Felix DahnEmil LaskJulius von KirchmannGustav von RümelinOtto Gierke | |||
Der Zweck im Recht (5/7) VIII. Der Zwang (3)
Unterordnung der Staatsgewalt unter das Gesetz Die bisherige Ausführung hatte zum Zweck, die Begriffe, welche die Begriffsentwicklung der zweiseitigen Norm an uns herantrug: Willkür, Gleichheit, Gerechtigkeit genauer festzustellen und die Anwendung, welche sie auf den Gesetzgeber erleiden, von derjenigen beim Richter, um die es uns allein zu tun ist, abzuheben. Wir kehren nunmehr zur zweiseitigen Norm zurück. Wir bestimmten den Begriff derselben oben als Unterordnung der Staatsgewalt unter die von ihr selber erlassenen Gesetze. Was heißt Unterordnung? Wie kann die Staatsgewalt sich unterordnen, da sie ja ihrem Begriff nach keine andere Gewalt über sich hat? Oder wenn die Unterordnung lediglich in Selbstbeschränkung besteht, wer sichert dieselbe? Wie gelangt sie zu dem Gedanken, sich ein Maß, eine Beschränkung in Bezug auf den Gebrauch ihrer Gewalt aufzuerlegen? Tut sie wohl daran? Darf sie es in allen Richtungen tun? Oder gibt es nicht eine Sphäre, wo auch das bloß einseitig verbindende Gesetz und selbst die Invidualverfügung ihre volle Berechtigung hat? Das sind die Fragen, auf welche wir uns Aufklärung verschaffen müssen. Ich ordne das Material, das sie in sich schließen, unter folgende drei Gesichtspunkte:
2. die Garantien, 3. die Grenzen der Unterordnung der Staatsgewalt unter das Gesetz Welches Motiv kann die Gewalt vermögen, sich dem Gesetz unterzuordnen? Dasselbe Motiv, das ausreicht, den Menschen zur Selbstbeherrschung zu bestimmen: das eigene Interesse. Die Selbstbeherrschung macht sich selber bezahlt. Aber um das zu wissen, bedarf es der Erfahrung und der Einsicht. Den Einsichtslosen lehrt die Erfahrung nichts, es bedarf der Einsicht, um die Lehren der Erfahrung zu vernehmen, und der moralischen Kraft, um sie zu verwerten. Diese beiden Voraussetzungen als gegeben angenommen, also die Gewalt gepaart gedacht mit Einsicht und moralischer Kraft, ist das Problem, das wir der Gewalt gestellt haben, gelöst - sie greift zum Recht, weil sie sich überzeugt, daß ihr eigenes wohlverstandenes Interesse es erheischt. Wie der Gärtner den Baum pflegt, den er gepflanzt hat, so pflegt sie das Recht, nicht des Baumes, sondern ihrer selbst willen, beide wissen, daß er gewartet und geschont werden muß, wenn er Früchte tragen soll, und daß die Früchte die Mühe lohnen. Nur woe die Staatsgewalt selber die von ihr vorgeschriebene Ordnung befolgt, gewinnt letztere ihre rechte Sicherheit, nur wo das Recht herrscht, gedeiht der nationale Wohlstand, blühen Handel und Gewerbe, nur da entfaltet sich die dem Volke innewohnende geistige und moralische Kraft zu ihrer vollen Stärke. Das Recht ist die wohlverstandene Politik der Gewalt - nicht die kurzsichtige Politik des Augenblicks, des momentanen Interesses, sondern die weitsichtige Politik, welche in die Zukunft blickt und das Ende erwägt. Die Bedingung dieser Politik ist die Selbstbeherrschung. Die Selbstbeherrschung aber ist wie bei dem Individuum, so auch bei der Staatsgewalt Sache der Übung, es bedarf der Jahrhunderte, bis die Staatsgewalt von dem von uns angenommenen Ausgangspunkt der unbeschränkten Gewalt aus nach langem Schwanken und manchen Rückfällen in ihre ursprüngliche Weise zur festen unverbrüchlichen Beachtung des Rechts gelangt. Es gibt ihrer zwei, die eine ist innerlicher, die andere äußerlicher Art, die eine ist das Rechtsgefühl, die andere die Rechtspflege. So wenig sich im Diener ein Ordnungssinn entwickeln kann, wenn der Herr tatsächlich die Ordnung unmöglich macht, eben so wenig ein Rechtssinn in den Staatsangehörigen, wenn die Staatsgewalt die von ihr selber erlassenen Gesetze mit Füßen tritt - die Achtung vor dem Recht kann unten nicht gedeihen, wenn es oben daran fehlt. Das Rechtsgefühl bedarf der Verwirklichung, damit es erstarke, es kann sich nicht entwickeln, wenn die tatsächliche Welt den Anforderungen, die es erhebt, Hohn spricht. Es verhält sich mit ihm nicht anders, als mit dem Schönheitsgefühl. Dasselbe entwickelt sich nur, indem es sich objektiviert, sich versucht in der Gestaltung des Schönen. Objektives und Subjektives, Innerliches und Äußerliches stehen in engster Wechselwirkung, sich gegenseitig bedingend und fördernd, - nur im und am Schönen gedeiht das Schönheitsgefühl, nur im und am Recht das Rechtsgefühl. Der Punkt, bei dem die Entwicklung des Rechtsgefühls zuerst ansetzt, ist das Privatrecht. Auch das blödeste Auge reicht aus, um das Interessengebiet des Privatrechts zu überschauen, auch der einfachste Verstand begreift, was im Privatrecht für ihn auf dem Spiel steht, und gelangt hier, indem er sich rein auf die Sphäre des eigenen Ichs beschränkt, zur Abstraktion des Rechts im subjektiven Sinn. Das ist der Gesichtswinkel, unter welchem der Egoismus die Rechtsordnung ursprünglich zuerst erfaßt und zu erfassen vermag. Nicht das Recht ist es, was ihn kümmert, sondern sein Recht, sein Recht aber reicht über das, was ihn unmittelbar berührt, nicht hinaus. Aber der Egoismus ist gelehrig. Eine der frühesten Erfahrungen, die er macht, besteht darin, daß im Recht des andern auch sein eigenes mißachtet und gefährdet wird, und daß er in jenem sein eigenes verteidigt. Das Privatrecht ist derjenige Teil des Rechts, dessen praktische Bedeutung für das Gemeinwesen am frühesten empfunden wird, und auf dem das Rechtsgefühl sich tatsächlich am ersten realisiert hat. Ungleich später geschieht dies auf dem Gebiete des öffentlichen und wunderbarerweise auch auf dem des Strafrechts. Ersteres ist begreiflich, letzteres höchst überraschend. Was hilft alle Sicherheit des Privatrechts, wenn die Strafgewalt des Staates nicht in feste Grenzen eingeschlossen ist? Mittels willkürlicher Ausübung der letzteren kann die Staatsgewalt das ganze Privatrecht vereiteln - sie schützt dasselbe durch den Zivilrichter gegen die Privatperson, aber sie selber negiert es durch den Strafrichter. Aber wie spät immerhin auch auf diesen beiden Gebieten das Rechtsgefühl seine Anforderung der Rechtssicherheit realisiere, da es hier einem ungleich hartnäckigeren Widerstand der Staatsgewalt begegnet als auf dem des Privatrechts: einmal zur Kraft gelangt auf dem Boden des letzteren, wird es durch die Konsequenz seiner selber unaufhaltsam weiter getrieben, bis es schließlich seine Anforderung der Rechtssicherheit im vollen Umfange verwirklicht hat. Das ist der Schlußpunkt der Entwicklung: das objektive, tatsächlich verwirklichte Recht und das subjektive Rechtsgefühl beide auf derselben Höhe, beide sich gegenseitig bedingend stützend. Auf der moralischen Macht des nationalen Rechtsgefühls beruth in letzter Instanz die ganze Sicherheit des Rechts. Nicht auf der Verfassung - man mag sie aussinnen so künstlich, wie man will, es läßt sich keine denken, welche die Staatsgewalt faktisch der Möglichkeit beraubte, das Gesetz mit Füßen zu treten. Nicht auf den Eiden, durch die man sie zu sichern gedenkt - die Erfahrung zeigt, wie oft sie gebrochen werden. Nicht auf dem Nimbus der Heiligkeit und Unverletztlichkeit, mit dem die Theorie das Gesetz bekleidet - sie imponiert der Willkür nicht. Was ihr imponiert, ist lediglich die reale Kraft, die hinter dem Gesetz steht, ein Volk, das in dem Recht die Bedingung seines Daseins erkannt hat und dessen Verletzung als eine Verletzung seiner selbst empfindet, ein Volk, von dem zu gewärtigen ist, daß es äußersten Falles für sein Recht in die Schranken tritt. Ich meine damit nicht, daß dieses niedere Motiv der Furcht und Scheu das einzige sei, welches die Staatsgewalt zur Befolgung der Gesetze veranlassen solle, es ist nur das letzte, äußerste, welches selbst dann seine Dienste nicht versagt, wenn das Höhere: die Achtung vor dem Gesetz seiner selbst wegen fehlt. Es verhält sich mit der Sicherung des Gesetzes nach oben hin nicht anders, als mit der nach unten hin. Die Furcht vor dem Gesetz soll durch die Achtung vor demselben ersetzt werden. Aber wo dies nicht der Fall ist, bleibt als Letztes immer noch die Furcht über, und in diesem Sinn bezeichne ich die Furcht der Staatsgewalt vor der Reaktion des nationalen Rechtsgefühls als die letzte Garantie der Sicherheit des Rechts, ohne mir zu verhehlen, daß das Rechtsgefühl, wenn einmal im Volke zur vollen Kraft gelangt, auch an der Staatsgewalt seinen rein moralischen Einfluß nicht verleugnen wird. So hängt die Sicherheit des Rechts schließlich nur an der Energie des nationalen Rechtsgefühls. Die Kraft und das Ansehen der Gesetze steht überall auf gleichem Niveau mit der moralischen Kraft des Rechtsgefühls - ein lahmes nationales Rechtsgefühl ein unsicheres Recht, ein gesundes, kräftiges nationales Rechtsgefühl ein sicheres Recht. Die Sicherheit des Rechts ist überall das eigene Werk und Verdienst des Volks, sie ist ein Gut, das die Geschichte keinem Volke schenkt, sondern das von jedem in mühsamem Ringen, nicht selten mit blutiger Tat errungen werden muß. Der Wert der Rechtssicherheit ist so einleuchtend, daß man es für überflüssig halten mag, wenn ich darüber ein Wort verliere und in Bezug auf den Wert derselben für die äußere Ordnung des Lebens, insbesondere für Handel, Wandel, Verkehr ist dies in der Tat auch nicht erforderlich. Denn wem müßte es noch erst gesagt werden, daß der Wert der Dinge nicht bloß von ihrer realen Brauchbarkeit, der Wert des Grund und Bodens nicht bloß von seiner Fruchtbarkeit, der des Vermögens, der Forderungen usw. nicht bloß von ihrem Betrage, sondern wesentlich von der rechtlichen und faktischen Sicherheit ihrer Behauptung abhängt? Wäre es anders, so müßte das Grundeigentum in der Türkei denselben Wert haben, wie bei uns, aber der Türke weiß sehr wohl, warum es