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WALTER ESCHENBACH
Fritz Mauthner -
Sprache und Denken


Die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts
Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Die Kommunikationskrise
Überwindung der Sprachkrise
Wirkungsgeschichte Mauthners
"Sprechen ist Denken, Denken ist Sprechen. Es sind nur zwei Seiten der selben Sache. Es ist die  gleiche Wirklichkeit, einmal von außen, einmal von innen gesehen."

Die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken ergibt sich in MAUTHNERs Schriften ganz zwangsläufig als Komplementärfrag zu dem Komplex Sprache - Wirklichkeit, den wir bereits behandelt haben, und der aufgrund der MAUTHNERschen Gleichsetzung ebenso als ein Verhältnis nicht von Sprache, sondern von Denken und Wirklichkeit gedeutet werden könnte. Die wesentliche Diskrepanz besteht also für MAUTHNER zwischen Sprache bzw. Denken einerseits und Wirklichkeit andererseits; die  Wirklichkeitskrise  stand meistens im Vordergrund seiner Sprachkritik.

Daneben gilt jedoch sein gesteigertes Interesse auch dem innere Verhältnis von Sprache und Denken, weil sich hierin die quasi individuelle, subjektive Gegenposition zur allgemeinen, objektiven Wirklichkeitskrise widerspiegelt. Die Sprachkrise erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr unter dem Vorzeichen der gestörten Beziehung zwischem dem System Sprache und der entgegengesetzten unsystematischen Realität; sie wird jetzt vielmehr aus der Perspektive der Sprachpsychologie, aus der Sicht des einzelnen Sprachteilnehmers betrachtet, der immer in einer bereits bestehenden Sprache denkt und spricht.

Dieses Problem des Zusammenhangs von Sprache und Denken ist eine ganz zentrale Fragestellung der Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts. Ganz generell und verkürzend kann man feststellen, daß - im Anschluß wiederum an Gedanken WILHELM von HUMBOLDTs - die Eigenmacht der sprachlichen Formen und Strukturen und deren bestimmender Einfluß auf das menschliche Denken im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher gesehen und stärker hervorgehoben wurden.

