen. Wir können dann, um das Resultat dieser Überlegungen zusammenzufassen, sagen, daß wenn es überhaupt eine Erkenntnis der Welt für den endlichen Menschengeist geben soll, sie nur so zustande kommen kann, daß durch sie die extensive und die intensive Mannigfaltigkeit der Dinge irgendwie beseitigt oder überwunden wird. In dieser Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnis der Körperwelt aber sehen wir die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Begriffs. In der Art, wie er diese Aufgabe löst, werden wir sein "Wesen" zu erfassen haben.

Bevor wir jedoch diesen Prozeß der Überwindung näher ins Auge fassen und das Wesen des naturwissenschaftlichen Begriffs von den angegebenen Eigentümlichkeiten der Körperwelt aus zu verstehen suchen, wird es nötig sein, einigen Mißverständnissen vorzubeugen, die sich an die von uns gebrauchten Ausdrücke der extensiven und intensiven Unendlichkeit knüpfen könnten.

Nahezu selbstverständlich ist es wohl, daß das Wort intensiv in diesem Zusammenhang nicht nur die qualitative, sondern auch die quantitative Mannigfaltigkeit bezeichnen soll, die uns jede einzelne, wenn auch noch so kleine Anschauung darbietet. Gewiß ist es immer bedenklich, ein Wort in einer Bedeutung zu gebrauchen, die sich mit der herkömmlichen Bedeutung nicht ganz deckt, aber andere Ausdrücke, etwa äußerliche und innerliche Mannigfaltigkeit, die wir hätten wählen können, schienen in anderer Hinsicht nicht weniger mißverständlich zu sein. Jedenfalls handelt es sich hier nur um eine terminologische Frage. Was gemeint ist, kann nach den vorangegangenen Ausführungen nicht mehr mißverstanden werden.

Ferner wollen wir ausdrücklich hervorheben, daß die Begriffe extensiv und intensiv in diesem Zusammenhang gewissermaßen relativ sind. Ich kann dieselbe Mannigfaltigkeit in der Körperwelt sowohl als extensiv als auch als intensiv bezeichnen, je nachdem ich den betreffenden Teil der Körperwelt als aus mehreren Einzeldingen bestehend oder als ein einheitliches Ding ansehe. In dem als ein Ding aufgefaßten Sternenhimmer über mir kann ich die verschiedenen Weltkörper seine intensive Mannigfaltigkeit nennen. Ich kann aber auch den Anblick, der sich mit bietet, von vornherein als eine extensive Mannigfaltigkeit von Weltkörpern ansehen, von denen jeder Einzelne dann erst wieder eine intensive Mannigfaltigkeit besitzt. Ja, es ist eine Betrachtung der Welt denkbar, bei der der Gegensatz von extensiv und intensiv seinen Sinne ganz zu verlieren scheint. Fasse ich nämlich die gesamte Körperwelt als ein einziges einheitliches Ding auf, so kann ich dieser Welt gegenüber nicht mehr von extensiver, sondern nur noch von intensiver Mannigfaltigkeit reden. Das ist alles eigentlich auch selbstverständlich und es kommt hier nur darauf an, sich ausdrücklich darauf zu besinnen, daß solche Möglichkeiten der Auffassung nichts an dem ändern, was für uns von Bedeutung ist. Für uns genügt es, daß wir uns bei jeder Erkenntnisaufgabe der anschaulichen Körperwelt gegenüber zumindest immer vor einer prinzipiell unübersehbaren intensiven Mannigfaltigkeit befinden, die im angegebenen Sinn unendlich ist und die daher als solche in keine Erkenntnis eines endlichen Geistes einzugehen vermag.

