"Auf die Frage, wie in einem denkenden Subjekt überhaupt äußere Anschauung, nämlich die des Raumes, möglich ist, ist es keinem Menschen möglich, eine Antwort zu finden, und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die äußeren Erscheinungen einem transzendentalen Gegenstand zuschreibt, welcher die Ursache dieser Vorstellungen ist, den wir aber gar nicht kennen, noch jemals einen Begriff von ihm bekommen werden."
Die neueste Auflage von KUNO FISCHERs"Geschichte der neuern Philosophie" ist in der zweiten Hälfte des dritten Bandes der Kritik der reinen Vernunft von IMMANUEL KANT gewidmet; am Schluß der Darstellung dieses Fundamentalwerkes des großen Philosophen bringt FISCHER endlich eine Kritik der Lehre desselben, und nun höre man und staune: auch er bezichtigt KANT nicht nur des Widerspruchs in sich selbst - das wäre für einen Hegelianer ja noch erlaubt, denn aus Widersprüchen erwächst hnen ja die Wahrheit -; nein, er beschuldigt ihn auch, einen sachlichen Irrtum begangen zu haben, indem er die Grundlagen seines eigenen Systems verleugnet und Lehren vorgetragen hat (in der zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft), welche ihm selbst schnurstracks zuwiderlaufen. KUNO FISCHERs Worte lauten (Seite 575): "Es ist unmöglich, die philosophische Differenz beider Ausgaben wegzureden"; und weiter (Seite 576):
"Was Kant an gewissen Stellen, die wegbleiben konnten, buchstäblich behauptet hat, widerstreitet den buchstäblichen Grundlehren, die nicht weggelassen werden durften und nicht weggeblieben sind."
Jedem Verehrer KANTs muß es hochwillkommen sein, daß endlich der große Meister der Geschichte der Philosophie sich mit dem Meister der Philosophie zu messen beginnt in Rücksicht auf den eigentlichen Kern der Erkenntnisse. Mancher wird aber doch überrascht darüber sein, daß KUNO FISCHER der Nachwelt zeigt, wie KANT geirrt hat nicht in Bezug auf Kleinigkeiten, sondern in Bezug auf das Fundament seiner Lehre, nämlich die Frage, wie weit es dem Menschen möglich ist, zwar nur seine Vorstellungen, aber doch auch die Dinge in der Welt als wirkliche Dinge zu erkennen. Es war bis jetzt aus FISCHERs Darstellungen wohl möglich zu erkennen, was er an anderen Darstellungen KANTs auszusetzen hatte, auch wohl, worin er KANT nicht recht gibt, aber er hatte noch nicht seine eigenen besseren Lehren an die Stelle der irrtümlichen kantischen gesetzt und die Gründe entwickelt, welche ihm das Recht geben, KANT in seinem eigenen Territorium der Unkunde und des Irrtums zu bezichtigen. Mit Trauer sehen ja längst die Verehrer KANT den lichtvollen Darsteller desselben auf den Wegen eines FICHTE und SCHELLING wandeln und behaupten, daß diese von KANT selbst verworfenen und durch die Geschichte der Wissenschaften, insbesondere durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft widerlegten irrenden Verehrer (aber nicht Schüler) KANTs die korrekten Fortbildner des Königsberger Meisters sind; aber es ließ sich bisher noch nicht ad oculos[mit eigenen Augen - wp] demonstrieren, daß dies nur dadurch möglich wurde, daß KUNO FISCHER den KANT in seiner Fundamentallehre gar nicht verstanden hat.
Jetzt liegen die Beweise klar vor. Folgende Tatsachen sind zu registrieren.
KUNO FISCHER erklärt 1.Kants Lehre in beiden Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft widerstreitet sich selbst in der Fundamentalfrage. 2.Kant habe geirrt in Sachen des Idealismus. Die Worte lauten (Seite 575):
"Kant widerlegt den Idealismus, indem er seine Beweisführung von den Grundsätzen des reinen Verstandes umkehrt. ... Wenn er jetzt zur Widerlegung des Idealismus behauptet, daß die Wahrnehmung der Materie nur durch ein Ding außerhalb von mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings außerhalb von mir möglich ist, so ist dieser Beweis falsch, denn er widerstreitet der eigenen fundamentalen Lehre des Philosophen."
3.KUNO FISCHER hält die WissenschaftslehreFICHTEs für die korrekte weitere Ausbildung der kantischen Lehre, während KANT selbst sie für ein gänzlich unhaltbares System erklärt hat.