Über O.F. GRUPPE z.B., einen bedeutenden Sprachphilosophen des mittleren 19. Jahrhunderts, dessen Schriften MAUTHNER übrigens sehr schätzte, schreibt H.J. CLOEREN:
    "Frappierend ist außerdem GRUPPEs Aufstellung der These von der Interdependenz von Sprache und Denken in Verbindung mit seiner Antizipation der WHORF-SAPIRschen These der linguistischen Relativität. Sein - man würde heute sagen -  linguistic approach to philosophy  läßt ihn Gefahren in der Sprache aufweisen, insofern diese in der Lage ist, durch ihre autonome Macht irrezuführen. Wertvoll und weitreichend sind seine Hinweise (...), daß Sprache als faktisches  a priori  unser Weltverständnis prägt"(1).
MAUTHNERs absolute Gleichsetzung von Sprache und Denken bedeutete also gewissermaßen eine letzte Steigerung und den Abschluß dieser Tradition, ihr Einmünden in einen totalen Skeptizismus, ja Agnostizismus.
    "Dies steht der Erkenntnis der Wahrheit am starrsten im Wege, daß die Menschen alle glauben zu denken, während sie doch nur sprechen, daß aber auch die Denkgelehrten und Seelenforscher allesamt von einem Denken reden, für welches das Sprechen höchstens das Werkzeug sein soll. Das ist aber nicht wahr, es gibt kein Denken ohne Sprechen, das heißt ohne Worte. Oder richtiger: Es gibt gar kein Denken, es gibt nur Sprechen. (...) Ein Denken über dem Sprechen, eine Logik über die Worte hinaus, Ideen über die Dinge hinaus gibt es so wenig wie eine Lebenskraft über dem Lebendigen, wie eine Wärme über der Wärmeempfindung, wie ein Hundheit über den Hunden"(2).
Für MAUTHNER ist der Begriff bzw. die Vorstellung  Denken  eine bloße Abstraktion, die aus dem menschlichen Wortaberglauben entstanden sei, ohne daß dem Namen ein reales Phänomen entspräche. Denken ist gewissermaßen ein Substantiv, das von der Tätigkeit des Sprechens abgeleitet wurde.
    "Es ist einer der Ausgangspunkte dieser Schrift, daß es kein Denken gebe außer dem Sprechen, daß das Denken ein Symbol sei für eine angebliche, falsch gesehene Eigenschaft der Sprache: ihre eingebildete (von ihr selbst eingebildete) Fähigkeit, die Erkenntnis zu fördern"(3).
EIBL nennt scheinbar ganz zu Recht eine Grundthese der MAUTHNERschen Sprachkritik:
    "Sprechen ist Denken, Denken ist Sprechen. Es sind nur zwei Seiten der selben Sache. Es ist  die  gleiche Wirklichkeit, einmal von außen, einmal von innen gesehen"(4).
Diese Schlußfolgerung bedarf jedoch einer wichtigen ergänzenden Erläuterung, die ELISABETH LEINFELLNER in einem Aufsatz formuliert hat:
    "Obendrein können weder MAUTHNER noch der später WITTGENSTEIN die rigorose Konzeption, daß Denken gleich Sprechen sei, vollständig aufrechterhalten; beide müssen sie etwas modifizieren" (5).
Dementsprechend heißt es bei MAUTHNER auch:
    "und ich wiederum werden in besonders resignieren Augenblicken einsehen, daß die Gleichstellung von Sprechen und Denken doch wieder nur eine kriegerische Behauptung ist, eine vorübergehende Wahrheit, gut im Kampf gegen den Aberglauben an die Vernunft, aber doch selbst wieder eine Äußerung des versteckten Wortglaubens, da die Erscheinungsgruppe  Sprechen  und die Erscheinungsgruppe  Denken  schließlich dieselbe Sache von zwei nicht ganz identischen Standpunkten ist, (...)" (6).
ALFRED KÜHTMANN bemängelte in seiner "Geschichte des Terminismus" MAUTHNERs "schwankende Stellung zur Frage, ob Sprache und Denken identisch sind"(7). PAUL BARTH erklärte in seiner Rezension kurz und bündig: "Die erste Annahme, die durch alle drei Bände hindurch geht, ist die Theorie MAX MÜLLERs, daß es kein Denken ohne Sprechen gebe. Diese These ist falsch"(8).

Diese Vorwürfe gegenüber MAUTHNERs sich widersprechenden Definitionen des Verhältnisses von Sprache und Denken mögen formal berechtigt sein; inhaltlich traf MAUTHNER mit der definitorischen Widersprüchlichkeit und Ungeklärtheit eigentlich nur die kaum zu lösende Problematik des Sachverhalts selbst. Es war ihm nur nicht gelungen, die Komplexität der Fragestellung sprachlich angemessen darzustellen. Er verfiel auch hier wieder der Gefahr, bei dem Versuch seiner Sprachkritik selbst der sprachunkritischen Begrifflichkeit zu erliegen.

Die neuere Sprachphilosophie verzichtet darauf, exakte, endgültige Lösungen anzubieten und begnügt sich mit vorsichtigen Hinweisen auf das verbindliche heuristische Modell der Sprache.
    "Die Behauptungen über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken oder zwischen Sprache und Wirklichkeit sind typische philosophische Verallgemeinerungen, und es fällt schwer - zumindest bei dem derzeitigen Stand des Wissens -, durch eine unmittelbare Berufung auf empirische Fakten auf die Lösung eines solchen Problems zu rechnen. Man kann im besten Falle nachweisen, daß das, was wir dank verschiedener Einzelwissenschaften über diese Dinge wissen, mehr für den einen als den andern Standpunkt spricht (...)"(9).
SCHAFF kommt zu dem Ergebnis: "Fassen wir also unsere Thesen zusammen: Einheit von Sprache und Denken, aber keine Identität beider; sprachlich- gedanklicher Monismus; aber keine vulgarisierte Theorie der Identifikation"(10). MAUTHNER erweiterte die begriffliche Gleichsetzung von Sprache und Denken noch, indem er - wiederum betont provokativ - auch  Bewußtsein, Weltanschauung, Ich  und  Gedächtnis  mit dem Begriff  Sprache  gleichsetzte, wobei er alle diese Phänomene auf das Prinzip  Erinnerung  zurückführte.