Etwas größere Schwierigkeiten dürfte jedoch vielleicht die Fernhaltung eines letzten Mißverständnisses bereiten, das sich an das Wort Unendlichkeit knüpfen kann. In der Tat ist hier die äußerste Vorsicht bei der Begriffsbestimmung notwendig. Wir haben vorher die Unendlichkeit der Welt ausdrücklich mit ihrer räumlichen und zeitlichen Natur in Verbindung gebracht. Da könnte man nun sagen, eine Unendlichkeit solcher Art sei selbst gar nichts Wirkliches, sondern lediglich das Produkt begrifflicher Überlegungen oder gar eines Irrtums. Es handle sich hier nur um jene bekannte Möglichkeit, wonach jedes räumliche und zeitliche Kontinuum als aus einer unendlichen Anzahl diskreter Punkte zusammengesetzt zu denken sei. Daß diesen Punkten nun aber auch etwas Reales in der Körperwelt entspreche, sei eine willkürliche Annahme. Zumindest hätten wir danach eine Eigentümlichkeit der Körperwelt, von der wir bei unserer Begriffstheorie ausgehen wollen, nicht als eine Tatsache aufgezeigt, sondern durch eine begriffliche Überlegung selbst erst geschaffen.

Das ist jedoch durchaus nicht der Fall. Die angedeutete, in der Tat rein begriffliche Überlegung geht uns vielmehr direkt in diesem Zusammenhang gar nichts an. Wir berufen uns nicht auf eine unendliche Anzahl objektiv existierender Punkte oder dergleichen, sondern nur auf eine einfache Tatsache. Wir sind tatsächlich ganz außer Stande, eine erschöpfende Aufzählung aller in der Wirklichkeit vorhandenen Mannigfaltigkeit vorzunehmen. Die Überzeugung von der Unausführbarkeit eines solchen Unternehmens hängt allerdings mit der Natur des Raumes und der zeit insofern zusammen, als die Körperwelt eine im Raum befindliche und in der Zeit sich verändernde Wirklichkeit ist. Unsere tatsächliche Unfähigkeit aber, uns diese Wirklichkeit in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zu Bewußtsein zu bringen, ist sorgfältig vom Begriff eines in unendlich viele Teile zerlegbaren Kontinuums zu scheiden. Wir haben es hier nur mit unserer Unfähigkeit, nicht mit jenem Begriff zu tun. Solange wir unter Unendlichkeit der Welt nichts weiter als jene unmittelbare Überzeugung von der für uns unerschöpfbaren Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit verstehen, sind wir gegen jeden Einwand gesichert, der uns vorwirft, daß wir den Begriff zur Lösung einer Aufgabe bestimmen, die selbst erst das Produkt einer die Wirklichkeit umgestaltenden begrifflichen Bearbeitung ist. Die Unendlichkeit der Körperwelt in unserem Sinne ist lediglich der Ausdruck für ein unmittelbares Erlebnis. Nur wer behauptete, dieses Erlebnis nicht zu kennen, würde sich unseren weiteren Folgerungen entziehen können.

Wir können uns jetzt der Frage zuwenden, wodurch nun die geforderte Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Welt durch die wissenschaftliche Erkenntnis möglich ist. Diese Überwindung würde überhaupt nicht möglich sein, wenn wir in einem wissenschaftlich noch ungeschulten Zustand nur Vorstellungen von der Wirklichkeit besäßen, deren Bedeutung darin aufgeht, sich auf irgendeine einzelne Gestaltung dieser Wirklichkeit zu beziehen. Das ist aber nicht der Fall. Lange vielmehr, bevor wir an eine wissenschaftliche Erforschung der Welt gehen, haben sich uns geistige Gebilde von völlig anderer Art entwickelt, die man als Allgemein vorstellungen zu bezeichnen pflegt. Ob diese Bezeichnung passend ist, lassen wir dahingestellt. Es genügt hier, auf die Tatsache hinzweisen, daß wir Worte besitzen, mit denen wir nicht nur je eine einzelne bestimmte Anschauung, sondern mit denen wir eine Mehrheit verschiedener Einzelgestaltungen der Wirklichkeit zugleich bezeichnen können. Die Worte kann man insofern "allgemein" nennen. Nun kann aber diese Allgemeinheit des Wortes nicht auf dem Klang des Wortes selbst beruhen, da ja das Wort für sich betrachtet ein ganz individueller akustischer oder optischer Eindruck ist, sondern es muß zu den individuellen Lautkomplexen noch etwas hinzutreten, wodurch wir sie "verstehen", d. h. die Worte müssen allgemeine Bedeutungen haben.