Ich stelle nun den Leser vor die Frage: Was ist von vornherein wahrscheinlicher, daß KUNO FISCHER in KANTs Gebiet irrt oder daß KANT in seinen eigenen Grundlagen geirrt hat? Was ist wohl leichter zu glauben, wenn KANT betont, die zweite Ausgabe seiner Kritik der reinen Vernunft weiche von der ersten sachlich nicht ab, oder wenn KUNO FISCHER behauptet, KANT irre sich darin über sich selbst, weil er sich selbst widerspricht? Was ist wohl glaubwürdiger, wenn KANT feierlich und öffentlich gegen FICHTE, als einen, der nicht sein Schüler ist, protestiert, oder wenn KUNO FISCHER behauptet, FICHTE sei der echte Schüler KANTs? Ich bange nicht, für wen die Geschichte entscheiden wird, für den Historiker oder für den Philosophen.
Von vornherein ist zu vermuten, daß ein so beharrlicher Widerspruch zwischen KANT und seinem Darsteller darauf beruhen muß, daß der Historiker einen oder mehrere Kunstausdrücke des kantischen Sprachgebrauchs nicht durchdrungen und in der Folge miteinander verwechselt hat. Und so ist es in der Tat. Die technischen Ausdrücke Ding, Ding-ansich, transzendentales Objekt, transzendentaler Gegenstand, Ding außerhalb von mir, gebraucht FISCHER derartig promiscue[wechselseitig - wp] und hält sie für so gänzlich gleich, daß es ihm sogar vorkommt, daß er ein kantisches Zitat, in welchem der Ausdruck transzendentaler Gegenstand gebraucht ist, fortsetzt und kommentiert mit dem Ausdruck Ding-ansich. Die Stelle lautet (Seite 570):
"Auf die Frage, sagt Kant -, wie in einem denkenden Subjekt überhaupt äußere Anschauung, nämlich die des Raumes, möglich ist, ist es keinem Menschen möglich, eine Antwort zu finden, und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die äußeren Erscheinungen einem transzendentalen Gegenstand zuschreibt, welcher die Ursache dieser Vorstellungen ist, den wir aber gar nicht kennen, noch jemals einen Begriff von ihm bekommen werden. Ist aber" - fährt Kuno Fischer fort - "das Ding-ansich der unerforschliche Grund unserer Vernunftbeschaffenheit und damit aller Erscheinungen, so muß es auch als der unserer Sinnesempfindungen gelten."
Nun hat der kantische Satz mit dem terminus technicus "transzendentaler Gegenstand" Sinn, insofern dieser Ausdruck die Form der Gegenständlichkeit überhaupt in unserer Vernunft bezeichnet; KUNO FISCHERs Fortsetzung des Satzes aber mit "Ding-ansich" hat keinen Sinn. Denn Dinge-ansich sind nicht die Ursache unserer Sinnesempfindungen, auch nicht der Grund, daß wir Sinnesempfindungen haben können, wohl aber sind der Grund Gegenstände, deren Bedingung zur Möglichkeit der Erfahrung der "transzendentale Gegenstand" heißt. Daß dies beiden Ausdrücke fundamental verschieden sind, kann man ersehen aus der Stelle: "Denn die wirklichen Dinge der Vergangenheit sind im transzendentalen Gegenstand der Erfahrung gegeben." KUNO FISCHER wird selbst nicht meinen, daß dieselben in den Dingen-ansich gegeben sind, welche ja überhaupt nie gegeben werden können, nach ihrem eigenen Begriff am allerwenigsten in der Erfahrung.
Will man den Grundfehler FISCHERs an seiner Quelle entdecken, so findet man ihn am deutlichsten in seiner Unterscheidung zwischen Erscheinung und Schein. Er sagt (Seite 570):
"Der Philosoph (d. h. Kant) unterscheidet die Sinnenwelt von der Scheinwelt, die Erscheinungen vom Schein durch ihren notwendigen Zusammenhang, der auf einen Urgrund zurückweist. Ihr Zusammenhang folgt aus den notwendigen Vorstellungen unserer Vernunft. Der Urgrund derselben ist das Ding-ansich. Daher gehört das Ding-ansich zwar keineswegs in die Erscheinung, wohl aber zum Charakter derselben, da durch Bejahung eines solchen unbedingten Urgrundes die Erscheinungen vom Schein unterschieden und fundiert werden, ohne diese Realität nur ein Traum wären, wenn auch ein zusammenhängender. Ding-ansich und Erscheinung gehören dergestalt zusammen, daß jenes nicht verneint werden kann, ohne diese mitzuverneinen, d. h. in Schein zu verwandeln."
