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KARL LEONHARD REINHOLD
(1758 - 1828)
Kritik des Sprachgebrauchs
in der Philosophie


So unleugbar es einen wesentlichen Unterschied des wirklichen Denkens von dem Scheinbaren und Eingebildeten, und einen wesentlichen Unterschied des allgemeinen Sprachgebrauches von dem Vulgären und jedem Partikulären geben muß: eben so unleugbar kann das Eigentümliche des wirklich denkenden und allgemeinen Sprachgebrauches nur in der Unterordnung der Gewohnheit unter das über derselben stehende Denken bestehen, wobei das Denken nur herrschen, die Gewohnheit nur dienen, das Denken nur der bestimmende Grund, die Gewohnheit nur durch diesen Grund bestimmte Bedingung sein muß, und durchaus keine Wechselwirkung von beiden stattfinden kann.

Vorwort von Hermann Cloeren
KARL LEONHARD REINHOLD hat zu Lebzeiten zwar durchaus Beachtung gefunden und heute wird seine Rolle für die Entwicklung des deutschen Idealismus gewürdigt. Seine Bedeutung für die sprachkritische Philosophie dagegen scheint übersehen worden zu sein. Der mehrfache Wandel seiner philosophischen Standpunkte, - den er freimütig eingestand, - von KANTs Philosophie zu seiner eigenen Elementarphilosophie , von dieser zu BARDILLIs Reallogik, dann zu FICHTEs Position und schließlich zu der JACOBIs hat ihn bei seinen Zeitgenossen erheblich um Kredit gebracht. Man brauch sich also nicht über BACHMANNs höhnischen Ausruf zu wundern: "Wer schon viermal mit voller Überzeugung das  jetzt hab' ich's  ausrief, dem traut man das fünftemal nicht mehr."

Diese Geringschätzung REINHOLDs wurden nun leider in einigen bekannten Philosophiegeschichten perpetuiert, in die er als "der sehr unselbständige, ständig unter dem wechselnden Einfluß anderer Denker stehende" Eingang gefunden hat, und in denen der Titel des Werkes, aus denen hier Passagen vorgestellt werden, nicht einmal erwähnt wird.

In der Tat bedurfte es bei REINHOLD des Anstoßes durch F.H. JACOBI, der wiederum in engem Kontakt mit J.G. HAMANN stand, um REINHOLD zur Reflexion auf die Rolle der Sprache beim Denken und speziell beim Philosophieren zu bringen. Dabei verdient die besondere Leistung JACOBIs unter diesem Aspekt noch die bislang fehlende Beachtung. REINHOLD war jedenfalls von JACOBI so beeinflußt, daß er seine vier früheren philosophischen Positionen aufgab und nun mit der ihm eigenen Begeisterung den neuen Standpunkt vertrat.

An einem Urteil über REINHOLDs Flexibilität und Wandelbarkeit kann heute nichts liegen, wohl aber an einer kritischen Sichtung dieses seines neuen Standpunktes. REINHOLD nämlich ist sich dort der grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Bedeutung von Untersuchungen über den Zusammenhang von Denken und Sprechen bewußt, ebenso wie der Schwierigkeiten ihrer Durchführung, die darin liegen, daß - wie wir heute etwa im Anschluß an B.L. WHORF sagen - die sprachlichen Gegebenheiten Hintergrundscharakter haben, d.h. daß sie normalerweise nicht als solche bewußt werden, wenn wir sprechen.

Philosophie und Metaphysik lassen sich als Wissenschaft nicht begründen, so stellt REINHOLD klar heraus, wenn nicht eine Kritik der Sprache als Metakritik der Vernunft durchgeführt wird. Damit deckt er eine Lücke in der von KANT initiierten transzendentalen Untersuchung über die Bedingungen der Möglichkeit von Philosophie (Metaphysik) als Wissenschaft auf. REINHOLD fußt hier auf Grundsätzen, die HAMANN und JACOBI erarbeitet haben, indem sie auf die transzendentale Funktion der Sprache hinwiesen; zugleich aber nimmt er die Diskussion eines Topos auf, den KANT in der Kritik der reinen Vernunft betrachtet: den Fortschritt der Wissenschaften und die Stagnation der Philosophie. Besonders hier nun verdient REINHOLDs sprachkritische Erklärung modernes Interesse.