vorteilhafter für ihn ist, sein Grundstück auf die Moschee zu übertragen und es von ihr gegen Zahlung eines Schutzgeldes (Auflage eines jährlichen Kanons) zu Lehn zu nehmen (Vakuf), als selber Eigentümer zu bleiben - nur die Moschee genießt in der Türkei Rechtssicherheit! Ähnliche Übertragungen kamen bekanntlich auch bei uns im Mittelalter sehr häufig vor, in der späteren römischen Kaiserzeit war dieser Zweck eins der Motive der Abtretung von Ansprüchen an mächtige Personen. Dem ökonomischen Wert der Rechtssicherheit, den ich hier nicht weiter ausführe, steht gegenüber der moralische. Ich setze denselben in die Bedeutung der Rechtssicherheit für die Entwicklung des Charakters. Zu den charakteristischen Erscheinungen despotisch regierter Gemeinwesen gehört der auffallende Mangel an Charakteren. Sämtliche Despotien der Welt zusammengenommen haben im Lauf der Jahrtausende nicht so viele Charaktere erzeugt, als das kleine Rom in seiner guten Zeit im Lauf eines Jahrhunderts. Worin liegt der Grund? Im Volkscharakter? Der Volkscharakter selber bildet sich erst im Lauf der Zeit; warum hat er sich in Rom so vollständig anders entwickelt, als in der Türke? Es gibt darauf nur die eine Antwort: weil das römische Volk sich von früh auf in den Besitz der Rechtssicherheit zu setzen verstand. Man sage nicht, daß dies ein Zirkelschluß sei, daß damit das Recht als Voraussetzung des Volkscharakters und dieser wiederum als Voraussetzung des Rechts gesetzt sei, denn es liegt hier dasselbe Verhältnis der Wechselwirkung vor, wie bei der Kunst: das Volk macht die Kunst, aber die Kunst wiederum das Volk, das Volk macht das Recht, aber das Recht wiederum das Volk. Ohne objektive Rechtssicherheit kein subjektives Sicherheitsgefühl, ohne letzteres keine Charakterentwicklung. Der Charakter ist die innere Festigkeit und Unerschütterlichkeit der Persönlichkeit - damit letztere sich entwickle, muß sie in der Außenwelt die Bedingungen dafür vorfinden. Wo die Volksmoral im Sichfügen, Sichunterordnen, in der Politik der List, Schlauheit, Verstellung, hündischer Unterwürfigkeit besteht, können sich keine Charaktere bilden, ein solcher Boden trägt nur Sklaven und Diener, - diejenigen von ihnen, welche sich als Herrn gerieren, sind nur verkleidete Bediente, herrisch und brutal gegen die Niedrigen, kriechend und feige gegen die Höheren. Zur Entwicklung des Charakters bedarf es für den Menschen von früh auf des Sicherheitsgefühls. Dieses innerliche, subjektive Sicherheitsgefühl aber hat die äußere, objektive Sicherheit innerhalb der Gesellschaft zu ihrer Voraussetzung, letztere aber wird dem Menschen gewährt durch das Recht. Felsenfest und unerschütterlich wie der Gläubige in seinem Vertrauen auf Gott, steht der Mann des Rechts in dem seinigen auf das Recht, oder richtiger beide vertrauen nicht bloß auf etwas außer ihnen Befindliches, sondern sie fühlen Gott und das Recht in sich als den festen Grund ihres Daseins, als lebendiges Stück ihrer selbst, das eben darum keine Macht der Erde von ihnen lösen, sondern nur in und mit ihnen zerstören kann. Das ist bei beiden die Quelle ihrer Kraft. Die Angst des Ichs in der Welt, welche die natürliche Empfindung des rein auf sich selber angewiesenen belebten Atoms ist, diese Angst ist mit der höheren Macht, an der es seinen Halt gewonnen hat, abgetan, es fühlt sie in sich und sich in ihr. An die Stelle der Angst und der Furcht ist getreten ein festes, unerschütterliches Sicherheitsgefühl. Unerschütterliches Sicherheitsgefühl - das ist in meinen Augen der richtige Ausdruck für die Stimmung, welche das Recht und die Religion, wo sie ihrer Idee entsprechen, im Menschen hervorbringen. Das Recht gibt ihm das Sicherheitsgefühl, in Bezug auf sein Verhältnis zu den Menschen, die Religion in Bezug auf sein Verhältnis zu Gott. Die Sicherheit, die beide gewähren, ist zugleich Abhängigkeit. Darin liegt kein Widerspruch, denn Sicherheit ist nicht Unabhängigkeit - die gibt es für den Menschen nicht - sondern gesetzliche Abhängigkeit. Aber die Abhängigkeit ist die Kehrseite, die Sicherheit die Vorderseite. Darum kann ich die bekannte Definition von SCHLEIERMACHER, welcher die Religion als das Abhängigkeitsgefühl von Gott definiert, nicht billigen, denn sie macht die Rückseite zur Vorderseite. Sie mag zutreffen für diejenigen Entwicklungsstufe des religiösen Gefühls, die der Stufe der Despotie in der Geschichte des Rechts entspricht - hier ist das Ahängigkeitsgefüh in der Tat die richtige Bezeichnung des Verhältnisses - aber sie trifft nicht zu für den endlichen Abschluß besteht sowohl bei der Religion, wie bei dem Recht darin, daß das Sicherheitsgefühl das Abhängigkeitsgefühl überwindet. In diesem Sinn, also vom psychologischen Standpunkt aus, kann man das Recht definieren als Sicherheitsgefühl im Staat, die Religion als das Sicherheitsgefühl in Gott. Dem Rechtsgefühl, als der inneren Garantie des gesicherten Bestehens des Rechts stellte ich oben die Rechtspflege als die äußere gegenüber. Der eigentümliche Charakter der Rechtspflege im Gegensatz zu den sonstigen Aufgaben und Zweigen der staatlichen Tätigkeit beruht auf zwei Momenten: der inneren Eigentümlichkeit des Zwecks und der äußeren Eigentümlichkeit der Mittel und Formen, in denen derselbe verfolgt wird. In der ersteren Richtung beruth das Abweichende der Rechtspflege von den sonstigen Zweigen der Staatstätigkeit darauf, daß sie ausschließlich das Recht verwirklichen soll - ihr Wahlspruch ist das Recht und nichts als das Recht. Auch die Verwaltungsbehörden des Staates sind zwar, so weit das Recht reicht, ebenfalls verpflichtet, dasselbe zur Anwendung zu bringen, aber bei ihnen gesellt sich zu dem Recht als zweiter Faktor noch die Zweckmäßigkeit hinzu. Im Gegensatz zu ihnen sind diejenigen Behörden, die mit der Rechtspflege im engeren betraut sind: die richterlichen ausschließlich auf das Recht verwiesen. Der Richter soll gewissermaßen nichts sein, als das lebendig gewordene Gesetz. Könnte die Gerechtigkeit vom Himmel steigen und den Griffel zur Hand nehmen, um das Recht so bestimmt, genau und detailliert aufzuzeichnen, daß die Anwendung desselben sich in eine bloße Schablonenarbeit verwandeln würde: es ließe sich für die Rechtspflege nichts Vollkommeneres denken, es wäre das vollendete Reich der Gerechtigkeit auf Erden, denn mit der Idee der Gerechtigkeit ist die absolute Gleichheit und die dadurch geforderte Gebundenheit des richterlichen Urteils so wenig unverträglich, daß sie im Gegenteil das höchste Ziel desselben bildet. Der Idee der Zweckmäßigkeit dagegen widerstreitet diese Gebundenheit durch ein im Voraus festbestimmte detaillierte Norm in dem Maße, daß die gänzliche Ungebundenheit durch irgendwelche Norm immerhin noch vorteilhafter wäre, als die absolute Gebundenheit der Rechtspflege auf die sonstigen Zweige der Staatstätigkeit würde den Staat in den Zustand der Erstarrung versetzen. Auf diesem Gegensatz der beiden Ideen: der ihrer Natur nach gebundenen Gerechtigkeit und der ihrer Natur nach freien Zweckmäßigkeit beruth der innere Gegensatz zwischen der Rechtspflege und der Verwaltung (Regierung) und die Sprache hat ihn treffend wiedergegeben. (1) Dieser inneren oder Zweckverschiedenheit der Rechtspflege und der Verwaltung der Regierung entspricht die Verschiedenheit der äußeren Organisation. Bei allen Kulturvölkern wiederholt sich auf einer gewissen Entwicklungsstufe des Rechts die Trennung der Rechtspflege von den übrigen Zweigen der Staatstätigkeit - der Richter ist eine Figur, die bei ihnen überall wiederkehrt. Eine äußere Vereinigung der richterlichen und administrativen Funktionen in einer und derselben Person ist dadurch nicht ausgeschlossen, das Entscheidende ist nur, daß die beiden Sphären innerlich geschieden, d. h. daß in Bezug auf die eine andere Grundsätze vorgezeichnet sind, als in Bezug auf die andere. Aber die Erfahrung hat gelehrt, daß das innere Auseinanderhalten der beiden Sphären wesentlich gefördert und gesichert wird, wenn zu der inneren Scheidung die äußere nach Personen hinzukommt (Trennung von Justiz und Verwaltung), da es das Können des Menschen übersteigt, zwei gänzlich verschiedene Anschauungs- und Behandlungsweisen in dem Maße in sich auszubilden und zu beherrschen, daß er je nach Verschiedenheit des Gegenstandes bald die eine, bald die andere zur Anwendung bringen vermöchte, ohne daß die eine die andere beeinflußte. Die Scheidung der Rechtspflege von der Verwaltung muß, wenn sie ihres Zweckes völlig sicher sein soll, eine äußere nach Personen und Behörden sein. Als Grund für diese Forderung darf man nicht lediglich das Gesetz der Teilung der Arbeit anrufen: die Erwägung, daß das Recht wegen seiner Umfänglichkeit und Schwierigkeit seinen besonderen Mann erfordere. Das Gesetz der Teilung der Arbeit gilt auch für die Verwaltung. Das Bauwesen erfordert einen anderen Mann, als das Münzwesen, das Forstwesen einen anderen als der Bergbau, und der Staat richtet für alle diese verschiedenen Zwecke besondere Behörde ein. Die Ausscheidung der Rechtspflege von der Verwaltung hat sich historisch bereits zu Zeiten vollzogen, wo das Recht eine derartige reichere und feinere Ausbildung, wie sie bei dieser Annahme vorausgesetzt wird, noch keineswegs erlangt hatt; man vergleiche z. B. Rom, wo der judex, und Deutschland, wo der Schöffe jener höheren Entwicklungsstufe des Rechts lange vorausging, und bei unserem heutigen Geschworenen-Institut wird von dem Erfordernis eines besonderen Wissens des Rechts gänzlich abgesehen. Auf das Gesetz der Teilung der Arbeit läßt sich mithin die Ausscheidung der Rechtspflege von der Verwaltung nicht zurückführen, der Grund muß ein anderer sein. Er liegt in der oben hervorgehobenen Eigentümlichkeit der Aufgabe des