Auf diese Wortbedeutungen kommt es uns an. Sie sind es, in denen bereits die natürliche psychologische Entwicklung begonnen hat, ein Mittel zu schaffen, mit dem wir zunächst zwar noch nicht die Unendlichkeit der Welt wirklich zu überwinden, doch aber einen Teil der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge in hohem Grade zu vereinfachen imstande sind. Dieser Prozeß der Vereinfachung ist für uns von größter Bedeutung. Jeder Mensch macht von diesem Mittel fortwährend Gebrauch. Die extensive Mannigfaltigkeit der uns umgebenden Welt wird dadurch verringert, daß wir mit einem Wort eine Mehrheit von Anschauungen bezeichnen. Die intensive Mannigfaltigkeit jeder einzelnen Anschauung wird dadurch überwunden, daß wir, ohne uns ein Objekt seinem ganzen anschaulichen Inhalt nach ausdrücklich vergegenwärtigt zu haben, was unmöglich wäre, es doch mit Sicherheit einer Wortbedeutung unterzuordnen können. Wir nehmen also durch die Wortbedeutung mit einem Schlag eine Mehrheit von anschaulichen Gestaltungen gewissermaßen in uns auf und stellen doch zugleich nur einen kleinen Teil (vielleicht sogar nichts) von ihrem unendlichen anschaulichen Inhalt vor. Wodurch diese Wortbedeutungen entstanden sind und worauf ihre Fähigkeit, die Welt zu vereinfachen, beruth, danach fragen wir jetzt nicht. Daß diese Fähigkeit vorhanden ist, davon kann sich jeder in jedem Augenblick überzeugen. (2)

Solange nun die Vereinfachung des Gegebenen durch Wortbedeutungen lediglich das Produkt einer nicht von bewußten logischen Zwecken begleiteten psychologischen Entwicklung ist, geht sie uns hier weiter nichts an. Wird die Wortbedeutung aber zum Zwecke wissenschaftlicher Erkenntnis der Welt verwendet, so haben wir darin die primitivste Form des Denkvorgangs, die wir als die dem naturwissenschaftlichen Begriff eigentümliche Leistung ansehen wollen: er vereinfacht die Welt und bringt dadurch die anschauliche Wirklichkeit in eine Form, in der sie in unsere Erkenntnis einzugehen vermag. Darin erfassen wir im allgemeinsten Sinne das logische "Wesen" des naturwissenschaftlichen Begriffs.

Wenn wir die Ausdrücke der traditionellen Logik gebrauchen wollen, so können wir die Leistung des Begriffs demnach auch so charakterisieren: In seinem Umfang wird die extensive Mannigfaltigkeit, in seinem Inhalt dagegen die intensive Mannigfaltigkeit der Dinge überwunden. Was unter der Überwindung der extensiven Mannigfaltigkeit durch den Umfang des Begriffs zu verstehen ist, bedarf wohl keiner näheren Erklärung. Was die Überwindung der intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge durch den Begriffsinhalt bedeutet, kann man sich vielleicht nicht besser klar machen, als wenn man das Verhalten des wissenschaftlichen Menschen mit dem Verhalten vergleicht, das der künstlerische Mensch der körperlichen Wirklichkeit gegenüber an den Tag legt.