Der Rezensent der  Neuen Deutschen Rundschau  hat die Gefahr benannt, in die sich der Sprachkritiker MAUTHNER damit immer wieder begab:
    "Es kann bei dieser Gelegenheit ausgesprochen werden, daß MAUTHNER die Unklarheit unserer wissenschaftlichen Begriffe nicht nur kritisiert, sondern in vielen Fällen steigert, daß er einigermaßen festgestellte Wortsphären, weil sie nicht mit idealer Schärfe begrenzt sind, aus Gewissenhaftigkeit vollends verwischt. Was setzt er nicht alles der Sprache gleich! Denken, Gedächtnis, Bewußtsein, Ich, Individualität, Weltanschauung, - die Liste ließe sich weiterführen. Seine Skepsis arbeitet wie eine schleichende, langsam steigende Flut, die meilenweit alles Erkennbare auslöscht (...)"(11).
MAUTHNERs Versuch einer gewaltsamen definitorischen Lösung des Sprache- Denken- Problems muß man als gescheitert betrachten. Dennoch haben diese sprachkritischen  Gewaltakte  auf ein ganz entscheidendes Element der Sprachkrise um 1900 aufmerksam gemacht. Außerdem hat MAUTHNER die Unmöglichkeit endgültiver und exakter begrifflicher Klärungen selbst eingesehen, wie seine nachträglichen einschränkenden Bemerkungen deutlich zeigen.

Bereits in seinem ersten Band seiner "Beiträge" räumte er an einer Stelle ein:
    "Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprechen und Denken wird so zu einem Wortstreit, wird abhängig von der Definition des Begriffs "Denken", die wir uns freilich bemühen müssen, dem Sprachgebrauch anzupassen" (12).
Am besten geben wir wohl MAUTHNERs endgültige Meinung wieder, wenn wir den entscheidenden Satz aus der 1922 erschienenen "Selbstdarstellung" zitieren, der eine sehr zurückhaltende, ausgewogene und diskutable Lösung anbietet: "
    Es gibt einen Parallelismus, der einen besseren Sinn hat, als der zwischen Seele und Leib: der Parallelismus von Denken und Sprechen"(13).
MAUTHNERs sprachkritische Begriffsbestimmungen sind also nicht im Sinne endgültiger und exakter Definitionen zu verstehen, sie sind meistens vielmehr selbst Ausdruck eines krisenhaften Sprachumgangs und -bewußtseins. Mit zugespitzten Formulierungen und irritierenden Aspekten sollten nicht in erster Linie unumstößliche Positionen aufgestellt werden; MAUTHNER ging es vielmehr um die Intensivierung des Problembewußtseins bezüglich des komplexen Verhältnisses von Sprache und Denken.