Rechts im Gegensatz zu allen sonstigen Aufgaben der Staatstätigkeit. Ausscheidung der Rechtspflege zu einem besonderen Zweige der staatlichen Tätigkeit heißt das Zurückziehen des Rechts auf sich selbst und seine Aufgabe zum Zweck der gesicherten und vollendeten Lösung derselben. Schon die bloße Tatsache der äußeren Trennung der Justiz von der Verwaltung, ganz abgesehen von den sofort namhaft zu machenden Einrichtungen und Garantien, welche sich noch hinzugesellen, ist für jenen Zweck von hohem Wert. Indem die Staatsgewalt die Rechtspflege ausscheidet, erkennt sie damit grundsätzlich die Aufgabe des Rechts als eine besondere, als eine solche an, für die andere Rücksichten maßgebend sind als für alle diejenigen, welche sie sich selber reserviert. Indem sie das Rechtsprechen dem Richter überweist, legt sie tatsächlich vor allem Volk die Erklärung ab, daß sie selber sich dessen begeben wolle. Einsetzung des Richteramts bedeutet prinzipielle Selbstbeschränkung der Staatsgewalt in Bezug auf den dem Richter zur Verwirklichung überwiesenen Teil des Rechts, Ermächtigung des Richters, unabhängig von ihr, ganz nach eigener Überzeugung das Recht zu finden, und Zusicherung der bindenden Kraft des von ihm gefällten Spruchs. Wie eng und weit sie immerhin die Grenzen abstecken will, innerhalb dieser Grenzen hat sie dem Richter die Selbständigkeit eingeräumt, eine Mißachtung derselben bringt sie mit sich selber in offenem Widerspruch, stempelt ihr Verfahren zu einem Rechtsbruch, einem Justizmord - die Staatsgewalt, welche die von ihr selbst geschaffene Rechtsordnung antastet, hat sich selber das Urteil gesprochen. Dem bisherigen nach schließt mithin schon die rein äußerliche Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung einen höchst gewichtigen Fortschritt auf der Bahn des Rechts in sich, sie enthält, wenn ich mir einen juristischen Vergleich erlauben darf, die Emanzipation der Rechtspflege von der Staatsgewalt mittels separierter Ökonomie. Die Justiz zieht aus, und dieses bloße Ausziehen hat die Folge, daß die Staatsgewalt, wenn sie sich an ihr vergreifen will, erst über die Straße muß, während sie, so lange dieselbe noch unter ihrem Dach wohnte, die Sache unbemerkt zwischen vier Wänden abmachen konnte. Sehen wir uns jetzt den Haushalt der Justiz und die Einrichtungen, welche er mit sich bringt, näher an. Derselbe setzt sich zusammen aus vier Bestandteilen:
2. dem Richter zur ausschließlichen Anwendung überwiesen ist, und zwar zur Anwendung auf 3. zwei streitende Parteien und 4. in Form eines fest vorgezeichneten Verfahrens (Prozeß). Eine andere Gestaltung des Rechts, welche denselben Zweck, wie die obige, nur in noch weniger geeigneter Weise verfolgt, ist die kasuistische, welche dem Richter anstatt allgemeiner Prinzipien, deren richtige Anwendung auf den einzelnen Fall seiner eigenen Einsicht überlassen ist, Detailsbestimmungen für jeden einzelnen Fall, juristischer Rezepte für die Entscheidung aller möglichen Rechtshändel gibt, welche ihn allen weiteren Suchens überheben sollen. Die Unmöglichkeit, die unendlich bunte und mannigfaltige Gestaltung der Fälle in voraus zu übersehen, stempelt diesen Versuch der absoluten Fixierung der richterlichen Entscheidung zu einem von vornherein verfehlten. Der Gedanke, der dabei vorschwebt, ist der, die Anwendung des Gesetzes zu einer rein mechanischen zu machen, bei der das richterliche Denken durch das Gesetz überflüssig gemacht werden soll; man wird an die von VAUCANSON konstruierte Ente erinnert, welche auf mechanischem Wege den Verdauungsprozeß besorgte - vorn wird der Fall in die Urteilsmaschine hineingeschoben, hinten kommt er als Urteil wieder heraus. Die Erfahrung hat auch hier gerichtet - der Kopf des Richters läßt sich durch den Gesetzgeber nicht ersetzen, der Erfolg, den er durch derartige Versuche erreicht, besteht in Wirklichkeit nur darin, daß er ihn abstumpft. Ich wende mich den drei übrigen Erfordernissen der Rechtspflege zu. Sie sind derselben eigentümlich. Die Gestalt, in der das Recht in Form der Rechtspflege zur Anwendung gelangt, beruht darauf, daß es geschieht: zwischen zwei streitenden Parteien - unter Innehaltung eines dafür vorgezeichneten Verfahrens (Prozeß) - durch den Richter. Der Angelpunkt, um den die ganze Rechtspflege sich dreht, ist der Rechtsstreit. Ein Streit setzt zwei streitende Teile voraus: die Parteien. Im Zivilprozeß sind dies der Kläger und der Beklagte, im Strafprozess die Staatsgewalt und der Angeklagte. Der Streit soll durch einen Dritten, der an der Entscheidung kein persönliches Interesse hat, geschlichtet werden. Das ist die Aufgabe des Richters, und die Stellung, welche die Staatsgewalt ihm anweist, muß danach angetan sein, daß er diese Aufgabe erfüllen kann. Dem Richter, wie dies im früheren Kriminalprozeß geschah, neben seiner Rolle als Richter zugleich die der einen Partei (der den Verbrecher verfolgenden Staatsanwalt) zuzuweisen, enthielt eine Gestaltung des Verhältnisses, welche die an den Richter ergehende Anforderung der Unparteilichkeit im höchsten Grade erschwerte - Partei sein und unparteiisch sein, ist nicht miteinander zu vereinigen. Das Verhältnis der Parteien zum Richter ist das der rechtlichen Unterordnung, ihr beiderseitiges das der rechtlichen Gleichheit . Auch die Staatsgewalt, wenn sie in einem Zivilprozeß oder im Strafprozeß als Partei auftritt, ordnet sich rechtlich dem Richter unter, sie tritt auf eine Linie mit der Privatperson, sie wird Partei wie jede andere. In Verhältnissen, wo ihr dies ungeeignet erscheint, muß sie gesetzlich die Entscheidung nicht dem Richter zuweisen, sondern sich selber vorbehalten; hat sie ersteres einmal getan, so muß sie auch die Konsequenzen auf sie nehmen und prozessieren wie jede andere Partei, d. h. sich ganz dem Richter und den Regeln des Prozesses unterordnen. Das beiderseitige Verhältnis der Parteien im Prozeß ist das der rechtlichen Gleichheit. Die Waffen, mit denen sie sich bekämpfen, müssen gleich zugemessen, Licht und Schatten muß gleich verteilt sein. Das ist die erste aller Anforderungen, welche die Organisation des prozessualischen Verfahrens zu verwirklichen hat, es ist die der prozessualen Gerechtigkeit , welche auch hier wiederum mit Gleichheit zusammenfällt; alle anderen treten ihr gegenüber in die zweite Linie zurück, sie haben nur die Zweckmäßigkeit zum Gegenstand. Partei, Richter, Prozesse bilden demnach die drei eigentümlichen Kriterien der Rechtspflege. Daraus ergibt sich, daß das Kriegs- oder Standrecht nicht zur Rechtspflege gehört; die Staatsgewalt sucht hier nicht Recht vor einem übergeordneten Richter, sondern sie spricht es selber, - das " Kriegsgericht", das sie bestellt, ist sie selbst, es trägt vom Gericht nur den Namen an sich, in Wirklichkeit fungiert es wie eine Verwaltungsbehörde. Wie weit der Staat den Umfang der Rechtspflege im wahren Sinn des Wortes zu erstrecken habe, ist eine Frage der Politik. Bis vor kurzem beschränkte er sich auf die Zivil- und Strafrechtspflege, wir kannten nur den Zivil- und den Straf richter, den Zivil- und den Straf prozess, aber der staatsrechtliche Fortschritt, den unsere neue Zeit gemacht hat, hat auch der Rechtspflege eine erweiterte Ausdehnung gegeben (Staatsgerichtshof, Administrativjustiz) und wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach im Lauf der Zeit noch immer mehr tun. Wie genau nun auch das Recht, das in materieller und prozessualischer Beziehung zur Anwendung gelangen soll, vorgezeichnet sein mag: der ganze Erfolg der Rechtspflege ruht schließlich auf zwei Voraussetzungen in der Person des Richters, deren Sicherung daher das Hauptaugenmerk der Gesetzgebung bilden muß. Die ein ist intellektueller Art: das nötige Wissen und die erforderliche Fertigkeit in der Anwendung derselben, sagen wir kurz die theoretische und praktische Beherrschung des Rechts. Die Einrichtungen der heutigen Zeit, welche sie zu sichern bestimmt sind, sind bekannt: das Rechtsstudium, die Staatsprüfungen und der Probedienst. Die zweite ist moralischer Art, Sache des Charakters: die nötige Willensfestigkeit und der moralische Mut, um unbeirrt durch Rücksichten irgendwelcher Art, durch Hass und Freundschaft, durch Mitleid und Menschenfurcht das Recht zur Geltung zu bringen, es ist die Eigenschaft der Gerechtigkeit im subjektiven Sinn. Der wahre Richter kennt kein Ansehen der Person, die Parteien, die vor ihm auftreten, sind für ihn nicht diese bestimmten Individuen, sondern abstrakte Personen in der Maske von Kläger und Beklagtem, er sieht nur die Maske, nicht das Individuum, das hinter ihr steckt. Abstraktion von jedem konkreten Beiwerk, Erhebung des konkreten Falles auf die Höhe der durch das Gesetz abstrakt entschiedenen Situation, Behandlung desselben nach Art eines Rechenexempels, bei dem es gleichgültig ist, was bei der Zahl steht, ob Loth oder Pfund, ob Thaler oder Groschen - das ist das, was den wahren Richter charakterisiert. Das Wissen läßt sich erzwingen, der Charakter nicht - es gibt keine Einrichtung, welche die Parteilichkeit des Richters zur Sache der Unmöglichkeit macht. Aber viel läßt sich doch auch in dieser Richtung beschaffen. Es ist ein doppelter Weg, den die Gesetzgebung dabei einschlagen kann. Entweder nämlich sucht sie der Parteilichkeit im Keime dadurch vorzubeugen, daß sie die Anlässe, welche zu ihr verlocken können, möglichst aus dem Wege räumt ( prophylaktischer Weg ), oder aber sie bekämpft sie unmittelbar, sei es, indem sie ihr psychologisches Gegengewicht entgegensetzt oder sie wenigsten in ihren Folgen möglichst unschädlich zu machen sucht ( repressiver Weg). Als das psychologische Gegengewicht, welches das Gesetz der Verlockung des Richters zur Parteilichkeit entgegensetzen kann, bietet