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ERNST CASSIRER
Kants Lehre
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"Was Herder in der Geschichte suchte, das war die Anschauung der unendlich vielfältigen, unendlich-verschiedenartigen Lebensäußerungen der Menschheit, die sich doch in ihnen allen als ein und dieselbe enthüllt und offenbart. Je tiefer er sich in dieses Ganze versenkt, nicht um es auf Begriffe und Regeln zu bringen, sondern um es zu empfinden und nachzuleben, umso deutlicher drängt sich ihm auf, daß kein einzelner abstrakter Maßstab, kein einförmiger sittlicher Norm- und Idealbegriff seinen Gehalt auszuschöpfen vermag. Jedes Welt- und Zeitalter, jede Epoche und Nation hat das Maß ihrer Vollendung und ihrer Vollkommenheit in sich selbst. Hier gilt kein Vergleich zwischen dem, was sie sind und wollen; keine Heraushebung gemeinsamer Züge, in den gerade das Charakteristische, das, was das Besondere erst zur lebendigen Einzelheit macht, ausgelöscht und vernichtet ist. Wie der Lebensinhalt des Kindes nicht an dem des Mannes oder Greises gemessen werden kann, sondern in sich selbst den Mittelpunkt seines Seins und Wertes besitzt, so gilt das Gleiche für das geschichtliche Leben der Völker. Der Gedanke der immer weiterschreitenden intellektuellen und sittlichen Perfektibilität des Menschengeschlechts ist nichts als eine hochmütige Fiktion, kraft deren das jeweilig letzte Zeitalter sich berechtigt glaubt, auf alle früheren, als verlassene und überwundene Bildungsstufen, herabzusehen. Das wahre Bild der Geschichte aber erfassen wir erst, wenn wir es mit all seinem Glanz, all seiner Buntheit, und eben damit mit all der unreduzierbaren Mannigfaltigkeit seiner einzelnen Züge auf uns wirken lassen." |
Erste Wirkungen der kritischen Philosophie. Die "Prolegomena". - Herders "Ideen" und die Grundlegung der Geschichtsphilosophie.
Mit der Kraft des festen Willensentschlusses hatte KANT kurz vor dem Abschluß seines 57. Jahres in die sich immer erneuernde und immer weiter spinnende Gedankenarbeit, die sich an die Dissertation vom Jahr 1770 anschloß, eingegriffen. Im Zeitraum weniger Monate stand die Kritik der reinen Vernunft vollendet da: eine Leistung, die, auch als rein literarische Tatsache betrachtet, in der gesamten Geistesgeschichte kaum ihresgleichen hat. In diesem Zeitraum der Ausarbeitung, in dieser höchsten Konzentration des Gedankens und Willens auf das eine Ziel der Vollendung des Werkes selbst, muß für KANT jede Frage nach der Wirkung, die es üben wird, zurückgetreten sein. Ganz wie in den Jahren der einsamen Meditation überließ er sich lediglich dem Fortgang der Sache selbst, ohne nach den Mitteln zu fragen, durch die sie beim zeitgenössischen Leser und bei den philosophischen Schulen am ehesten Eingang gewinnen kann. Es war in der Tat so, wie das aus BACON entlehnte Motto, das KANT später der zweiten Auflage der Vernunftkritik voranstellte, es aussprach:
"Von uns selbst schweigen wir; was aber die Sache, die hier behandelt wird, betrifft, so bitten wir, daß die Menschen sie nicht wie eine Meinung, sondern wie ein notwendiges Werk ansehen, den Grund zu einer Sekte oder zu irgendeinem beliebig ersonnenen System, sondern zur Größe und Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts zu legen."