Wenngleich er in manchen Passagen hinter den differenzierteren Äußerungen seiner Vorgänger zurückblieb, gewannen seine extremen und provokanten Fragestellungen dennoch ihren spezifischen Aussagewert innerhalb einer zugespitzten und verschärften Sprachproblematik. Denn indem er - sehr einseitig zwar - die absolute Vormachtstellung der Sprache innerhalb des Denkprozesses konstatierte, lenkte er die Aufmerksamkeit mehr als andere Autoren vor und neben ihm auf die sprachliche Konditionierung unseres Denkens und stellte damit ein sehr wichtiges sprachkritisches Argument ganz in den Vordergrund der Diskussion. Der historische Aspekt, von dem bereits die Rede war, potenzierte dabei die Sprachhindernisse des menschlichen Denkens.
    "Aber nicht einmal denken können wir, wie wir wollen. Wir können nur denken, was die Sprache uns gestattet, was die Sprache und ihr individueller Gebrauch uns denken läßt. Wir können nur denken, was wir gewollt  haben  und was unsere Vorfahren gewollt  haben.  Einstiges Wollen hat einstiges Interesse erzeugt und so die Sprache. Und selbst unser phantastisches Wollen einer Zukunft ist nur einstiges Interesse, ist nur Erinnerung dessen, was wir gewollt haben und was unsere Vorfahren gewollt haben"(14).
MAUTHNER stellt sich damit an die Spitze eines Kampfes gegen die "Macht der Worte über das einzelne menschliche Gehirn"(15). Die Sprache habe "Macht über die Gedanken des einzelnen. Was in uns denkt, das ist die Sprache"(16). Aus der völligen Abhängigkeit des Denkens von der Sprache ergibt sich eine Tyrannei der Worte, die keineswegs nur ein begrenztes Problem der Erkenntnistheorie ist, sondern in weiten Bereichen des menschlichen, politischen und sozialen Bewußtseins und Handelns wirkt.
    "Die Sprache ist nichts Wirkliches und dennoch kann sie etwas Wirksames sein, eine Waffe, eine Macht"(17).
Dieser Kampf gegen die prinzipielle Geprägtheit unseres Denkens durch die Macht der Worte steht in ständiger Berührung mit MAUTHNERs Kritik an der historischen Vorgeprägtheit der sprachlichen Begrifflichkeit und Struktur. Wie sehr dieser sprachkritische Haupteinwand gegen die "Macht der Worte" dem allgemeinen Bewußtsein der Zeit entsprochen hat, können z.B. zwie sehr bezeichnende Äußerungen HUGO von HOFMANNSTHALs bezeugen. In den "Aufzeichnungen" schrieb er: "Das Wort ist mächtiger als der es spricht"(18). An anderer Stelle lesen wir: "Für gewöhnlich stehen nicht die Worte in der Gewalt der Menschen, sondern die Menschen in der Gewalt der Worte"(19). Das Wissen um die Eigenmacht des sprachlichen Systems und dessen Herrschaft über Bewußtsein und Denkprozesse stand ganz im Zentrum der Sprachkrise um die Jahrhundertwende.

Der philosophiegeschichtlichen Herkunft und Entwicklung der Idd der Macht der Sprache über die Vernunft und das Denken nachzugehen, würde hier zu weit vom Thema ablenken. Man müßte an die frühen Positivisten und Empiristen erinnern, an LOCKE und HUME vor allem; dann aber auch ganz besonders an FRIEDRICH NIETZSCHE(20). Einen Vorläufer wollen wir aber gesondert hervorheben, weil er sich als Verbindungsglied zwischen MAUTHNERs Sprachkritik und HOFMANNSTHALs Lord-Chandos-Brief erweist: FRANCIS BACON.