sich ihm zunächst das moralisch des Eides dar: der bekannte Richtereid, der sich bei allen Kulturvölkern wiederholt, und von dem unsere heutigen "Geschworenen" und die "Jury" ihren Namen hat. Aber die Wirksamkeit dieses Mittels hängt von der Gewissenhaftigkeit des Individuums ab; bei dem Gewissenlosen verfehlt es seinen Zweck. Auf letzteren ist berechnet die Furcht vor den durch das Gesetz angedrohten nachteiligen Folgen der Pflichtverletzung (Disziplinaruntersuchung, zivilrechtliche Verantwortlichkeit, kriminelle Bestrafung). Aber auch dieses Mittefl hat nur eine beschränkte Wirksamkeit, es trifft nur die groben Pflichtverletzungen, die sich schon äußerlich als solche kundgeben, die Parteilichkeit entschlüpft ihr unter dem Deckmantel der freien subjektiven Überzeugung. Dagegen fehlt es der Gesetzgebung nicht an Mitteln, die Folgen der Parteilichkeit bis zu einem gewissen Grade unschädlich zu machen, teils durch die Gerichtsverfassung, teils durch den Prozess. Durch erstere mittels kollegialer Besetzung der Gerichte. Wo der Richterstand eines Landes seinem überwiegenden Teil nach von dem Geist der Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit beseelt ist, bietet nach dem Gesetz der großen Zahlen die kollegiale Besetzung der Gerichte die Garantie dar, daß der gewissenhafte Richter in ihnen dominiert, und das Zusammenwirken mit ihm legt auch den minder Gewissenhaften eine gewisse Schranke auf. Bei dem Einzelrichter dagegen ist dem Zufall der Raum geöffnet, hier steht der Gewissenlose für sich allein, der ausgleichende und zügelnde Einfluß der Kollegen fällt hinweg, es bleibt höchsten noch die Rücksicht auf die obere Instanz. Eben darum aber ist letztere dem Einzelrichter gegenüber von doppeltem Wert. Bei ausreichend besetzten Kollegialgerichten ist eine zweite Instanz kaum von Nöten, beim Einzelrichter sollte sie nie versagt werden. Der Maßstab des Betrages des Streitobjektes, nach dem die Zulassung einer höheren Instanz regelmäßig bemessen wir, ist kaum zu rechtfertigen - das Interesse der Gerechtigkeit bemißt sich nicht lediglich nach dem Wert des Objekts, sondern auch nach dem idealen Wert des Rechts, und nach meinem Gefühl möchte ich lieber die bedeutendste Sache dem einmaligen Spruch eines Kollegialgerichts unterwerfen, als die unbedeutendste dem des Einzelrichters. Neben dem so eben erörterten repressiven Weg öffnet sich der Gesetzgebung noch der oben genannte prophylaktische, der darauf gerichtet ist, die Anlässe und Verlockungen zur Parteilichkeit seitens des Richters möglichst aus dem Weg zu räumen. Es leuchtet ein, daß dies nur in beschränktem Maße möglich ist. Das Schwert der Gerechtigkeit setzt in der Person dessen, der berufen ist, es zu führen, den moralischen Mut voraus, den Schuldigen damit zu treffen und dessen Groll, Hass, Feindschaft auf sich zu laden. Diese möglichen nachteiligen Folgen lassen sich dem Richter einmal nicht abnehmen, und in diesem Sinn kann man sagen, daß der gerechte Richter seine eigene Haut zu Markte tragen muß. Aber die Gesetzgebung kann und soll dafür sorgen, daß der Einsatz, den der Richter für die Gerechtigkeit zu machen hat, nicht höher sei, als unumgänglich nötig, daß ihm nicht zugemutet werde, seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Die Annalen der Rechtspflege weisen glänzende und erhebende Beispiele der Unerschrockenheit, Standhaftigkeit, des moralischen Heroismus der Richter auf, aber die Gesellschaft hat das lebhafteste Interesse daran, die Anforderungen an die moralische Kraft des Richters nicht zu hoch zu spannen, das Richteramt nicht auf die Voraussetzung des Heroismus und des Märtyrertums, sondern auf die des Mittelmaßes der menschlichen Kraft zu gründen. Dem Vater soll die Tortur erspart werden, wie einst BRUTUS seine eigenen Kinder zum Tode zu verurteilen - über Weib und Kind soll man dem Richter nicht zumuten, zu Gericht zu sitzen, und wenn er es wollte, so soll das Gesetz, wie das ja auch bekannten Rechtens ist, es ihm untersagen. In eigener Sache soll niemand richten, und auch wenn Feind oder Freund oder ein naher Angehöriger als Partei vor ihm steht, muß dem Richter selber sowohl wie der Partei die Befugnis zugestanden werden, sein Ausscheiden bei dieser Sache zu beantragen. Das Recht soll nicht unterlassen, dem Richter alle Versuchungen und Verlockungen, welche es die Möglichkeit hat, genau zu fixieren, fern zu halten, nicht bloß seinetwegen, sondern auch im Interesse der Gesellschaft. In dieser Richtung ist die Einrichtung von Kollegialgerichten - und das ist der zweite unschätzbare Vorzug derselben vor dem Einzelrichter - von ganz außerordentlichem Wert. Das Urteil des Einzelrichters ist sein Urteil, er muß dafür einstehen, den Hass, Groll, die Verfolgung des dadurch Verletzten auf sich laden. Das eines kollegialisch besetzten Gerichtshofen dagegen gibt den Anteil des einzelnen Mitgliedes daran nicht zu erkennen, und wenn die gesetzliche Pflicht des Amtsgeheimnisses in Bezug auf die Abstimmung beobachtet wird, kommt derselbe dem Publikum gar nicht zur Kunde. Niemand kann ein einzelnes Mitglied mit Sicherheit dafür verantwortlich machen, und diese Ungewißheit, dieser Schleier, den der "Gerichtshof" über den Anteil des Einzelnen wirft, leistet der Schwäche denselben Dienst, wie die geheime Abstimmung bei Wahlen (2). Eben darum aber sollte die Gesetzgebung die Bewahrung des Amtsgeheimnisses in Bezug auf die internen Vorgänge bei einem Richterkollegium zur strengsten Pflicht machen und jeden Bruch desselben mit schwerer Strafe belegen; das Amtsgeheimnis ist eine der wirksamsten Garantien richterlicher Unabhängigkeit. Unter allen Mächten und Einflüssen, welche der Unparteilichkeit des Richters bedrohlich werden können, nimmt für den Berufsrichter, auf den ich mich zunächst beschränke, die Beeinflussung durch die Staatsgewalt, welche ihm sein Amt übertragen hat, weitaus die erste Stelle ein. Das Amt, zu dem sie ihn berufen, enthält regelmäßig die ökonomische Basis seiner ganzen Existenz; kann sie es ihm beliebig entziehen, so ist sie in der Lage, ihm da, wo sie in ihrem Interesse einen bestimmten Richterspruch wünscht, die Alternative zu stellen, ihr zu Willen zu sein oder Amt und Einnahme einzubüssen. Unabhängigkeit des Richters von dem bloßen Belieben der Staatsgewalt, Sicherung seiner Stellung durch das Gesetz und Verwirkung derselben lediglich durch die ihm Gesetz bestimmten Gründe ist mithin die unerläßliche Garantie der Rechtssicherheit und das untrügliche Kennzeichen, ob die Staatsgewalt es mit der im Prinzip anerkannten Unabhängigkeit der Justiz ernst meint oder nicht. Zu der Unabsetzbarkeit hat unsere Zeit vielfach noch die Unversetzbarkeit des Richters wider seinen Willen hinzugefügt, und es läßt sich nicht leugnen, daß dieselbe ein wertvolles Komplement der Unabsetzbarkeit bleibt. Der Schutz gegen den Verlust des Amtes allein aber reicht nicht aus, um dem Richter die Unabhängigkeit zu gewähren, wenn nicht das Amt selber ihn ökonomisch unabhängig stellt. Ausreichende Dotation des Richteramts nach Maßgabe des Gesichtspunkts, den wir früher für das Gehalt begründet haben, ist eine Forderung ersten Ranges für eine gesunde Gestaltung der Rechtspflege; nirgends ist die Sparsamkeit im Staatshaushalt schlechter angebracht als hier, und es gewährt ein beschämendes Zeugnis der geringen politischen Einsicht mancher deutschen Volksvertretungen, daß sie, anstatt ihrerseits die Initiative zu ergreifen, um im Interesse der Gesellschaft die gegen die Steigerung der Preise oft in schreiendster Weise zurückgebliebenen Gehalte richterlicher Beamten auf das richtige Maß zu erhöhen, den darauf gerichteten Anträgen der Regierungen nicht selten einen geradezu unverantwortlichen Widerstand entgegengesetzt haben. Die Erfahrung anderer Länder hätte sie belehren können, daß das Volk dasjenige, was der Staat an dem gebührenden Gehalt seiner Beamten erspart, in Form von Bestechung doppelt und dreifach bezahlen muß. Die im bisherigen genannten drei Mittel: Unabsetzbarkeit - Geheimnis der Abstimmung - angemessenes Gehalt reichen aus, um dem Richter sowohl der Privatperson als auch der Staatsgewalt gegenüber die Freiheit der Überzeugung zu ermöglichen. Ein so gestellter Richter ist unantastbar. Aber darum ist er noch nicht unnahbar. Dem Versucher ist nur der Weg der Einschüchterung verlegt, aber er kann auch auf anderem Wege an ihn heranschleichen und wie die Privatperson, so kann auch die Staatsgewalt diesen Schleichweg einschlagen. Gerade bei ihr hat derselbe seine ganz besonderen Gefahren. Nicht etwa bloß darum, weil die Mittel, über welche sie gebieten (Beförderung, Ehren), denen der Privatperson weit überlegen sind, sondern noch aus einem anderen Grund. Der Versuch der Bestechung des Richters von Seiten der Privatperson trägt schon in der Form den Stempel des Illegalen an sich, das bloße Anerbieten kennzeichnet den Versucher, enthüllt ihn in seiner wahren Gestalt. Die Staatsgewalt dagegen bedarf nicht des Anerbietends, sie hat nicht nötig, dem käuflichen Richter einen Preis für seine Willfährigkeit zu nennen, der Besitz des Preises in ihrer Hand leistet ihr denselben Dienst, - Servilismus und Ehrgeiz erraten ihre Gedanken von ferne und kommen ihr auf halbem Wege entgegen. Gegen diese Gefahr gibt es kein Schutzmittel. Weder läßt sich der Staatsgewalt durch Gesetz die freie Verfügung über jene Mittel entziehen, was nur durch Anwendung des Anciennitätsprinzip [Rangfolge aufgrund der Dienstjahre - wp] auf Beförderung, Rangstellung, Orden geschehen könnte, noch auch der Gerechtigkeit die Binde so fest aufs Auge legen, daß sie verhindert würde, darunter hinweg nach äußerem Lohn zu schielen. Aber wo der Richterstand eines Landes im Ganzen und