ra-2Felix DahnEmil LaskJulius von KirchmannGustav von RümelinOtto Gierke  
 
RUDOLF von JHERING
Der Zweck im Recht
(3/7)
VIII. Der Zwang (1)

    I. Das Zweckgesetz
II. Der Zweckbegriff beim Tier
VII. Der Lohn
VIIIa. Der Zwang 1 - Das Tier / Der Mensch
VIIIb. Der Zwang 2 - Das Recht
VIIIc. Der Zwang 3 - Unterordnung der Staatsgewalt
VIIId. Der Zwang 4 - Der Zweck des Rechts

"Gewalt ist die Behauptung des eigenen Zweckes mittels prinzipieller Negierung und tatsächlicher Unterdrückung des fremden, Zwang, die durch die Einsicht und die dadurch bewirkte Nachgiebigkeit des Bedrohten hergestellte Verträglichkeit beider Zwecke."

"Die Geschichte der Gewalt auf Erden ist die Geschichte des menschlichen Egoismus."

"Wer die Rechtszustände eines Volkes bis zu ihren letzten Ursprüngen verfolgen will, wird in unzähligen Fällen bei der Gewalt des Stärkeren anlangen, die dem Schwächeren das Recht gesetzt hat."

"... die Entstehung des Rechts aus der Macht des Stärkeren, die im eigenen Interesse sich selber durch die Norm beschränkt."

"Das Recht ist nicht das Höchste in der Welt, nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel zum Zweck, der Endzweck desselben ist das Bestehen der Gesellschaft."

"Die Völker jener Stufe ... haben das instinktive Verständnis gehabt, daß es in wilder Zeit der eisernen Faust bedürfe, um den widersetzlichen Willen zur Gemeinsamkeit des Handelns zu #zwingen, des Löwen, um die Wölfe zu bändigen, und sie haben keinen Anstoß daran genommen, daß er die Schafe und Lämmer gefressen hat."

"Zu einem Problem (wurde die Vertragstheorie) lediglich dadurch, daß man bei ihr das Zweckmoment: die Verkehrsfunktion des Versprechens, völlig aus den Augen verlor und die Frage lediglich aus der Natur des Willens zu beantworten versuchte, aber nicht des Willens, der in der Welt etwas erreichen will und sich zu dem Zweck auch der richtigen Mittel bedient und sich den Konsequenzen unterwirft, die durch sein eigenes Wollen geboten sind, sondern des Willens, der von den Bedingungen seines eigenen Wollens nichts weiß, er im nächsten Moment, nachdem er den Vertrag geschlossen, vergessen hat, daß der Erfolg seines Wollens nicht durch vorübergehendes, sondern durch dauerndes Wollen bedingt ist."

"Das Recht ist die Organisation des Zwangs."

Der zweite Hebel der gesellschaftlichen Ordnung ist der Zwang. Die soziale Organisation des Lohnes ist der Verkehr, die des Zwanges der Staat und das Recht; erst mit ihr erlangt erstere ihren vollen Abschluß, - der Lohn muß das Recht hinter sich haben.

Unter Zwang im weiteren Sinn verstehen wir die Verwirklichung eines Zweckes mittels Bewältigung eines fremden Willens, der Begriff des Zwanges setzt aktiv wie passiv ein Willenssubjekt, ein lebendes Wesen voraus. Eine solche Bewältigung des fremden Willens ist in doppelter Weise möglich. Auf  mechanischem  Wege (mechanischer, physischer Zwang), indem der Widerstand, den der fremde Wille unseren Zwecken entgegensetzt, durch das Aufgebot einer der seinigen überlegenen physischen Kraft gebrochen wird - ein rein äußerlicher Vorgang, ganz derselben Art, wie wenn der Mensch einen leblosen Gegenstand, der ihm im Wege steht, aus dem Wege räumt. Die Sprache bezeichnet den Vorgang in beiden Fällen als  Gewalt,  aber für die Anwendung der Gewalt auf ein lebendes Wesen gebraucht sie daneben auch den Ausdruck  Zwang,  offenbar im Hinblick darauf, daß die Gewalt, wenn auch zunächst nur den Körper, doch mittelbar auch den Willen trifft, da sie ihn in seiner freien Selbstbestimmung hindert. In diesem Sinne spricht sie z. B. von einer Zwangsjacke beim Wahnsinnigen, einer Zwangsvollstreckung, Zwangsversteigerung.

Dem mechanischen Zwange steht gegenüber der  psychologische,  bei dem der Widerstand des fremden Willens von innen heraus in ihm selber überwunden wird; in welcher Weise, haben wir an angegebener Stelle auseinandersetzt. Bei dem mechanischen Zwange wird der Akt durch den Zwingenden, bei dem psychologischen durch den Gezwungenen vorgenommen, dort handelt es sich darum, negativ den Widerstand des Willens zu brechen, hier darum, denselben positiv in Bewegung zu versetzen, ein Unterschied, der zwar für den äußeren Erfolg ohne Einfluß, in psychologischer wie juristischer Beziehung aber von hoher Bedeutung ist. Ein Beispiel gewährt der Raub und die erzwungene Eigentumsübertragung.

Nach der Verschiedenheit des zu erreichenden Zweckes, je nachdem derselbe nämlich negativer oder positiver Art ist, ist der Zwang ein  propulsiver  oder  kompulsiver.  Jener hat zum Zweck die Abwehr, dieser die Vornahme eines gewissen Handelns. Die Selbstverteidigung ist propulsiver, die Selbsthilfe compulsiver Art.

Das ist das Schema des Zwanges, das wir der folgenden Betrachtung glaubten vorausschicken zu müssen. Letztere hat zum Gegenstand die Organisation des Zwanges für die Zwecke der Gesellschaft. Sie beruht auf der Verwirklichung zweier Begriffe: des  Staates  und des  Rechts  - der Herstellung der  Macht welche die Zwangsgewalt ausübt, und der Aufstellung von  Regeln  über die Ausübung derselben.

Mit diesem organisiertem Zwange ist aber die Verwendung des Zwanges für die Zwecke der Gesellschaft in keiner Weise erschöpft. Neben dem  staatlichen  Zwange besteht noch ein anderer, unorganisierter, der wie er historisch jenem überall vorausgegangen ist, so auch überall sich neben ihm behauptet hat zu seinem Objekt die Verwirklichung des  Rechts,  der soziale die des  Sittlichen;  die Theorie des Sittlichen wird bei Gelegenheit der letzteren Frage die Gestaltung desselben zur Anschauung bringen ( soziales  Zwangssystem).

Ich werde im Folgenden den Versuch machen, die beiden Begriffe Staat und Recht bis auf ihre ersten begrifflichen Anfänge zu verfolgen und in derselben Weise, wie ich dies bei dem System des Verkehrs in Bezug auf den Lohn getan habe, die Genesis derselben, wie sie sich aus der praktischen Triebkraft des Zweckbegriffs mit Notwendigkeit ergibt, darzulegen versuchen. Der Gewinn, den ich mir davon verspreche, ist in meinen Augen ein doppelter, zum ersten die Überzeugung von der Kontinuität der Entfaltung des Zweckgedankens in der menschlichen Gesellschaft, zum zweiten die Förderung der Erkenntnis des fertigen Staats und Rechts.

Es ist zweifellos ein großer Fortschritt der Rechtsphilosophie gegenüber dem frühern Naturrecht, daß sie die Bedingtheit des Rechts durch den Staat erkannt und energisch betont hat. Aber zu weit geht sie, wenn sie, wie insbesondere HEGEL dies tut, dem vorstaatlichen Zustande alles wissenschaftliche Interesse abspricht. Das selbständige Dasein des lebenden Wesens datiert erst von der Geburt an, aber die Wissenschaft geht über dieselbe bis zu den ersten Ansätzen des Lebens im Mutterschoße zurück, und die Entwicklungsgeschichte des Embryo hat sich für sie als eine der fruchtbarsten und lehrreichsten Quellen der Erkenntnis erwiesen.

Darum darf und soll man der Wissenschaft auch beim Recht nicht verwehren, den embryonalen Zustand desselben zum Gegenstand der Untersuchung zu machen, und es gereicht den Naturrechtslehrern zum Ruhm, daß sie sich bei der bloßen Tatsächlichkeit des Rechts und Staats nicht beruhigten, sondern sich die Frage aufwarfen: woher beide? Aber die Art, wie sie das Problem lösten, indem sie den historischen Staat aus dem Vertrage hervorgehen ließen, war eine verfehlte, eine reine Konstruktion ohne Berücksichtigung der wirklichen Geschichte, eine Entwicklungsgeschichte, die sich nicht die Mühe nahm, die Entwicklung selber zu erforschen. Gegen eine solche Lösung des Problems war der Widerspruch, den die moderne Rechtsphilosophie ihr entgegenstellte, vollkommen berechtigt. Aber das Problem selber ist damit nicht beseitigt, es behält seinen vollen Anspruch auf Lösung bei, und wenn der vergleichende Rechtshistoriker und der Philosoph sich die Hand reichen, so dürfte mit der Zeit die Entwicklungsgeschichte des Rechts für uns Juristen nicht minder lehrreich werden, als die des Fötus für den vergleichenden Anatomen geworden ist.

Der äußerste Anfang, bis zu dem unsere Untersuchung zurückzugehen hat, reicht beim Zwange weiter zurück als beim Lohn. Der Lohn beginnt erst beim Menschen, der Zwang schon beim Tier, das Tier zeigt uns ihn in seiner niedersten, der Staat in seiner höchsten Form; versuchen wir, ob wir den Abstand zwischen beiden durch eine ununterbrochene Kette von Mittelgliedern auszufüllen vermögen.


1. Das Tier

Die Gewalt.  Den Begriff der Gewalt wenden wir gleichmäßig auf unbelebte wie belebte Körper an, wir sprechen von einer Gewalt des Sturmes, Meeres, des fallenden Körpers und von einer Gewalt, die ein Tier dem andern zufügt. Äußerlich gleich, sind die Vorgänge innerlich doch völlig verschieden. Wenn der Sturm den Baum entwurzelt, oder das Meer die Dämme durchbricht, so vollzieht sich darin nur das Kausalitätsgesetz; wenn aber das eine Tier das andere überwindet, es tötet oder verzehrt, so tut es das um eines Zweckes willen, der Vorgang fällt nicht unter das Kausalitäts-, sondern das Zweckgesetz. Der Zweck aber, dem die Gewalt beim Tiere dient, ist derselbe, wie in der Menschenwelt: Erhaltung und Behauptung des eigenen Lebens. Diesen Zweck verfolgt sie beim Tier, beim Menschen, beim Staat. Der Erfolg der Gewalt ist bedingt durch das Übergewicht der Macht - in der ganzen Schöpfung lebt der Stärkere auf Kosten des Schwächeren. Aber ein Anlass zur Anwendung der Gewalt ist nur da geboten, wo ihre beiderseitigen Lebensbedingungen miteinander kollidieren, und wo der Schwächere es nicht vorzieht, die seinigen denen des Mächtigeren unterzuordnen. Das führt uns auf den Zwang.

Der psychologische Zwang.  Gegenüber der Gewalt bezeichnet er einen ganz immensen Fortschritt. Der leblose schwächere Körper kann dem Stoß des stärkeren Körpers nicht ausweichen, aber das schwächere Tier kann dem stärkeren durch die Flucht entrinnen und dadurch, daß es dem Gegner die Bahn, die derselbe ihm streitig macht, offen läßt, sein eigenes Leben behaupten. Ein Tier, ein Mensch, ein Volk, welches dem mächtigeren ausweicht, stellt dadurch, daß es seine Lebensbedingungen den fremden unterordnet, einen modus vivendi zwischen sich und dem anderen her. So gestaltet sich die Nachgiebigkeit gegen den Zwang für den Gezwungenen zu einem Mittel der Selbstbehauptung; der schwächere Hund, der, ohne den Kampf abzuwarten, dem stärkeren den Knochen überläßt, opfert den Knochen, um sein Leben zu behaupten. Gewalt ist die Behauptung des eigenen Zweckes mittels prinzipieller Negierung und tatsächlicher Unterdrückung des fremden, Zwang, die durch die Einsicht und die dadurch bewirkte Nachgiebigkeit des Bedrohten hergestellte Verträglichkeit beider Zwecke. Daß das Tier den Grad der Einsicht hat, um die bloße Drohung von Seiten eines anderen zu verstehen und ihr auszuweichen, ist in den Händen der Natur eines der wirksamsten Mittel geworden, die Koexistenz des Schwächeren mit dem Stärkeren zu ermöglichen - dem Schwachen, dem sie die Kraft versagt, den Angriff zu bestehen, gibt sie als Ersatz die Einsicht, sich ihm zu entziehen.

Der Fall des Zwanges, den wir im Bisherigen vor Augen hatten, haben wir oben als propulsiven Zwang bezeichnet, und er überwiegt in der Tierwelt in dem Maße, daß man in Versuchung kommen möchte, ihn für den einzigen zu halten. Aber auch die Tierwelt kennt einzelne Fälle des kompulsiven Zwanges. Der interessanteste fall ist der der Raubzüge der Ameisen, bei denen der eine Stamm, in Schlachtordnung aufgestellt, geleitet von seinen Zugführern, gegen einen fremden Stamm zu Felde zieht; den Besiegten trifft nicht das Loos der Vernichtung, sondern der Sklaverei, die besiegten Feinde werden von den Siegern gezwungen, für sie die Arbeit zu verrichten.