Die Naturwissenschaften, so hebt er hervor, machen Fortschritte auf Grund ihres analytischen Verfahrens, der Philosophie jedoch gebricht diese Methode bislang. Nachdem aber der letzte Grund philosophischer Unstimmigkeiten in der Wandelbarkeit und Vieldeutigkeit philosophischen Sprachgebrauchs entdeckt worden ist, muß die Analyse partikulärer Sprachgebräuche zum Programm erhoben werden. Denn, was die Naturwissenschaften bereits erreicht haben, Intersubjektivität auf Grund von klaren Wortbedeutungen, die ihre eindeutige Verwendung ermöglichen, - was er in gut empiristischem Verständnis nur "durch die Evidenz des Zeugnisses der Sinne" für möglich hält, - das soll am Ende auch der Philosophie gelingen.

Der Sprachanalyse teilt REINHOLD dabei eine therapeutische Funktion, insofern sie das noch nie versuchte Heilmittel werden soll, das durch Überwindung der nicht zu rechtfertigenden Sprachgebräuche den Fortfall metaphysischen Blendwerkes und die Beseitigung der zahlreichen miteinander im Streit liegenden philosophischen Schulen wie Skeptizismus, Dogmatismus, Materialismus, Idealismus bewirken soll.

Die optimistische Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Sprachanalyse durch REINHOLD liegt hier offenbar zutage; er gehört damit zu denen, die wesentliche Züge des Wiener Kreises antizipierten. Insofern REINHOLD jedoch sein Buch - dem Titel entsprechend - mit der Forderung nach einem allgemeinen Sprachgebrauch schließt, wobei er nicht etwa an die Entwicklung von Sprachkalkuli im Sinne FREGEs oder RUSSELLs denkt, hat er übersehen, daß  ostensive definitions  und simple Verifikation nicht hinreichen jedweden, ja nicht einmal speziellen Sprachgebrauch eindeutig machen.

Damit fällt er zurück hinter jene tiefere Einsicht LICHTENBERGs, der bei seiner Reflexion auf die Weise, in der Sprache gebraucht wird, bereits scharf gegen die Fixierung von Wortbedeutungen durch Definitionen opponiert. REINHOLD bleibt mit seiner Annahme, daß sich Wortbedeutungen letztlich eindeutig fixieren lassen, zu vielen ungeprüften ontologischen Voraussetzungen verpflichtet. Daß er im Grund alle jene Probleme heraufbeschwört, denen sich empiristische Theorien der Bedeutung gegenübersehen, ist ganz und gar nicht verwunderlich, stellen die letzten Passagen seines Buches doch ein längeres Zitat FRANCIS BACONs dar.

Für die heutige Interpretation REINHOLDs läßt sich im Licht seiner Theorie der Sprachkritik als Metakritik für die Philsophie zumindest sinnvoll die Frage stellen, ob er nicht - ganz im Gegensatz zur Auffassung seiner Kritiker, die ihm das prinzipienlose Aufgeben seiner philosophischen Standpunkte vorwarfen - in seiner späten Philosophie wenigstens der Intention nach zu einer früheren Position zurückkehrte: zu derjenigen seiner Elementarphilosophie, in der er bereits einen - freilch anders begründeten - Versuch gemacht hatte, KANTs Philosophie zu untermauern. (Ein Unternehmen, das KANT als hyperkritisch zrückgewiesen hat.) REINHOLDs Propagierung der Sprachkritik nämlich erwiest sich als just solch ein Versuch, das letzte Fundament kritischen Philosophierens zu erreichen.

Die meisten seiner Zeitgenossen hatten freilich noch keinen Blick für die von ihm erkannten fundamentalphilosophischen Probleme, und die Philosophiehistorie schließt lakonisch: "er starb 1823 fast vergessen als Professor in Kiel".




