ra-2 Das BewußtseinsproblemDas Bewußtsein des WollensDie Willenshandlung    
 
HERMANN STAEPS
Das Problem der Willensfreiheit
vom Standpunkt des Sollens

[ 2 / 2 ]

"Daher sind die Normen aufzufassen, als regulative Prinzipien, Willensmächte, Ideale, Axiome. Der letzte erkennbare Grund der Normen liegt im Glauben. Wer durch Wissenschaft die Wahrheit beweisen will, muß an die Kraft der Denkgesetze glauben. Wer Moral zur Herrschaft bringen will, muß an die Kraft der sittlichen Normen glauben. Wer ein Kunstwerk darstellen will, muß an die Macht der ästhetischen Norm glauben. Logik, Ethik und Ästhetik haben ihren Grund und ihr Ziel in einem intellektuellen, moralischen und ästhetischen Gewissen."

Ebenso wie vom Fatalismus muß das Freiheitsproblem sich von einem Determinisums abwenden, wie ihn etwa SPINOZA vertritt. Wo Wille und Verstand ein und dasselbe ist, wo der Mensch in seinen Handlungen einem mit Bewußtsein fallenden Stein gleichen, und die Freiheit derartig illusorisch sein soll, daß als typische Beispiel der scheinbar frei die Rache verlangende zornige Knabe, das die Milch scheinbar frei begehrende Kind, der die Flucht scheinbar frei suchende Furchtsame und gar der Betrunkene als scheinbar frei handelnd angeführt werden, wo überhaupt alles Geschehen einseitig intellektualistische aufgefaßt wird, da ist für die praktische Freiheit natürlich kein Raum. Der richtig aufgefaßte Determinismus hingegen lehrt keineswegs, daß der Wille erzwungen, sondern nur, daß er durch irgendeine äußere oder innere Ursache bestimmt sei und daß eine Freiheit im Sinne von Grundlosigkeit nicht existiert. Er bedeutet  das  im Willensakt, was der Satz vom Grunde im Erkenntnisakt bedeutet: alles Erkennbare muß einen Grund haben. Er ist die Art und Weise der Wissenschaft, alles Erkennbare aus zureichenden Gründen zu erklären und darf nicht verwechselt werden mit dem Prädeterminismus. Ob ein ins Innere der Natur dringender Geist, der alle Fäden des Geschehens überschauen könnte, in jedem Moment des Daseins den nächst folgenden genau bestimmen könnte, ist nie zu erweisen. In der Beantwortung dieser Frage überschreitet der Determinismus die gebührlichen Grenzen und gerät ins Gebiet der Metaphysik, er erklärt nur post eventum [im Nachhinein - wp] die Handlungen und Ereignisse aus bestimmten Gründen oder Motiven, kan aber nicht die zukünftigen mit Bestimmtheit vorhersagen; erst wenn die Handlung geschehen ist, weist er nach, daß sie aus den und den Gründen nicht anders geschehen konnte, als sie wirklich geschehen ist. Darin ist der Determinismus allerdings unangreifbar und unanfechtbar, darüber hinaus hören seine Rechte auf.