Aus dieser Stimmung jedoch, in der er die Arbeit an der Vernunftkritik durchgeführt hatte, sah KANT sich unvermittelt gerissen durch die ersten Proben der Beurteilung, die sein Werk gefunden hat. Denn wie immer diese Urteile ausfallen mochten: in dem einen Zug stimmten sie sämtlich überein, daß sie dort, wo er geglaubte hatte, ein schlechthin notwendiges und allgemeingültiges Problem hinzustellen, nur die Äußerung einer individuellen "Ansicht" und Lehrmeinung sahen. Je nachdem diese Ansicht der eigenen verwandt oder entgegengerichtet schien, fühlte man sich zur Vernunftkritik hingezogen oder von ihr abgestoßen; aber nirgends begegnete zunächst auch nur das geringste Verständnis dafür, daß die gesamte Fragestellung KANTs sich dem Rahmen, der durch die traditionellen Abgrenzungen der philosophischen Schulen gegeben war, in keiner Weise mehr einfügte. Ob das System als "Idealismus" oder "Realismus", als "Empirismus" oder "Rationalismus" zu denken oder zu benennen ist, das bildete lange Zeit die einzige Sorge der Interpretation. Ihr gegenüber behauptete immerhin MENDELSSOHN den kritischen Vorrang, wenn er, in einem bekannten Wort, KANT als den "Alleszermalmer" bezeichnete und damit wenigstens das rechte Gefühl für die Distanz zwischen ihm und der traditionellen Philosophie bekundete. In voller Deutlichkeit aber trat dieser Typus der Auffassung und Beurteilung für KANT selbst erst in der eingehenden Besprechung zutage, die in den "Göttinger Gelehrten Anzeigen vom 19. Januar 1782 erschien. Die Entstehungsgeschichte dieser Rezension ist bekann (1). CHRISTIAN GARVE, ein in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts allgemein geschätzter Schriftsteller, hatte es auf einer Reise, die ihn nach Göttingen führte, übernommen, als Dank für die "vielen Erweisungen von Höflichkeit und Freundschaft", die ihm hier zuteil wurden, eine größere kritische Arbeit für die Göttingischen gelehrten Anzeigen zu liefern. Er erbat sich hierfür die "Kritik der reinen Vernunft", die er bis dahin noch nicht gelesen hatte, von der er sich jedoch - wie er selbst in seinem Brief an Kant vom 13. Juli 1783 berichtet - "ein sehr großes Vergnügen versprach", nachdem ihm "die vorhergegangenen kleinen Schriften Kants schon so vieles gemacht hatten".
Die ersten Seiten, die er in dem Buche las, mußten ihn freilich von seinem Irrtum überzeugen. Eine Fülle von Schwierigkeiten trat ihm, der durch seine bisherigen Studien, die sich wesentlich auf ästhetischem und moralpsychologischem Gebiet bewegt hatten, für eine derartige Lektüre in keiner Weise vorbereitet war und der zudem damals an den Nachwirkungen einer schweren Krankheit litt, von Anfang an entgegen. Nur die Rücksicht auf das einmal gegebene Wort bewog ihn zur Fortsetzung seiner Arbeit und zur Abfassung eines ausführlichen Berichts, den er endlich, nachdem er ihn noch mehrfach umgearbeitet und verkürzt hatte, an die Redaktion der Zeitschrift einsandte. Hier aber waltete ein Mann seines Amtes, der von den Skrupeln und Zweifeln, die GARVE während der Lektüre der Vernunftkritik immerhin empfunden hatte, in keiner Weise berührt wurde. JOHANN GEORG FEDER gehörte zu jenem Göttinger Professorenkreis, in dem man des Urteils über KANT bereits völlig gewiß zu sein glaubte. Als JAKOB CHRISTIAN KRAUS, kurz vor dem Erscheinen der Vernunftkritik, in diesem Kreis die Äußerung tat, daß KANT in seinem Pult ein Werk liegen habe, das den Philosophen gewiß noch einmal großen Angstschweiß kosten wird, ihm mit Lachen erwidert, daß von einem "Dilettanten in der Philosophie" derartiges schwer zu erwarten sei. (2)
Zu diesem durch nichts zu erschütternden Selbstbewußtsein des Zunftgelehrten trat zugleich bei FEDER die gewandte Fertigkeit des "Redakteurs", der, ohne viel sachliche Bedenken, jeden Beitrag nach Umfang und Inhalt dem jeweiligen Bedürfnis seiner Zeitschrift anzupassen wußte. Mit kräftigen Strichen wurde jetzt auch die GARVEsche Besprechung der Vernunftkritik auf fast ein Drittel ihres ursprünglichen Umfangs reduziert und stilistisch vielfach verändert; auf der anderen Seite aber sorgten umfangreiche eigene Zusätze FEDERs dafür, daß dem Leser für das Studium und Verständnis des kantischen Werkes sofort ein bestimmter "Standpunkt" zugewiesen wurde. Dabei waren die systematischen Mittel, über die hier verfügt wurde, die denkbar beschränktesten: sie bestanden in nichts anderem, als in der Anwendung der bekannten Rubriken der Philosophiegeschichte, wie sie in jedem Handbuch festgelegt und durch den Gebrauch geheiligt waren.
"Dieses Werk", so begann jetzt die Göttingische Rezension in der Feder'schen Fassung -, "dieses Werk, das den Verstand seiner Leser immer übt, wenn auch nicht immer unterrichtet, oft die Aufmerksamkeit bis zur Ermüdung anstrengt, zuweilen ihr durch glückliche Bilder zu Hilfe kommt oder sie durch unerwartete gemeinnützige Folgerungen belohnt, ist ein System des höheren oder, wie es der Verfasser nennt, des transzendentellen Idealismus; eines Idealismus, der Geist und Materie auf gleiche Weise umfaßt, die Welt und uns selbst in Vorstellungen verwandelt und alle Objekte aus Erscheinungen dadurch entstehen läßt, daß sie der Verstand zu einer Erfahrungsreihe verknüpft, und daß sie die Vernunft in ein ganzes und vollständiges Weltsystem auszubreiten und zu vereinigen notwendig, obwohl vergeblich versucht."