Wir haben dabei insbesondere den bildenden Künstler im Auge. Er haftet mit seinem Interesse an der anschaulichen Gestaltung der Dinge, auch er fühlt sich der Mannigfaltigkeit der Anschauung gegenüber ohnmächtig; ein Gefühl, das jeder kennt, der einmal nach der Natur zu zeichnen auch nur versucht hat. Auch er weiß, daß diese Anschauung für ihn unerschöpflich ist und er ist ebenfalls in der Lage, die Anschauung vereinfachen zu müssen. Aber es ist für ihn doch immer die Anschauung, die er dabei festzuhalten, ja in seiner Weise zu entwickeln sucht. Er glaubt seinem Ziel sich umso mehr zu nähern, je mehr er sich in diese Anschauung vertieft und wenn auch das Produkt seiner Bemühungen schließlich oft eine außerordentlich große Vereinfachtung der Anschauung darstellt, so bleibt es doch immer eine anschauliche Vereinfachung. Als gelungen wird ein Kunstwerk nur dann gelten, wenn es wenigstens den Schein des unerschöpflichen Reichtums hervorruft, den die Wirklichkeit selbst an jeder Stelle besitzt. (3)

Ganz anders der wissenschaftliche Mensch. Bis zu einem hohen Grad sind ihm Einzelheiten der anschaulichen Gestaltung völlig gleichgültig. Alle, die nicht künstlerisches Interesse an der Wirklichkeit nehmen, wissen ja von der anschaulichen Gestaltung selbst der Dinge, mit denen sie täglich umgehen, nur überraschend wenig; denn nur soweit praktische Bedürfnisse dafür vorhanden sind, merken sie darauf. Der wissenschaftliche Mensch hat das mit ihnen gemein, daß nicht die Anschauung als solche für ihn in Frage kommt. Vielmehr ist ebenfalls das Bedürfnis und zwar das theoretische Bedürfnis nach Erkenntnis maßgebend für seine Teilnahme am Anschaulichen. Er verläßt die Anschauung, sobald er sie sich soweit ausdrücklich zu Bewußtsein gebracht hat, daß er sich über ihr Verhältnis zum Inhalt seiner Begriffe klar zu werden vermag. Er muß einen Maßstab dafür haben, wann er die Anschauung verlassen, d. h. in ihren Einzelheiten unbeachtet lassen darf. Sonst würde er mit der Untersuchung eines einzigen Objektes niemals fertig werden.

Ohne "Begriffe" im angegebenen Sinn wäre also jede Erkenntnis der Welt, jede Aufnahme der körperlichen Wirklichkeit in unserem Geist unmöglich. Eine Begriffsbildung ist daher notwendig verknüpft mit jedem in Worten ausdrückbaren Urteil über die Wirklichkeit. Es gibt allerdings Urteile, deren Elemente sich auf einzelne Anschauungen beziehen. Verständlich aber sind sie nur, wenn sie von hinweisenden Gebärden begleitet werden, wenn man also die gemeinte Anschauung direkt aufzeigen kann. Jedes Urteil, das für sich verständlich ist - und die Urteile, die wissenschaftlichen Wert haben sollen, müssen das ausnahmslos sein -, verwendet stets allgemeine Wortbedeutungen, d. h. Gebilde, in denen sowohl eine Anzahl verschiedener Auffassungen zusammengefaßt, als auch immer nur ein Teil des Inhalts der zusammengefaßten Anschauungen enthalten ist. (4)

Auch der Umstande, daß es Urteile gibt, in denen die Worte nur ein einzelnes Ding bezeichnen wollen, hebt diese Behauptung nicht auf. Die Allgemeinheit in unserem Sine ist nicht dadurch bedingt, daß das Wort auf mehrere, an verschiedenen Stellen des Raums befindliche Dinge bezogen werden kann, sondern eine Vereinfachung der Wirklichkeit liegt auch vor, wenn mit Hilfe der Wortbedeutung nur das zusammengefaßt wird, was ein einzelnes Ding uns an Mannigfaltigkeit in verschiedenen Einzelanschauungen unter verschiedenen Umständen darbietet. Ja, sollte sogar mit einem Wort nur eine einzige, vollkommen individualisierte anschauliche Gestaltung der Wirklichkeit gemeint sein, so würde das betreffende Urteil, wenn es ohne eine auf die betreffende Anschauung hinweisende Gebärde verstanden werden soll, doch lediglich aus allgemeinen Begriffen bestehen und könnte uns nur durch eine bestimmte Kombination von Wortbedeutungen dazu auffordern, an eine einzelne wirkliche Anschauung zu denken. (5) Doch brauchen wir hier auf diese Fälle nicht näher einzugehen, denn im Zusammenhang einer naturwissenschaftlichen Untersuchung werden solche Urteile kaum vorkommen, aus Gründen, die sich später ergeben müssen. Auch Begriffe, welche die verschiedenen Gestaltungen nur eines einzelnen Dinges vertreten, dürften in der Naturwissenschaft recht selten sein und kein wesentliches Interesse für diesen Teil der Wissenschaftslehre bieten. Auch sie werden uns erst beschäftigen, wenn wir uns zur Bedeutung des Begriffs in den historischen Wissenschaften wenden.