Daß diese Lehre grundfalsch ist und im Widerspruch mit KANT steht, ist nicht schwer zu beweisen. Zunächst ist der Satz: "Das Ding ansich gehört zum Charakter der Erscheinung" falsch und unkantisch. FISCHER weiß, daß das Ding-ansich nicht hinter und nicht in der Erscheinung ist; dennoch glaubt er, die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der Dinge als Erscheinungen stammt nach KANT von der Anwendung der Funktionen der Erkenntnis, welche ihre Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit von der Unveränderlichkeit der transzendentalen Apperzeption haben. Was soll es überhaupt heißen: Die Erscheinungen tragen im Gegensatz zum Schein den Charakter des Dings-ansich? Ist dieser Charakter ein wahrnehmbarer, so ist er Erscheinung, aber nicht Ding-ansich. Ist er aber nicht wahrnehmbar, so kann er auch nicht den Charakter eines Wahrnehmbaren bilden. Ist das Ding-ansich aber Grund oder Ursache der Erscheinung, so bildet doch gewiß die Ursache einer Erscheinung niemals einen Teil ihres Charakters. Oder ist der Charakter des Donners etwa im Bliz zu finden? Da eine Wirkung aus mehreren verschiedenen Ursachen entspringen kann, ist es logisch unmöglich und fehlerhaft gedacht, daß das Dasein einer Ursache der Wirkung den Charakter ihrer spezifischen Unterscheidung von anderen Wirkungen, welche auch ihre Ursache hatten, bestimmen kann.
Hier zeigt sich, daß KUNO FISCHER die Entstehung des Scheins nicht kennt, und sich einbildet, der Schein habe keine Ursache. Er meint, etwas Wahrnehmbares mit dem Charakter des Dings ansich sei Erscheinung, etwas Wahrnehmbares ohne den Charakter des Dings ansich sei Schein. Hätte er, anstatt die Widerlegung des Idealismus zu korrigieren und zu tadeln, dieselbe ergründet und aus ihr gelernt, so würde er zur Erkenntnis der Meinung gekommen sein, welche KANT über die Entstehung des Scheins ausspricht.
KANT sagt: "Man kann allen Schein darein setzen, daß die subjektive Bedingung des Denkens für die Erkenntnis des Objekts gehalten wird." Und:
"Ob diese oder jene vermeinte Erfahrung nicht bloß Einbildung ist, muß nach den besonderen Bestimmungen derselben und durch die Zusammenhaltung mit den Kriterien aller wirklichen Erfahrung ausgemittelt werden."
Diese Kriterien sind aber nicht Dinge-ansich, denn diese kennen wir nicht, und durch diese können wir nichts ausmitteln, sondern die Kriterien aller wirklichen Erfahrung sind die Anwendung der Erkenntnisfunktionen nach den Grundsätzen des reinen Verstandes auf den Gegenstand der Wahrnehmung.
Wenn wir z. B. einen Menschen im Nebel sehen und halten ihn für größer als er ist, so verfahren wir nach der Regel, daß alles im Trüben gesehene ferner ist als das Klare; und die Gestalt würde in der Tat größer sein müssen, wenn sie mit denselben Umrissen, wie sie dem Auge gegeben wird, in größerer Entfernung sich befände. Diese Regel, die subjektive Bedingung des Denkens, führt aber diesmal zum täuschenden Schein, weil der Mensch in der Tat näher ist, als es scheint, und die Trübung seines Bildes nur durch den Nebel erzeugt wird. Wir zerstören diesen Schein dadurch, daß wir alle Erkenntnisfunktionen auf die Wahrnehmung anwenden und uns die Ursache der Täuschung klar machen, nicht aber dadurch, daß wir fragen, ob unsere Wahrnehmung den Charakter des Dings-ansich trägt. Noch einfacher ist das Beispiel, wenn wir in der Dämmerung aus einer weißen Figur mit Hilfe der Einbildungskraft einen Geist machen und durch die Zuhilfenahme aller Kriterien der Erfahrung, namentlich auch des Tastsinns, die Erscheinung auf ihren richtigen Grund zurückführen, der uns wohl den Gegenstand so erscheinen läßt, wie er wirklich ist, aber mit dem Begriff vom Ding-ansich gar nichts zu tun hat.