2. Der Mensch - die Selbstbeherrschung der Gewalt

Leben des Stärkeren auf Kosten des Schwächeren, Vernichtung des letzteren im Konflikt mit ersterem, das ist die Gestalt des Zusammenlebens in der Tierwelt - gesichertes Dasein auch des Schwächsten und Ärmsten neben dem Stärksten und Mächtigsten, das die Gestalt desselben in der Menschenwelt. Und doch hat der Mensch historisch keinen anderen Ausgangspunkt vorgefunden, als das Tier; aber die Natur hat ihn so ausgestattet, daß er im Laufe der Geschichte sich zu jener Stufe nicht bloß hat erheben können, sondern müssen. Wenn das Spiel der Weltgeschichte sich hundert und tausend Mal erneuerte, immer würde die Menschheit an demselben Punkt wieder anlangen, auf dem wir sie jetzt finden: beim Recht - der Mensch kann nicht anders, als einen Zustand herstellen, bei dem eine Gemeinschaft des Lebens möglich ist.

Die Geschichte der Gewalt auf Erden ist die Geschichte des menschlichen Egoismus, die Geschichte desselben aber besteht darin, daß er gewitzigt wird und lernt. In Bezug auf die Verwendung der Gewalt für seine Zwecke betätigt sich dieses Lernen daran, daß er zur Einsicht gelangt, wie er die Gewalt zu benutzen hat, um die fremde Kraft nicht bloß unschädlich, sondern sich nutzbar zu machen. Auf jeder Stufe, auf der er sich befindet, der niedersten wie der höchsten, geleitet durch das eigene Interesse, dient dem Menschen die zunehmende Einsicht eben so sehr dazu, die Gewalt zu steigern, als sie zu mäßigen; die Menschlichkeit, zu der er sich erhebt, ist ihrem ersten Ursprung nach nichts als die durch das wohlverstandene eigene Interesse diktierte Selbstbeherrschung der Gewalt.

Der erste Schritt auf dieser Bahn war die Sklaverei. Der Sieger, welcher den überwundenen Feind, anstatt ihn abzuschlachten, am Leben ließ, tat es, weil er begriff, daß ein lebender Sklave wertvoller ist, als ein toter Feind, er schonte ihn aus demselben Grunde, warum der Eigentümer es beim Haustier tut. Aber wenn auch das Motiv ein rein egoistisches war, - einerlei, gesegnet sei der Egoismus, der den Wert des Menschenlebens erkannte, und anstatt dasselbe in wilder Wut zu zerstören, Selbstbeherrschung genug besaß, es sich und damit der Menschheit zu erhalten. Erkenntnis des ökonomischen Wertes des Menschenlebens ist der erste Ansatz zur Menschlichkeit in der Geschichte gewesen. Die Römer nennen den Sklaven "homo" - es ist der Mensch, der weiter nichts ist, als Mensch, d. h. Tier, Arbeitsvieh, nicht Rechtssubjekt (persona) - denn das ist nur der Bürger - aber dieser "homo" bezeichnet trotzdem die erste Erhebng der Menschheit zur Menschlichkeit; in der Sklaverei löst sie zuerst das Problem der Koexistenz des Mächtigen und des Schwachen, des Siegers und des Besiegten.

Im Laufe der Zeit findet sie mildere Formen - das Los des Schwachen dem Mächtigen gegenüber wird im Fortschritt der geschichtlichen Entwicklung ein immer milderes. Das besiegte Volk wird nicht in die Sklaverei geführt, es zahlt Tribut, es kauft sich los, es wird dem siegenden Volk mit niederem und schließlich mit gleichem Recht einverleibt, kurz, der Kampf endet mit einem Vertrage, welcher das Verhältnis beider Teile regelt und den Schwächeren als  Freien  bestehen läßt: dem  Frieden  (pacisci = sich vertragen, pax = der Friede). Der Frieden involviert die Anerkennung der Freiheit in der Person des Gegners - mit dem Sklaven schließt man keinen Vertrag. Was bestimmte den Mächtigen, bevor der Gegner als Sklave zu seinen Füssen lag, das Schwert in die Scheide zu stecken und ihm billige Bedingungen zu gewähren? Die Menschlichkeit? Es war keine andere Menschlichkeit, als dieselbe, welche ihn vermochte, den unterworfenen Feind am Leben zu lassen, d. h. sein eigenes Interesse. Der Aussicht auf den wahrscheinlichen, vielleicht völlig sicheren Sieg bei fernerer Fortsetzung des Kampfes stellte sich bei ihm die Rücksicht auf den Preis entgegen, um den er erkauft werden mußte, die Frage von der Fortsetzung des Kampfes gestaltete sich für ihn zu der reinen Interessenfrage: ist das Mehrere, teuer erkauft, vorteilhafter, als das Mindere, billig erkauft, lohnt die Steigerung des Gewinns die Steigerung der Kosten? Um einen Körper auf ein Volumen von x Zoll zu komprimieren, kann eine Kraftanstrengung von y ausreichend sein, aber um ihn auf x - 1 zu bringen, ist vielleicht y + 10 erforderlich - lohnt der Gewinn von 1 den Kraftaufwand von 10? Das ist der Ansatz des Rechenexempels für jeden erfolgreichen Feind; besitzt er Selbstüberwindung genug, um statt der Leidenschaft einer verständigen Erwägung Raum zu schenken, so wird er in seinem eigenen Interesse es vorziehen, den Gegner nicht durch unannehmbare Bedingungen zu einem Verzweiflungskampf zu reizen, der ihm selber Anstrengungen und Opfer in Aussicht stellt, die zu dem zu erzielenden Gewinne in keinem Verhältnis stehen. Die Übertreibung des Druckes über dies erträgliche Maß hinaus rächt sich durch Rückschlag; es bedarf nicht der Menschlichkeit, um die Gewalt zur Innehaltung des richtigen Maßes zu vermögen, die bloße Politik reicht aus.

Wir haben damit den Weg angegeben, auf dem die Gewalt ohne Zuhilfenahme eines anderen Motivs als ihres eigenen Interesses zum Recht gelant. Die Form, in der das Recht hier in die Erscheinung tritt, ist, wie bereits bemerkt, der  Friede:  die Beilegung des Kampfes durch Herstellung eines modus vivendi, den beide Teile als für sich verbindlich anerkennen. Die Gewalt setzt sich damit ein Maß, das sie beachten, sie erkennt eine Norm an, der sie sich unterordnen will, und diese von ihr selbst genehmigte Norm ist das  Recht.  Ob sie dieselbe tatsächlich beobachtet, ist für die Bedeutung des Vorganges, der sich damit vollzogen hat, gleichgültig, sie kann das Recht mit Füßen treten, ganz so schalten und walten, wie bisher, aber das Recht ist einmal von ihr in die Welt gesetzt, und diese Tatsache kann sie nicht mehr ungeschehen machen. Sie hat damit eine Richtschnur für ihr Handeln aufgestellt und einen Maßstab zur Beurteilung ihrer selbst gegeben, der ihr früher fremd war; tritt sie ihr selbstgeschaffenes Werk mit Füßen, so ist es nicht mehr die  Gewalt,  die dies tut, sondern die  Willkür,  d. i. die Gewalt, die sich gegen das Recht auflehnt.

Der Hergang, den wir hier gezeichnet haben, macht den Eindruck einer aprioristischen Konstruktion, in Wirklichkeit aber ist er entnommen einer Betrachtung der Geschichte. Auf völkerrechtlichem Gebiete wiederholt er sich in jedem Frieden. Jeder Friede setzt an die Stelle des bisherigen Kampfes der Gewalt das Recht. Das Moti, das den Sieger dazu bestimmt, ist das oben angegebene: das Recht löst die Gewalt ab, die ihrer selber wegen der Ruhe begehrt und auf weitere Vorteile verzichtet, die in keinem Verhältnis zu den aufgewendeten Mitteln stehen. Eine nicht geringere Bedeutung hat der Vorgang auch für die Bildung des Rechts im Innern der Staaten, sowohl des öffentlichen, wie des Privatrechts. Wer die Rechtszustände eines Volkes bis zu ihren letzten Ursprüngen verfolgen will, wird in unzähligen Fällen bei der Gewalt des Stärkeren anlangen, die dem Schwächeren das Recht gesetzt hat. Die Entstehungsweise des Rechts aus der Gewalt auf dem Wege der Selbstbeschränkung hat nicht bloß ein historisches, sondern ein eminent rechtsphilosophisches Interesse. Es ist ein Fehler, der in meinen Augen unsere ganze moderne Auffassung in allen ethischen Dingen charakterisiert, daß sie, im Besitz der durch vieltausendjährige Arbeit gewonnenen Einrichtungen, Anschauungen und Begriffe, die eigene ethische Anschauung auf die Vergangenheit überträgt. Dies gilt auch von ihrer Auffassung des Verhältnisses zwischen Recht und Gewalt. Sie kann sich allerdings der Wahrnehmung nicht entziehen, daß das tatsächliche Verhältnis zwischen beiden, das sie vor Augen hat, nicht immer bestanden hat, aber die so nahe liegende Frage, ob dem verschiedenen äußeren Verhältnis in früherer Zeit nicht eine verschiedene innere Auffassung entsprochen habe, wirft sie sich nicht auf. Sie kann es sich nicht denken, daß dasjenige, was ihr als völlig zweifellos, selbstverständlich gilt, jemals dem Menschen in einem andern Licht habe erscheinen können. Mag er immerhin, meint sie, die Wahrheit noch nicht in voller Klarheit erkannt haben, jedenfalls hat ihm bereits eine unvollkommene Vorstellung, ein dunkles Gefühl davon inne gewohnt - die "Idee" des Rechts hat schon damals ihr Werk begonnen, und so vielfältig auch die Hindernisse gewesen sein mögen, auf die sie in ihrer geschichtlichen Verwirklichung gestoßen ist, immer war doch sie es, welchen den Menschen in Bewegung gesetzt und unaufhaltsam weiter getrieben hat, kurz, der historische Fortschritt des Rechts ist kein  qualitativer,  sondern  gradueller.  Daß Recht und Gewalt Gegensätze sind, daß die Gewalt sich dem Rechte unterzuordnen hat - das hat der Mensch von allem Anfang an richtig gefühlt, sein angeborenes Rechtsgefühl hat es ihn gelehrt. Und wenn die Gewalt im Laufe der Geschichte sich dem Recht gefügt hat, so hat dies seinen letzten Grund in der zwingenden Macht der Idee des Rechts über das menschliche Gemüt.

Das ist das Bild der Entwicklungsgeschichte des Rechts, wie die landläufige Auffassung es sich ausmalt. Aber dieses Bild ist nichts als eine Projektion unserer heutigen Ideen der Vergangenheit - die Geschichte weist ein gänzlich anderes auf. Nicht der ethischen Überzeugung von seiner Hoheit und Majestät verdankt das Recht den Platz, den es in der heutigen Welt einnimmt, sie ist das endliche Resultat eines langen Entwicklungsprozesses, aber nicht der Beginn desselben. Der Beginn ist der nackte Egoismus, der erst im Laufe der Zeit der sittlichen Idee und der sittlichen Gesinnung Platz macht. Wie letztere aus ihm hat hervorgehen können, wird bei der Gelegenheit des Sittlichen gezeigt werden; hier handelt es sich lediglich um den Nachweis, daß er ohne ihre Beihilfe zum Recht hat gelangen können.

Das Problem, das der Egoismus zu lösen hat, besteht darin, die beiden Momente, welche den Begriff des Rechts ausmachen: die Norm und die Gewalt zusammen zu bringen, und dies ist auf doppeltem Wege möglich:  die Norm gelangt zur Gewalt - die Gewalt zur Norm. 

Der erste Weg ist derjenige, den ich noch genauer darlegen werde. Die Gemeinsamkeit des Interesses aller an der Herstellung der Ordnung ruft die Norm ins Leben, und das Übergewicht der Machtmittel aller über denen des Einzelnen sichert ihr die zu ihrer Behauptung gegen den Widerstand des Einzelnen erforderliche Macht. Die privatrechtliche Form des Verhältnisses ist die Sozietät: Vereinigung der Gleichen zu gemeinsamem Zweck und praktische Behauptung desselben gegen das Partikularinteresse des Einzelnen. Die staatsrechtliche Form desselben ist die  Republik.  Ihr Ausgangspunkt ist nicht das Dasein einer von vornherein gegebenen Macht, wie im zweiten Fall, sondern das Erste ist hier die Norm, die Macht erst das Zweite. Der andere Weg ist der oben angegebene: die Gewalt das Erste, die Norm das Zweite - die Entstehung des Rechts aus der Macht des Stärkeren, die im eigenen Interesse sich selber durch die Norm beschränkt.