Man begreift schon aus diesen Anfangssätzen den Eindruck, den KANT von dieser Besprechung empfangen mußte. Nichts von dem, was er über sie in den härtesten Ausdrücken gesagt hat, ist, rein sachlich genommen, zu viel; und nur darin irrte er, daß er dort, wo lediglich Beschränkung und Eigendünkel sich naiv und unverhüllt aussprach, die persönliche Absicht der Entstellung und Mißdeutung gesehen hat. Aber indem er nun, durch die Göttingische Kritik angeregt und aufgeregt, daran ging, die Grundgedanken seiner Lehre noch einmal in prägnanter Kürze zu entwickeln, gewann auch diese, wie es schien, zufällige und abgedrungene Arbeit unter seinen Händen alsbald eine universelle systematische Bedeutung: aus einer bloßen Entgegnung gegen die GARVE-FEDERsche Rezension wurden die "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können".
Literaturgeschichtlich betrachtet stehen wir hier vor der entscheidenden Krisis der deutschen Aufklärungsphilosophie. Der Typus der bisherigen Popularphilosophie, der Philosophie des "gesunden Menschenverstandes", wie GARVE ihn ehrlich und unbefangen vertreten hatte, wird durch die "Prolegomena" mit einem Schlag vernichtet.
"Meißel und Schlegel" - so spricht die Vorrede aus - "können wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radiernadel brauchen."
Und diese subtile Kunst, die feinsten Unterschiede und Nuancen der Grundbegriffe der Erkenntnis neben ihren allgemeinen Zusammenhängen sichtbar zu machen, hat KANT selbst nirgends mit solcher Überlegenheit wie hier geübt. Jetzt stand er seinem abgeschlossenen Werk als Leser und als Kritiker gegenüber; jetzt vermochte er das vielfältige Gewebe nochmals vollständig darzulegen und doch mit Sicherheit die Hauptfäden herauszulösen und zu bezeichnen, die es als Ganzes zusammenhalten. Wenn KANT seit langer Zeit, wie er in einem Brief an Marcus Herz vom Januar 1779 schreibt, "auf die Grundsätze der Popularität in Wissenschaften überhaupt, vornehmlich in der Philosophie" gesonnen hatte, - so war jetzt das Problem, das er sich gestellt hatte, zugleich theoretisch und praktisch gelöst. Denn eine neue Form wahrhaft philosophischer Popularität wird in den "Prolegomenen" begründet, eine Einführung in das System der Vernunftkritik wird geschaffen, der sich an Klarheit und Schärfe keine andere an die Seite stellen läßt. Wir entwickeln hier den sachlichen Inhalt der Schrift nicht von Neuem; er mußte bereits in die Darstellung der Grundgedanken der Vernunftkritik selbst aufgenommen werden, da er ihre sicherste authentische Interpretation enthält. Aber neben diesem sachlichen Gehalt kommt den Prolegomenen in der Entwicklung KANTs auch eine persönliche Bedeutung zu. Durch den freien Überblick über das bisher Geleistete fühlte er sich jetzt zu neuer umfassender Produktivität gestimmt. Noch ist die Arbeit an der Kritik nicht beendet: aber schon beginnt er das Fundament für die künftigen "systematischen Ausarbeitungen" zu legen, die sich an die drei Kritiken anschließen sollen. Die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften" bringen im Jahr 1786 den neuen Entwurf der kantischen Naturphilosophie. Sie geben eine Definition des Begriffs der Materie, die insofern in transzendentalem Geist gehalten ist, als das Sein der Materie hier nicht als ursprüngliche, sondern als abgeleitete Setzung erscheint: als die Existenz des Stoffs nur als anderer Ausdruck für die Wirksamkeit und Gesetzlichkeit der Kräfte angesehen wird. Eine bestimmte dynamische Beziehung zwischen Anziehung und Abstoßung, ein Gleichgewicht zwischen Attrkation und Repulsion, das ist es, worauf für uns die Materie, ihrem reinen Erfahrungsbegriff nach, beruth. Weiter braucht unsere Analyse nicht zurückzugehen und weiter kann sie in der Tat nicht dringen. Denn das sogenannte metaphysische Wesen der Materie, das "Schlechthin-Innerliche", das man ihr etwa noch voraussetzt, ist eine leere Grille; ist
"ein bloßes Etwas, von dem wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte."