Critik des Sprachgebrauchs in der Philosophie aus dem Gesichtspunkte der Sinnverwandtschaft der Wörter und der Gleichnamigkeit der Begriffe

§1 Verhältnis des Denkens zum Sprechen

Bedenkt man, daß die Wörter nicht nur zur Mitteilung, sondern auch zur Entstehung und Fortdauer der Gedanken im menschlichen Bewußtsein unentbehrlich sind, - daß das Vorstellen, welches sich auf das Allgemeine am Einzelnen, und auf das Gemeinschaftliche am Besonderen bezieht, und das  Denkende  heißt, nicht weniger durch Wörter vermittelt wird, als das Vorstellen, welches sich auf das Einzelne am Besondern und auf das Besondere in seiner Besonderheit bezieht, und das  Anschauende  heißt, durch Bilder vermittelt wird, - daß also das Denken im menschlichen Bewußtsein ein Vorstellen durch eigentümlich Gedankenzeichen, ein Benennen, Sprechen, Reden sein müsse, - gleichwie das Anschauen in demselben Bewußtsein ein Vorstellen durch eigentliche Bilder, ein Einbilden, Nachbilden, Vorbilden sein muß: - so scheint der  Zusammenhang  des Denkens mit dem Sprechen völlig einleuchtend und ausgemacht zu sein.

Aber dieser Zusammenhang wird nicht weniger ungewiß und rätselhaft, wenn man nach dem  Unterschied  des Denkens und des Sprechens forscht, ohne welchen doch keines von beiden in seiner Eigentümlichkeit erkennbar ist, und der Zusammenhang in die Vermengung und Verwechslung von beiden übergeht. Nach der herkömmlichen und gemeinüblichen Weise das Denken und das Sprechen zu unterscheiden, werden beide von einander getrennt, und von einander verneinet. Aber eben daru werden auch beide, wenn es darauf ankommt ihren Zusammenhang wieder herstellen, durch Mischung vereiniget und von einander prädiziert.

Beim  Unterscheiden  hat man nur den Gedanken vor Augen, der als solcher  kein  artikulierter Laut, und den artikulierten Laut, der als solcher  kein  Gedanke ist. Beim  Vereinigen  hingegen kann man sich nicht verbergen, daß einerseits der artikulierte Laut nicht nur  nicht ohne  den Gedanken, sonder auch nur  durch  denselben, ein Gedankenzeichen, ein sprechender Laut, ein  Wort  ist; und daß andererseits der Gedanke nicht nur  nicht ohne  den artikulierten Laut, sondern auch nur  durch  denselben, ein sich im Bewußtsein aussprechender Gedanke, ein denkendes Vorstellen und vorgestelltes Denken ist.

Das  Denken,  als solches im Bewußtsein und seine  Darstellung  in demselben, das  Sprechen,  setzen sich daher nicht nur einander wechselseitig voraus: sonder sie gehen auch in einander über, sind nur  In - und  Durcheinander,  was sie sind; - und in dieser ihrer Durchdringung (vollkommenen Mischung,) geht der Unterschied von beiden nicht weniger verloren, als der Unterschied der Gasarten in der Vereinigung derselben, welche die atmosphärische Luft ausmacht.

Die Chemie stellt den Unterschied der Gasarten durch Scheidung derselben dar. Aber der philosophischen Analysis ist es in keiner ihrer bisherigen Methoden gelungen, den Unterschied des Denkens und des Sprechens wissenschaftlich aufzuweisen. Wer nicht etwa durch die naturphilosophische Spekulation sich auch der Anschauung der  Indifferenz  des Denkens und des Sprechens zu erfreuen hat, sondern durch die Undenkbarkeit dieser Indifferenz sich genötigt sieht, an einen wesentlichen Unterschied, und an einen solchen Zusammenhang des Denkens und des Sprechens, durch welchen jener Unterschied nicht verdunkelt und aufgehoben, sondern vielmehr geoffenbart und aufrecht erhalten wird, zu glauben, - dem bleibt nichts übrig, als das in diesem Unterschiede und Zusammenhang bestehende Verhältnis des Denkens und des Sprechens entweder als ein unerforschliches Geheimnis anzusehen, oder aber als noch lange nicht genug erforscht, weiter zu forschen.