Das sind die beiden Wege, auf denen der Egoismus durch die zwingende Macht seiner selbst zum Recht gelangt, zwei der vielen, die von seinem Gebiet in das Reich des Sittlichen führen. Sich selber dienend, arbeitet er hier wie sonst, ohne es zu wissen und zu wollen, an der Herstellung der sittlichen Ordnung, baut er das Gebäude des Rechts, in das demnächst, wenn er sein Werk verrichtet, der sittliche Geist einzieht, um darin sein Reich aufzuschlagen. Er könnte es nicht, wenn der Egoismus es ihm nicht fertig gestellt hätte - der sittliche Geist tritt stets erst an zweiter Stelle auf, an der ersten, wo es gilt, die grobe Arbeit zu verrichten, steht überall der Egoismus, - er allein hat die Hände danach, sie zu beschaffen.

Der Egoismus ist es, welcher, wie oben gezeigt, iun unserem zweiten Fall die Gewalt zum Recht führt. Sie gelangt zu demselben nicht als zu etwas ihr Fremdem, das sie von außerhalb vom Rechtsgefühl entlehnen, und nicht als zu etwas Höherem, dem sie im Gefühl ihrer Inferiorität sich unterordnen müßte, sondern sie treibt das Recht als Mass ihrer selbst aus sich heraus - das Recht als  Politik der Gewalt.  Sie selber dankt also nicht als Gewalt ab, um dem Recht den Sitz einzuräumen, sondern sie behält ihren Sitz inne und fügt das Recht nur als ein accessorische Moment ihrer selbst sich bei - die  rechte Gewalt.  Es ist das entgegengesetzte Verhältnis von dem heutigen, das wir als die  Herrschaft des Rechts  bezeichnen; hier bildet die Gewalt das accessorische Moment des Rechts. Aber auch auf dieser Entwicklungsstufe des Rechts dreht sich mitunter das Verhältnis beider um, die Gewalt kündigt dem Recht den Gehorsam auf und setzt selber ein neues Recht: die Staatsstreiche der Staatsgewalt, die Revolution von oben, das Gegenstück zu der von unten. Dort ist es die organisierte, hier die unorganisierte Gewalt, welche sich gegen das bestehende Recht auflehnt. Die Rechtstheorie hat es leicht, diese Akte zu verdammen, aber gerade diese Störung des normalen Verhältnisses sollte ihr Anlaß bieten, letzteres einmal mit anderen Augen anzusehen, als sie es gewohnt ist. Das Recht ist nicht das Höchste in der Welt, nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel zum Zweck, der Endzweck desselben ist das Bestehen der Gesellschaft. Zeigt es sich, daß die Gesellschaft bei dem bisherigen Rechtszustande nicht zu bestehen vermag, und ist das Recht nicht im Stande, dem Abhilfe zu gewähren, so greift die Gewalt ein und tut, was geboten ist - es sind die Notstände im Leben der Völker und Staaten. Im Notstande hört das Recht auf, wie im Leben des Individuums, so auch im Leben der Völker und Staaten. Für jenen Fall ist dies vom Recht selber anerkannt (1), und bis zu einem gewissen Grade ist dies selbst für den letzteren iun manchen Verfassungen geschehen. Im Notstande ward in Rom ein Diktator ernannt, die Garantien der bürgerlichen Freiheit wurden beseitigt, das Recht trat zurück und die unbeschränkte militärische Gewalt an die Stelle derselben. Entsprechende Maßregeln der heutigen Zeit sind das Recht der Staatsgewalt zur Verkündigung des Belagerungszustandes und zum Erlaß provisorischer Gesetze ohne Mitwirkung der Stände - Sicherheitsventile, welche der Staatsgewalt ermöglichen, auf dem Wege des Rechtens der Not Abhilfe zu gewähren. Aber die Staatsstreiche wie die Revolutionen bewegen sich nicht mehr auf dem Boden des Rechts, es würde einen Widerspruch des Rechts mit sich selber enthalten, sie zu gestatten, vom Standpunkt des Rechts aus sind sie schlechthin zu verdammen. Wäre dieser Standpunkt der höchste, so wäre damit das Urteil über sie besiegelt. Aber über dem Recht steht das Leben, und wenn die Lage in Wirklichkeit eine solche ist, wie wir hier voraussetzen, ein politischer Notstand, der sich zu der Alternative zuspitzt: das Recht oder das Leben, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein - die Gewalt opfert das Recht und rettet das Leben. Es sind die  rettenden Taten  der Staatsgewalt. In dem Moment, wo sie begangen werden, Schrecken und Entsetzen verbreitend und von den Männern des Rechts als sträflicher Frevel gegen die Heiligkeit des Rechts gebrandmarkt, bedürfen sie oft nur weniger Jahre oder Dezennien, bis der Staub, den sie aufgewirbelt haben, sich verzieht, um durch ihre Wirkungen ihre Rechtfertigung zu erbringen und die Verwünschungen und den Fluch, den sie ihrem Urheber eintrugen, in Dank und Segen zu verwandeln - das Urteil über sie liegt in ihrem Erfolg, von dem Forum des Rechts, wo sie verdammt sind, appellieren sie an das Tribunal der Geschichte, und diese Instanz ist bis jetzt noch stets von allen Völkern als die höhere und höchste anerkannt worden, das Urteil, das hier gefällt wird, ist das endgültige, maßgebende.

Damit haben wir den Punkt bezeichnet, wo das Recht in die Politik und die Geschichte einmündet, und das Urteil des Politikers, Staatsmannes, Historikers, das des Juristen, der nur den Maßstab des positiven Rechts kennt, abzulösen hat, indem es den letzteren als einen solchen erweist, der zwar für die normalen Verhältnisse, denen er entnommen ist, zutrifft, nicht aber für ungewöhnliche Verhältnisse, auf die er von vornherein nicht bemessen ist und nicht bemessen werden konnte. Es ist, wenn man sich nicht scheut, den Ausdruck Recht dafür zu verwenden, das Ausnahmsrecht der Geschichte, wodurch das Bestehen des Rechts als Regel praktisch ermöglicht wird, das sporadische Auftauchen der Gewalt in ihrer ursprünglichen geschichtlichen Mission und Funktion als Begründerin der Ordnung und Bildnerin des Rechts.

In diesem Sinne scheue ich mich nicht, der Gewalt das Wort zu reden und mich darin von der überkommenen juristischen und rechtsphilosophischen Auffassung loszusagen. Beide werden in meinen Augen der Bedeutung, welche die Gewalt in der Welt hat und, wie ich hinzufüge, haben  soll,  nicht gerecht. Sie weren in dem Verhältnis zwischen Recht und Gewalt den ganzen Nachdruck auf ersteres und weisen der letzteren lediglich die unselbständige Stellung einer bloßen Dienerin zu, die ihre Befehle vom Recht entgegen zu nehmen und blindlings auszuführen hat. Aber die Rechnung ist ohne den Wirt gemacht, die Gewalt ist kein so willenloses Geschöpf, wie sie hiernach sein müßte, sie weiß, was sie ist, und fühlt sich danach, sie verlangt vom Recht dieselbe Rücksicht, wie letzteres von ihr, es ist nicht das Verhältnis zwischen zwei Ehegatten, die, um in Eintracht zu leben, gegenseitig auf sich Rücksicht nehmen müssen.

Die Gewalt kann zur Not ohne das Recht bestehen und hat tatsächlich den Beweis dafür erbracht. Das Recht ohne die Gewalt ist ein leerer Name ohne alle Realität, denn erst die Gewalt, welche die Normen des Rechts verwirklicht, macht das Recht zu dem, was es ist und sein soll. Hätte die Gewalt nicht dem Recht vorgearbeitet, nicht mit eiserner Faust den widerstrebenden Willen gebrochen und den Menschen an Zucht und Gehorsam gewöhnt, ich möchte wissen, wie das Recht sein Reich hätte gründen können, es hätte auf Treibsand gebaut. Die Despoten und Unmenschen, welche die Völker mit eisernen Ruten und Skorpionen gezüchtigt haben, haben für die Erziehung der Menschheit zum Recht ebenso viel geleistet, als die weisen Gesetzgeber, welche später die Tafeln des Rechts aufrichteten, jene mußten vorausgehen, damit diese erscheinen konnten. Das ist die Mission der Gewalt, auch der wildesten, rohesten, unmenschlichsten in den frühesten Perioden der Menschheit gewesen, den Willen daran zu gewöhnen, sich unterzuordnen, einen höheren über sich anzuerkennen. Erst nachdem er dies gelernt hatte, war es an der Zeit, daß das Recht die Gewalt ablöste, vorher wäre ersteres ohne alle Aussicht gewesen. Und diesem tatsächlichen Zustande hat auch die Auffassung der Völker auf jener Stufe entsprochen. Sie haben die Gewalt nicht mit unseren Augen angesehen, in ihr nicht etwas Ungehöriges, Verabscheuens- und Verdammenswertes, sondern etwas ganz Natürliches, Selbstverständliches erblickt. Die Gewalt als solche hat ihnen imponiert, sie war das einzige Große, für das sie Sinn hatten, Gewalt und "gewaltig" galt ihnen als gleichbedeutend, und darum haben sie die gewalttätigen Charaktere unter ihren Machthabern, welche sie dieselbe in unbarmherziger Weise fühlen ließen, statt zu verabscheuen, gefeiert und gepriesen, die schwachen, milden, verachtet. Sie haben eben das instinktive Verständnis gehabt, daß es in wilder Zeit der eisernen Faust bedürfe, um den widersetzlichen Willen zur Gemeinsamkeit des Handelns zu zwingen, des Löwen, um die Wölfe zu bändigen, und sie haben keinen Anstoß daran genommen, daß er die Schafe und Lämmer gefressen hat. Dächten wir uns die Völker auf jener Stufe ausgerüstet mit unserem heutigen Rechts- und Menschlichkeitsgefühl, man stände wie vor einem Rätsel, daß sie solche Untagen, wie die Geschichte sie von ihren Machthabern in unerschöpflicher Fülle berichtet, haben gefallen lassen. Aber das Rätsel löst sich dadurch, daß ihnen der sittliche Maßstab zur Beurteilung dieser Dinge, mit dem wir in völlig unhistorischer Weise sie ausstatten, gänzlich fremd war. In dem Mangel dieses Gefühls liegt die Kompensation, wodurch die Geschichte ihnen diese Dinge erträglich gemacht hat, sie haben in ihnen nichts anderes erblickt, als in dem elementaren Walten der Naturkräfte oder in dem Tod durch wilde Tiere - physische Leiden ohne den moralischen Beigeschmack, der jene Untaten für uns erst so grauenhaft macht.

So hat also die Gewalt nicht bloß  tatsächlich  bei der Fundamentierung der gesellschaftlichen Ordnung eine gänzlich andere Rolle gespielt, als im geordneten Rechtszustande, und zwar eine andere Rolle gespielt, weil sie eine andere Mission hatte, sondern sie ist auch von den Völkern subjektiv anders  angeschaut  und  beurteilt  worden. Ich kann die letztere Bemerkung, der ich eine ganz allgemeine Wahrheit für die Geschichte des Sittlichen in der Welt vindiziere, nicht genug betonen, nicht etwa bloß darum, um den  historischen  Irrtum, den die entgegengesetzte Absicht begeht, zu berichtigen, sondern um den Vorwurf der vollendeten  ethischen  Trostlosigkeit, den sie für die Geschichte in sich schließt, von der Vorsehung abzuwehren. Die Epochen der Menschheit, welche die Gewalt zu ertragen hatten, weil letztere allein die Aufgabe, die es damals galt, die Unbändigkeit des individuellen Willens zu brechen und ihn zu erziehen für das Leben in der Gemeinschaft, zu lösen imstande war, sie haben auch das Verständnis für dasjenige gehabt, was damals an der Zeit war, so gut wie wir es haben für dasjenige, was jetzt an der Zeit ist. Unsere heutige Auffassung, unsere Abneigung gegen die Gewalt würden ihnen geradezu unbegreiflich, als Beweis greisenhafter Schwäche erschienen sein. Aber wenn sie uns auch nicht hätten verstehen können,  wir  können und sollen sie verstehen.

Dürften wir uns dessen rühmen, so hätte ich mir die bisherige Ausführung sparen können, aber, wie aus dem Bisherigen erhellt, fehlt daran noch sehr viel. Ich betrachte es als einen Grundfehler unserer herrschenden Auffassung vom Recht, daß sie über dem idealen Moment seines Gedankeninhaltes das reale der persönlichen Tatkraft, viel zu sehr außer Acht gelassen habe, ein Irrtum, gegen den ich schon wiederholt öffentlich das Wort ergriffen habe. Als Ideal des Rechts erscheint ihr das Uhrwerk, das seinen ganz geregelten Gang geht, in das keine störende Hand eingreift. Wie weit das wirkliche Bild, welches uns die Geschichte vom Recht vorführt, davon abliegt, wird aus dem Bisherigen klar geworden sein. Das Recht kann die Tatkraft nicht entbehren. Nicht in Bezug auf seine konkrete  Verwirklichung  - wo die Schutzanstalten desselben versagen, muß der Berechtigte mit seiner eigenen Macht dafür in die Schranken treten (Notwehr, Selbstverteidigung, Fälle der erlaubten Selbsthilfe, Krieg). Nicht in Bezug auf seine abstrakte  Bildung  - der Bildungsprozeß des Rechts ist keine Sache des  Kampfes  der  Interessen,  und die Mittel, durch welche er ausgekämpft wird, sind nicht Gründe und Deduktionen, sondern Aktion und Energie des nationalen Willens. Mag auch die Tatkraft im Laufe der Zeit mehr und mehr Formen annehmen, die sich mit der Ordnung des Rechts vertragen, es kommen doch selbst im geregelten Rechtszustande Fälle vor, wo sie dem Recht den Gehorsam aufkündigt und als nackte Gewalt, sei es der Staatsgewalt (Staatsstreiche) oder des Volkes (Revolutionen) dasselbe Werk vollbringt, wie einstens beim ersten Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung: das  Setzen  des  Rechts. 