Den kantischen Lehrbegriff des Dings-ansich hat eben FISCHER mißverstanden. Er sagt (Seite 569):
"Die Beschaffenheit und Einrichtung unserer Vernunft ist nicht das letzte. Ihr und damit allen Erscheinungen überhaupt muß etwas zugrunde liegen, das als solches nicht erscheint, vielmehr von allen Erscheinungen, von allen Vernunftformen, also auch von Raum und Zeit, völlig unabhängig, darum auch unerkennbar ist und von Kant mit dem Wort Ding-ansich bezeichnet wird. Die Realität eines solchen Urgrundes hat der Philosoph niemals verneint. ... Was die Dinge-ansich betrifft, so hat der Philosoph ihre transzendentale Wirklichkeit stets bejaht."
Also KANT soll die Realität eines Urgrundes, welcher weder Anschauung noch Vernunftform ist, zum Gegenstand einer Erkenntnis gemacht, d. h. sie nicht verneint, sondern ihre transzendentale Wirklichkeit bejaht haben! Nun ist Wirklichkeit eine Kategorie, die nach KANTs Lehre nur auf Erscheinung angewendet werden darf. Daher ist "transzendentale Wirklichkeit" eine Wortzusammenstellung, die bei KANT nicht vorkommt und gar nicht vorkommen kann, weil sie dasselbe bedeutet wie etwa ein hölzernes Eisen, oder ein gelbes Blau. Weiß denn FISCHER nicht, daß KANT das Ding-ansich ein noumenon genannt hat und einen Grenzbegriff? Sind Begriffe nicht Vernunftformen und heißt nous nicht Vernunft?
Es würde KANT nicht eingefallen sein, über etwas zu reden, wohin weder die Fähigkeit anzuschauen noch zu denken reicht. Aber KUNO FISCHER verwechselt eben das Denkenmüssen mit dem Sein. Daß wir zu allem, was wir anschauen und denken, eine Ursache denken müssen, das ist nach dem allgemeinen Grundstz der Kausalität sicher, aber Gedanken sind noch keine Dinge, sondern noumena. Ob noumena, welche erschlossene Begriffe sind, Existenz haben, das muß von anderen Tatsachen aus erschlossen werden. Die Freiheit z. B. ist theoretisch ein noumenon als Idee, aber die Tatsache des Sittengesetzes weist nach, daß sie wirklich existiert als Bedingung zur Möglichkeit der Moral, das Ding-ansich aber ist ein noumenon ohne das Merkmal der Existenz, welches allein durch Empfindung und Anschauung gegeben werden könnte, also ein völlig leerer Begriff. Darum kann die Erscheinung niemals den Charakter des Dings-ansich tragen.
Damit komme ich zur Verteidigung KANTs in Betreff jener notwendigen tiefsinnigen und volle Wahrheit enthaltenden Widerlegung des Idealismus, in welcher er fast Wort für Wort von FISCHER mißverstanden ist.
Es handelt sich um die Grund frage, ob die Dinge außerhalb unser existieren? BERKELEY hatte gesagt: Sind die Dinge unsere Vorstellungen, so sind sie nicht außerhalb von uns und existieren nicht unabhängig von uns. Ihr wirkliches Dasein ist nur ein zusammenhängender, in sich konsequenter Schein. KANT war derselbe Irrtum untergeschoben worden. Ihm kam es daher darauf an, zu zeigen, daß freilich die Dinge außerhalb von uns existieren, obgleich sie von uns vorgestellt werden. Diesen Beweis führt er dadurch, daß er eine bestimmte Tatsache bringt, welche nur dadurch erklärbar und möglich ist, daß wir nicht bloß Vorstellungen in uns haben, sondern wirkliche Dinge außerhalb von uns selbst wahrnehmen. Die Tatsache ist im allgemeinen die, daß innere Erfahrung überhaupt nur durch äußere Erfahrung möglich ist. Das Denken selbst ist eine Tatsache der inneren Erfahrung, die einzige, die der empirische oder subjektive Idealismus als unbezweifelt gelten läßt. Wir können es unmittelbar im Bewußtsein beobachten als Erscheinung, die in der in der Zeit abläuft. Aber wir können die Zeit, in der wir denken, nicht bestimmen, folglich das Denken selbst nicht richtig beobachten, wenn wir nicht irgendeinen festen Anhalt in der äußeren Erfahrung haben. Denn jede Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches voraus, an dem eine Veränderung stattfindet. Es sind die Veränderungen der Dinge außerhalb von