Über den Menschen in seinem Verhältnis zum Determinismus sagt RIEHL a. a. O.:
    "Mit der nämlichen Notwendigkeit, mit der er existiert, existiert er auch als das intelligente, zwecksetzende Wesen in der Natur, als welches er sich erkennt und betätigt. Die Gesetze der Natur sind nicht von außen her ihm gegebene, auferlegte Gesetze; er selbst ist die Naturgesetzlichkeit auf ihrer höchsten, auf diesem Planeten bisher erreichten Entwicklungsstufe, seine Zukunft die Zukunft der Natur, die ihr Werk nicht ohne, nicht gegen ihn, sondern durch ihn fortsetzt. Eine Ordnung, welche die Existenz intelligenter und zwecksetzender Wesen mit sich bringt, ist fürwahr keine Ordnung, die einem intelligenten, zweckbewußten Wesen gleich wie ein äußeres Verhängnis erscheinen sollte."
Nach allem ist ersichtlich: Der Determinismus führt zu einem viel fruchtbareren Freiheitsbegriff, als der Indeterminismus, wo man nur die große Wüste der Willkür vor sich sieht, auf der man säen kann, was man will, auf welcher aber nichts Vernünftiges wachsen kann. Der Determinismus hebt mithin keineswegs eine Betätigung unseres Freiheitsbewußtseins auf, mag man dieses nun definieren als die Fähigkeit, sein Leben unabhängig von den sinnlichen Antrieben und Neigungen durch Vernunft und Gewissen nach Zwecken und Grundsätzen zu bestimmen oder als die Fähigkeit, durch besonnene Wahl zwischen verschiedenen Motiven in seinen Handlungen bestimmt zu werden oder als Bestimmung des Wollens durch ein vom Wollenden selbst anerkanntes Gesetz oder gar als Selbstbestimmung einer Person, die in schrankenlosem Gebrauch der Verfügung stehenden Machtmittel nach selbst gegebenen Gesetzen handelt. Der Determinismus bringt nur durch Klarstellung der Motive überall Ordnung und festes Bestimmtsein in die Handlungen hinein. Vom Indeterminismus aus gelangt man zum Gegenteil der Freiheit, zur Willkür und damit zur Gesetzlosigkeit. Denn wo die Willkür herrscht, da ist der Freiheit das Grab gegraben.

Damit scheint das Problem gelöst und das Wesen der Freiheit hinreichend definiert. Aber man braucht nur zu fragen, wo das Problem eigentlich liegt, um zu sehen, daß jene Definition nicht ausreicht, daß die deterministische Betrachtung der Freiheit im kausalen Zusammenhang aller menschlichen Handlungen eine einseitige Betrachtung, eine rein theoretische Auffassung und Erklärung ist. Der Kern des Problems liegt offenbar in dem Widerspruch zwischen den Handlungen, wie sie verlaufen sind und wie sie verlaufen sollen (oder hätten verlaufen sollen) zwischen Freiheitstat im Sinne rein wissenschaftlicher Erklärung und rein ethischer Wirkung, zwischen Sein und Sollen. Unter diesen Gesichtspunkt gerückt, steht der Mensch nicht mehr müßig einem Freiheitsbegriff gegenüber, der sein Handeln, wie es verlaufen ist, erklärt, sondern er sieht in der Freiheit eine Lebensaufgabe. Er will in seinem Tun frei sein von dem, was einer normativen Wertung seines Tuns widerspricht. Er mißt sein Tun an einer ethischen Norm und stellt seine Betrachtungsweise ausschließlich auf den Willen ein, wie er normgemäß zu handeln hat und handeln kann. FICHTE in seiner Schrift "Die Bestimmung des Menschen" weist uns hin auf die wahre Realität der Welt als Objekt und Sphäre unserer Pflichten gegenüber der trügerischen des Wissens. Nich bloßes Wissen, Tun ist unsere Bestimmung.
    "Nicht zum müßigen Schauen und Betrachten deiner selbst oder zum Brüten über andächtige Empfindungen, nein zum Handeln bist du da; dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert."
Hier bei FICHTE gelten nur Zweckbegriffe und diese
    "sollen nicht wie die Erkenntnisbegriffe, Nachbilder eines Gegebenen, sondern vielmehr Vorbilder eines Hervorzubringenden sein."