Was uns empirisch von ihr faßbar ist, ist lediglich eine mathematisch bestimmbare Proportion des Wirkens selbst: also freilich nur ein Komparativ-Innerliches, das selbst wiederum aus äußeren Verhältnissen besteht (3). Wie diese Verhältnisse sich regeln, wie sie sich allgemeinen Gesetzesbegriffen unterordnen und einfügen lassen: das hatte schon die Kritik der reinen Vernunft im Kapitel von den "Analogien der Erfahrung" gezeigt. Die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften" geben die konkrete Ausführung der hier entwickelten Grundgedanken. Sie stellen die drei "Leges motus" [Gesetze der Bewegung - wp], von denen NEWTON ausgegangen war: das Gesetz der Trägheit, das Gesetz der Proportionalität von Ursache und Wirkung und das Gesetz der Gleichheit von Aktion und Reaktion als bestimmte Ausprägungen der allgemeinen synthetischen Relationsgrundsätze dar. Neben dieser Arbeit an der "Metaphysik der Natuwissenschaften" aber steht für KANT die neue Richtung auf die Metaphysik der Geschichte. Im November- und Dezemberheft der Berlinischen Monatsschrift vom Jahr 1784 waren die beiden Abhandlungen "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" und "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" erschienen und ihnen reihte sich in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im Jahre 1785 die Rezension des ersten und zweiten Teils von HERDERs "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" an. Es scheinen nur kurze, schnell hingeworfene Gelegenheitsarbeiten zu sein, die wir in diesen Abhandlungen vor uns haben; und dennoch ist in ihnen das gesamte Fundament für die neue Auffassung gegeben, die KANT vom Wesen des Staates und vom Wesen der Geschichte entwickelt hat. Für den inneren Fortgang des deutschen Idealismus kommt daher diesen Schriften eine kaum geringere Bedeutung zu, als sie die Kritik der reinen Vernunft im Kreis ihrer Probleme besitzt. Insbesondere an die erste der erwähnten Abhandlungen, an die "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" knüpft sich eine Erinnerung von universeller geistesgeschichtlicher Bedeutung: sie ist die erste Schrift gewesen, die SCHILLER von KANT gelesen hat und die in ihm den Entschluß zum tieferen Studium der kantischen Lehre erweckt hat (4).
Aber auch in einem anderen Sinn bildet diese Schrift eine wichtige Grenzscheide in der geistigen Gesamtentwicklung. Sie steht auf der einen Seite noch innerhalb der politisch-historischen Ideen des ausgehenden 18. Jahrhundertd, während sich auf der anderen Seite in ihr bereits die neuen Grundanschauungen des 19. Jahrhunderts deutlich ankündigen. Noch spricht KANT hier die Sprache ROUSSEAUs: aber in der systematischen und methodischen Begründung seiner Gedanken ist er über ROUSSEAU hinaus. Wenn dieser die gesamte menschliche Geschichte als einen Abfall vom Stand der Unschuld und Glückseligkeit ansieht, in dem die Menschen vor ihrem Eintritt in die Gesellschaft, vor ihrem Zusammenschluß zu sozialen Verbänden gelebt haben, so erscheint für KANT der Gedanke eines solchen Urstadiums, als Tatsache betrachtet, utopisch und, als sittliches Ideal angesehen, zweideutig und unklar. Denn seine Ethik verweist ihn zwar auf das Individuum und auf den Grundbegriff der sittlichen Persönlichkeit und ihrer Selbstgesetzgebung; - aber seine geschichtliche und geschichtsphilosophische Einsicht führt auf die Überzeugung, daß nur durch das Medium der Gesellschaft hindurch die ideelle Aufgabe des sittlichen Selbstbewußtseins ihre tatsächliche empirische Erfüllung finden kann. Der Wert der Gesellschaft mag, am Glück des Einzelnen gemessen, als negative Größe erscheinen; aber dies beweist nur, daß dieser Standpunkt der Messung und der Maßstab selbst falsch gewählt ist. Das echte Kriterium dieses Wertes liegt nicht darin, was der soziale und der staatliche Verband für den Nutzen des Einzelnen, für die Sicherung seiner empirischen Existenz und seiner Wohlfahrt leisten, sondern was sie als Mittel seiner Erziehung zur Freiheit bedeuten. Und in dieser Hinsicht ergibt sich nun für KANT die grundlegende Antithese, die den Inhalt seiner gesamten Geschichtsansicht in sich faßt. Die Theodizee, die innere sittliche Rechtfertigung der Geschichte, stellt sich her, wenn man begreift, daß der Weg zur wahrhaften ideellen Einheit des menschlichen Geschlechts nur durch den Kampf und Widerstreit, daß der Weg zur Selbstgesetzgebung nur durch den Zwang hindurch gehen kann. Weil die Natur, weil die "Vorsehung" gewollt hat, daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst hervorbringt und daß er keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig wird, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft: - darum mußte sie ihn in einen Stand versetzen, in welchem er, physisch betrachtet, jedem anderen Geschöpf nachsteht. Sie schafft ihn bedürftiger und schutzloser als andere Wesen, damit eben diese Bedürftigkeit für ihn zum Anreiz wird, ais seiner natürlichen Beschränkung und seiner seiner natürlichen Vereinzelung herauszutreten. Nicht ein ursprünglich in den Menschen gelegter sozialer Trieb, sondern die Not ist es gewesen, die die ersten gesellschaftlichen Verbände begründet hat, und sie bildete auch weiterhin eine der wesentlichen Bedingungen zur Aufrechterhaltung und Festigung des sozialen Gefüges. Was die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften" für den physischen Körper ausführen, das gilt, richtig verstanden, auch vom sozialen Körper. Auch er wird nicht einfach durch eine ursprüngliche innere Harmonie der Einzelwillen, durch jene sittlich-soziale Grundanlage, auf die der Optimismus SHAFTESBURYs und ROUSSEAUs sich berufen hatte, zusammengehalten; sondern sein Bestand wurzelt, wie der der Materie, in Anziehung und Abstoßung: in einem Antagonimus der Kräfte. Dieser Gegensatz bildet den Keim und die Voraussetzung jeglicher geselligen Ordnung.
"Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohheit zur Kultur, die eigentlich im gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet, und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zu sittlicher Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien, und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandeln kann."
"Ohne jene, ansich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben; die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden die Leere der Schöpfung in Anbetracht ihres Zwecks als vernünftige Natur nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern."
So ist es das Böse selbst, das im Lauf und Fortgang der Geschichte zum Quelle des Guten werden muß: so ist es die Zwietracht, aus der allein die wahrhafte, ihrer selbst sichere sittliche Eintracht sich herstellen kann. Die eigentliche Idee der sozialen Ordnung besteht darin, die Einzelwillen nicht in einer allgemeinen Nivellierung untergehen zu lassen, sondern sie in ihrer Eigenart und somit in ihrem Gegensatz zu erhalten; - zugleich aber die Freiheit jedes Individuums derart zu bestimmen, daß sie an der des anderen ihre Grenze findet. Daß diese Bestimmung, die zunächst nur durch äußere Gewalt erzwungen werden kann, in den Willen selbst aufgenommen und als die Verwirklichung seiner eigenen Form und seiner grundlegenden Forderung erkannt wird: das ist das ethische Ziel, das aller geschichtlichen Entwicklung gestellt ist. Hier liegt das schwierigste Problem, das die Menschengattung zu bewältigen hat, und für welches alle äußeren politisch-sozialen Institutionen, für welches die Staatsordnung selbst in allen Formen ihres geschichtlichen Daseins nur Mittel ist. Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten und in ihr somit die fortschreitende Verwirklichung eines "Plans der Natur" zu sehen, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abzielt, ist daher nicht nur möglich, sonder er muß selbst für diese Naturabsicht als beförderlich angesehen werdne.
"Eine solche Rechtfertigung der Natur oder besser der Vorsehung (so beschließt Kant diese Erörterung) ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was hilft es, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreich zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von all dem den Zweck enthält - die Geschichte des menschlichen Geschlechts - ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nötigt, unsere Augen von ihm mit Unwillen abzuwenden und, indem wir verzweifeln, jemals daran eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen." (5)
Wieder ist es, wenn wir uns auf den Standpunkt der transzendentalen Frage stellen, nicht der Inhalt dieser Geschichtsansicht, sondern ihre eigentümliche Methodik, die das Interesse in erster Linie fesseln muß. Ein neuer Gesichtspunkt der Weltbetrachtung, eine veränderte Stellung, die unsere Erkenntnis zum Ablauf eines empirisch-geschichtlichen Daseins nimmt, ist es, was hier zunächst gesucht wird. Daß durch diese Stellung die gewöhnliche historische Betrachtung, die die Erscheinungen in ihrer reinen Tatsächlichkeit aufzufassen und erzählend zu berichten sucht, in keiner Weise beeinträchtigt oder verdrängt werden soll, wird von KANT am Schluß seiner Abhandlung ausdrücklich hervorgehoben (6). Aber neben diesem Verfahren muß es ein anderes geben, durch das sich uns erst der Sinn der geschichtlichen Phänomene erschließt; - durch das ihre Bedeutung in einer völlig anderen Weise, als durch die empirische Aneinanderreihung der Tatsachen hervortritt. Noch läßt sich an dieser Stelle der Grundcharakter dieses neuen Verfahrens nicht völlig übersehen und in prinzipieller Schärfe bestimmen: denn KANTs Geschichtsphilosophie bildet nur ein einzelnes Glied innerhalb seines allgemeinen Systems in den ethischen Grundwerken und in der "Kritik der Urteilskraft" wird auch die letzte kritische Entscheidung für die Grundfragen der historischen Teleologie ergeben. Eine entscheidende Wendung aber ist es, die uns schon hier, in diesen Anfängen der kantischen Geschichtsphilosophie, in voller Klarheit entgegentritt. Mit den ersten Sätzen der kantischen Lehre sind wir aus dem Gebiet des Seins, in welchem sich die kritische Untersuchung bisher bewegte, in das Gebiet des Sollens versetzt. "Geschichte" im strengen Sinn des Begriffs gibt es nach KANT für uns nur dort, wo wir eine bestimmte Reihe von Ereignissen derart betrachten, daß wir in ihr nicht lediglich die zeitliche Abfolge ihrer einzelnen Momente oder deren kausale Zusammengehörigkeit ins Auge fassen, sondern daß wir sie auf die ideelle Einheit eines immanenten "Ziels" beziehen. Nur indem wir diesen Gedanken, diese neue Weise der Beurteilung anwenden und durchführen, hebt sich das historische Geschehen, in seiner Eigentümlichkeit und Selbständigkeit, aus dem gleichförmigen Strom des Werdens, aus dem Komplex der bloßen Naturursachen und Naturwirkungen heraus.