Großen von dem Geist der Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit beseelt ist, - und wir werden untern sehen, in welchem Maße dieser Geist durch den Beruf selber entwickelt und gekräftigt wird - da ist in der Tat die Gefahr, welche die Dienstbeflissenheit, Charakterlosigkeit eines kleinen Bruchteils desselben in sich schließt, keine so große. Sie würde es nur dann sein, wenn die Staatsgewalt es in der Hand hätte, sich die Richter im einzelnen Fall auszusuchen oder das Gericht für die einzelne Sache zusammenzusetzen. Unter dieser Voraussetzung dürfte es ihr allerding nicht schwer werden, die tauglichen Werkzeuge zusammenzubringen und die Willkür hat überall zu derartigen Mitteln gegriffen, um ihre Absichten durchzusetzen. Die Sternkammer von HEINRICH VII. und die Hohe Kommission von ELISABETH in England, die vom früheren deutschen Bund eingesetzte "Zentraluntersuchungskommission zur weiteren Untersuchung der in mehreren Bundesstaaten entdeckten revolutionären Umtriebe und demagogischen Verbindungen" in Mainz (1819) und die demselben Zweck gewidmete Zentraluntersuchungskommission in Frankfurt (1833) haben in abschreckender, unvergesslicher Weise gelehrt, was die Völker zu erwarten haben, wenn der Despotismus und die absolutistische Willkür sich selber ihre Richter aussuchen. Eben diesen Erfahrungen aber verdanken sie es, daß die neueren Verfassungen alle derartigen Maßregeln grundsätzlich verpönt haben. Darauf beruht die eminent politische Seite der Lehre vom Gerichtsstand und der Kompetenz der Gerichte, die der Jurist bei der rein dogmatischen Behandlung derselben nur zu leicht aus den Augen verliert. Aber die Einrichtung hat ihre Achillesferse. Letztere ist gelegen in der Besetzung der Gerichte seitens der Staatsgewalt. Die Staatsgewalt kann sich zwar das Gericht nicht aussuchen, aber sie stellt die Richter an, welche das Gericht bilden; die prozessualische Gebundenheit in Bezug auf das Gericht kann mithin paralysiert werden durch die administrative Befugnis in Bezug auf die Wahl der Personen - die Staatsgewalt versetzt die ihr unbequemen Personen an ein anderes Gericht und setzt andere, ihr bequemere an deren Stelle. Dann hat sie das Gericht so, wie sie es will. Gegen diese Gefahr gibt es meines Erachtens keine Sicherung. Die Staatsgewalt bietet dem unbequemen Richter eine bessere Stelle an und er geht. Die Unversetzbarkeit des Richters wider seinen Willen gewährt dagegen keinen ausreichenden Schutz, er macht nur dem Nachfolger Platz, auf den es abgesehen war. Das Recht der Besetzung der Richterstellen nach eigenem freien Ermessen läßt sich aber die Staatsgewalt einmal nicht verkümmern, und alle Mittel, welche man etwa ersinnen möchte, um der Möglichkeit einer dolosen [vorsätzlichen - wp] Anwendung desselben in der angegebenen Richtung vorzubeugen, erweisen sich von vornherein als so unausführbar, daß nichts übrig bleibt, als jene Möglichkeit der Beeinflußung der Rechtspflege durch die Regierung als eine im Wege des Gesetzes gar nicht zu beseitigende anzuerkennen und den Schutz gegen diese Gefahr lediglich von der öffentlichen Meinung und dem eigenen Gerechtigkeits- und Anstandsgefühl der Regierung zu erwarten. Eine derartige tendenziöse Besetzung eines Gerichtshofes von seiten der Regierung ist ein so auffälliger und seiner Absicht nach so unverkennbarer Schritt, daß dieselbe gewärtigen muß, ihn durch das Urteil des Volkes mit der offenen Vergewaltigung des Rechts auf eine Linie gestellt zu sehen - oder der Gewinn des Preises wert ist, bleibt die Frage! Wir brauchen nicht zu weit in die Vergangenheit zurückzugreifen, um für das Gesagte einen Anhalt zu gewinnen. Ich habe bisher ausschließlich von dem Berufsrichter, d. h. dem ständigen, gelehrten und besoldeten Richter gesprochen, und das Resultat meiner Erörterung besteht darin, daß eine gänzliche Unabhängigkeit der Rechtspflege von der Staatsgewalt sich bei dieser Form des Richteramtes nicht herstellen läßt. Dagegen gibt es eine Form der Gerichte, welche diese Aufgabe in Wirklichkeit vollständig löst, das ist das Geschworenengericht. Der Geschworene hat von der Regierung weder etwas zu fürchten noch zu hoffen, sein Erscheinen, d. h. die Wahl des einzelnen Geschworenen, ist ein zu plötzliches, unberechenbares, seine Funktion eine zu rasch vorübergehende, als daß der Versuch einer Verleitung desselben seitens der Regierung faktisch ausführbar wäre; Zeit und Ort stellen dem unübersteigliche Hindernisse entgegen. Hinge das Ideal des Richters lediglich an der Unabhängigkeit desselben von der Regierung, es gäbe keine vollkommenere Institution als das Geschworenengericht. Aber die Abhängigkeit von der Regierung ist nicht die einzige Abhängigkeit, welche man beim Richter zu fürchten hat. Ob er sich durch die Befangenheit in seiner politischen und kirchlichen Parteiansicht, durch den Seitenblick auf die öffentliche Meinung und die Presse, durch den Tadel oder das Lob seiner Bekannten, durch die Autorität eines seiner Mitgeschworenen leiten läßt, oder ob die Rücksicht auf die Regierung sein Urteil beeinflußt, was verschlägt es? Von wirklicher Unabhängigkeit kann man weder in dem einen noch in dem andern Fall reden, der Richter ist in allen diesen Fällen nicht der, der er sein soll. So kann denn der Ausschlag für die eine oder andere Institution sich nur danach bestimmen, welche von beiden das relativ höhere Maß der Unabhängigkeit und die größere Sicherheit der Verwirklichung des Gesetzes in Aussicht stellt. Und da sollte, wie ich meine, die Entscheidung nicht zweifelhaft sein. Gehorsam gegen das Gesetz ist die erste Tugend des Richters, der Gehorsam des Richters aber will ebenso erst erlernt sein, wie der des Soldaten. Wie die militärische Disziplin dem alten Militär durch die Dauer des Dienstes nicht bloß zur Gewohnheit, sondern in dem Maße zur zweiten Natur wird, daß er gegen Insubordination und Zuchtlosigkeit einen Widerwillen gewinnt, so dem Richter der Gehorsam gegen das Gesetz. Das ist die schöne Frucht jeder fortgesetzten Übung einer gewissen Tugend, daß die Gewohnheit dieselbe nicht bloß erleichtert, sondern geradezu zum Bedürfnis macht, so daß der Mensch nicht von ihr ablassen kann, ohne in seinen Augen von sich selber abzufallen. Im erhöhten Maße gilt dies, wenn die Übung dieser Tugend den Beruf und die Pflicht eines ganzen Standes ausmacht. Hier gesellt sich noch die Gewohnheit des Standes und die daraus sich entwickelnde Macht der Sitte, d. i. die partikuläre Sittlichkeit und die Standesehre hinzu, und die daraus sich zusammensetzende Stimmung wird innerhalb des Standes selber eine so mächtige und zwingende, daß kein Mitglied desselben sich ohne empfindlichen Nachteil für sich selber über sie hinwegsetzen kann; die Erfüllung der dem Stande obliegenden Pflicht wird Ehrensache, d. h. Bedingung der Achtung anderer und der Selbstachtung. Nur der Stand bildet die seinem Beruf entsprechenden Eigenschaften in dem Maße in sich aus, daß der Neuling, der in ihn eintritt, noch bevor er durch individuelle Erfahrung die Überzeugung ihrer Notwendigkeit gewonnen hat, durch den Standesgeist und das Gefühl der Standesehre ergriffen und in die richtige Bahn gewiesen wird - es ist der Schatz von eigentümlichen Lebenserfahrungen, Anschauungen, der sich allmählich anhäuft und an dem jeder neu Eintretende, ohne es zu wissen und zu wollen, seinen Anteil erhält, um ihn seinerseits dann ebenfalls mit zu hüten, zu bewahren und weiter zu geben - das in Form des Standesgeistes entwickelte ungeschriebene Lebensgesetz des Standes. Auf den eben entwickelten beiden Momenten: der dauernden Übung einer zur Pflicht und Lebensaufgabe erhobenen Tugen und dem unterstützenden, erziehenden, zwingenden Einfluß, den darauf die Tradition des Standes ausübt, auf ihnen beiden beruth die Überlegenheit des Berufsrichters über den Gelegenheitsrichter: den Geschworenen. Das Übergewicht, das jener bei einem Vergleich mit ihm in die Wagschale werfen kann, ist nicht bloß das technische, wie es jeder Fachmann vor dem Dilettanten voraus hat: die größere Kenntnis, Fertigkeit, die Übung der Urteilskraft, sondern zugleich das moralische: die Gewohnheit der Unterordnung unter das Gesetz, die Übung der Willenskraft in einer bestimmten Richtung. Wie der Soldat die Subordination erst zu erlernen hat in der strengen Schule der militärischen Zucht, ebenso der Richter den Gehorsam gegen das Gesetz in der Übung der Rechtspflege. Übung des Rechtsprechens ist die Schule der Gerechtigkeit. Es will erst erlernt werden, was den Richter ausmacht: der strenge Gehorsam gegen das Gesetz, das Verschließen des Auges gegen jedes Ansehen der Person - das gleiche Maß für den Gemeinen und Achtungswerten, den Schurken und Ehrenmann, den reichen Wucherer wie die arme Wittwe - das Verschließen des Ohres gegen die Klagen des Armen und Elenden und den Jammer der Angehörigen, denen der Richterspruch den Gatten und Vater rauben soll. Nicht den schlechten Menschen gilt es da in sich zu unterdrücken, sondern den guten und das ist die schwerste Prüfung, welche der Dienst der Gerechtigkeit mit sich bringt, eine ähnliche, wie sie dem Soldaten zugemutet wird, der den Kameraden füsilieren soll. Denn verlockend stellt sich hier dem Gesetz gegenüber nicht das Gemeine, sondern das Edle - die Menschlichkeit, das Mitleiden, das Erbarmen. Nun setze man, um das Maß voll zu machen, noch den Fall, daß das Gesetz, welches der Richter vollziehen soll, mit dessen eigenem Rechtsgefühl in schneidendem Widerspruch steht, ein Gesetz, welches Todesstrafe erkennt, wo ihm selber wohl gar die Strafwürdigkeit der Handlung fraglich erscheint, und man wird ermessen, was es bedeutet, dem Gesetze Gehorsam zu erweisen. Und einer solchen Aufgabe soll der