So lange in dem besagten Verhältnisse der Unterschied, der keine Trennung, und der Zusammenhang, der keine Mischung sein darf, nicht völlig deutlich aufgewiesen ist, so lange ist das ganze Verhältnis ein noch unaufgelöstes Rätsel, und so lange dürfte es auch wohl noch ungewiß sein: ob durch die griechischen Benennungen  Dialektik  und  Logik  entweder der  Zusammenhang  des Denkens und des Sprechens, oder die  Einerleiheit,  - und ob durch die deutschen Benennungen  Vernunftlehre  und  Denklehre  entweder der  Unterschied  des Denkens und des Sprechens, oder die  Trennung  angedeutet werden?


§2 Sprachgebrauch

Das Verhältnis des Denkens zum Sprechen mag aber entweder als längst bekannt und ausgemacht, oder als unerforschlich, oder als noch erst zu erforschen angenommen werden, so wird dasselbe in jedem dieser Fälle als gegeben und wirklich enthalten  im Sprachgebrauche  vorausgesetzt; und wer das immer für eine jener Meinungen gegen die übrigen zu verteidigen unternimmt, hat vor allen Dingen bestimmt anzugeben: was unter  Sprachgebrauch  verstanden wird und zu verstehen ist.

Nach der Ansicht, welche gegenwärtig unter den denkeneren Köpfen unserer Sprachgenossenschaft die vorherrschende ist, soll das Wesen des Sprachgebrauches in der  Wechselwirkung  des Denkens und der, gewissen Gedanken gewisse Wörter beigesellen,  Gewohnheit  bestehen, wobei das Denken und die Gewohnheit  gegenseitig  von einander abhängen, eines das andere voraussetzt, beides durcheinander bedingt und bestimmt ist, und eben das  In - und Durcheinander von beiden den Gebrauch des Denkens beim Sprechen und des Sprechens beim Denken ausmachen soll.

Gleichwohl werden die Anhänger dieser Ansicht nicht leugnen können und wollen, daß es auch ein  Durcheinander  des Sprechens und Denkens gebe, welches nur Verwirrung, Vermengung und Verwechslung von beiden, fehlerhafter Sprachgebrauch, wirklicher Mißbrauch der Sprache ist. Bei dem  gemeinen,  vulgären, gedankenlosen Sprachgebrauch des großen Haufens aller Stände ist es die herkömmliche, dem Nachsprechenden sich von aussenher aufdrängende  Gewohnheit,  was sich für das  Denken  ausgibt, und den Sinn der Wörter bestimmt.

Bei dem  angeblich  philosophischen, in der Tat aber nur sophistischen und partikulären, Sprachgebrauch einer Sekte ist es die durch die Phantasie und Willkür des Tonangebenden angenommene, und durch sein Ansehen und seine Geschichklichkeit durchgesetzte Gewohnheit, was den Schein eines  veredelten  Denkens annimmt (ungeachtet es  nicht  einmal ein  wirkliches  Denken ist) und was sich für  Verbesserung  des gemeinen Sprachgebrauchs ausgibt, ungeachtet es von dem  allgemeinen  Sprachgebrauche durch Hinausgehen  über  denselben nicht weniger abweicht als der  Gemeine,  der  hinter  demselben zurückbleibt.

Sowohl im vulgären Sprachgebrauche, als auch in jedem Partikulären,  scheint  das Denken und die Gewohnheit sich wechselweise zu bedienen und zu beherrschen, beides sonach gleiche Rechte zu besitzen und auszuüben; während gleichwohl das Denken, welches der Gewohnheit dient, eben darum auch nur der  Schein  des Denkens sein kann, und die Gewohnheit, welche dabei nicht weniger dem Denken zu dienen scheint, wirklich nur über dasselbe herrscht, das Denken als solches gar nicht aufkommen, nicht zu Wort kommen läßt.

So unleugbar es einen wesentlichen Unterschied des  wirklichen  Denkens von dem Scheinbaren und Eingebildeten, und einen wesentlichen Unterschied des  allgemeinen  Sprachgebrauches von dem Vulgären und jedem Partikulären geben muß: eben so unleugbar kann das  Eigentümliche  des wirklich denkenden und allgemeinen Sprachgebrauches nur in der  Unterordnung  der Gewohnheit  unter  das  über  derselben stehende Denken bestehen, wobei das Denken nur herrschen, die Gewohnheit nur dienen, das Denken nur der bestimmende Grund, die Gewohnheit nur durch diesen Grund bestimmte Bedingung sein muß, und durchaus  keine Wechselwirkung  von beiden stattfinden kann.