Man begreift in diesem Zusammenhang sofort, daß die Frage nach dem "Zweck der Geschichte" für KANT, gemäß seiner transzendentalen Grundanschauung, einen ganz anderen Klang als für die gewöhnliche Weltbetrachtung und für die traditionelle Metaphysik besitzt. Wie die volle Einsicht in die Geltung der "Naturgesetze" erst dadurch erreicht wurde, daß wir einsahen, daß nicht die gegebene Natur Gesetze "hat", sondern daß der Begriff des Gesetzes es ist, der den der Natur erst ausmacht und konstituiert - so besitzt auch die Geschichte nicht, als ein übrigens feststehender Inhalt von Tatsachen und Ereignissen, noch gleichsam nebenher einen "Sinn" und ein eigentümliches Telos: sondern in der Voraussetzung eines derartigen Sinns liegt ihre eigene "Möglichkeit", ihre spezifische Bedeutung erst begründet. "Geschichte" besteht erst dort wahrhaft, wo wir mit unserer Betrachtung nicht mehr in der Reihe der bloßen Ereignisse, sondern in der Reihe der Handlungen stehen: der Gedanke der Handlung aber schließt den Gedanken der Freiheit in sich. So weist das Prinzip der kantischen Geschichtsphilosophie auf das Prinzip der kantischen Ethik voraus, in dem es erst seinen Abschluß und seine vollständige Erläuterung finden wird. Weil diese Korrelation für KANT im methodischen Sinn unaufhebbar ist, weil sie die ursprüngliche Form seines Geschichtsbegriffs ausmacht, darum wird sie auch für seinen Inhalt bestimmend. Die geistig-geschichtliche Entwicklung der Menschheit fällt mit dem Fortgang, mit der immer schärferen Erfassung und mit der fortschreitenden Vertiefung des Freiheitsgedankens zusammen. Die Philosophie der Aufklärung steht hier an ihrem höchsten Ziel; und in KANTs "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" findet sie nunmehr auch ihren klaren, programmatischen Abschluß.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung".
Dieser Wahlspruch aber ist zugleich das Motto aller menschlichen Geschichte: denn im Prozeß der Selbstbefreiung, im Fortschritt von der natürlichen Gebundenheit zum autonomen Bewußtsein des Geistes von sich selbst und seiner Aufgabe besteht das, was sich im geistigen Sinn als einzig wahrhaftes "Geschehen" bezeichnen läßt.