Neuling gewachsen sein, der heute sich auf die Geschworenenbank setzt, um sie morgen für immer zu verlassen? Ganz so gut könnte man vom Bürgersoldaten dieselbe Disziplin erwarten wie vom Berufssoldaten. Wie sich letzterer von jenem unterscheidet, so der Berufsrichter vom Geschworenen. Jener ist der Berufssoldat im Dienste des Rechts, dem die Übung der Gerechtigkeit zur Gewohnheit und zur zweiten Natur geworden ist und der seine Ehre dafür verpfänden muß, dieser der Bürgersoldat, dem die Uniform und das Gewehr etwas Fremdes sind, und der sich, wenn er einmal den Soldaten spielen muß, nicht als Soldat, sondern als Bürger fühlt; mag er auch alles, was äußerlich den Soldaten kennzeichnet, an sich tragen, das, was diesen innerlich macht: der Sinn für Disziplin und Subordination geht ihm ab. Die Erfahrung mag darüber richten, ob das Urteil, das ich damit über den Geschworenen ausgesprochen habe, ein zu hartes ist. Aller Orten weist sie uns Fälle auf, wo der Tatbestand des Verbrechens klar wie das Sonnenlicht war, und wo gleichwohl die Geschworenen den Angeklagten freigesprochen haben, - ein offener Hohn gegen das Gesetz, dem sie sich herausnahmen den Gehorsam aufzusagen, weil es mit ihrer Ansicht nicht übereinstimmte. Soll den Geschworenen aber einmal die Befugnis zustehen, die Schuld des Angeklagten nicht nach dem Gesetz, sondern nach ihrem subjektiven Gefühl zu bemessen, wie es einst in Rom seitens des römischen Volks in der Tat geschah, so räume man ihnen diese Befugnis verfassungsmäßig ein. So lange dies aber nicht geschehen ist, so lange das Geschworenengericht nicht den Auftrag hat, über das Gesetz anstatt über den Angeklagten zu Gericht zu sitzen, bleibt jeder derartige Akt ein schnöder Willkürakt, eine offene Auflehnung gegen Gesetz und Ordnung. Ob die Staatsgewalt oder ein Geschworenengericht das Gesetz mit Füßen tritt, ob es geschieht, um einen Unschuldigen zu strafen oder einen Schuldigen freizusprechen, die Sache bleibt dieselbe, das Gesetz ist mißachtet. Und nicht bloß dieses einzelne Gesetz - es mag ja sein, daß es den Widerspruch herausforderte, obschon selbst diese Beschönigung für manche derartige Fälle keineswegs zutrifft, - sondern mit dem einzelnen Gesetz ist zugleich das Ansehen und die Majestät des Gesetzes überhaupt verletzt, seine Macht in Frage gestellt, der Glaube an seine Unverbrüchlichkeit erschüttert. Die Sicherheit des Rechts, d. i. die Gewißheit, daß das Gesetz in allen Fällen gleichmäßig zur Anwendung gelangen werde, hört auf, an die Stelle des für Alle gleichen objektiven Gesetzes setzt sichd das wandelbare, unberechenbare subjektive Gefühl der Geschworenen: die Willkür, der Zufall. Hier wird der Angeklagte freigesprochen, dort wegen desselben Verbrechens verurteilt - der eine geht frei aus, der andere wandert ins Zuchthaus oder aufs Schafott. Und wer bürgt dafür, daß ein Gericht, welches sich über das Gesetz stellt, um den Schuldigen loszusprechen, nicht auch einmal dasselbe tue, um den Unschuldigen zu verurteilen? Die feste Bahn des Gesetzes einmal verlassen, öffnet sich ebenso gut der Weg nach rechts wie nach links, und niemand kann im voraus ermessen, nach welcher Seite der Strom, der einmal seine Dämme durchbrochen hat, seinen Lauf nehmen wird - es kommt nur darauf an, welche Stimmung in aufgeregter Zeit in der Masse die Oberhand gewinnt. Heute verurteilen die Royalisten die Republikaner, morgen die Republikaner die Royalisten, heute die Konservativen die Liberalen, morgen die Liberalen die Konservativen - die Korrektur des Gesetzes durch die Geschworenen ist ein zweischneidiges Schwert, das unter Umständen nach einer ganz anderen Seite hin treffen kann, als gar manche seiner Anhänger beabsichtigen und erwarten. Soll ich mein Urteil über das Geschworenen-Institut zusammenfassen, so kann ich es nur dahin abgeben, daß die Geschworenen, von dem einzigen Moment ihrer Unabhängigkeit von der Regierung abgesehen, sonst in aller und jeder Beziehung die Eigenschaften in sich vereinigen, die der Richter nicht haben soll. Ohne Kenntnis des Rechts, die nur das Studium, ohne den Gesetzlichkeitssinn, den nur der Stand, ohne das Gefühl der Verantwortlichkeit, das nur das Amt, ohne die Selbständigkeit des Urteils, die nur die Übung auszubilden vermag - ohne alle diese Eigenschaften setzen sich die Männer aus dem "Volk" auf die Bank, vielleicht bereits voreingenommen durch das Urteil, welches sich im Publikum oder in der Presse über den Fall gebildet hat - lenkbar, bestimmbar durch die Kunst des Verteidigers, der den Punkt zu treffen weiß, wo er seinen Hebel anzusetzen hat: ihr Herz, ihre Menschlichkeit, ihre Vorurteile, ihre Interessen, ihre politische Richtung - zugänglich der Beeinflußung bei der Abstimmung durch die Autorität und die Sicherheit, mit der ihnen eine andere Ansicht entgegentritt, als für die sie sich unabhängig davon entschieden haben würden, sich tröstend mit dem Gedanken, daß der andere es besser wissen müsse, und die Last der Verantwortlichkeit von sich auf fremde Schultern wälzend - "gute Leute, aber schlechte Musikanten", Bürgersoldaten der Rechtspflege, - ein richtiger Soldat ist mehr wert, als ein ganzes Dutzend Bürgersoldaten. Und alles das soll durch das eine Moment der Unabhängigkeit von der Regierung aufgewogen werden? Man fragt sich staunend, wie konnte eine so durch und durch unvollkommene Institution solche Erfolge erringen und überall offene Türen finden? Klar, daß zwingende Gründe dabei mitgewirkt haben müssen. Und so verhält es sich. Das Geschworenen-Institut hat unsere Rechtspflege von einem doppelten Druck befreit, der bis dahin schwer auf ihr lastete, von dem des Absolutismus und von dem der mittelalterlichen Beweistheorie, beides von gleich unschätzbarem Wert. In beiden Richtungen kam es darauf an, mit der Vergangenheit gründlich zu brechen, und dazu gab es kein geeigneteres Mittel, als die Einführung der genannten Einrichtung. An Stelle des von der Staatsgewalt abhängigen Berufsrichters setzte sie für denjenigen Teil der Rechtspflege, für den die Beeinflußung durch die Staatsgewalt am meisten zu fürchten war: die Strafrechtspflege, den von ihr gänzlich unabhängigen Geschworenen und gewährte, indem sie damit dem Absolutismus das wirksamste Mittel zur Unterdrückung aller auf seine Bekämpfung gerichteten Bestrebungen entriss, an Stelle des früheren Gefühls der Rechtsunsicherheit das der Rechtssicherheit und die Möglichkeit eines gesicherten gesetzlichen Fortschritts. Damit war der archimedische Punkt gegeben, um die bisherige Welt aus den Angeln zu heben - von diesem festen Punkt aus ist meines erachtens alles gewonnen, was die Signatur unseres heutigen Rechtszustandes bildet: Innerliches wie Äußerliches. Innerliches: die Kräftigung des nationalen Rechtsgefühls, die Beseitigung jener stumpfen Ergebenheit, mit der im vorigen Jahrhundert unser Volk die brutalsten Akte schnödester souveränder Willkür über sich ergehen ließ - die allgemeine Verbreitung der Erkenntnis von der Heiligkeit und Unantastbarkeit des Rechts als des Palladiums der bürgerlichen Gesellschaft, als der Macht, vor welcher der Träger der höchsten Staatsgewalt sich ebenso zu beugen hat, wie der geringste Untertan - die sich daran schließende Eifersucht in der Bewachung, die Entschlossenheit und der Mut in der Behauptung dieses Kleinods - und auf Seiten der Staatsgewalt die dem entsprechende Scheu vor der Verletzung derselben. Äußerliches: die Verwirklichung des Gedankens der Unabhängigkeit der Rechtspflege von der Willkür der Staatsregierung durch die verfassungsmäßige Sicherstellung des Richteramtes (Unabsetzbarkeit des Richters - Verbot der Kabinettsjustiz). Das Geschworenengericht bildete die Parole der Reform unseres Rechtszustandes, in den Augen des Volkes ward es zur Frage an die Regierungen: ob Recht, ob Willkür? und es äußerte seine heilsamen Wirkungen schon, bevor es da war, dadurch, daß es in Sicht kam, daß es anderwärts bestand - die Fernwirkung der Rechtsinstitute des einen Volkes auf die ganze übrige zivilisierte Welt. So bezeichnet das Geschworenengericht den Übergang vom Absolutismus in den Rechtsstaat und diesen Dienst wollen wir ihm nie vergessen, er ist mit all den Mängeln, die ihm anhaften, nicht zu teuer bezahlt worden. Aber eine andere Frage ist die vorübergehende, eine andere die dauernde Berechtigung eines Instituts; jene gebe ich für das Geschworenengericht bereitwillig zu, diese bestreite ich und ich bin der Überzeugung, daß eine Zeit kommen wird, die im sicheren Besitz der gewonnenen Rechtssicherheit den Geschworenen zurufen wird: der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. Denn ein Mohr ist er und bleibt er und alle Kunst seiner Anhänger wird nicht imstande sein, ihn weiß zu waschen - freilich wird noch viel Seife nutzlos verschwendet werden, bevor man sich davon allgemein überzeugt hat. Auch der zweite Dienst, den das Geschworenen-Institut uns erwiesen hat: die Beseitigung der mittelalterlichen Beweistheorie ist ein höchst wertvoller, aber eben so wie der obige vorübergehender Art. Man könnte denselben damit zu bestreiten gedenken, daß es dazu nicht dieses Instituts, sondern lediglich der gesetzlichen Aufhebung der Beweistheorie für den gelehrten Richter bedurft hätte. Meines Erachtens mit Unrecht. Es taugt nichts, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Der Bruch mit der alten Beweistheorie war mittels des Laienrichters ungleich leichter und sicherer zu bewerkstelligen als mittels des gelehrten Richters, dem die Anwendung derselben zur zweiten Natur geworden war; es kam nicht bloß darauf an, die Theorie, sondern auch die Gewöhnung zu beseitigen. Aber auch nach dieser Seite hin liegt kein Grund vor, den Mohren beizubehalten, nachdem er