    "Mein Leben hört auf, ein leeres Spielt ohne Wahrheit und Bedeutung zu sein. Es soll schlechthin etwas geschehen, weil es nun einmal geschehen soll: Dasjenige, was das Gewissen nun eben von mir, der ich in diese Lage komme, fordert, daß es geschehe, dazu, lediglich dazu bin ich da; um es zu erkennen, habe ich Verstand, um es zu wollen, Kraft."
Hier ist allerdings die Frage nach der moralischen Kraft oder nach dem Können des Menschen in der Erfüllung dieser Aufgabe unvermeidlich. Da der Mensch durch die sittliche Norm frei werden soll, so ist zunächst die Frage zu beantworten, wie die sittliche Norm dem Menschen zu Bewußtsein kommt, ganz abgesehen von der rein historisch zu behandelnden Frage, wann sie zuerst in das Bewußtsein der Menschheit oder eines Menschen eingetreten ist. Man könnte versucht sein, die sittliche Norm, nach welcher der Einzelmensch handeln soll, aus dem Gesamtwillen, aus der Gemeinschaft von Menschen, aus Staat, Kirche, Verein herzuleiten, die als Autorität dem Individuum gegenübertreten und als bestimmende Macht ihm Gesetze vorschreiben. Aber, zugegeben, daß in vielen Dingen der Einzelwille sich der Gesamtheit unterordnen muß, auch daß der Wille vieler höher im Wert steht und oft besser ist, als der des Einzelnen, so darf doch nicht das, was einem oder Einzelnen als Ideal erscheint, ohne weiteres der Majorität geopfert werden, als ob diese an sich schon das bessere Ideal verträte. Im Gegenteil, es ist oft das Ideal des Einzelnen oder weniger Menschen, das die sittlichen Werte der Masse umwertet, gegen falsche Ideale reagiert und protestiert und die Gesamtheit auf neue Werte und auf einen ganz anderen sittlichen Maßstab hinweist, als auf den bestehenden - ein Beweis, daß der Einzelne Ziele und Zwecke aller Menschen nach einem höheren Maßstab mißt, der über den von der Menge anerkannten hinausweist und dieser nicht entnommen ist. Sodann ist ja auch die Berufung auf die Gesamtheit nur ein Umweg zur Norm, denn nach dieser soll sich ja auch die Gesamtheit richten. Lassen sich nun die Normen aus dem jedesmal bestehenden Willen der Gesamtheit nicht ableiten, so könnte man meinen, der Einzelne sei es, der sich selbst ein Gesetz auferlege, das nun auch für alle gelten solle. Allein das sich selbst auferlegte Gesetz verpflichtet nicht auf die Dauer. Was ich mir selbst freiwillig auferlegt habe, kann ich nach Änderung meiner Ansichten jederzeit wieder aufheben. Außerdem würde die Norm des Einzelnen zu völliger Willkür und zum ärgsten Subjektivismus führen. Wir finden also weder im Gesamtwillen noch im Einzelwillen einen empirischen Ursprung der Norm, der uns befriedigen könnte. Allerdings tritt dem Einzelnen als Autorität, als Norm oder Gesetz zunächst der Wille anderen Menschen gegenüber; er lernt die Norm kennen in Gestalt des Gesamtwillens. Im vollen Bewußtsein der sittlichen Norm wird er aber seine eigene sittliche Beschaffenheit, wie die des Gesamtwillens an der Norm messen, prüfen und beurteilen (Vgl. hierzu die beachtenswerte Ausführung in OTTO PFLEIDERER, "Religionsphilosophie", Bd. II, 3. Auflage, 1896, über das Gewissen, Seite 481 - 488 und 595 - 600)