Die folgende Darstellung hat zum Zweck, der Gewalt bei diesem ersten Aufbau der gesellschaftlichen Ordnung zu folgen. Nicht an der Hand der Geschichte, welche über diese ersten Anfänge nichts mehr auszusagen weiß, sonidern an der Hand des  Zweckes.  Es soll der Nachweis erbracht werden, wie die Zwecke des menschlichen Daseins zu ihrer Verwirklichung die Gewalt postulieren. Wir denken uns dabei den Menschen ausschließlich auf seine eigene Tatkraft angewiesen, und lassen zunächst die Zwecke seines rein individuellen Daseins an ihn herantreten und zwar nach Maßgabe der Dringlichkeit, Unabweisbarkeit, die sie für ihn beanspruchen, um uns sodann nach gewonnener Einsicht in die Unzulänglichkeit der rein persönlichen ungeregelten Gewalt zu der Organisation derselben in staatlicher Form zu erheben. Unser Zielpunkt ist der Staat und das Recht, unser Ausgangspunkt das Individuum.


3. Der propulsive Zwang im Recht - die Person, das Vermögen.

Das erste Verhältnis, bei dem der Zweck des menschlichen Daseins die Gewalt postuliert, ist die Persönlichkeit. Bedroht in ihrer Existenz: in Leib und Leben durch fremden Angriff, setzt sie sich zur Wehr und schlägt die Gewalt mit Gewalt zurück  (propulsiver  Zwang). Die Natur selber, indem sie dem Menschen das Leben gab und ihm den Trieb der Selbsterhaltung einpflanzte, wollte diesen Kampf; jedes Wesen, das sie geschaffen, soll sich behaupten durch eigene Kraft, das Tier wie der Mensch. Aber beim Tiere ein rein physischer Vorgang, nimmt dieser Akt bei dem Menschen eine ethische Gestalt an; der Mensch wehrt sich nicht bloß, sondern er erkennt, daß er es darf und muß. Von diesem Gesichtspunkte aus nennen wir den Akt  Notwehr.  Notwehr ist Recht und Pflicht, Recht, insofern das Subjekt für sich, Pflicht, insofern es für die Welt da ist. Darum leidet der Begriff der Notwehr nur auf den Menschen, nicht auf das Tier Anwendung, denn dem Tiere fehlt die bewußte Beziehung seines Daseins auf sich selbst und die Welt. Dem Menschen das Recht der Notwehr absprechen oder verkümmern heißt ihn unter das Tier degradieren.

Der Selbstschutz der Person umfaßt nicht bloß das, was sie  ist,  sondern auch das, was sie  hat,  denn Haben ist erweitertes Sein, und die Sprache hat hier wiederum das Richtige getroffen, indem sie hierfür den Ausdruck  Selbst verteidigung gebraucht, es ist die Person, die in dem, was sie hat, ihr  Selbst,  ihr eigenes, in die Sphäre des Vermögens erweitertes volles Ich verteidigt.

Das Haben ist im Recht bekanntlich doppelter Art: faktischer (Besitz) und rechtlicher (Eigentum), und danach nimmt die Gewalt in Anwendung auf die Behauptung des Habens eine doppelte Gestalt an: die der  Defensive  in Bezug auf Aufrechterhaltung des faktischen Zustandes der Innehabung der Sache, und die der  Offensive  in Bezug auf die Wiedererlangung der faktisch abhanden gekommenen Sache. Das Recht der Kulturperiode verstattet dem Berechtigten die Gewalt nur im ersten Fall, im zweiten Fall dagegen verweist es ihn auf die Beschreitung des Rechtsweges, indem es die Eigenmacht in dieser Richtung ( Selbsthilfe  im Gegensatz der  Selbstverteidigung)  mit strenger Strafe belegt. Für das auf sich selbst angewiesene, der Staatshilfe zur Zeit noch entbehrende Subjekt, wie wir uns dasselbe hier ja denken, ist dieser Gegensatz noch nicht vorhanden, der propulsive Zwang erstreckt sich hier gleichmäßig auf beide Fälle. Ob ich denjenigen, der sich meiner Sache zu bemächtigen sucht, abwehre, oder sie demjenigen, der sich ihrer bemächtigt hat, wieder entziehe, in beiden Fällen ist der Zweck der Gewalt propulsiver Art, er hat zum Gegenstande ein negatives Verhalten des Gegners iun Bezug auf das, was ich mein eigen nenne.

Mag es darum sein, wird man mir einwenden, wen kümmert es? für das positive Recht hat diese zweite Erstreckung des Begriffs nicht die geringste Bedeutung. Ich räume ein: für das heutige. Aber für die Entwicklungsgeschichte des Rechts verhält es sich anders damit, mir wenigstens hat die konsequente Verfolgung des Begriffes des propulsiven Zwanges in seiner ganzen Ausdehnung erst das Verständnis einer Erscheinung des altrömischen Rechts erschlossen, an der man gewöhnlich achtlos vorübergeht, während sie mit dem hier zu Grunde gelegten weiten Begriff der propulsiven Gewalt völlig übereinstimmt. Mit dem modernen Maßstabe gemessen, würde jede Aneignung einer in fremdem Besitz befindlichen Sache von Seiten des Berechtigten als Selbsthilfe zu charakterisieren sein. Das altrömische Volk sah sie mit anderen Augen an, es erblickte in ihr nichts Abnormes, sondern etwas Selbstverständliches, der Gesichtspunkt aber, der ihm dies ermöglichte, war kein anderer, als mein obiger der propulsiven Gewalt, aus der sich die von ihm gezogene Konsequenz ihrer rechtlichen Statthaftigkeit von selbst ergab. Aus dieser Auffassung erklärt sich die Gestalt des Besitz- und Eigentumsschutzes im altrömischen Recht. Der Besitzer ist berechtigt, Gewalt zu gebrauchen, nicht bloß gegen denjenigen, dem er selber den juristischen oder faktischen Besitz vorübergehend eingeräumt, sondern auch gegen denjenigen, der ihm denselben wieder seinen Willen entzogen hat, und diese Gewalt - und das ist das Entscheidende - wird von den Römern nicht unter den Gesichtspunkt der Wiedererlangung, sondern der Aufrechterhaltung des Besitzes gebracht. Nicht minder war im alten Vindikationsprozeß der siegreiche Kläger berechtigt, das Streitobjekt mit Gewalt an sich zu nehmen, das Urteil lautete nicht auf eine Leistung des Beklagten, wie im späteren Prozeß, sondern auf Dasein des klägerischen Eigentums. Die praktische Konsequenz verstand sich von selbst, der Kläger verwirklichte sein Recht, inudem er den Beklagten vertrieb; einer Tätigkeit des letzteren bedurfte es nicht, darum schloß Abwesenheit oder Tod des Beklagten die Realisierung des Vindikationsurteils nicht aus, während sich dies bei der eines persönlichen Anspruchs anders verhielt, da es zu dem Zweck einer Handlung des Verurteilten bedurfte.


4. Der kompulsive Zwang: die Familie

In der Persönlichkeit erscheint das Subjekt noch auf sich selbst beschränkt, in dem Eigentum geht es bereits über sich hinaus auf die Sache, für beide Verhältnisse reicht der  propulsive  Zwang aus. In der Familie und im Vertrage knüpft das Subjekt ein Beziehungsverhältnis zur Person, dort dauernder, hier vorübergehender Art, und dieser Fortschritt des Verhältnisses bedingt auch den des zu seiner Behauptung erforderlichen Mittels: die Steigerung des propulsiven zum  kompulsiven  Zwang. Der Hausherr, welcher die Familie gründet, muß das Regiment im Haus haben, wenn das Haus bestehen soll, und die Natur selber hat ihm diese seine Stellung in ihren wesentlichen Grundzügen vorgezeichnet, der Frau gegenüber durch das Übergewicht seiner physischen Kraft und das ihm zufallende höhere Maß der Arbeit, den Kindern gegenüber durch die Hilflosigkeit und Unselbständigkeit, in der sie ihm Jahre lang gegenüber stehen, und deren Einfluß, auch nachdem sie herangewachsen sind, in dem Verhältnis, wie es sich während jener Periode einmal gestaltet hat, sich erhält.

So hat die Natur selber die Familienverbindung zu einem Verhältnis der Über- und Unterordnung bestimmt und, indem sie jeden Menschen ohne Ausnahme durch das letztere Verhältnis hindurch gehen läßt, dafür gesorgt, daß niemand in die Gesellschaft tritt, der diesen Gedanken der Über- und Unterordnung, auf dem die Existenz des es beruth, nicht schon vorher hat kennen lernen; die Familie ist für jeden Menschen die Vorschule zum Staat, für manche Völker hat sie bekanntlich sogar das Modell desselben abgegeben  (patriarchalischer  Staat).

Ein Mehreres füge ich über die Familienverbindung, da ich sie hier lediglich unter dem Gesichtspunkt des kompulsiven Zwanges zu betrachten habe, nicht hinzu; der Pflichtbegriff wird uns auf sie zurückführen.


5. Der kompulsive Zwang: der Vertrag

Nicht jeder Vertrag bedarf zu seiner Sicherung des kompulsiven Zwanges. Ein Kauf- oder Tauschkontrakt, der sofort vollzogen wird, bietet dazu keinen Raum, indem er nichts zu erzwingen übrig läßt. Man wende nicht ein, daß doch der Käufer im Besitz der Sache, der Verkäufer im Besitz des Geldes geschützt werden müsse. Dazu bedarf es nicht des kompulsiven Zwanges, er propulsive reicht völlig aus; für einen Verkehr, der sich auf diese einfachste Form des Tauschgeschäfts: die Erfüllung "Zug um Zug" beschränken würde, wäre der kompulsive Zwang entbehrlich. Aber diese sofortige Erfüllung von beiden Seiten, welche den kompulsiven Zwang entbehrlich macht, ist nicht bei allen Verträgen ausführbar. Sie ist es nicht bei einem Darlehen - der Darleiher muß mit der Leistung vorangehen, die Gegenleistung: die Rückzahlung des Darlehens kann erst später erfolgen. Sie ist es nicht beim Mietkontrakt - möge der Mietzins vor oder nach gewährtem Gebrauch der Sache entrichtet werden, einer von beiden Teilen ist genötigt, mit seiner Leistung voranzugehen und die Gegenleistung abzuwarten. So postulieren also gewisse Verträge mit Notwendigkeit den Aufschub der Leistung von der einen Seite, d. i. das Versprechen derselben.

Das  Versprechen  bezeichnet der obigen niedersten Form des Vertrags gegenüber einen ganz immensen Fortschritt. Indem es an die Stelle der Leistung das bloße Sprechen ( ver-sprechen = sprechen zugunsten des Angeredeten), das Wort setzt, entbindet es die Vertragschließenden von der hemmenden Voraussetzung des momentanen Könnens und Habens, gewährt es ihnen die Möglichkeit, bei ihren Geschäften das zukünftige Können zur Operationsbasis zu nehmen, die Zukunft zu diskontieren - das Versprechen ist die Entbindung des Vertrages von den Fesseln der Gegenwart, die Anweisung auf die Zukunft zum Zweck der Bestreitung der Bedürfnisse der Gegenwart.

Damit aber das Wort die Leistung vertrete, muß die Sicherheit bestehen, daß es seiner Zeit gegen die Leistung eingetauscht, oder wie die Sprache in Anwendung der Vorstellung des Verpfändens auf diesen Fall es ausdrückt, daß das verpfändete, versetzte Wort eingelöst werde. Dies ist die Erfüllung des Versprechens - das bis dahin leere Wort wir voll, der Gedanke der Leistung Wirklichkeit. Die Garantie dieser Erfüllung beruht auf dem Zwange. Einräumung der Zwangsbefugnis durch den Schuldner ist die unerläßliche Bedingung der Ausnahme seines Versprechens durch den Gläubiger; sie ist nicht bloß durch das Interesse des letzteren, sondern eben so sehr durch sein eigenes geboten, ohne sie würde jener den Vertrag mit ihm gar nicht abschließen - wenn die Gläubiger nicht die Klagbarkeit des Versprechens begehrten, so müßten es die Schuldner tun.