seine Schuldigkeit getan hat. Das abfällige Urteil, welches ich im bisherigen über das Geschworenen-Institut gefällt habe, stütze ich nicht darauf, daß der Geschworene regelmäßig Laie ist. Nicht der Gegensatz des Laien zum Juristen, sondern der des sporadischen zum ständigen Richter ist für mich der entscheidende Punkt. Gegen den Laien als ständigen dem Juristen zur Seite gegebenen Richter, d. h. den Schöffen habe ich nichts einzuwenden, ich glaube vielmehr, daß diese Form der Heranziehung des Mannes aus dem Volk zur Rechtspflege ihre Zukunft hat. Die Lebensfähigkeit des Schöffeninstituts ist aber meines Erachtens durch zwei Erfordernisse seiner Organisation bedingt: einmal dadurch, daß der Dienst des Schöffen ein so langer sei, daß der erziehende Einfluß der Übung der Rechtspflege sich an ihm bewähren könne, und sodann dadurch, daß durch das Gesetz Vorsorge dafür getroffen werde, daß bei dem Wechsel der einzelnen Mitglieder stets ein fester Stamm übrig bleibe, welcher imstande ist, die Tradition zu bewahren und den einmal ausgebildeten Sinn der Gesetzlichkeit auf die neu eintretenden Mitglieder zu übertragen, kurz eine solche Einrichtung des Instituts, welche demselben die zwei entscheidenden Vorzüge des ständigen Richteramtes zu sichern vermag: die dauernde Schule der Gesetzespflege und die daraus sich entwickelnde moralische Gesinnung des Einzelnen und die ihn einengende Zuch des Standes. Das Schöffeninstitut würde unter dieser Voraussetzung diejenige Aufgabe lösen, für die wir uns bei dem besoldeten Berufsrichter vergebens nach einer Lösung umgesehen haben, einen ständigen Richter zu liefern, der von der Regierung völlig unabhängig ist. Die Erfahrung muß lehren, ob die wesentliche Voraussetzung des Instituts: die nötige Zahl intelligenter Laien, welche in der Lage sind, sich ohne Entgelt dauernd dem Justizdienst zu widmen, sich überall wird beschaffen lassen. Durch das Gesetz bindet die Staatsgewalt sich selber die Hände. Wie weit soll sie dies tun? Schlechthin? Unter dieser Voraussetzung würde jeder nur dem Gesetz zu gehorchen haben, die Staatsgewalt dürfte nichts gebieten oder verbieten, was nicht im Gesetz vorgesehen wäre, das Staatsgesetz wäre damit auf eine Linie gerückt mit dem Naturgesetz. Wie in der Natur, so wäre auch im Staat das Gesetz die einzige, alles bewegende Kraft, der Zufall und die Willkür wären prinzipiell vollständig überwunden, die Staatsmaschinerie gliche einem Uhrwerk, welches alle ihm vorgeschriebenen Bewegungen mit unausbleiblicher Gewißheit, Regelmäßigkeit, Gleichmäßigkeit vollzöge. Das wäre, wie es scheint, der Rechtsstaat, wie er nicht vollendeter gedacht werden könnte. Nur eine einzige Eigenschaft würde ihm fehlen - die Lebensfähigkeit. Ein solcher Staat würde nicht einen Monat existieren können, er müßte, um es zu können, sein, was er eben nicht ist: ein Uhrwerk. Ausschließliche Herrschaft des Gesetzes ist gleichbedeutend mit dem Verzicht der Gesellschaft auf den freien Gebrauch ihrer Hände; mit gebundenen Händen würde sie sich der starren Notwendigkeit überliefern, hilflos gegenüberstehend allen Lagen und Anforderungen des Lebens, die im Gesetz nicht vorgesehen wären, oder für welche letzteres sich als unausreichend erwiese. Es ergibt sich daraus die Maxime, daß die Staatsgewalt sich die Möglichkeit spontaner Selbsttätigkeit durch das Gesetz nicht weiter beschränken soll, als unumgänglich geboten ist - lieber zu wenig in dieser Richtung, als zuviel! Es ist ein falscher Glaube, also ob das Interesse der Rechtssicherheit und der politischen Freiheit die möglichste Beschränkung der Staatsgewalt durch das Gesetz erfordere, es liegt dem die wunderliche Vorstellung zugrunde, als ob die Gewalt ein Übel sei, das man möglichst bekämpfen müsse. In Wirklichkeit aber ist sie ein Gut, bei dem man nur, wie bei jedem Gut, um die Möglichkeit des heilsamen Gebrauchs offen zu halten, die des Mißbrauchs in den Kauf nehmen muß. Die Fesselung der Gewalt ist nicht das einzige Mittel, um jener Gefahr vorzubeugen, es gibt noch ein anderes, das ganz denselben Dienst leistet: die persönliche Verantwortlichkeit. Das war der Weg, den die alten Römer einschlugen. Sie trugen kein Bedenken, ihren Magistraten eine Machtfülle einzuräumen, welche nach der absoluten Monarchie schmeckt, aber sie forderten von ihnen strenge Rechenschaft nach Niederlegung des Amts. Wie weit aber auch das Gesetz den Spielraum der Freiheit abmessen möge, stets bleibt die Möglichkeit ungewöhnlicher Lagen übrig, in denen die Staatsgewalt sich vor die Alternative gestellt sieht, entweder das Gesetz oder das Wohl der Gesellschaft zu opfern. Welche Wahl soll sie treffen? Ein bekannter Kraftspruch antwortet: fiat justitia, pereat mundus. [Gerechtigkeit muß herrschen und wenn die Welt untergeht - wp] Das klingt so, als ob die Welt der Gerechtigkeit wegen da sei, während doch in Wirklichkeit die Gerechtigkeit der Welt wegen da ist. Ständen beide in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander, so müßte der Satz entgegengesetzt lauten: pereat justitia, vivat mundus. In Wirklichkeit aber ist dies so wenig der Fall, daß beide vielmehr regelmäßig Hand in Hand gehen; der Wahlspruch muß lauten: vivat justitia, ut floreat mundus. Aber eine ganz andere Frage ist es, ob die Staatsgewalt schlechthin und ohne alle Ausnahme das einmal vorhandene Gesetz respektieren soll und diese Frage nehme ich keinen Anstand aufs entschiedenste zu verneinen. Nehmen wir einen konkreten Fall. Bei Belagerung einer Festung zeigt es sich, daß die Behauptung derselben bedingt ist durch Schleifung von Gebäuden im Privatbesitz. Angenommen, die Verfassung des Landes hätte das Privateigentum schlechthin für unverletztlich erklärt, ohne auf derartige Notfälle, wie hier einer vorliegt, Bedacht zu nehmen und die Eigentümer jener Gebäude wollten zur Schleifung derselben nicht ihre Zustimmung erteilen. Soll hier der Kommandant der Festung, um bei Leibe keinen Eingriff in das Privateigentum vorzunehmen, die Festung und mit ihr vielleicht das letzte Bollwerk, an dem die Erhaltung des ganzen Staats hängt, daran ergeben? Ein solcher Kommandant hätte seinen Kopf verwirkt. Oder ein Deichbruch, eine Feuersbrunst und ähnliche Notlagen beschwören eine gemeine Gefahr herauf, die nur durch Eingriffe in das Privateigentum abgewehrt werden kann: soll hier die Behörde das Eigentum respektieren und dem verheerenden Element seinen freien Lauf lassen? Das natürliche Gefühl gibt jedem die Entscheidung an die Hand, es kommt aber darauf an, sie wissenschaftlich zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung liegt in dem Gesichtspunkt, daß das Recht nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck ist. Endzweck des Staates wie des Rechts ist die Herstellung und Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft - das Recht ist der Gesellschaft, nicht die Gesellschaft des Rechts wegen da. Daraus ergibt sich, daß, wo ausnahmsweise, wie in den oben angeführten Fällen, die Verhältnisse sich so gestalten, daß die Staatsgewalt sich vor die Alternative gestellt sieht, entweder das Recht oder die Gesellschaft preiszugeben, sie nicht bloß befugt, sondern verpflichtet ist, das Recht zu opfern und die Gesellschaft zu retten. Denn höher, als das Gesetz, das sie verletzt, steht die Rücksicht auf die Erhaltung der Gesellschaft, der alle Gesetze nur dienen sollen, die lex summa, wie CICERO in seinem bekannten Ausspruch - salus populi summa lex esto [Das Wohl des Volkes soll das oberste Gesetz sein - wp] sie nennt. Die Privatperson mag in einem solchen Konfliktfall, wo es sich um das eigene Leben oder um einen Eingriff in fremdes Recht handelt, ersteres dahin geben, obschon das Gesetz dies nicht von ihr verlangt (Recht des Notstandes) - sie opfert bloß sich selber. Aber die Staatsgewalt, welche dasselbe tun wollte, würde keine Todsünde begehen, denn sie hat das Recht nicht um seiner selbst willen, sondern der Gesellschaft wegen zu verwirklichen und wie der Schiffer die Ladung über Bord wirft, wenn es gilt, Schiff und Mannschaft zu retten, so darf und soll es auch die Staatsgewalt mit dem Gesetz tun, wenn dies der einzige Weg ist, um die Gesellschaft vor schwerer Gefahr zu bewahren. Das sind die rettenden Taten , wie unsere Sprache sie treffend nennt, eine Bezeichnung, welche die ganze Theorie derselben in sich schließt: ihre Rechtfertigung wie ihre Voraussetzungen. Welch frevelhaftes Spiel gewissenlose Staatsmänner mit ihnen immerhin getrieben haben mögen, wie oft auch das Wohl des Staates nur als Vorwand oder Deckmantel für absolutistische Willkür hat dienen müssen, im Prinzip selber läßt sich die Befugnis der Staatsgewalt zu diesen Akten ebensowenig bestreiten, wie in dem obigen Fall die des Schiffers zum Seewurf. Es ist das mit der Notlage (Notstand) gegebene Notrecht, daß die Staatsgewalt damit zur Ausübung bringt und das ihr ebensowenig versagt werden darf, wie der Privatperson - sie darf es nicht bloß in Anwendung bringen, sie muß es. Aber beides bedingt sich: sie darf es, wo sie es muß. Immerhin aber bleibt die offene Verletzung der Gesetze ein beklagenswerter Vorgang, den die Gesetzgebung so viel wie möglich der Staatsgewalt ersparen soll. Sie vermag es in der Weise, daß sie das Notrecht selber in gesetzliche Form bringt, wie dies in allen neueren Rechten und Staatsverfassungen mehr oder weniger geschehen ist. Die darauf zielenden Bestimmungen lassen sich als die Sicherheitsventile des Rechts bezeichnen - sie öffnen der Not einen Ausgang und verhüten damit die gewaltsame Explosion. (3) Die Frage, ob die Voraussetzungen zu derartigen Eingriffen gegeben sind, ist eine Frage der Politik des einzelnen Falls, die hier nicht zu erörtern ist. Daß die Staatsgewalt in diesen