Dagegen ist allerdings zwischen der Gewohnheit einerseits und der Phantasie und Willkür andererseits eigentliche Wechselwirkung möglich und wirklich. Das Eigenthümliche der Gewohnheit, die durch öftere Wiederholung entstehende Fertigkeit, geht ohne Widerspruch in gewisse Tätigkeiten der Phantasie und Willkür, und diese gehen ohne Widerspruch in jene über. Beide sind in- und durcheinander geschäftig, und eben durch diese Wechselwirkung bestehen die Angewöhnungen und Abgewöhnungen durch veränderte Angewöhnungen, in welchen alte und neue Gewohnheiten die Oberhand über das Denken behaupten, indem sie an die Stelle derselben treten.

Ganz besonders geschieht dies bei denjenigen Begriffen, deren Inhalt keine in die Sinne fallende Beschaffenheit, und keine meßbare und zählbare Größe ist. Indem hier die Bedeutungen der Wörter durch keine Bilder, Figuren und Zahlzeichen unterstützt und festgehalten werden, fällt die Bezeichnung des Begriffes  lediglich  dem artikulierten Laute, dem  bildlosen Worte  anheim. In der Mathematik und in allen den Wissenschaften, welche von den Franzosen durch die Benennung der  Exakten  ausgezeichnet zu werden pflegen, und deren Gegenstände auf dem Gebiet der  äusseren  Erfahrung einheimisch, und der  äusseren  Anschauung zugänglich sind, werden die Bedeutungen der Wörter durch den Beistand der Figuren, Zahlzeichen und wirklichen Bilder gegen Unbestimmtheit und Schwanken gesichert, und werden die Anmaßungen der Phantasie und Willkür durch die Evidenz des Zeugnisses der Sinne niedergeschlagen.

Darum erfreuen sich denn auch die besagten Wissenschaften einer zweifellosen Gewißheit, eines sicheren und anerkannen Fortschreitens, eines sichtbaren Einflusses auf die äusseren Angelegenheiten des menschlichen Lebens, - während die  Wesenlehre, Metaphysik, spekulative Philosophie,  die sich mit ahnungslosen Begriffen, bildlosen Worten, und schwankenden Wortbedeutungen behelfen muß, unter ihre Eingeweihten selbst streitig ist, und von vielen einsichtsvollen Bearbeitern der exakten Wissenschaften beschuldigt wird, daß ihr ganzes Wesen in leeren Wörtern bestehe.


§3 Sprachgebrauch in der Wesenlehre

Seit PLATON und ARISTOTELES unter den Griechen ist vielleicht zu keiner Zeit und bei keinem anderen Volke über das  Eigentümliche  der Philosophie mit so viel Ernst und Eifer philosophiert worden, als bei den Deutschen seit der Erscheinung von KANTs  Kritik der Vernunft  bis auf den heutigen Tag. Daß bei den Verhandlungen über die Möglichkeit der Philosophie als Wissenschaft, durch welche dieser Zeitraum für die Geschichte der Philosophie so merkwürdig ist, gleichwohl das Verhältnis des Denkens zum Sprechen, und der Sprachgebrauch beim Philosophieren, keineswegs in Betrachtung und zur Sprache gekommen ist, ist eine unleugbare, wenig bemerkte, aber sehr bemerkenswerte Tatsache.

Der Mangel an feststehenden Gedankenzeichen auf dem Gebiete der spekulativen Philosophie, die Vieldeutigkeit ihrer unentbehrlichsten und gebräuchlichsten Wörter, die Menge und Verschiedenheit der partikukären Sprachgebräuche, das wirkliche Hauptgebrechen aller bisherigen Versuche, das eigentliche Haupthindernis der Wissenschaftlichkeit der Philosophie ist, wenn man die angeführten Winke JACOBI's ausnimmt, von keinem der neueren Reformatoren bemerkt, gerügt, gewürdigt worden; - ist aber eben darum auch nur desto ungehinderter und auffallender in seinen verwirrenden, täuschenden, entzweienden Wirkungen, an dem Gange und an dem Erfolge jener Verhandlungen hervorgetreten.