Hier müssen wir noch folgendes hervorheben. Selbst in den einfachsten Urteilen, in denen wir, wie man zu sagen pflegt, nichts weiter tun, als die Wirklichkeit beschreiben, nehmen wir immer bereits eine weitgehende Vereinfachung und, wenn diese Beschreibung einem wissenschaftlichen Zweck dient, eine logische Bearbeitung der Wirklichkeit vor. Gewissen Bestrebungen der neueren Erkenntnistheorie gegenüber, welche die Naturwissenschaft auf eine "Beschreibung" der Welt einschränken möchten, ist es notwendig, dies auf das Bestimmteste hervorzuheben. Weil ein Urteil über die Wirklichkeit immer nur mit Hilfe eines Begriffs im angegebenen Sinne möglich ist, so können wir auch sagen, daß alles Gesehene oder Gehörte in eine Urteil immer nur als Glied einer Klasse eingeht. Jedes Urteil setzt daher bereits eine Klassifikation voraus, eine Klassifikation natürlich, die bei den ursprünglichen Urteilen nur das Produkt eines unwillkürlichen psychologischen Prozesses sein kann und die mit der Bildung der Wortbedeutung Hand in Hand geht. Aus diesem Grunde aber ist es jedenfalls ganz unmöglich, daß einer Klassifikation des Gegebenen der Entwurf eines nach Raum und Zeit vollständigen Weltbildes im Ideal der Erkenntnis vorangehen müsse. (6) Das Ideal einer allumfassenden Kenntnis des Einzelnen kann vielmehr in der Logik überhaupt keine Stelle haben.

Natürlich wird damit das, was man in der Naturwissenschaft Beschreibung nennt, nicht aus der Welt geschafft. Es kommt nur darauf an, daß man sich über das Wesen der Beschreibung klar wird und nicht meint, man habe durch einen solchen Ausdruck einige vielleicht recht unbequeme erkenntnistheoretische Probleme aus der Welt geschafft. Soll das Wort "Beschreibung" als Bezeichnung für den ersten Schritt zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge, zur Unterscheidung vom zweiten Schritt, der Klassifikation, einen Sinn haben, so darf man darunter nur die Art der Klassifikation verstehen, welche die Gestaltungen der Wirklichkeit lediglich mit Hilfe der ohne bewußte logische Absicht entstandenen Wortbedeutungen vereinfacht. Das ist, psychologisch betrachtet, als erster Schritt in der Entwicklung des Wissens bisweilen notwendig; aber warum diese Vereinfachung vor anderen einen Vorzug haben soll, ist nicht einzusehen. Die Naturwissenschaft auf Beschreibung von Tatsachen in diesem Sinne einschränken, würde heißen, daß die Untersuchung bei der ursprünglichen, durch äußerliche Ähnlichkeiten entstandenen Ordnung der anschaulichen Mannigfaltigkeit stehen bleiben müsse. Das wird Niemand im Ernst wollen. Ja, wir können sagen, daß in einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang Urteile, die bloß willkürlich entstandene Wortbedeutungen benutzen, nur ganz vereinzelt und nur als erster Ansatz vorkommen werden und daß sie für die Logik höchstens als Vorstufe für das wissenschaftliche Denken von Interesse sind. In einem naturwissenschaftlichen Denkzusammenhang greifen wir vielmehr fast niemals beliebig irgendeine Wortbedeutung heraus. Wir wählen sie zu einem bestimmten Zweck und benutzen die in ihr vollzogen Vereinfachung der anschaulichen Mannigfaltigkeit so, daß durch diese Benutzung die Wortbedeutung einen logischen Wert erhält, den sie als ein unwillkürlich entstandenes psychologisches Produkt nicht besitzt. Urteile, in denen solche Wortbedeutungen vorkommen, sind dann immer schon mehr als bloße Beschreibung im oben angegebenen Sinne. Sie liegen bereits auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung der Dinge, für die das Wort "Beschreibung" keine sehr glückliche Bezeichnung ist.