In dieser Überzeugung und Grundstimmung tritt KANT an HERDERs "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" heran: und man versteht von hier aus sofort den ganzen Gegensatz, der sich zwischen ihm und HERDER auftun muß. Denn HERDER ist freilich auch in der Konzeption dieses seines Grundwerkes noch der Schüler KANTs geblieben, der ihm in den Jahren seines Königsberger Studiums zuerst den Weg zu jener "menschlichen" Philosophie gewiesen hatte, die ihm fortan als dauernde Ideal vorschwebt. Aber tiefer als KANT hat das Ganze seiner Geschichtsanschauung doch die Weltansicht HAMANNs gewirkt, der er sich wahrhaft und innerlich kongenial [geistig ebenbürtig - wp] fühlte. Was er in der Geschichte suchte, das war die Anschauung der unendlich vielfältigen, unendlich-verschiedenartigen Lebensäußerungen der Menschheit, die sich doch in ihnen allen als ein und dieselbe enthüllt und offenbart. Je tiefer er sich in dieses Ganze versenkt, nicht um es auf Begriffe und Regeln zu bringen, sondern um es zu empfinden und nachzuleben, umso deutlicher drängt sich ihm auf, daß kein einzelner abstrakter Maßstab, kein einförmiger sittlicher Norm- und Idealbegriff seinen Gehalt auszuschöpfen vermag. Jedes Welt- und Zeitalter, jede Epoche und Nation hat das Maß ihrer Vollendung und ihrer "Vollkommenheit" in sich selbst. Hier gilt kein "Vergleich" zwischen dem, was sie sind und wollen; keine Heraushebung gemeinsamer Züge, in den gerade das Charakteristische, das, was das Besondere erst zur lebendigen Einzelheit macht, ausgelöscht und vernichtet ist. Wie der Lebensinhalt des Kindes nicht an dem des Mannes oder Greises gemessen werden kann, sondern in sich selbst den Mittelpunkt seines Seins und Wertes besitzt, so gilt das Gleiche für das geschichtliche Leben der Völker. Der Gedanke der immer weiterschreitenden intellektuellen und sittlichen "Perfektibilität" des Menschengeschlechts ist nichts als eine hochmütige Fiktion, kraft deren das jeweilig letzte Zeitalter sich berechtigt glaubt, auf alle früheren, als verlassene und überwundene Bildungsstufen, herabzusehen. Das wahre Bild der Geschichte aber erfassen wir erst, wenn wir es mit all seinem Glanz, all seiner Buntheit, und eben damit mit all der unreduzierbaren Mannigfaltigkeit seiner einzelnen Züge auf uns wirken lassen.
Sofern freilich HERDERs Werk nicht selbst Geschichte, sondern Philosophie der Geschichte sein will: sofern werden auch in ihm, durch die unendliche Vielfältigkeit des Geschehens bestimmte teleologische Leit- und Richtlinien gelegt. Ein "Plan" der Vorsehung ist es, der sich auch für HERDER im fortschreitenden Gang der Geschichte enthüllt; aber dieser Plan bedeutet keinen äußeren Endzweck, der dem Geschehen gesetzt ist, und kein allgemeines Ziel, in dem alle besonderen aufgehen. Vielmehr ist es die durchgängige individuelle Gestaltung selbst, in welcher schließlich die Form der Totalität gewonnen wird, in der der Gedanke der Menschheit seine konkrete Erfüllung findet. Im Wechsel von Begebenheiten und Szenen, von Völkerindividualitäten und Völkerschicksalen, vom Aufgang und Niedergang bestimmter geschichtlicher Daseinsformen steht zuletzt ein Ganzes vor uns, das sich jedoch nicht als losgelöstes Ergebnis aus all diesen Momenten, sondern nur als ihr lebendige Inbegriff selbst erfassen läßt. Über die Anschauung dieses Inbegriffs fragt HERDER nicht hinaus. Wer ihn besitzt, dem hat die Geschichte ihr Geheimnis erschlossen; der bedarf keiner außer ihr gelegenen Norm mehr, die sie ihm deutet und erklärt. Wenn KANT somit, um den Sinn der Geschichte zu erfassen, der abstrakten Einheit eines ethischen postulats bedarf, wenn er in ihr die immer vollkommenere Lösung einer unendlichen Aufgabe sieht: so verweilt HERDER bei ihrer reinen Gegebenheit; - wenn jener das Geschehen, um es sich innerlich verständlich zu machen, auf ein intelligibles "Sollen" projizieren muß, so bleibt HERDER gleichsam in der Ebene des reinen "Werdens" stehen. Der ethischen Weltansicht, die auf dem Dualismus von "Sein" und "Sollen", von "Natur" und "Freiheit beruth, steht in voller Schärfe die organische und dynamische Naturansicht gegenüber, die beide als Momente ein und derselben Entwicklung zu begreifen sucht. Nur wenn man sie aus dem Gesichtspunkt dieses fundamentalen geistesgeschichtlichen Gegensatzes betrachtet, vermag man den beiden Rezensionen KANTs über HERDERs "Ideen" gerecht zu werden.