Gleichwie die Schule des  Kritizismus,  nachdem sie über ihre Gegner eine kurze Zeit hindurch die Oberhand behauptet hatte, bald genug durch ihre einander selber kritisierenden Anhänger aufgelöst worden ist, so ist nun auch schon die Schule der  Indifferenzlehre  durch die mannigfaltigsten und schneidensten Differenzen ihrer Worthalter und Sachwalter in Haupt und Gliedern getrennt.

Sowohl die einheimischen und auswärtigen Fehden jeder älteren und neueren Sekte, und nicht weniger auch die polemischen Manifeste einzelner Selbstdenker gegen jede Sekte und gegen die Sekten überhaupt, laufen auf bewußtlose Wortstreitigkeiten zwischen verschiedenen partikulären Sprachgebräuchen hinaus. Jedes der einander herbeiführenden und verdrängenden Lehrgebäude hat seine eigene Sprache, (Terminologie); der Wechsel der Lehrgebäude wird zunächst nur durch den Wechsel der Wörter und ihrer Bedeutungen unterhalten; und jeder Sieg so wie jeder Krieg unter den Weltweisen ist nichts als ein  Wortwechsel. 

Das Einverständnis, welches eine Schule zusammenhält, besteht in der blossen Einerleiheit gewisser hervorgehobener und ausgezeichneter Wörter, deren Bedeutung dem Meister und den Schülern über alle Untersuchung, als das Prinzip aller Untersuchung, erhaben scheint, darum auch ununtersucht bleibt, und schlechthin angeschaut wird. Zu diesem Rang gelangen die besagten Wörter durch die Zauberkraft der Phantasie und Willkür irgend eines hervorragenden Kopfes, und durch Mitwirkung des Angewöhnens vermittelst zahlloser Wiederholungen in dem besagten Kopfe, und in den Köpfen der ihm nachsprechenden Bewunderer und Lehrlinge. Sie behaupten sich auf ihrer Höhe so lange bis ein Anderer, nicht weniger kräftiger, Kopf in oder ausser der Schule an dem, an der Spitze stehenden, Zauberworte einen versteckten Widerspruch gewahr wird und hervorzieht, und an die Stelle des nun Entzauberten ein Anderes geltend zu machen, die Geschicklichkeit und das Glück hat.


§4 Sprachgebrauch in der Denklehre

Daß aber nichtsdestoweniger dennoch auch anschauungslose Begriffe und bildlose Wörter einen  allgemeingeltenden  Sprachgebrauch zulassen, und wirklich allgemein gelten, daß es auch feststehende Bedeutungen solcher Wörter geben könne und gebe, davon ist die allgemeingeltende  Denklehre,  die  Logik,  ein merkwürdiges und bis jetzt unbestrittenes Beispiel. Diese Wissenschaft hat zwar auf der einen Seite mit der Wesenlehre (Metaphysik) die Anschauungslosigkeit der Begriffe und die Bildlosigkeit der Worte, - auf der andern aber gleichwohl auch mit den exakten Wissenschaften die Festigkeit der Begriffe und das Allgemeingelten der Wortbedeutungen gemeinschaftlich.

Auf ihrem eigenen Gebiete in ihren Grund- und Lehrsätzen mit sich selber einig, von Aussen her unangefochten, und von Innen und von Aussen jedem Zweifel an der Wahrheit ihrer Hauptlehren Trotz bietend, hat, wie KANT sehr treffend bemerkt hat, die Logik seit ARISTOTELES im Wesentlichen keinen Schritt vorwärts getan. Bei allen Streitigkeiten und Umwälzungen auf dem Gebiete der Wesenslehre, und bei allen Fortschritten und Verbesserungen auf dem Gebiete der exakten Wissenschaften haben die herkömmlichen und gemeinüblichen  Denkformen,  welche den Inhalt der Logik ausmachen, sich durch die in der Hauptsachen unveränderte Fortdauer ihres Besitzes und Ansehens keiner wesentlichen Verbesserung fähig und bedürftig bezeugt.