Fällen die durch diese Eingriffe betroffene Privatperson zu entschädigen habe, ist eine aus der Natur des Gesellschaftsverhältnisses sich ergebende Anforderung. Das Gesellschaftsverhältnis beruth auf dem Grundsatz der Gleichheit in dem oben entwickelten Sinn und ihm entspricht es, daß dasjenige, was Allen zugute kommt, auch von allen getragen werden muß. Unter den Gesichtspunkt einer Nichtbeachtung des Gesetzes durch die Staatsgewalt fällt auch das Begnadigungsrecht. Formell betrachtet dokumentiert es sich als Eingriff in die Rechtsordnung; dem Verbrecher wird die Strafe, die ihm im Gesetz angedroht und die gegen ihn bereits erkannt worden ist, hinterher erlassen, das Gesetz gelangt also in Wirklichkeit nicht in Vollzug. Das Begnadigungsrecht scheint also mit der Idee der Rechtspflege unvereinbar. Wo bleibt das Gesetz, wenn es in dem einen Fall zur Anwendung gelangt, im anderen nicht, wo die Gleichheit vor dem Gesetz, wenn die erkannte Strafe an dem einen Verbrecher vollzogen wird, an dem andern nicht? Es ist die reine Gesetzlosigkeit, die sich in dem Begnadigungsrecht auf den Stuhl des Rechts setzt, die prinzipielle Anerkennung der Willkür in der Strafrechtspflege. Was haben wir darauf zu erwidern? Es kann die Willkür sein, die sich auf den Stuhl des Rechts setzt, aber sie braucht es nicht - und sie soll es nicht. Nicht ihr soll der Stuhl frei gemacht sein, sondern der Gerechtigkeit - der Gerechtigkeit, die an dem einzelnen Fall zu der Erkenntnis gelangt ist, daß sie das Gesetz nicht richtig bemessen hat und der damit die Möglichkeit eröffnet werden soll, einen Unschuldigen nicht unter dem von ihr begangenen Versehen büßen zu lassen. In diesem Sinn können wir die Begnadigung definieren als die Korrektur des als unvollkommen erkannten Gesetzes im einzelnen Fall, kurz ausgedrückt, als die Selbstkorrektur der Gerechtigkeit. Die Unvollkommenheit des Strafrechts kann sich aber nicht bloß nach derjenigen Seite hin äußern, nach der das Begnadigungsrecht die Aufgabe hat, ihr zu begegnen, sondern auch nach der entgegengesetzten Seite hin. Es ist möglich, daß der umfangreiche Katalog der Verbrechen, den die Gesetzgebung auf Grund langer Erfahrungen entworfen hat, sich im einzelnen Fall als lückenhaft erweist. Das Raffinement kann neue Verbrechen ersinnen, welche in demselben nicht vorgesehen sind und für deren Bestrafung das vorhandene Recht wenn auch irgendeine Handhabe, so doch keine der Schwere des Verbrechens entsprechende Strafe darbietet. Was soll hier geschehen? Soll die Gerechtigkeit dem Unmenschen, der die Gesellschaft in einer Weise bedroht, welche alle im Gesetz mit Strafen belegten Verbrechen an Gefährlichkeit übersteigt und in ihm einen Abgrund der Verworfenheit enthüllt, welche die des gewöhnlichen Räubers und Mörders weit hinter sich läßt - soll die Gerechtigkeit einem solchen Unmenschen gegenüber sich machtlos erklären, weil das geschriebene Gesetz ihr nicht die Möglichkeit bietet, ihn zur verdienten Strafe zu ziehen? Die Antwort des Juristen lautet: Ja. Sein Wahlspruch ist der bekannte Satz: nulla poena sine lege [Keine Strafe ohne Gesetz - wp]. Das unbefangene Rechtsgefühl des Volkes verlangt auch hier Bestrafung und ich meinerseits schließe mich dem vollkommen an. Jener Satz, der sich den Charakter eines absoluten Postulates der Gerechtigkeit beilegt, hat in Wirklichkeit nur eine bedingte Berechtigung. Er ist gemeint als Garantie gegen die Willkür und diese Aufgabe löst er. Aber das höchste Ziel des Rechts ist nicht die Fernhaltung der Willkür, sondern die Verwirklichung der Gerechtigkeit und soweit jener Satz dem in den Weg tritt, ist er unberechtigt. Die Aufgabe ist, beide Zwecke zu vereinigen und es kommt nur darauf an, eine Form zu finden, welche die Garantie gewährt, daß die Entbindung des Richters von dem positiven Gesetz nur der Gerechtigkeit, nicht auch der Willkür zugute komme. Zu dem Zweck bedürfte es der Einsetzung eines höchsten Gerichtshofes über dem Gesetz, der durch die Art seiner Besetzung jede Besorgnis, daß er jemals ein Werkzeug in den Händen der Willkür der Staatsgewalt werden könne, von vornherein ausschlösse. Der Gedanke, den ich damit ausspreche, ist bereits positiv verwirklicht: in Schottland existiert ein derartiger Gerichtshof. Aber wenn er auch nirgends existierte, für mich handelt es sich nicht darum, was ist, sondern nur darum, was sein soll, was der Zweck des Rechts und die Idee der Gerechtigkeit mit sich bringt. Ist es wahr, daß im Kriminalrecht ebenso wie im Zivilrecht lediglich das Gesetz zu herrschen habe, so darf es keine Begnadigung geben. Wird letztere zugelassen, wie es bei allen Kulturvölkern stets geschehen sit, so ist damit der Grundsatz der ausschließlichen Herrschaft des Gesetzes in der Strafrechtspflege aufgegeben, das Recht hat damit eingestanden, daß es mit dem Gesetz allein nicht auszureichen vermag, daß es vielmehr der höheren, über dem Gesetz stehenden Gerechtigkeit bedarf, damit dieselbe im einzelnen Fall die Strafe mit den Forderungen des Rechtsgefühls in Einklang bringe. Gilt dies in der einen Richtung, warum nicht in der anderen? Entweder nach beiden Seiten hin schlechthin das Gesetz, oder nach beiden Seiten hin die Gerechtigkeit über dem Gesetz! Der von mir postulierte höchste Gerichtshof für ungewöhnliche Fälle, auf welche die Gesetzgebung nicht Bedacht genommen hat, ist nichts als die Konsequenz des Begnadigungsrechts nach der entgegengesetzten Seite hin; nur in der Richtung, nicht im Prinzip sind beide verschieden. Ein weiterer Schritt bestände darin, diesem höchsten, über dem Gesetz stehenden Gerichtshof auch die Ausübung des Begnadigungsrechts im Namen des Souveräns oder die Beantragung bei letzterem zu überweisen; er würde damit die erhabene Mission erhalten, zu vermitteln zwischen dem geschriebenen Recht, der formalen und der über demselben stehenden materiellen Gerechtigkeit und es wäre damit zugleich ein Organ geschaffen für die Fortbildung des Strafrechts auf dem geeignetsten Wege, den es dafür gibt: auf dem der Rechtsprechung. Vielleicht dürften dann auch die Geschworenen sich weniger häufig verleiten lassen, im Widerspruch mit der offenen Tatsache den Verbrecher frei zu sprechen. Als dritte Urteilsform neben den beiden Formeln: schuldig oder nichtschuldig müßte ihnen das Verdikt offen stehen: Verweisung an den obersten "Gerichtshof", wie ich ihn nennen möchte. Ich habe hiermit meine Ausführungen über die Form des Rechts beschlossen. Sie haben uns gezeigt, wie
2) die einseitige Norm sich steigert zur zweiseitig verbindenden Norm: dem Recht und wie 3) das Recht den Mechanismus zu seiner Verwirklichung (Rechtspflege) aus sich heraus treibt. Von der Form des Rechts gehen wir nunmehr zum Inhalt oder, da der Inhalt lediglich durch den Zweck bestimmt wird, zum Zweck des Rechts über.
1) In dem Ausdruck Rechtspflege betont sie als Gegenstand derselben das Recht, als Aufgabe derselben die Pflege, d. h. die dem Recht zugewandte eifrige Sorge und Mühe, in Justiz als höchstes Ziel derselben die justitia, die Gerechtigkeit, d. i. das dem Recht Gemäße, in judex das jus dicere, im Richter das Geraderichten nach der vorgezeichneten Richtschnur. Dagegen hat sie bei Regierung die Vorstellung der Herrschaft (regere, rex) und bei Verwaltung die der Gewalt vor Augen, welche frei waltet (von valdan, waltan, stark sein, zwingen, zusammenhängend mit valere). ein Verwalter ist derjenige, der für den Auftraggeber das Interesse desselben wahrzunehmen hat. Die Direktive, welche er zu befolgen hat, ist ihm nicht vorgezeichnet, sondern sie besteht in dem Interesse, Nutzen, Wohl seines Geschäftsherrn; seiner Einsicht ist es überlassen, das Richtige im einzelnen Fall zu treffen. Der römische Gegensatz ist jus (jurisdictio) und imperium. 2) In Rom adoptierte man in späterer Zeit diese Form der Abstimmung (per tabellas) wie bei Wahlen so auch bei den Volksgerichten und den Geschworenegerichten. Wo die Kraft fehlt, sich nicht beeinflußen zu lassen, ist es schon ein Gewinn, wenn der Schwäche durch das Geheimnis die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung gewahrt wird; bedauerlich, daß man mit der Schwäche rechnen muß, aber immerhin ist es noch besser, als, indem man mit einer Kraft rechnet, die nicht da ist, ein schlechtes. 3) Eine eingehende Betrachtung derselben ist nicht nötig, es genügt, sie einfach aufzuzählen. Es sind folgende: Eingriffe der Staatsgewalt in das Privateigentum und zwar zunächst in den Besitz durch faktische Maßregeln der Verwaltung ohne vorheriges rechtliches Verfahren (Notstand z. B. bei Feuers- und Wassergefahr, Krieg usw.) Entziehung des Eigentums im Wege Rechtens, d. h. Expropriation - sei es in Form des Individualgesetzes, d. i. das Expropriationsgesetz, sei es mittels Vollziehung der im voraus für diesen Fall aufgestellten Normen durch richterliche oder Verwaltungsbehörden. Vorübergehende Suspension gewisser gesetzlicher Bestimmungen (z. B. über den Wechselprotest in Frankreich während des letzten Krieges) oder der normalen Rechtshilfe, Proklamierung des Kriegs- oder Standrechts. Aufhebung bestehender Rechte durch die Gesetzgebung (z. B. der Leibeigenschaft, der Bann- und Zwangsrechte). Eingriffe in dieselbe durch ein Gesetz mit rückwirkender Kraft. Alle diese Maßregeln fallen unter einen und denselben Gesichtspunkt und es beurkundet eine Unvollkommenheit im Abstrahieren, wenn man die prinzipielle Zulässigkeit für einige derselben zugibt, für andere leugnet, wie letzteres z. B. vielfach sowohl in der Literatur als in der Gesetzgebung in Bezug auf die Frage von der Anordnung der rückwirkenden Kraft eines Gesetzes geschehen ist, selbst von dem sonst so radikalen F. LASSALLE, System der erworbenen Rechte I, Seiten 3 - 11. |