Es ist das tragische Schicksal HERDERs gewesen, daß er, der der Entwicklung, die KANT und die kritische Philosophie seit den sechziger Jahren genommen hatte, nicht zu folgen vermochte, sich zu dieser Betrachtung nicht erhoben hat, und daß sich ihm infolgedessen der Streit mit KANT mehr und mehr ins Kleinlich-Persönliche verschob. Was dagegen KANT betrifft, so ist er freilich - wenn in geistigen Kämpfen dieser Art überhaupt von "Schuld" und "Unschuld" die Rede sein kann - nicht völlig von dem Verschulden frei zu sprechen, daß er in der Überlegenheit, die ihm seine kritische Analyse der Grundbegriffe gegeben hat, sich der großen Gesamtanschauung verschloß, die in HERDER, bei allen begrifflichen Mängeln seiner geschichtsphilosophischen Deduktionen, überall lebendig war. Er, der vor allem auf die Strenge der Beweisführung, auf die genaue Ableitung der Prinzipien und auf die scharfe Scheidung ihrer Geltungssphäre gesehen hat, vermochte in HERDERs Methodik nichts anderes zu erblicken, als
"eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazität [Scharfsinn - wp], im Gebrauch derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkler Form gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen, die, als Wirkungen von einem großen Gehalt der Gedanken oder als vielbedeutende Winke mehr von sich vermuten lassen, als kalte Beurteilung wohl geradezu in derselben antreffen würde."
Unerbittlich forderte der philosophische Kritiker und Analytiker auch hier den Verzicht auf jede Form des methodischen "Synkretismus" [Vermischung verschiedener philosophischer Lehren - wp] (7) - ein Verzicht, der freilich auch die eigentümlichsten persönlichen Vorzüge von HERDERs Betrachtungsweise hätte aufheben müssen. (8) Denn eben darin besteht diese Betrachtungsweise, daß sie beständig von der Anschauung unmittelbar zum Begriff und vom Begriff zur Anschauung übergeht, - daß HERDER als Poet Philosoph, als Philosoph Poet ist. Die Gereiztheit, mit der er nunmehr den Kampf gegen KANT aufgenommen hat und die wachsende Verbitterung, mit der er ihn führte, wird daraus erklärlich: er fühlte und wußte, daß es nicht eine Einzelfrage war, die hier zur Entscheidung kommt, sondern daß sein Wesen und seine eigenste Begabung durch die theoretischen Grundforderungen KANTs in Frage gestellt war.
Was die beiden kantischen Rezensionen von HERDERs "Ideen" betrifft, so kommt in ihnen freilich der Gegensatz noch nicht zur vollständigen Entwicklung. Denn solange die Grundlegung der Ethik von KANT noch nicht vollzogen, solange sein Freiheitsbegriff noch nicht zu endgültiger Klärung gelangt war, fehlte es für diese Entwicklung an einer der wesentlichen Voraussetzungen. Zwar hatte bereits die "Kritik der reinen Vernunft" den Begriff der Freiheit aufgestellt und die Antinomie zwischen Freiheit und Kausalität erörtert; aber es war hier doch im Ganzen nur bei einer rein negativen Bestimmung des Inhalts des Freiheitsgedankens geblieben. Erst mit der "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" vom Jahr 1785 setzt der Fortgang zu einer neuen positiven Betrachtung ein: eine Betrachtung, die dazu bestimmt war, den ganzen bisherigen Gegensatz von "Determinismus" und "Indeterminismus" an dem die "Kr. d. r. V. noch hängen zu bleiben schien, endgültig aus den Angeln zu heben. Von hier aus ergibt sich erst, was die geschichtsphilosophischen Abhandlungen des Jahres 1784 und 1785 innerhalb des Ganzen von KANTs Tätigkeit als philosophischer Schriftsteller bedeuten. Sie stellen die Verbindung mit einem ganz neuen Problemkreis her, auf den sich fortan das systematische Interesse immer stärker konzentriert. Der kantische Begriff der Geschichte stellt nur ein einzelnes konkretes Beispiel für einen Komplex von Fragen auf, die ihren eigentlichen Mittelpunkt sämtlich im Begriff der "praktischen Vernunft" finden, zu dessen näherer Bestimmung KANT nunmehr fortschreitet.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin 1921
Anmerkungen
1)
Sie ist am ausführlichsten behandelt von Emil Arnoldt, Vergleichung der Garveschen und der Federschen Rezension über die Kritik der reinen Vernunft (Arnoldts Gesammelte Schriften, Bd. IV, Seite 1f); siehe auch Albert Stern, Über die Beziehungen Christian Garves zu Kant, Leipzig 1884.
2)
Siehe Johannes Voigt, Das Leben des Professor Christian Jakob Kraus, Königsberg 1819, Seite 87.
3)
siehe Kr. d. r. V., zweite Auflage, Seite 333 (Werke III, 237f); näheres zu Kants dynamischer Konstruktion der Materie bei August Stadler, Kants Theorie der Materie, Leipzig 1883.
4)
Siehe Schiller an Körner, vom 29. August 1787.
5)
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Werke IV, Seite 151-166.
6)
Ideen zu einer allgemeinen Geschichte etc. (IV, 165f).
7)
Vgl. Kants Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. August 1789 (Werke IX, 431f).
8)
Näheres über den Kampf Herders gegen Kant in der vortrefflichen Darstellung von Eugen Kühnemann, Herder, 2. Auflage, Seite 383f.
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