Der juristische Ausdruck für diese Wirksamkeit des Versprechens ist die bindende Kraft der Verträge. Der Vertrag "bindet" den Schuldner, letzterer ist an sein Wort "gebunden", wenn er genötigt werden kann, dasselbe zu "halten", d. i. wenn die Erfüllung durch äußere Gewalt erzwungen werden kann. Das Bild, unter dem sowohl die deutsche, wie die lateinische Sprache das Versprechen erfaßt, ist das des Bandes, an dem der Gläubiger den Schuldner festhält. Das Band wird geknüpft (contrahitur = contractus), gelöst (solvitur = solutio), der Zustand des Schuldners ist der der  Gebundenheit (Verbindlichkeit =  das Gebundensein zu Gunsten eines Andern, im Lateinischen obligatio von ob = unser "ver" d. i. gegen, und ligare binden, und nexum von nectere binden, fesseln).

Die bindende Kraft des Versprechens ist nichts von außen zu ihm Herantretendes, sie ist mit der praktischen Funktion desselben unabweisbar gesetzt. Wäre das Versprechen nicht bindend, so würde das Darlehen im Geschäftsverkehr so gut wie beseitigt sein, nur dem Freund würde man noch Geld leihen; Dienstvertrag und Miete wären von der Liste der Verträge gestrichen, denn wer würde nicht töricht genug sein, seine Dienste zu leisten oder dem anderen den Gebrauch einer Sache einzuräumen, wenn er nicht sicher wäre, daß er den Lohn und Mietzins erhielte? wer töricht genug, letzterem im voraus zu entrichten, wenn er gewärtigen müßte, daß die versprochene Gegenleistung ausbliebe? Nur Tausch und Kauf würden noch möglich sein in der äußerst beengenden Form der Erfüllung Zug um Zug.

Angesichts der praktischen Unentbehrlichkeit der bindenden Kraft der Verträge begreift man kaum, wie die naturrechtliche Doktrin darin ein höchst schwieriges Problem hat erblicken können, zu dessen Lösung die einen die gewaltsamsten Anstrengungen aufboten, während die anderen gar an jeder Lösung verzweifelten. Zu einem Problem ward die Frage lediglich dadurch, daß man bei ihr das Zweckmoment: die Verkehrsfunktion des Versprechens, völlig aus den Augen verlor und die Frage lediglich aus der Natur des Willens zu beantworten versuchte, aber nicht des Willens, der in der Welt etwas erreichen will und sich zu dem Zweck auch der richtigen Mittel bedient und sich den Konsequenzen unterwirft, die durch sein eigenes Wollen geboten sind, sondern des Willens, der von den Bedingungen seines eigenen Wollens nichts weiß, er im nächsten Moment, nachdem er den Vertrag geschlossen, vergessen hat, daß der Erfolg seines Wollens nicht durch vorübergehendes, sondern durch dauerndes Wollen bedingt ist. Von diesem rein subjektiven Gesichtspunkt aus, der nur die Möglichkeit der Willensbewegung im Individuum ins Auge faßt, läßt sich freilich nicht deduzieren, warum derselbe Mann, der heute dies gewollt, morgen nicht das gerade Gegenteil sollte wollen können. Aber eben dieser Gesichtspunkt ist für die obige Frage ein völlig verfehlter, denn die Frage ist keine psychologische, sondern eine praktisch-juristische, sie liegt beschlossen nicht in dem, was der Wille an sich kann, sondern in dem, was er muß, wenn er in der Welt seinen Zweck erreichen will. "Seinen Zweck" - das heißt nicht alles, was er denkbarerweise sich vorsetzen kann, das törichste und unsinnigste, sondern solche Zwecke, die sich mit denen der Übrigen, in deren Gemeinschaft er lebt, vertragen. Wie weit das der Fall ist, ist eine rein historische Frage - das Mittelalter erkannte Verträge als gültig an, die wir heutzutage schlechthin verwerfen, und dasselbe Verhältnis wird sich stets wiederholen. Die Frage von der bindenden Kraft der Verträge durch eine abstrakte Formel beantworten zu wollen, ist um nichts besser, als dasselbe in Bezug auf die Frage von der besten Verfassung zu tun - das Vertragsrecht und die Verfassung sind Tatsachen der Geschichte, die man nur in ihrer Abhängigkeit von der Geschichte d. h. den derzeitigen Zuständen und Bedürfnissen zu begreifen imstande ist. Indem die naturrechtliche Doktrin den festen Boden der Geschichte verließ und die Frage aus der Natur des von aller Gesellschaft und Geschichte abstrahierenden Willens zu beantworten unternahm, beraubte sie sich jeder Aussicht auf Lösung derselben; mochte sie die bindende Kraft der Verträge behaupten oder leugnen, beides war gleich falsch, weil mit der wirklichen Welt in schneidendem Widerspruch, denn die wirkliche Welt kann die Frage weder schlechthin bejahen noch schlechthin verneinen, sondern sie nur beantworten nach Maßgabe der Zwecke, die sie zur Zeit nötig hat.

Das treibende bei der Obligation ist nicht die abstrakte Idee des Willens, oder was dasselbe sagt: der formale Begriff des Versprechens, sondern der praktische Zweck. Der Begriff des Zweckes aber ist ein höchst relativer, seine praktische Gestaltung im Recht ist bedingt und wird bestimmt durch das, was als Lebensbedingung und Lebensziel empfunden wird, und zwar nicht von einem einzelnen, absonderlich gearteten Individuum, sondern von dem typischen Individuum dieser bestimmten Zeit, d. i. von der ganzen Gesellschaft. Diesen Inhalt, diese Zwecke zu sichern, entspricht dem Interesse des einen so gut, wie dem des anderen, denn ohne sie kann keiner leben, und indem das Recht ihnen die Form der Obligation zugesteht, um sie zu sichern, schützt es damit nur die Lebensbedingungen der ganzen Gesellschaft.

Bis zum Begriff des Rechts sind wir jedoch in unserer bisherigen Entwicklung noch nicht vorgerückt, wir befinden unsnoch auf der begrifflichen Stufe desselben: des individuellen, durch den Zweck der Verwirklichung und Sicherung der notwendigen Lebensbedingungen gebotenen Zwanges. Aber alles, was wir im bisherigen gefunden haben, drängt auf das Recht hin, es postuliert die rechtliche Gestaltung jenes ganzen im bisherigen entwickelten Zweckinhaltes, den das Individuum, wenn wir es uns auf sich selbst angewiesen denken, durch eigene Macht verfolgen müßte. Jeder der Zwecke, den es nach dem obigen allgemeinen Maßstab als Lebensbedingungen empfindet, postuliert den Zwang. Mit diesem Postulat ist aber das Recht postuliert als die Organisation des Zwangs.


6. Selbstregulierung des Zwangs - die Sozietät

Wir haben im bisherigen den Versuch gemacht, bis zu den letzten Motiven des Zwanges in der bürgerlichen Gesellschaft zurückzugehen. Welche Gestalt der Staat nun auch demselben geben, welche ausgedehnte Anwendung er von ihm für seine eigenen Zwecke machen möge, der letzte Keim des Zwanges als einer sozialen Institution, der erste Ansatz zu dem Postulat der Organisierung desselben, liegt in dem Individuum - der Daseinszweck des Individuums ist auf Erden ohne Zwang nicht zu realisieren, er ist der erste und in ihm liegt daher der Urkeim des  Rechts  als der  rechten Gewalt. 

Aber mit dem Nachweis der Unentbehrlichkeit des Zwanges ist noch nicht viel gewonnen, das Entscheidende ist die Sicherung seines  Erfolges.  Was nützt dem Eigentümer oder dem Gläubiger die Befugnis zur zwangsweisen Realisierung seines Rechts, wenn das Übergewicht der Gewalt sich auf Seiten des Gegners befindet? Unter dieser Voraussetzung gestaltet sich die Ausübung des Zwangsrechts für ihn zu einem zweischneidigen Schwert, dessen Schärfe sich gegen ihn selber kehrt. Die ganze Frage von der sozialen Organisation des Zwanges hängt mithin daran, das  Übergewicht der Gewalt auf Seiten des Rechts zu bringen. 

Man kann sich mit dem Problem ganz einfach abfinden, indem man sagt: die Aufgabe ist gelöst durch den Staat, - wozu sie noch erst in Frage stellen? Ich will niemanden, der sich dabei beruhigt, in seinem Behagen stören, aber ich meinerseits darf mich nicht dabei beruhigen, wenn ich sonst der Aufgabe gerecht werden will, die Einheitlichkeit und Kontinuität in der begrifflichen Entwicklung des Zwangsbegrifffes in der bürgerlichen Gesellschaft von seinen ersten Ansätzen im Individuum an bis zu seinem endlichen Abschluß in Staat und Recht zur Anschauung zu bringen.

Wer seine eigene Kraft nicht für ausreichend hält, sein Recht gegen gewaltsame Verletzung oder Vorenthaltung zu behaupten, wird sich nach Beistand umsehen, sei es erst im Momente der Gefahr, wenn das Recht bedroht ist, sei es bereits bei der Begründung desselben. Beides geschieht täglich unter unseren Augen im völkerrechtlichen Verkehr, der erste Fall ist der der  Allianz,  der zweite der der  Garantie.  Die unvollkommene Entwicklung der Rechtsidee im Völkerleben verschuldet es, daß sich auf diesem Gebiet noch zwei rudimentäre Formen aus der Urzeit des Rechts erhalten haben, die sonst überall durch die erfolgte Organisation desselben überflüssig geworden und darum hinweggefallen sind. Beide enthalten die ersten Ansätze zur Verwirklichung des Rechtsproblems: das Übergewicht auf Seiten des Rechts zu schaffen. Aber eben auch nur die ersten Ansätze. Denn der Erfolg beider ist ein höchst problematischer. So gut wie der Bedrohte sich nach Alliierten umsieht, kann auch der Bedroher es tun - wer die meisten findet, ist der Stärkste, und nicht das Recht, sondern der Zufall gibt den Ausschlag. Die Garantie steht schon um eine Stufe höher. Aber auch ihr Wert ist, wie die Erfahrung des Völkerrechts zu allen Zeiten bewiesen hat, ein höchst problematischer, - wer garantiert für den Garanten? Solange sein Interesse mit dem des Garantierten Hand in Hand geht oder wenigsten nicht gegensätzlicher Art ist, hat es keine Not; ganz anders, wenn beide sich trennen, hier wird die Garantie auf eine Probe gestellt, die sie nur zu oft nicht besteht.

Damit scheint dem Recht der Weg gewiesen zu sein, wie es das Übergewicht der Macht auf seine Seite bringen kann: Sicherung der Garantie, durch das eigene Interesse, d. h. mittels Gegenseitigkeit derselben. Diese Form der gegenseitigen Sicherung des Rechts ist das  Schutz- und Trutzbündnis.  Aber auch dieses Mittel ist noch nicht das rechte, denn auch der Gegner, von dem wir den Angriff zu gewärtigen haben, kann sich desselben Mittels bedienen, und tut er es, so entscheidet wiederum nicht das Recht, sondern der bloße Zufall, - der Stärkste siegt.

So nach außen hin. Völlig ander aber im Innern, und damit treffen wir endlich den springenden Punkt in der ganzen Organisation des Rechts. Er besteht in dem Übergewicht der  gemeinsamen  Interessen  aller  über das  Partikularinteresse  eines  Einzelnen;  für die gemeinsamen Interesse treten  alle  ein, für das Partikularinteresse nur der  Einzelne.  Die Macht aller aber ist bei Gleichheit der Kräfte der des Einzelnen überlegen, und sie wird es umso mehr, je größer die Zahl derselben ist.

Damit haben wir das Schema für die gesellschaftliche Organisation der Gewalt: Übergewicht der dem Interesse aller dienstbaren Gewalt über das bloß dem Einzelnen für sein Interesse zur Verfügung stehende Maß derselben, die Macht ist auf Seiten des allen gemeinsamen Interesses gebracht.

Die privatrechtliche Form der Verbindung mehrerer zur Verfolgung desselben gemeinsamen Interesses ist die  Sozietät,  und soweit sonst auch der Staat und die Sozietät auseinandergehen, das Schema in Bezug auf die Regelung der Gewalt durch das Interesse ist bei beiden ganz dasselbe - die Sozietät enthält den Prototypen des Staats, er ist in ihr bereits in allen seinen Teilen vorgezeichnet, begrifflich wie historisch vermittelt sie den Übergang von der ungeregelten Form der Gewalt beim Individuum zur Regelung derselben durch den Staat. Nicht etwa bloß in dem Sinn, daß sie eine Vereinigung mehrerer zu demselben Zweck enthält und dadurch Verfolgung von Zielen ermöglicht, die der Kraft des Einzelnen versagt waren - eine Seite der Sozietät, die wir bereits früher in ihrer hohen sozialen Bedeutung gewürdigt haben - sondern in noch ungleich höherem Maße in dem Sinn, daß sie das Problem löst: das Übergewicht der Macht auf die Seite des Rechts zu schaffen. Sie tut es dadurch, daß sie an Stelle des Gegensatzes zweier sich ohne die gesicherte Aussicht auf den Sieg des Rechts bekämpfender Partikularinteressen den des Gemein- und Partikularinteresses setzt, womit die Lösung von selber gegeben ist. In der Sozietät machen alle Gesellschafter Front gegen denjenigen, der auf Kosten der gemeinsamen durch den Vertrag festgestellten Interessen seine Nebeninteressen verfolgt oder sich der Erfüllung der von ihm im Vertrag übernommenen Pflichten weigert, sie vereinigen sämtlich ihre Macht auf  Seiten des Rechts,  und die Sozietät kann mithin als der Mechanismus der  Selbstregulierung der Gewalt nach Maßgabe des Rechts  bezeichnet werden.