Nun erst, wenn Einzelwille und Gesamtwille sich nach derselben, über beiden stehenden Norm richten, gelangt man zur rechten Stellung aller drei Momente. Individuum und Gesellschaft haben Ausgang und Ziel in der außerempirischen Norm. Diese geht allem sittlichen Handeln vorher, muß vorhergehen oder ist a priori, wenn ich mich entschließen will, die Ereignisse unter dem Wertgesichtspunkt des Seinsollens zu betrachten. (Auch hier ist die sittliche Norm oder das sittlich Gute lediglich ein Formales. Was sie für einen Inhalt habe oder was das sittlich Gute sei, braucht hier nicht erörtert zu werden.) Daher sind die Normen aufzufassen, als regulative Prinzipien, Willensmächte, Ideale, Axiome. Der letzte erkennbare Grund der Normen liegt im Glauben. Wer durch Wissenschaft die Wahrheit beweisen will, muß an die Kraft der Denkgesetze glauben. Wer Moral zur Herrschaft bringen will, muß an die Kraft der sittlichen Normen glauben. Wer ein Kunstwerk darstellen will, muß an die Macht der ästhetischen Norm glauben. Logik, Ethik und Ästhetik haben ihren Grund und ihr Ziel in einem intellektuellen, moralischen und ästhetischen Gewissen. Vortrefflich findet man diese Auffassung bei WINDELBAND vertreten in seinem Werkchen "Präludien" (vgl. insbesondere darin "Normen und Naturgesetze" bzw. "Kritische oder genetische Methode").
    "Die Gesetze (dagegen), welche wir in unserem logischen, ethischen und ästhetischen Gewissen vorfinden, haben mit der theoretischen Erklärung der Tatsachen, auf welche sie sich beziehen, nichts zu tun. Sie sagen nur aus, wie diese Tatsachen beschaffen sein sollen, damit sie in allgemeingültiger Weise als wahr, als gut, als schön gebilligt werden können. Sie sind also keine Gesetze, nachdem sich das Geschehen objektiv vollziehen muß oder subjektiv begriffen werden soll, sondern ideale Normen, nach denen der Wert dessen, was naturnotwendig geschieht, beurteilt wird. Diese Normen sind also Regeln der Beurteilung."
Es gibt demnach drei Arten der Norm, die logische, die ethische und die ästhetische, sie sind regulative Prinzipien, allgemeine und notwendige Voraussetzungen alles wissenschaftlichen Denkens, Axiome, deren unmittelbare Evidenz zwar nicht logisch bewiesen werden kann, aber tatsächlich im wirklichen Prozeß des menschlichen Vorstellens, Wollens und Fühlens anerkannt werden und anerkannt werden müssen, wenn anders gewisse Zwecke erfüllt werden sollen.
    "Für die genetische Methode sind die Axiome tatsächliche Auffassungsweisen, welche sich in der Entwicklung der menschlichen Vorstellungen, Gefühle und Willensentscheidungen gebildet haben und darin zur Geltung gekommen sind; für die kritische Methode sind diese Axiome - ganz gleichgültig, wie weit ihre tatsächliche Anerkennung reicht - Normen, welche unter der Voraussetzung gelten sollen, daß das Denken den Zweck wahr zu sein, das Wollen den Zweck gut zu sein, das Fühlen den Zweck, Schönheit zu erfassen, in allgemein anzuerkennender Weise erfüllen will."