uns im Raum, welche die Zeit unseres eigenen Daseins fixierbark, bestimmbar machen. Also könnten wir vom Denken selbst nichts wissen, wenn nicht Dinge außerhalb von uns wahrgenommen werden würden. Die neuere Physiologie würde sagen: Das Denken ist unmöglich ohne Betätigung des Stoffwechsels im Gehirn. Wenn dieser Stoffwechsel nicht stattfindet, so kommen alle transzendentalen Fähigkeiten nicht zur Entwicklung. Also ist die Tatsache der Entwicklung unseres Denkens und Anschauens ein genugsamer Beweis dafür, daß der Stoffwechsel im Gehirn nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch eine vorgestellte wirkliche Tatsache ist. KANT deutet auf das Beispiel der Zeitbestimmung für alle irdischen Gegenstände durch die Bewegung der Sonne. Wir können auch an einen Schiffer erinnern, der die Zeit und Richtung seiner Fahrt an den festen Punkten außerhalb von ihm bestimmen muß, seien es Küstenstriche, seien es Sonne, Mond und Sterne. Würde man ihn in ein dunkles Verließ auf seinem Schiff einsperren, so er weder Tag noch Nacht unterscheiden könnte, so hätte er zwer noch die Vorstellungen alle, die er sich früher erworben hat, aber sie würden ihm nichts mehr helfen zu irgendeiner Zielbestimmung. Er muß die wirklichen Dinge außerhalb von ihm sich vorstellen, wie sie gegenwärtig erscheinen, dann nur kann er sie gebrauchen zur Bestimmung seiner Fahrt. Daher ist es ganz sicher: sobald ein Mensch die Zeit bestimmen soll, in welcher er lebt, so muß es 1. äußere Dinge wirklich geben, und 2. muß er sie wahrnehmen und vorstellen können.
Darum sagt KANT, daß die Bestimmung meiner Zeit nicht möglich ist durch bloße Vorstellungen, welche beharrlich sein können oder wechseln, sondern nur durch wirklich beharrende und wechselnde Gegenstände außerhalb meiner selbst, welche ich aber wahrnehmen, d. h. vorstellen muß. Seine Worte sind nach dem Vorhergesagten vollkommen klar:
"Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außerhalb von mir. ... Das Bewußtsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außerhalb von mir."
Was macht KUNO FISCHER aus diesen unantastbaren klaren Sätzen?`Er bildet sich ein, wirkliche Dinge außerhalb unserer selbst seien Dinge ansich und nicht wahrgenommene Dinge, d. h. mögliche Erscheinungen, und meint nun, KANT widerspricht sich selbst, weil er einmal behauptet, Dinge ansich werden nicht wahrgenommen und das anderemal, wenn sie nicht wahrgenommen werden, so ist keine empirische Zeitbestimmung möglich. Er unterscheidet nicht zwischen unserer Vorstellung von Dingen und den Dingen selbst, insofern sie vorgestellte Gegenstände sind. Er verwechselt eine beharrliche Vorstellung mit der Vorstellung von etwas Beharrlichem.
KANT setzte seine ganze gewaltige Kraft daran, den Streit zwischen empirischem Idealismus und transzendentalem Realismus zu schlichten und die Philosophie im transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus auf die einzig mögliche Basis zu stellen, von der aus sie für alle Wissenschaften fruchtbar werden kann. KUNO FISCHER dagegen reiht sich der Zahl derjenigen an, welche ihn trotz alledem für einen empirischen oder subjektiven Idealisten erklären nach FICHTEs Vorgang.
Da ich den Niedergang der ganzen philosophischen Bewegung im deutschen Volk und die Verachtung der Philosophie geschichtlich sehe durch die ungezügelte Phantasie jener angeblich großen Nachfolger KANTs in Bezug auf die Naturwissenschaft und ihre Abirrung von KANT, so halte ich es für nötig und wichtig, die Jugend über den sonst so großen Geschichtsschreiber in Bezug auf die entscheidenden Fundamentalwahrheiten aufzuklären und sie zu bitten, keinem Lehrer zu glauben, der behauptet, daß KANT sich sachlich selbst widersprochen hat.
LITERATUR - Anonymus, Kant und Kuno Fischer
Die Grenzboten - Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, 41. Jahrgang, viertes Quartal, Leipzig 1882.