Ich muß gegen diese Deduktion den Einwand gewärtigen, daß doch die Gewalt des einzelnen Gesellschafters stärker sein könne, als die sämtlicher übrigen zusammen genommen, und daß die Majorität sich vereinigen könne, ihre Partikularinteressen auf Kosten der Sozietätsinteressen zu verfolgen. Zur Antwort diene, daß ich bei meiner Deduktion die normale Funktion der Gesellschaft zu Grunde gelegt habe, wie sie durch ihren Zweck und ihre Verkehrsbestimmung gesetzt ist. In dieser ihrer normalen Gestaltung leistet sie das, was ich ihr nachrühme: sie schafft dieses Übergewicht der Macht auf die Seite des gemeinsamen Interesses. Jene beiden Möglichkeiten haben wir als Gefahren anzuerkennen, denen sie bei Nichtvorhandensein der normalen Voraussetzung ausgesetzt ist. Gegen die erste Gefahr bietet sie in sich selber eine Hilfe dar, nämlich durch die unbegrenzte Vermehrung der Zahl ihrer Mitglieder. In einer Gesellschaft von zehn Mitgliedern hat der Einzelne neune, bei einer von hundert neunundneunzig, in der des Staats hat er in Form der Staatsgewalt Millionen gegen sich.

Die Lösung des Problems, dem unsere ganze bisherige Untersuchung galt, beruht also darauf - und nunmehr erlaube man mir den Ausdruck Sozietät mit Gesellschaft zu vertauschen - daß die Gesellschaft mächtiger ist, als der Einzelne, und daß mithin, wo sie genötigt wird, ihre Macht zur Behauptung ihres Rechts gegen den Einzelnen aufzubieten, das Übergewicht derselben sich stets auf ihrer Seite, d. h. auf Seiten des Rechts befindet.

Ich brauche nicht erst zu bemerken, warum ich hier den Ausdruck Sozietät mit dem der Gesellschaft vertauscht habe. Der Doppelsinn des letzteren Worts soll dasjenige, was ich im bisherigen für die Gesellschaft im privatrechtlichen Sinn: die Sozietät deduziert habe, hinüberleiten auf die Gesellschaft im publizistischen Sinn: den Staat. Die Statthaftigkeit einer solchen Übertragung des für  ein  Verhältnis gewonnenen Satzes auf ein anderes setzt den Nachweis voraus, daß der Übereinstimmung beider im Namen auch eine sachliche Identität entspricht, daß es also nicht Zufall, sondern die richtige Erkenntnis der inneren Gleichheit ist, was die Sprache vermocht hat, beide mit demselben Namen zu belegen. Eine Vergleichung der privatrechtlichen mit der staatlichen Gesellschaft wird die Gleichartigkeit beider dartun. Die Grundzüge beider sind ganz dieselben. Es sind folgende:
    1) die Gemeinsamkeit des Zwecks,

    2) das Dasein von Normen, welche die Verfolgung desselben regeln, bei der einen in Form des Vertrages, der lex privata, bei der andern in Form des Gesetzes, der lex publica,

    3) als Inhalt derselben: Rechtsstellung, Rechte und Pflichten der Gesamtheit, wie der Einzelnen,

    4) Verwirklichung dieser Normen gegen den widerstrebenden Willen des Einzelnen mittels Zwang,

    5) die Verwaltng, d. h. die freie Verfolgung des Zweckes mit den Mitteln der Gesellschaft innerhalb der durch die obigen Normen gesetzten Grenzen und alles, was sich daran anschließt: das Bedürfnis eines besonderen Organs zu diesem Zweck bei größere Zahl der Mitglieder (- Verwaltungsrat - Regierung), daran sich reihend der Gegensatz zwischen denjenigen,  durch  die, und  für  die die Verwaltung geschieht (Angestellte, Beamte - Aktionäre, Mitbürger, Untertanen), und die daraus sich ergebende Gefahr einer dem Interesse der Gesellschaft widersprechenden Verwendung ihrer Mittel im Interesse ihrer Verwalter, die bei der staatlichen Gesellschaft nicht mindern zu besorgen steht, als bei der privatrechtlichen und als Schutzmittel dagegen die Kontrolle der letzteren durch die Gesellschaft selber (Generalversammlung - Ständeversammlung).
Der begriffliche Übergang von der privatrechtlichen Gesellschaft zu der staatlichen wird vermittelt durch ein Mittelglied: die öffentliche.


7. Die öffentliche Gesellschaft

Öffentlich heißt, was offen ist. Ein öffentlicher Garten, Fluß, Platz, Theater, Lokal, eine öffentliche Schule, Vorlesung, Versammlung ist für jeden offen, jedem steht der Zutritt frei, ob unentgeltlich oder gegen Entrichtung einer Vergütung kommt für den Begriff nicht in Betracht. Die Römer entnehmen die Bezeichnung des Begriffs dem Wort populus; populicum, publicum ist dasjenige, was für alle, fürs Volk bestimmt ist, d. i. allen offen steht. Den Gegensatz des Offenen bildet das Geschlossene, Gesperrte, den des publicum das privatum, proprium (quod pro privo est, d. i. was für den Einzelnen bestimmt ist), dasjenige, was jeder für sich allein hat und von dem er mithin jeden anderen ausschließt. Der ganze Gegensatz dreht sich um Gemeinsamkeit und Ausschließlichkeit des Verhältnisses und er bildet den Angelpunt des öffentlichen und des Privatrechts, ohne aber in dem letzteren Gegensatz aufzugehen. Der Gegensatz zwischen einem Privathause und einem öffentlichen Lokal hat mit dem Recht nichts zu tun, beiden stehen gleichmäßig im Privateigentum, aber ihre wirtschaftliche Verwendung ist eine verschiedene. Das eine dient ausschließlich dem Eigentümer, das andere dem ganzen Publikum.

Der Gegensatz wiederholt sich auch in Bezug auf die Gesellschaft in Gestalt der  Sozietät  und des  Vereins.  (2) Der juristische Unterschied beider in Bezug auf ihr Struktur ist für unsere Zwecke ohne Bedeutung, uns interessiert lediglich der durch die Verschiedenheit ihres Zweckes bedingte des Geschlossen- und Offenseins.

Sie Sozietät teilt mit allen anderen das Verhältnissen des Privatrechts den Grundzug der ausschließenden Bestimmung für diejenigen Subjekte, welche das Rechtsverhältnis ins Leben gerufen haben ( Grundsatz  der Exklusivität). Jeder von den mehreren Gesellschaftern hat ganz so wie jeder Miteigentümer seinen bestimmten, in Form eines Bruchs darstellbaren Teil, jeder ist  Teilnehmer,  und soweit er es ist, ist er für seinen Teil ganz ebenso exklusiv berechtigt und geschützt, wie im Verhältnis des Alleineigentums der Alleinberechtigte für das Ganze - jeder Teil gestaltet sich sozusagen zu einer in sich abgeschlossenen juristischen Zelle. Eine Konsequenz davon besteht darin, daß der Gesellschafter durch Austritt oder Tod des Anteils, der aus der bisherigen Geschäftsführung auf ihn entfällt, nicht verlustig geht.

Völlig andere Art ist das Verhältnis bei den Vereinen. Die Rechtsstellung ihrer Mitglieder läßt sich nicht in Form eines bestimmten Teils ausdrücken, sie werden nicht  Teil-nehmer,  sondern  Mit-glieder,  eben darum haben sie auch im Fall ihres Austritts oder Todes keinen Anspruch auf Auskehrung der nach der augenblicklichen Zahl der Mitglieder auf sie entfallenden Quote des Vereinsvermögens.

Der Gegensatz in der Art, wie die Sozietät und wie der Verein den einzelnen Mitgliedern zu gute kommt, trifft zusammen mit dem zwischen frui und uti. Das frui ist teilbar, das uti unteilbar, oder anschaulicher ausgedrückt: bei frui stellt sich die Konkurrenz mehrerer in Form bestimmter Teile (Quoten) dar, jeder neue Teil macht dieselben kleiner, jeder ausfallende dieselbe größer; das uti dagegen nimmt jeder der mehreren Berechtigten ganz vor. Ist die Sache danach angetan, wie z. B. bei öffentlichen Wegen, so können Hunderte und Tausende partizipieren, ohne daß der Einzelne in seinem uti verkürzt wird. Jener Art ist das Verhältnis bei der Sozietät, dieser Art bei den Vereinen. Wenn die Früchte oder Einkünfte einer Sache statt wie bisher unter zehn unter elf Konkurrenten verteilt werden, so leidet jeder der Zehn darunter, sein Teil wird um so viel kleiner. Die Vorteile dagegen, welche ein Verein seinen Mitgliedern bietet, erleiden durch Aufnahme neuer Mitglieder keine Verringerung, im Gegenteil regelmäßig eine Steigerung - ein großer Verein kann seinen Mitgliedern mehr bieten, als ein kleiner. Darum nimmt der Verein nicht bloß bereitwillig neue Mitglieder auf, sondern er wünscht sie und muß sie wünschen, einerlei, ob sein Zweck in den Interessen der einzelnen Mitglieder beschlossen liegt ( selbstnützige  Vereine), oder ob er die Förderung allgemeiner Interessen zum Gegenstand hat ( uneigennützige, gemeinnützige  Vereine). Denn jeder Zuwachs an neuen Mitgliedern erhöht die Kräfte des Vereins, die persönlichen wie die sachlichen, und damit die Mittel zur Verfolgung des Zwecks, und jeder Zuwachs stärkt das moralische Element des Vereins, das innere Mark desselben, wenn ich so sagen darf, d. i. den Glauben der Mitglieder an die Nützlichkeit, Notwendigkeit, kurz die Daseinsberechtigung und die Zukunft des Vereins, er steigert ihren Korporationsgeist, indem er ihrer Eitelkeit schmeichelt und verleiht damit ihrem Interesse und ihrem Eifer einen neuen Sporn. Darum ist die Aufnahme neuer Mitglieder in den Statuten aller Vereine vorgesehen, ein Verein, der sie ausschlösse, würde sich von vornherein auf den Aussterbe-Etat setzen, sich selber die Eigenschaft eines Vereins absprechen - der Verein ist notwendigerweise offen. Der vom rechten Geist beseelte Verein ist vielmehr eifrig bestrebt, neue Mitglieder zu gewinnen, jeder Verein sucht sich auszudehnen, möglichst zuzunehmen an Macht, Ansehen und Einfluß -  Exklusion  ist das Wesen der Sozietät,  Expansion  das des Vereins! Dieser Expansionstrieb ist allen Vereinen gemeinsam, den bedeutendsten, wie den unbedeutendsten (3): dem Staat und der Kirche, den politischen, kirchlichen, wissenschaftlichen, geselligen - der Staat erobert, die Kirche macht Propaganda, die Vereine werben - der Name ist verschieden, die Sache dieselbe.

Es gibt aber gewisse Vereine, und es hat sie früher insbesondere in großer Zahl gegeben, welche, ihrer ursprünglichen Anlage nach als Vereine gedacht und als solche darauf angewiesen sich auszudehnen, sich später zu einer eigentümlichen Zwitterbildung zwischen dem Verein und der Sozietät gestaltet haben. Das sind solche, Vereine, welche, um es kurz in juristischer Weise auszudrücken: ihren Mitgliedern neben dem uti noch ein frui gewähren, wie z. B. im Verhältnis der Gemeinde bestimmte Anteile an den Gemeindeländereien, Waldungen usw. Solange im letzteren Verhältnis der Komplex, an dem diese Nutzungen stattfinden, ein so großer ist, daß die vorhandenen Gemeindemitglieder in Bezug auf dieselben durch Aufnahme neuer nicht verkürzt werden, liegt für sie kein Grund vor, sich dem zu widersetzen. Bei Wegfall jener Voraussetzung aber ändert sich dies, und der Ausweg, den der Egoismus hier trifft, besteht darin, daß die alten Mitglieder das frui ausschließlich für sich behalten und den neueintretenden nur den Mitgenuß des uti einräumen, m. a. W. daß sich innerhalb desselben Vereins zwei Kreise von Mitgliedern mit verschiedener Berechtigung bilden, Mitglieder mit vollem und minderem Recht. Diese Gestaltung des Verhältnisses enthält für die minder Berechtigten etwas so Verletzendes und Aufreizendes, daß sie noch zu jeder zeit die heftigsten Kämpfe heraufbeschworen hat, von den Tagen der römischen Patrizier an, welche die Plebejer in dieser Weise vom ager publicus ausschlossen, bis in unser Jahrhundert hinein. Das Verhältnis leidet an einem inneren Widerspruch, es ist eine Zwitterbildung von Sozietät und Verein, die sich, da der Gegensatz ein unversöhnlicher ist, unausgesetzt bekämpfen, bis schließlich der Verein die Oberhand bekommt.