Über den  Grund  dieses Vorzugs der Logik war unter den älteren Logikern keine Nachfrage. Sie nahmen als sich von selbst verstehend an: daß es zwar wohl auch ein scheinbares, vermeintliches, eingebildetes Denken gebe, daß aber das Denken,  als  Denken, das wirliche, nicht eingebildete Denken  unwandelbar  und  untrüglich  sei; daß es keine andere Vernunft geben könne als eben die Denkende; daß nur das denkende Vorstellen das Vernünftige sei, und daß dieses Vorstellen, wenigstens in der Logik, als in der Wissenschaft seiner selbst, die ihm zukommende Überlegenheit über die, der Wechselwirkung der Phantasie und Willkür mit der Gewohnheit eigentümliche, Wandelbarkeit behaupten müsse.

Dagegen suchen und finden die neueren und neuesten Logiker unter unsern Sprachgenossen den Grund der Allgemeingültigkeit, Selbständigkeit, und Unverbesserlichkeit der Logik in einem nur dieser Wissenschaft  eigentümlichen,  nur auf dem Gebiete derselben einmischen, Denken auf, welches sich auf die, von allem Inhalt entblößte,  Form  des Denkens beziehe, und darum das  formale  Denken sei und heisse.

In der Tat gelten auch die von der bisherigen Logik aufgestellten Denkformen nur durch ihre  Gehaltlosigkeit  allgemein; und diese Gehaltlosigkeit wird aufs unwidersprechlichste durch die Geschmeidigkeit, Biegsamkeit und Fügsamkeit beurkundet, mit welcher sich jene Formen bei ihrem Gebrauch an jeden noch so verschiedenen Inhalt des spekulierenden und des gemeinen Vorstellens anschließen, in jedem der einander noch so sehr widersprechenden Lehrgebäude der Wesenlehre, und in jeder noch so verschiedenen und mit der Mode wechselnden Ansicht der Angelegenheiten des gemeinen Lebens auf gleiche Weise dienstfähig und zweckdienlich sind, und wirklich bis auf den heutigen Tag, ausser der Mathematik, die einzigen  Dogmen  ausmachen, über welche die Wortführer der philosophierenden Vernunft nicht nur mit den Wortführern des gemeinen Menschenverstandes, sondern sogar miteinander selber, wo nicht einverstanden, doch wenigstens in keiner Fehde begriffen sind.

Bekanntlich gelangt man zur Erkenntnis des Eigentümlichen jener Denkformen auf einem kurzen und bequemen Wege, nämlich durch das von jeher nicht ungewöhnliche, durch die kantische Critik der Vernunft nur ausdrücklicher zur Sprache gebrachte, aber seitdem den deutschen Logikern und spekulativen Philosophen vollkommen geläufig gewordene  Wegsehen  von allem  Unterschiede  des Denkbaren, allen  Gegenständen  des Denkens,  allem Inhalt  der Gedanken.

Da die zu entdeckende Form in dem Wegsehen vom  Unterschiede,  und durch dieses Wegsehen, gesucht wird: so kann dieselbe freilich im  Hinsehen  auf das was nach diesem Wegsehen übrig bleibt, nur als jener Nichtunterschied (Indifferenz) hervortreten, welcher in den gewöhnlicheren Benennungen bald der  Einheit,  bald der  Einerleiheit,  bald der  Vereinigung,  bald des  Zusammenhangs,  bald der  Übereinstimmung,  bald der  Einstimmung  für die  Grundform  des Denkens angenommen und ausgerufen wird.

Nichts als dieser  Nichtunterschied  ist es, was diesen Benennungen  gemeinschaftlich  zum Grunde liegt, was an denselben im Grunde die  Denkform  ausmacht, und wodurch sie dem Wandelbaren und dem Unwandelbaren, der Erscheinung und dem Sein an sich, dem Zufälligen und dem Wesen, dem Eingebildeten und dem Wirklichen, dem Falschen und dem Wahren gleich anpassend sind, und anpassen müssen. Darum kann auch diese Form weder  nur  wandelbar, noch auch  nur  unwandelbar sein. Ihr Wesen besteht in der  unwandelbaren  Wandelbarkeit, und  wandelbaren  Unwandelbarkeit; und die Eigenschaft dieses Wesens in der  Gehaltlosigkeit  der Form und in der Form der Gehaltlosigkeit.