    "Die theoretische Philosophie kann ihre Axiome nicht beweisen; weder die sogenannten Denkgesetze der formalen Logik noch die Grundsätze aller Weltbetrachtung, die sich aus den Kategorien entwickeln, sind irgendwie durch Erfahrung zu begründen; aber die Logik kann zu einem jeden sprechen: du willst Wahrheit; besinne dich, du mußt die Geltung dieser Normen anerkennen, wenn dieser Wunsch je erfüllt werden soll. Die praktische Philosophie kann ihre sittlichen Maximen weder durch eine allseitige Induktion gewinnen, noch aus irgendwelchen theoretischen Erkenntnissen der Metaphysik, der Psychologie oder der empirischen Gesellschaftslehre ableiten; aber die Ethik kann sich an jeden mit dieser Argumentation wenden: Du bist überzeugt, daß es ein absolutes Maß gibt, nach welchem entschieden werden soll, was gut und böse ist; wohlan, wenn du dich recht besinnst, wirst du finden, daß das nur möglich ist, wenn die Geltung gewisser Normen als unerläßlich anerkannt wird."
(Ebenso weiß WINDELBAND dann auch für die ästhetische Philosophie die Regeln der Schönheit nach und fügt schließlich hinzu: "Die Geltung der Axiome ist durch einen Zweck bedingt, der als Denken, Wollen und Fühlen vorausgesetzt werden muß".) Die Normen sind ferner nach WINDELBAND nicht nur Werturteile, Prinzipien der Beurteilung, sondern Mächte des Willenslebens; sie nötigen den Willen, nach der Norm zu handeln. Hiernach ist nach WINDELBAND sittliche Freiheit
    "die bewußte Unterordnung aller Triebfeder unter das erkannte Sittengesetz. Freiheit ist Herrschaft des Gewissens", "die Bestimmung des empirischen Gewußtseins durch das Normalbewußtsein". "Der vollkommene Mensch wäre derjenige, dessen Tätigkeit stets der Norm entspräche und auf allgemeine Anerkennung Anspruch hätte. Dieser vollkommene Mensch wäre zugleich der absolut freie, derjenige, dessen gesamte innere Lebensbewegung durch das Normalbewußtsein bestimmt wäre." Freiheit, "das Ideal eines höchsten Zwecken mit vollem Bewußtsein sich unterwerfenden Denkens und Wollens."
Man darf behaupten, daß das Vorhandensein und die Geltung der Normen, die WINDELBAND aus der genetischen und kausalen Betrachtung der Dinge herausgeschält hat, nicht anfechtbar ist. Nur der bewußte Skeptizismus kann die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit leugnen. Es bleibt indessen zu untersuchen, ob der Weg, wie uns nach WINDELBAND die Normen zu Bewußtsein kommen und ob ihre Stellung im kausalen Zusammenhang des Geschehens richtig und unanfechtbar ist. Das Naturgesetz ist ein Prinzip der Erklärung, die Norm ein Prinzip der Beurteilung. Soweit bestehen beide Prinzipien ganz getrennt für sich. Aber doch soll nach WINDELBAND das letztere Prinzip innerhalb des naturgesetzlichen Geschehens zum Vorschein kommen. Die Natur nimmt scheinbar ganz willkürlich eine Auslese unter den vielen Möglichkeiten der Vorstellungs-, Willens- und Gefühlsprozesse vor und bringt in diesem streng notwendigen Geschehenen die Normen als eine weiße Kugel unter vielen schwarzen hervor. Es ist ganz gut möglich, daß jemand ohne alles Bewußtsein der sittlichen Norm vollkommen normentsprechend handelt; er hat dann gewissermaßen das große Los gezogen. Aber im Verlauf der Jahrhunderte haben die Normen die Kraft, auf das Denken, Wollen und Fühlen einzuwirken; sie werden außer Prinzipien der Beurteilung auch Willensmächte, bewußte Bestimmungsgründe zum normativen Handeln.
    "Jene weiße Kugel hat selbst die Kraft, sich so zu stellen, daß sie öfter als die schwarzen gezogen werden muß."
So wird die Freiheit nichts anderes,
    "als das Bewußtsein von dieser bestimmenden Macht, welche die erkannte und anerkannte Norm über die Denktätigkeit und die Willensentscheidung auszuüben vermag."
Es stellen sich somit die Normen dar als mehr und mehr zu Bewußtsein kommende, den Willen und das Pflichtgefühl bestimmende besondere Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen. - Es sei erlaubt, ganz kurz einen kritischen Blick auf die WINDELBANDsche Auffassung zu werfen. Zunächst ist nicht klar, woher der Mensch innerhalb des gesetzmäßigen Naturgeschehens das Recht nehmen soll, gerade das normale Geschehene als das Geltensollende hinzustellen. Warum soll innerhalb der Kausalitätsreihe gerade die Wahrheit vor dem Irrtum, die sittliche Motivation vor der unsittlichen ein Geltungsrecht haben, da doch die Wahrheit gerade so gut als der Irrtum kausal bedingt ist? Mit der Betrachtung der Normen als besonderer Formen der Verwirklichung von Naturgesetzen ist die Trennung der beiden Betrachtungsweisen wieder aufgehoben und das eine läuft so gut am Faden des mechanischen Geschehens ab, wie das andere. Nur bekommen wir in diesem Faden bestimmte Knotenpunkte, die wir als Normen bezeichnen und die nun fürderhin im Bewußtsein des Menschen bestimmend wirken sollen. Damit ist nun das Geltensollen wieder unter den Gesichtspunkt des wirklichen Geltens gerückt, das Seinsollen unter den des wirklich Geschehenen, die Norm in das Kausalgesetz hinein- und untergebracht. WINDELBAND betont doch ausdrücklich, daß Naturgesetze und Normgesetze nichts miteinander zu tun haben.

Es bleibt daher nichts anderes übrig als zwei Betrachtungsweisen: entweder ich beurteile alle physischen Vorgänge danach, wie sie wirklich verlaufen sind unter dem Gesichtspunkt der Kausalität oder wie sie verlaufen sollen (oder hätten verlaufen sollen) unter dem normativen Gesichtspunkt. Ist nun die Norm einmal ein Ideal, nach dem wir denken, handeln und fühlen sollen, so ist es sehr schwer, eigentlich unmöglich, anzugeben, wo ein Mensch wirklich normativ gedacht, gehandelt oder gefühlt hat. Das Ideal bleibt bestehen immer nur als Maßstab, an dem alle Vorgänge gemessen werden können. Logik, Ethik und Ästhetik sind normative Wissenschaften. Die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit dieser Normen hat WINDELBAND besonders auch in den Aufsätzen über "kritische oder genetische Methode" und über "Immanuel Kant" gezeigt. Die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung dessen, was Wahrheit, Sittlichkeit und Schönheit ist, bedarf hier nicht näheren Eingehens, es genügt, gezeigt zu haben: Die Norm gilt in der Tat a priori und geht aller Erfahrung voraus, wenn überhaupt logisches Denken, sittliches Handeln und ästhetisches Fühlen möglich sein soll.