Mit dem Verein hat unsere Begriffsentwicklung das Niveau des Staats erreicht, in Bezug auf seine Form steht derselbe mit allen Vereinen auf einer Linie, so weit er sie, von der Kirche abgesehen, im Übrigen auch durch seine soziale Bestimmung und den Reichtum des Inhalts, mit dem er im Laufe seiner Entwicklung in steigender Progression diese Form ausstattet, überragt. Indem der Verein zu den Momenten, welche bereits die Sozietät mit dem Staat teilt, noch das öffentliche, d. i. das des Offenseins nach aussen hinzufügt, beseitigt er den einzigen Unterschied, der zwischen beiden noch übrig war. Mit diesem letzten Schritt hat die Form der Assoziation diejenige Brauchbarkeit und Vollendung erhalten, welche sie zur Verfolgung aller #Zwecke der Gesellschaft, zur Aufnahme eines jeden Inhalts, des reichsten, wie des dürftigsten, tauglich macht. Der Verein ist die  Organisationsform der Gesellschaft schlechthin.  Es gibt keinen Zweck, den sie zu verwirklichen hat, bei dem sie nicht anwendbar und historisch angewandt worden wäre, und der sich nicht schließlich, nachdem er zuerst vom Individuum verwirklicht worden ist, dieser Form bemächtigt hätte oder bemächtigen würde. Für die gesellschaftlichen Zwecke ist diese Form eben so unabweisbar geboten, wie für die des Individuums die exklusive des Privatrechts. Die Bestimmung eines Verhältnisses für das Individuum findet ihren rechtlichen Ausdruck in der Sperrung, Abschließung desselben nach außen hin, in dem Grundsatz der Ausschließlichkeit, für die Gesellschaft in dem Offensein nach außen, der Zulassung eines jeden, der dazu tauglich ist, an der Mitarbeit zur Verwirklichung der gesellschaftlichen Zwecke.

Der Verein gehört dem öffentlichen Recht an, oder richtiger: letzteres fällt gänzlich mit ihm zusammen, sowie das Privatrecht mit dem Individuum. Es ist in meinen Augen eine begriffliche Willkür, wenn man den Begriff des öffentlichen Rechts auf Staat und Kirche beschränkt. Es ist wahr: diese beiden schließen einen Lebensinhalt in sich von solchem Reichtum und solcher Bedeutung, daß ihnen gegenüber jeder andere Verein sich ausnimmt, wie eine Maus gegenüber einem Löwen. Aber Maus und Löwe sind beide Säugetiere, und man mag sich drehen und wenden, wie man will, man kommt nicht darum weg, daß Staat und Kirche zu dem gemeinnützigen Vereinen gehören - der Unterschied zwischen den einzelnen Arten ist kein  struktureller,  sondern ein  funktioneller,  d. h. er beruht nicht auf der Verschiedenheit ihres juristischen Mechanismus, sondern lediglich auf der ihres Zweckes, nicht der Form, sondern des Inhalts. Mag der Staat - ich verstehe unter ihm im Folgenden auch die Gemeinde mit - im Lauf seiner Entwicklung nach und nach nahezu den gesamten Lebensinhalt der Gesellschaft in sich aufgenommen haben, immer bleibt nicht bloß die Tatsache bestehen, daß sein ursprünglicher Inhalt bei Beginn der Geschichte ein relativ bescheidener, im Wesentlichen auf Herstellung der Sicherheit im Innern und nach außen hin beschränkt war, sondern jederzeit treibt neben den Zwecken, die er bereits absorbiert hat, das Lebensbedürfnis der Gesellschaft neue Zwecke hervor, die ihm fremd sind, und die so lange ein von ihm abgesondertes selbständiges Dasein in Form der Vereine führen, bis sie den nötigen Reifegrad erlangt haben, um die Hülle, in der sie bisher existierten, zu sprengen und ihren ganzen Inhalt in diejenige Form zu ergießen, die alles in sich aufnehmen zu sollen scheint: den Staat. Was war der Unterricht einstens?  Privatsache.  Was dann?  Vereinssache.  Was jetzt?  Staatssache. Individuum, Verein, Staat  - das ist die geschichtliche Stufenleiter der gesellschaftlichen Zwecke. Seine erste Aufnahme findet er beim Individuum; ist er größer geworden, so übernimmt ihn der Verein, ist er völlig ausgewachsen, so fällt er dem Staat anheim. Wenn der Schluß von der Vergangenheit auf die Zukunft ein berechtigter ist, so wird der Staat am Ende aller Dinge alle gesellschaftlichen Zwecke in sich aufgenommen haben. Der Verein ist der Pionier, der dem Staat die Wege ebnet, - was heute Verein, ist nach Jahrtausenden Staat, alle gemeinnützigen Vereine tragen die Anweisung auf den Staat in sich, es ist nur eine Frage der Zeit, wann er dieselbe honorieren wird.


8. Der Staat. Ablösung von der Gesellschaft

Nach langem Umwege haben wir endlich gefunden, was wir suchten: die endgültige Form der Verwendung der Gewalt für die menschlichen Zwecke, die soziale Organisation der Zwangsgewalt, d. i. den Staat. Wir hätten es bequemer haben können. Es hätte nur von uns abgehangen, den Gedanken des sozialen Zwanges sofort in der fertigen Gestalt des Staates aufzunehmen. Wozu der Umweg? Um zu zeigen, daß und warum das Recht, solange es den Staat noch nicht erreicht hat, seine Aufgabe noch nicht zu lösen vermag. Erst im Staat hat das Recht gefunden, was es suchte: die Oberherrschaft über die Gewalt. Aber nur im  Innern  des  Staates  gelangt es zu seinem Ziele, denn nach außen hin, im Konflikt der Staaten untereinander, steht ihm die Macht in derselben Weise feindlich gegenüber wie vor seinem historischen Auftreten im Verhältnis von Individuum zu Individuum - die Rechtsfrage gestaltet sich hier praktisch zur Machtfrage.

Ausgehend von der Frage: wie löst die Gesellschaft die Aufgabe, die ihr gestellt ist, habe ich darauf bereits die Antwort erteilt: zunächst durch den  Lohn,  und habe sodann als zweites Mittel hinzugefügt: den  Zwang.  Die soziale Organisation des Zwanges aber ist gleichbedeutend mit  Staat  und  Recht.  Der Staat ist die Gesellschaft als Inhaberin der geregelten und disziplinierten Zwangsgewalt. Der Inbegriff der Grundsätze, nach denen er in dieser Weise tätig wird: die Disziplin des Zwanges ist das  Recht.  Indem ich den Staat in dieser Weise definiere, meine ich damit nicht, daß diese Formel sein Wesen erschöpfe, daß er nicht sonst noch etwas sei. Ich habe soeben bereits das Gegenteil konstatiert, indem ich hervorhob, wie der Staat im Lauf seiner Entwicklung sich fort und fort um Zwecke bereichert, die ihm bis dahin fremd waren. Aber so mannigfaltig und zahlreich auch die Zwecke sein mögen, die er bereits in sich aufgenommen hat und noch aufnehmen wird,  einen  Zweck gibt es, der alle anderen überragt, der von allem Anfang an ihn geleitet, ja ihn selber ins Leben gerufen hat, und der nie fehlen kann. Das ist der  Rechtszweck,  die Gestaltung und Sicherung des  Rechts.  Alle anderen Aufgaben des Staates treten dieser einen gegenüber in die zweite Linie zurück, sie tauchen historisch erst auf, wenn jene erte und wesentlichste abgetan ist, und haben deren unausgesetzte Lösung zur notwendigen Voraussetzung - die Pflege des Rechts ist die  vitale Lebensfunktion  des Staates.

Das führt uns zurück auf das schon früher berührte Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. Ich glaube dasselbe nicht besser ausdrücken zu können, als indem ich sage: Staat ist die Gesellschaft, welche zwingt; um zwingen zu können, nimmt sie die Gestalt des Staats an, der Staat ist die Form der geregelten und gesicherten Ausübung der sozialen Zwangsgewalt, kurz gesagt:  die Organisation des sozialen Zwanges.  Demnach, sollte man sagen, müßten Staat und Gesellschaft sich decken, und gleich wie letztere sich über die ganze Erde erstreckt, müßte auch der Staat die ganze Welt umfassen. Aber er bleibt hinter der Gesellschaft zurück, letztere ist universell, er partikularistisch, er löst die ihm gewordene Aufgabe nur innerhalb geographisch begrenzter Gebiete (Staatsgebiet, Territorium), sein Herrschaftsgebiet endet überall mit den Grenzpfählen.

Das Problem der Herstellung des sozialen Zwanges ist demnach der Punkt, wo Staat und Gesellschaft sich trennen, wo jener sich genötigt sieht, hinter ihr, die keine Grenze auf Erden kennt, zurück zu bleiben. Aber als fühlte er, daß diese Beschränkung etwas Unvollkommenes sei, treibt es ihn, seine Grenzen immer weiter hinaus zu rücken. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verschlingt unausgesetzt das größere Gemeinwesen das kleinere, und wenn die kleinen verschlungen und nur noch die größeren übrig sind, entbrennt wiederum unter ihnen ein Kampf auf Leben und Tod, bis auch sie zusammengeschmolzen sind zu größeren Staatskomplexen. So wird das Format der Staaten immer größer, von dem Duodez-Format der kleinen Gemeinwesen des klassischen Altertums steigt es zum Oktav, von Oktav zu Quart, von Quart zu Folio - jede Steigerung desselben bedeutet den Untergang von so und so vielen bisher selbständigen Gemeinwesen. Man mag die Geschichte meistern, daß sie im Völkerleben die Kleinen nicht dulden will, daß die Kleinen, wenn sie nicht selber es verstehen groß zu werden, den Großen Platz machen müssen, man mag die Generationen beklagen, welche ausersehen waren, derartige Katastrophen an sich zu erleben - die Geschichte weiß, warum sie dies Ungemach über sie verhängt hat, und sie sorgt dafür, daß das Weh und Herzeleid der einen Generation sich in der späteren bezahlt macht, daß nicht selten schon der Enkel segnet, was der Großvater verfluchte. Der Expansionstrieb der Staaten, die Eroberung ist der Protest der Gesellschat gegen die ihr durch die Organisation des sozialen Zwanges auferlegte geographische Beschränkung. Bis jetzt hat es auf Erden keine Zeit gegeben, wo dieser Ausdehnungstrieb sich nicht in jedem lebenskräftigen Volk geregt hätte. Ob eine ferne Zukunft eine Änderung bringen wird? Wer will es sagen? Wenn die kleine Spanne Zeit, welche die Menschheit bisher durchlebt hat - ich nenne sie klein, auch wenn sie hunderttausend Jahre mehr betrüge - wenn also diese kleine Spanne Zeit einen Schluß auf die unendliche Zeit erlaubt, die ihr noch bevorsteht, dann scheint die Zukunft des Menschengeschlechts in der immer weiter fortschreitenden Annäherung zwischen Staat und Gesellschaft zu bestehen, wenn auch die Idee des Universalstaats: der in Form einer die sämtlichen einzelnen Staaten nach Art der Gemeinden in sich vereinigenden und beherrschenden Zentralgewalt die ganze Welt umfassen würde, zu den Utopien des Philosophen gehören dürfte, dem es leichter fällt, die Ideen bis zu ihrer äußersten Konsequenz zu verfolgen, als der Menschheit, sie bis zu diesem Punkt zu verwirklichen.

Die Organisation der sozialen Zwangsgewalt schließt zwei Seiten in sich: die Herstellung des äußeren Mechanismus der Gewalt und die Aufstellung von Grundsätzen, welche den Gebrauch derselben regeln. Die Form der Lösung der ersteren Aufgabe ist die  Staatsgewalt,  die der zweiten das  Recht.  Beide Begriffe stehen im Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit: die Staatsgewalt hat das Recht, das Recht die Staatsgewalt nötig.