Das ist auch der Grund, warum wir schon Gebilde, die, psychologisch betrachtet, sich von bloßen Wortbedeutungen nicht unterscheiden, als Begriffe bezeichnen. Wir setzen damit Wortbedeutungen und Begriffe durchaus nicht gleich. Die Allgemeinheit allein genügt nicht, um ein psychisches Gebilde zu einem Begriff zu machen. Darin stimmen wir mit SIGWART vollkommen überein. Wir nennen die Wortbedeutungen nur Begriffe, wenn die durch sie vollzogene Vereinfachung der Anschauung in der angegebenen Weise in den Dienst des Erkennens tritt und so durch die Allgemeinheit ein logischer Zweck erreicht wird. Wir glauben zu dieser Bezeichnung umso mehr Recht zu haben, als auch die ausgebildeten Begriffe der Naturwissenschaft ihren Wert zum größten Teil derselben Leistung verdanken, die wir als das wesentliche Charakteristikum schon der primitivsten Begriffsbildung ansehen, nämlich der Vereinfachung der intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge. Dies im Folgenden zu zeigen, wird unsere Aufgabe sein.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu Riehl, Kritizismus II-2, Seite 281 - 317, wo überzeugend nachgewiesen ist, daß aus der Annahme der Endlichkeit der Masse in Verbindung mit der zeitlichen Unendlichkeit der Welt gefolgert werden darf, daß sich die nämlichen Erscheinungen der Welt wiederholen müssen. Übrigens ist die Entscheidung dieser Frage für unseren Gedankengang nicht ausschlaggebend.
    2) Den Psychologen ist Gelegenheit gegeben, das moderne Allheilmittel des "Darwinismus" auch zur "Erklärung" der allgemeinen Wortbedeutungen zu verwenden. Es kann kein Zweifel sein, daß die Vereinfachung der Wirklichkeit die Orientierung in der Welt erleichtert und dadurch zu einer wichtigen Waffe im Kampf ums Dasein wird. Dann würde die Allgemeinheit, auch psychologisch betrachtet, ein Mittel zur Überwindung der anschaulichen Mannigfaltigkeit sein. Doch soll diese Bemerkung durchaus nicht zur Stütze unserer logischen Theorie dienen.
    3) Vgl. die sehr interessanten Schriften von Conrad Fiedler: "Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst" und "Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit".
    4) Daß hierbei die Sätze gar nicht in Frage kommen, in denen als Subjekt oder Prädikat die Wörter als solche, als diese bestimmten Lautkomplexe gemeint sind, versteht sich von selbst. Vgl. Sigwart, Logik I, 2. Auflage, Seite 27f
    5) Es ist ein Verdienst Volkelts in seinen Ausführungen über den Begriff (Erfahrung und Denken, Seite 317f), mit denen ich auch im Folgenden (mehr allerdings im Resultat, als in der Begründung) in wesentlichen Punkten übereinstimme, wieder entschieden darauf hingewiesen zu haben, daß der Begriff allgemein oder, wie er sagt, eine Vorstellung vom Gemeinsamen ist. Die Frage, inwiefern sich Subjekts- und Prädikatsvorstellung in Bezug auf die Allgemeinheit unterscheiden, ist für unseren Zusammenhang ohne Bedeutung.
    6) Sigwart, Logik II, 2. Auflage, Seite 8f