Damit haben wir den Standpunkt der rein theoretischen Betrachtung der menschlichen Handlungen verlassen und den des Seinsollens, der Werte, der Normen betreten, wo wir die Ereignisse nicht mehr ansehen, wie sie geworden sind, sondern wie sie sein sollen. Wir fragen nicht mehr: Wodurch wird unser Handeln und unser Wille bestimmt, sondern, wie sollen wir handeln? Bei der Frage, ob die Handlungen der Menschen auch anders hätten verlaufen können, gibt nur der Determinismus die Antwort: Nein, die Handlungen mußten so kommen, wie sie wirklich geschehen sind. Das lediglich erkennende Bewußtsein kann uns keine andere Antwort geben. Indessen die sittliche Norm und das beurteilende Gewissen sagt oft: Die Handlungen hätten anders verlaufen sollen. Vor einem Eingriff der ersten Betrachtungsweise in die zweite ist diese gewahrt, da jene kausale, theoretische, beobachtende, deterministische Auffassung nur eine Art ist, die Dinge anzusehen und zu erklären. Nur unter diesen zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten löst sich der Widerspruch des Freiheitsbewußtseins mit dem Kausalgesetz. (So ist wohl auch der Kern der Kantischen Freiheitslehre aufzufassen, die freilich in der vorliegenden Gestalt nicht haltbar ist.) - Es heißt nicht: entweder frei oder kausal notwendig, sondern immer und in jedem Fall kausal bedingt. Aber es heißt: Du willst Freiheit; stelle deinen Willen so ein, daß er unter den Gesichtspunkt der Freiheit gerückt werden kann. Zwar ist absolute Freiheit ein Idealzustand, aber eine relative Freiheit ist da wirklich, wo das der Norm entsprechende Handeln dich befreit hat von allem, was du als Druck und Hindernis deines Lebens empfindest. So ergibt sich Freiheit als ethische Lebensaufgabe. Befreie dich von allem, was der Entwicklung zu einer sittlichen Persönlichkeit hindernd im Wege steht!

Ziehen wir kurz das Ergebnis, das sich uns nach allem Gesagten für die Willensfreiheit darbietet. Rein theoretisch als Erkennen des Wirklichen angesehen, hat das Freiheitsbewußtsein im Determinismus seine einzige, aber auch hinreichend gesicherte Stelle. Auch deterministisch angesehen kann der Mensch sowohl autonom mit Vergewaltigung des herkömmlichen Sittengesetzes handeln, als auch seinen Charakter erziehen und seinen natürlichen Willen durch den Vernunftwillen regieren. Denn, auch angenommen, der Mensch kann seinen Charakter durch einen Willensakt nicht ändern, so wird er doch oft die Umstände ändern, die ihn der Gefahr schlecht zu handeln aussetzen und sich unter den Einfluß des Guten stellen.

Neben dem rein theoretischen und deterministischen Gesichtspunkt aber stehen die menschlichen Handlungen auch unter der Betrachtung der sittlichen Beurteilung, unter Werturteilen, unter Normen. Neben der Frage: Aus welchen Gründen und Motiven ist mein vergangenes Handeln zu erklären, ist die andere: wie soll ich handeln, berechtigt und für die Praxis von höchstem Wert. Hier zeigt sich nun die Freiheit als sittliche Lebensaufgabe. Handle nach der Norm, wie sie dir in deinem Gewissen zu Bewußtsein komm! Die Norm selbst ruht auf dem Glauben. Im Glauben an die Macht der Norm soll ich frei werden von der Herrschaft der natürlichen Triebe, vom Egoismus, von der brutalen Macht der Majorität, frei von Rauheiten und Härten des Lebens, frei von den Übeln im Weltganzen, - denn so betrachtet, sind auch die Übel nicht dazu da, um aus Ursachen theoretisch erklärt, sondern um praktisch überwunden zu werden - frei von allem, was den Willen in seinem Streben nach den höchsten Gütern hindert, frei in allem nach dem Maßstab der Norm. Das ist die negative Seite der Willensfreiheit. Die positive besteht darin, daß der Wille die Macht der Norm ins Bewußtsein hebt und die oft gebundene (latente) Macht der Wahrheit, des Guten, des Schönen und aller sittlich wertvollen Güter zur Herrschaft bringt. das ist Freiheit als sittliche Lebensaufgabe; sie ruht auf dem Glauben an die Macht der Norm und ist verwirklicht in fortgehender Erfüllung der Aufgabe normgemäß zu handeln.