9. Die Staatsgewalt

Das absolute, durch den Zweck des Staates selber gegebene Erfordernis der Staatsgewalt ist der Besitz der höchsten, jeder anderen Macht innerhalb des Staatsgebietes überlegenen Gewalt. Jede andere Macht, die des Einzelnen oder der Vielen, muß  unter  ihr, sie  über  derselben sein; danach bezeichnet die Sprache jene Seite des Verhältnisses als: "Untertertänigkeit" (unter-getan, Untertan, sub-ditus), diese als  Souveränität  (supra, supranus, sovrano) und die Staatsgewalt selber, welche sie besitzt, als  Obrigkeit,  der Akt, wodurch sie dieselbe über ein ihr bisher nicht unterworfenes Gebiet ausdehnt, als  Unterwerfung. Er-ober-ung. Alle anderen Anforderungen an den Staat treten gegen diese eine zurück; bevor sie nicht erfüllt ist, sind alle anderen verfrüht, denn, um sie zu erfüllen, muß er selber erst da sein, und ist er erst, wenn er die Machtfrage im obigen Sinn gelöst hat. Machtlosigkeit, Ohnmacht der Staatsgewalt ist die Todsünde des Staates, von der es für ihn keine Absolution gibt, diejenige, welche die Gesellschaft weder verzeiht, noch erträgt, es ist ein Widerspruch in sich selbst: eine  Staatsgewalt  ohne  Gewalt!  Den schnödesten Mißbrauch der Staatsgewalt haben die Völker ertragen, die Geißel des ATTILA und den Cäsarenwahnsinn der römischen Imperatoren, ja sie haben nicht selten Despoten, vor denen sie im Staube krochen, als Helden gefeiert, sich berauschend und weidend an dem Anblick der elementaren Großartigkeit menschlicher Machtansammlung, einer wilden, unwiderstehlichen Macht, die gleich dem Orkan in der Natur alles vor sich darnieder wirft, indem sie vergaßen und vergaben, daß sie selber die Opfer waren. Selbst im Zustande des Deliriums bleibt die  Despotie  immer noch eine Staatsform, ein Mechanismus der sozialen Gewalt. Aber die  Anarchie d. i. die Ohnmacht der Staatsgewalt ist keine Staatsform mehr, sie ist ein absolut antisozialer Zustand, die Zersetzung, die Auflösung der Gesellschaft. Jeder, der ihr ein Ende macht, geschehe es, wie es wolle, mit Feuer und Schwert, der einheimische Usurpator oder der fremde Eroberer, erwirbt sich ein Verdienst um die Gesellschaft, er ist ihr Retter und Wohltäter, denn die unerträglichste Forme des staatlichen Zustandes ist immer noch besser, als der gänzliche Mangel derselben. Und leicht wird es den Völkern nicht gemacht, aus dem Zustande der staatlichen Verwilderung in den der staatlichen Ordnung zurück zu lenken, es bedarf der eisernen Faust, um sie wieder an Zucht und Gehorsam zu gewöhnen, der Übergang erfolgt durch die Despotie hindurch, welche der Willkür der Anarchie die der Staatsgewalt gegenüber setzt. Als das römische Volk in der Periode der Bürgerkriege Zucht und Ordnung vergessen hatte, erschienen die römischen Cäsaren, um die Staatsgewalt neu aufzurichten und in ihre Rechte wieder einzusetzen, und der Terrorismus bestieg mit ihnen den Thron. Die Gräuel und Unmenschlichkeiten, in denen sie sich ergingen, waren nur die Orgien der ihre Heimkehr feiernden Staatsgewalt, der bluttriefende Beweis, daß sie wiederum zu Kräften gekommen sei und keine Macht auf Erden mehr zu fürchten habe - erst als der Beweis erbracht war, trat das Maß ein.

Einen völlig anderen Charakter als die Anarchie hat die  #Revolution.  Äußerlich darin ihr ähnlich, daß auch sie eine Störung der staatlichen Ordnung enthält, ist sie innerlich darin von ihr grundverschieden, daß sie nicht die Ordnung  überhaupt,  sondern nur die  bestehende  Ordnung negiert. Sie will die Ordnung, aber eine andere, als die bisherige; gelingt es ihr, so nennen wir sie  Revolution  (Umwälzung); gelingt es ihr nicht, so nennen wir sie  Aufstand, Insurrektion.  In dem Erfolg der ersten liegt das Verdammungsurteil über die Staatsgewalt, in der Erfolglosigkeit der zweiten das über sie selbst.

Die bisherige Ausführung hat das Übergewicht der Macht der Staatsgewalt über jede andere Macht im Staatsgewalt postuliert, aber sie hat nicht erwiesen, wie es zugeht, daß es vorhanden sei - darüber haben wir uns nunmehr klar zu werden. Man möchte glauben, die Sache einfach mit unserem obigen Satz erledigen zu können: die Macht aller ist der der Einzelnen überlegen. Auf diesen Satz stützten wir in der Sozietät die Sicherung des Gemeininteresses gegen das Partikularinteresse, indem für jenes die Macht aller, für dieses nur die Macht des Einzelnen in die Schranken trete. Derselbe Gegensatz der Interessen und der ihr dienstbaren Macht wiederholt sich auch im Staat: auf der einen Seite der Staatszweck (die Interesse aller) und zu seiner Verteidigung die Staatsgewalt (die Macht aller), auf der anderen Seite das Partikularinteresse und die bloße Privatmacht.

Allein die Logik dieses Gegensatzes der Macht aller und der des Einzelnen trifft nur für den Fall zu, wenn es ein Einzelner oder die Minorität ist, welche sich der Macht aller widersetzt, nicht aber, wenn es die Mehrzahl ist, die es tut, denn dann würde, wenn die Machtfrage beim Staat in der bloßen  Zahl  beschlossen läge, das Übergewicht der Macht sich notwendig auf ihre Seite wenden, die Staatsgewalt würde demnach der jederzeitigen Majorität gegenüber machtlos sein. Die Erfahrung aller Zeiten hat aber bewiesen, daß die Staatsgewalt nahezu die ganze Bevölkerung gegen sich haben und gleichwohl im Stande sein kann, ihre Machtposition zu behaupten. Die  Zahl  allein also macht es nicht aus, sonst müßte die Gewalt im Staat stets bei der augenblicklichen Majorität sein, und die Staatsgewalt würde sich im ewigen Zustande des Schwankens und Schaukelns befinden. Aber gottlob steht die Sache anders. Die Festigkeit des Staatswesens beruht darauf, daß der Einfluß jenes numerischen Moments für die Machtfrage durch zwei andere Faktoren überwunden wird: die Organisation der Macht in den Händen der Staatsgewalt und die moralische Macht des Staatsgedankens.

Die Staatsgewalt, substantiell betrachtet, ist nichts als ein für gewisse soziale Zwecke ausgeschiedenes Quantum der Volkskraft (der physischen, geistigen, ökonomischen) und zwar, wie kaum bemerkt zu werden braucht, stets ein ungleich kleineres, als dasjenige, welches auf Seiten des Volkes zurückbleibt. In quantitativer Bezieung ist also der natürliche Träger der Macht: das Volk dem künstlichen Träger derselben: dem Staat stets überlegen. Aber dies Verhältnis beider wird dadurch wesentlich umgestaltet, daß die Macht des Volkes bloße Substanz, die des Staats organisiert ist. Das Übergewicht der organisierten Macht über die unorganisierte Macht ist das Übergewicht des Mannes, der zwar nur ein Schwert besitzt, aber ein scharfgeschliffenes und jeder Zeit bereites, über denjenigen, der deren mehrere besitzt, aber stumpfe, und die er erst suchen muß, wenn er sie nötig hat, und die er nicht zu führen versteht.

Die praktische Moral für den Staat ist damit von selbst gegeben, sie besteht positiv in der möglichsten Vollendung der Organisation seiner eigenen Machtmittel und negativ in der Verhinderung der ihm bedrohlich werdenden Organisation der Machtmittel des Volkes. Wenn jede Kunst ihre Technik hat, so läßt sich jene Organisation als die eigentliche  Technik der Staatskunst  bezeichnen, und wenn man einen Virtuosen denjenigen nennt, der die Technik bis zur Vollendung ausgebildet hat, so darf man auch in Bezug auf jene Art der Technik von einem Virtuosentum des Staates sprechen. Die Technik ist nicht das Höchste, denn über ihr steht der Gedanke, dem sie dienen soll, aber sie ist die Bedingung des Höchsten. Was sie zu bedeuten hat, zeigt beispielsweise die Geschichte Roms und der Vergleich des früheren deutschen Reichs mit demjenigen Staate der Gegenwart, der wie kein anderer die Geringfügigkeit seiner Machtmittel durch musterhafte Organisation auszugleichen verstanden hat: Preussen.

Das ist die positive Seite der Aufgabe. Die negative Seite derselben besteht in der Verhinderung einer dem Staat bedrohlichen Organisation feindlicher Elemente, oder, da die Organisation in Form der Vereine erfolgt, in der richtigen legislativen Gestaltung und der sorgsamen administrativen Überwachung des Vereinswesens. Die Machtmittel der Vereine sind qualitativ von denen des Staates nicht verschieden, und in quantitativer Beziehng liegt in ihnen selber kein Moment, welches der Ansammlung derselben eine bestimmte Grenze setzt; der Verein kann mehr Vermögen besitzen, als der Staat, und wenn er sich über die Grenzen des Territoriums ausdehnt, mehr Mitglieder zählen, als der Staat. Nimmt man nun noch hinzu, daß der Verein für seine Zwecke ganz denselben Mechanismus zur Anwendung bringt, wie der Staat, so ergibt sich daraus die hohe Gefahr, welche er für ihn in sich schließt. Sein wirksamster Gehilfe bei der Verfolgung der sozialen Zwecke, wenn er auf seiner Seite steht, verwandelt er sich in seinen gefährlichsten Feind, wenn er eine entgegengesetzte Richtung einschlägt.

Der Staat ist, wie der berufene, so auch der einzige Inhaber der sozialen Zwangsgewalt, - das Zwangsrecht bildet das  absolute Monopol  des Staates. Jeder Verein, der die Ansprüche gegen seine Mitglieder auf dem Wege des mechanischen Zwanges realisieren will, ist auf  seine  Mitwirkung angewiesen, und der Staat hat es in seiner Hand, die Bedingungen, unter denen er dieselbe gewähren will, festzustellen. Das heißt aber mit anderen Worten: der Staat ist die einzige Quelle des Rechts, denn Normen, welche von demjenigen, der sie aufstellt, nicht erzwungen werden können, sind keine  Rechtssätze.  Es gibt daher kein von der Autorität des Staates unabhängiges, sondern nur ein von ihm abgeleitetes  Vereinsrecht.  Damit hat der Staat, wie der Begriff der höchsten Gewalt es mit sich bringt, den Prinzipat über sämtliche Vereine auf seinem Gebiete, und dies gilt auch für die Kirche. Gesteht er ihnen innerhalb ihrer Sphäre ein Zwangsrecht zu, so gilt dies nur auf so lange, als er es für gut findet, - ein staatsrechtliches Prekarium, das aller entgegenstehenden Zusicherunen ungeachtet jeder Zeit von ihm wieder zurückgenommen werden kann, da derartige Verträge, als dem Wesen des Staates widersprechend, null und nichtig sind. Die Meinung, als ob der Wille des Einzelnen ausreiche, einem anderen die Zwangsgewalt über sich zu übertragen, sei es einem Individuum oder Verein, bedarf keiner ernstlichen Widerlegung. Wäre sie begründet, so könnte sich der Gläubiger das Recht des SHYLOCK, und ein Verein für sich den Fall des Austritts eines Mitgliedes dessen ganzes Vermögen ausbedingen; der Staat hätte nur den Büttel zu spielen, der diese Vereinbarungen ausführte. Die Autonomie der Individuen wie der Vereine findet ihre Grenze an der durch die Rücksichten auf das Wohl der Gesellschaft geleiteten Kritik des Staats, sein ist die Zwangsgewalt, sein das Urteil darüber, für welche Zwecke er sie in Anwendung bringen will.

Als  zweites  Moment, auf dem das Übergewicht des Staates über die elementare Volkskraft beruht, ward oben die  moralische Macht  des Staatsgedankens genannt. Ich verstehe darunter alle diejenigen psychologischen Motive, welche, wenn wir uns den Staat und das Volk im Kampf miteinander denken, für die Sache des Staates in die Wagschale fallen: die Einsicht in die Notwendigkeit der staatlichen Ordnung, denn Sinn für Recht und Gesetz, die Angst vor der mit jeder Störung der Ordnung verbundenen Bedrohung der Person und des Eigentums, die Furcht vor der Strafe.

Wir haben hiermit die  äußere  Seite in der Organisation der sozialen Zwangsgewalt beschlossen und wenden uns nunmehr der  inneren  zu, d. i. dem Recht.
LITERATUR, Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, Leipzig 1884
    Anmerkungen
    1) Rechtsstrafgesetzbuch Art. 54: Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Fall der Notwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters oder eines Angehörigen begangen wird.
    2) Die "universitas" der Römer. Beiden Ausdrücken, dem deutschen und dem lateinischen, ruht dieselbe Vorstellung der Einheit des Getrennten zu Grunde (in unum vertere = sich vereinigen). "Vereinbaren" wird bloß im objektiven Sinn gebraucht, Vereinbarung = Vertrag; "vereinigen" dagegen im objektiven und subjektiven Sinn ( über  etwas = sich vereinbaren;  zu  etwas = sich verbinden), Verein nur im subjektiven Sinn. Den sprachlich bereits fest ausgeprägten Ausdruck "Verein" durch  Genossenschaft  zu ersetzen, ist meines Erachtens durch kein Bedürfnis geboten.
    3) Gerade bei solchen, die ohne ernstere Zwecke nur von Nichtigkeiten leben: von Namen, Fahnen, Farben, Vorständen, Aufzügen, Zusammenkünften, Eitelkeit, Eifersucht, treibt er oft die erbaulichsten Blüten. Es gibt ein eigenes Stück Narrheit im Menschen, eine partikuläre mania sine delirio, die sich mit sonstiger geistiger Gesundheit vollständig verträgt: die Vereinsnarrheit, sie ersetzt erwachsenen Kindern das Spielzeug der letzteren. In England, wo der Assoziationstrieb sich am reichsten und gesündesten entfaltet hat, scheint er zugleich diese ergötzlichen Auswüchse in üppiger Fülle hervorgetrieben zu haben, wofür ich auf die reizende Persiflage von Boz Dickens in seinen Pickwickern Bezug nehme.