In Kraft dieser Grundform ihres Denkens vermochte die allgemeingeltende Logik freilich die Fortschritte  jener  Wissenschaften, welche durch Figuren, Zahlzeichen, Bilder, und sinnliche Evidenz hinlänglich gesichert sind, weder zu hindern noch zu befördern. Aber desto weniger ist sie an den Umwälzungen und Streitigkeiten auf dem Gebiete der Metaphysik unschuldig, auf welchen sie die unaufhörlichen Mißverständnisse nicht nur nicht aufzuheben und zu verhindern vermag, sondern vielmehr herbeigeführt und unterhält.

Wenn die Metaphysik seit PLATON an Gründlichkeit und Gewißheit nichts gewonnen, aber desto mehr wieder verloren hat: so hat sie dies lediglich der von PLATONs Dialektik abweichenden Logik des ARISTOTELES, und der aus dieser hervorgegangenen allgemeingeltenden Denklehre zuzuschreiben, welche öffentlich jedem Lehrgebäude der Spekulation dient, insgeheim aber den Wechsel von allen beherrscht, mit jeder Sekte einverstanden das gemeinschaftliche Mißverständnis von Allen begründet und verhüllt, und eine Gesetzgebung des Denkens aufstellt und aufrecht erhält, auf welche sich der Empirismus und der Rationalismus, und der Skeptizismus und der Dogmatismus mit gleichem Recht und Glück berufen können und müssen.

Skeptizismus und Dogmatismus, und dogmatischer Empirismus und Rationalismus, entstehen und bestehen keineswegs, wie man jetzt fast allgemein dafür hält durch die Mißdeutungen und den Mißbrauch der herkömmlichen und gemeinüblichen Denkformen, sondern wirklich nur durch die Beschaffenheit dieser Denkformen an sich selber; und der  Grundfehler  dieser Beschaffenheit, das eigentliche  Wesen der Gehaltlosigkeit  der logischen Formen besteht lediglich in der eben so unleugbaren, als unbekannten,  Vieldeutigkeit  derselben.

Daß aber diese Vieldeutigkeit zur Zeit entweder noch völlig unbekannt. oder nur obenhin bemerkt ist, als daß sie als das was sie ist, nämlich als ein wirklicher und wesentlicher  Grundfehler  der allgemeingeltenden Logik, fast Jedermann unwahrscheinlich, unglaublich, unmöglich, insbesonder aber unsren Logikern von Profession als eine lächerliche, keiner Berücksichtigung würdige Beschuldigung vorkommen muuß, ist eine sehr natürliche Folge:
    Erstens eben desjenigen Wegsehens von dem  Unterschiede  des Denkbaren (als dem vermeintlichen Inhalt) - und des Hinsehen auf den  Nichtunterschied  des Denkbaren (als auf die vermeintliche Form) folglich eben derselben  unlogische Abstraktion,  worin das gemeinübliche Erkenntnismittel der Denkform besteht.

    Zweitens der  scheinbaren  Bestimmtheit, Haltbarkeit und Brauchbarkeit, welche von den herkömmlichen Denkformen in den exakten Wissenschaften dadurch erschlichen wird, daß ihre Vieldeutigkeit auf den Felder dieser Wissenschaft durch Figuren, Zahlzeichen, Bilder und sinnlich Evidenz niedergeschlagen wird.

    Drittens, und hauptsächlich der  Synonymität  der Wörter, und zwar eben der unentbehrlichsten und gebräuchlichsten Wörter, durch welche die besagten Denkformen teils unmittelbar, teils in Erklärungen derselben, bezeichnet werden.
Daß eben diese Synonymität, in welcher das eigentliche  Geheimnis  der geheimen  Vieldeutigkeit  der Denkformen, und das eigentliche  Geheimnis  der vergebens gesuchten  Wissenschaftlichkeit  der Philosophie enthalten ist, und sich aufweisen läßt, bisher entweder gänzlich unbeachtet, oder wenigstens ununtersucht geblieben ist, daran hat die bisherige  Unbestimtheit  des Begriffes der Synonymität selber einen sehr wesentlichen und leicht erweislichen Anteil.....
LITERATUR, Karl Leonhard Reinhold in Hermann Josef Cloeren (Hrsg), Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstadt 1971