Nach Eingabe dieser Arbeit an den Herausgeber erschien die Monographie "Über Willensfreiheit" von WINDELBAND. In derselben sind alle in das Problem einschlägigen Fragen, auch die metaphysischen und theologischen, eingehend behandelt. Die aus den Fäden aller philosophischen Disziplinen verwickelte Problemverschlingung wird in eine Reihe gesonderter, im Ablauf des ganzen Willenslebens hervortretenden Probleme zerlegt. Durch alle Schlupfwinkel wird das fast zu Tode gehetzte Edelwild der Willensfreiheit verfolgt. Auch da, wo die letzten und höchsten Klippen es einschließen wollen, wo die undurchdringliche Persönlichkeit, der Zauber und Duft der Individualität Halt gebieten, werden die letzten und größten Schwierigkeiten einer Untersuchung unterzogen. Eine wenn auch noch so kurze Darstellung genannter Monographie kann an dieser Stelle nicht gegeben werden. Nur muß gesagt werden, daß WINDELBAND auch hier neben allen anderen Freiheitsbegriffen den ethischen Normbegriff der Freiheit stark zur Geltung kommen läßt. Auch hier sind die zwei oben behandelten Betrachtungsweisen, normative Wertung und kausale Erklärung, streng geschieden. Erstere abstrahiert ebenso vollkommen von der Frage nach den kausalen Vermittlungen der Gegenstände und Handlungsweisen wie andererseits die Kausalbetrachtung der Wissenschaft gänzlich von den  Werten  der Gegenstände abstrahiert, mit denen sie sich beschäftigt.

Das Sollen für eine psychologisch und deterministisch zu erklärende  Jllusion  auszugeben, kann daher nur der, welcher unberechtigterweise die ganze Betrachtungsweise ausschließlich auf die letztere Betrachtungsweise, auf die kausale Erklärung, einstellt. In dieser Streitfrage ist die ganze vorliegende Untersuchung über das Thema dieser Arbeit zu demselben Ergebnis gekommen, wie die WINDELBANDsche Monographie. "An die Stelle der Behauptung, daß der Mensch hätte anders sein  können,  tritt also diejenige, daß er anders hätte sein  sollen  und eben damit wird  die  Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Ursachlosigkeit zu einer Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Norm." (WINDELBAND: Über Willensfreiheit, Seite 217)

Von den neuesten Arbeiten über das Problem sei noch "Die Willensfreiheit" usw. von BOLLIGER, Berlin 1903, erwähnt. Die Widersprüche der Kantischen Freiheitslehre werden hier noch einmal in fast zu großer Schärfe aufgedeckt. BOLLIGER will kein KANT-Interpret sein. KANT verstehen heißt aber bekanntlich über ihn hinausgehen. Das gilt für BOLLIGER nicht. Er ist Indeterminist und Anhänger LOTZEs. Freiheit besteht in der Fähigkeit "die Gefühle im Blick auf Zeit und Ewigkeit zu disziplinieren". Auf eine Beurteilung des BOLLIGERschen Buches kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. - Zur neuesten Arbeit von GEORG GRAU "Selbstbewußtsein und Willensfreiheit die Grundvoraussetzungen der christlichen Lebensanschauung usw." sei nur bemerkt, daß hier anscheinend zu viel vorausgesetzt wird; das Selbstbewußtsein hat auch WINDELBAND in oben erwähnter Monographie ausführlich genug behandelt.
LITERATUR - Hermann Staeps, Das Problem der Willensfreiheit vom Standpunkt des Sollens, Archiv für systematischen Philosophie, Bd. X, Leipzig 1897