In dessen  Novum Organon  fand MAUTHNER eine ganze Reihe von Gedanken und Vorstellungen seiner eigenen Sprachtheorie vorgezeichnet; er widmete deshalb "Bacons Gespensterlehre" in seinem Philosophischen Wörterbuch ein sehr ausführliches und umfangreiches Kapitel.
    "Ich hatte einmal dieses merkwürdige Stück kurz in meine Sprache übersetzt, oft recht frei in den Worten, doch getreu in der Sprache, um die Übereinstimmung BACONs mit der Skepsis der Sprachkritik hervorzuheben.  Idole  hatte ich, ein Nachkömmling von STIRNER und IBSEN, durch  Gespenster  übersetzt. (...) Auf die oft überraschenden sprachkritischen Ergebnisse brauche ich nicht besonders hinzuweisen"(21).
Was MAUTHNER mithilfe seiner freien, deutenden Übersetzung aus BACONs Schrift an Übereinstimmungen und Parallelen mit der eigenen Sprachkritik herausarbeitet, ist verblüffend und zeigt BACON als einen der wichtigsten Sprachkritiker der gesamten Neuzeit. Die historische Komponente der Sprache wird beispielsweise schon deutlich erkannt und kritisiert, ebenso das Prinzip der Abstraktion, die Unzulänglichkeit der menschlichen Sinne und die bloße Nützlichkeitsfunktion der Sprache für den Alltag(22). Am eindringlichsten ist jedoch auch bei BACON die Kritik an der falschen Einschätzung des Verhältnisses von Sprache und Denken.
    "Es glauben nämlich die Menschen, ihre Vernunft herrsche über die Sprache; aber die Worte haben wiederum Macht über die Vernunft; und davon ist die Philosophie sophistisch und unwirksam geworden"(23).
HOFMANNSTAHLs Lord Chandos nennt BACON den "größten Wohltäter meines Geistes"(24), und ein Kernsatz des Briefes stellt in sehr charakteristischer Weise und ganz in Anklang an BACON den Zusammenhang von Sprache und Denken in den Vordergrund:
    "Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen"(25).
GOTTHARD WUNBERG hat auf die wichtigen Bezüge zwischen dem  Brief  HOFMANNSTHALs und BACONs Lehre sehr nachdrücklich hingewiesen.
    "Dieses Phänomen, alte und gewohnte Sachverhalte nicht mehr überzeugt und überzeugend nennen zu können, bedingt sich wechselseitig mit dem für BACON Gezeigten: der Tatsache, daß die alten Vorstellungen sich als falsche Vorurteile, als  idola  enthüllt haben. Weil sich die überkommenen Gesinnungen,  philosophische Systeme  (BACON), als bloße  idola  erweisen, ist es nicht mehr möglich, sich ihrer in der sprachlichen Formulierung zu bedienen. Gerade aber dafür kann er (Chandos) bei BACON ein besonderes Verständnis voraussetzen"(26).
WUNBERG kommt zu dem Schluß: "Wenn man BACON richtig auswertet, ergibt sich wie von selbst eine Ursache für die Sprachunfähigkeit des Chandos"(27). Ob die Tatsache, daß der fiktive Briefautor an FRANCIS BACON schreibt jedoch auf einen direkten Einfluß MAUTHNERs zurückzuführen ist, wie Gustav Landauer annimmt, bleibt äußerst fraglich(28). Dennoch ist die Übereinstimmung in der Wahl einer historischen Bezugsperson ein deutliches Kennzeichen der Gemeinsamkeiten innerhalb der Sprachproblematik der Generation um 1900.

WUNBERG glaubt, einen Gegensatz zwischen Sprach- und Bewußtseinskrise aus der Interpretation des Chandos-Briefes erkennen zu müssen, in dessen Folge sich eine entscheidende Differenz zwischen MAUTHNER und HOFMANNSTAHL ergebe. Vor allem die Auswertung BACONs lege diesen Schluß nahe.
    "Daß die Sprache nicht mehr trägt, ist dann ein Ergebnis, zu dem das reflektierende Bewußtsein gelangt ist, und damit ist die Sprachkrise gegenüber einer Bewußtseinskrise sekundär"(29).
Diese Trennung scheint mir einen künstlichen, rein terminologischen Gegensatz herzustellen, der gerade jener Komplexität von Sprache, Denken und Bewußtsein in ihrer jeweils gegenseitigen Bedingtheit nicht gerecht wird. Indem MAUTHNER und auch HOFMANNSTAHL jene unauflösliche Verstricktheit von Individuum, Sprache, Denkakt und Bewußtsein aus sprachkritischer Sicht aufzeigen wollten, haben sie die Schwierigkeit und Unmöglichkeit solcher Abgrenzungen eigentlich bereits im voraus bloßstellt. Das Ineinander von Ich-Krise, Denk- und Bewußtseinskrise, Wirklichkeits- und Sprachkrise ist ja gerade ein spezifisches Merkmal der Sprachproblematik um die Jahrhundertwende.
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    1) (Hrsg.) H.-J. CLOEREN, Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl I, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, Seite 18
    Zum Werk GRUPPEs und zu MAUTHNERs Beziehung zu diesem vgl. H.-J. Cloeren, O.F. Gruppe und die sprachanalytische Philosophie, Diss. Münster 1967.
    Auch für CONRAD HERMANN (1819-1897) war Sprache "das empirische a priori für das Denken" (H.-J. Cloeren: Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl I, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, Seite 19), und FRIEDRICH MAX MÜLLERs (1823-1900) "Fundamentalgrundsatz der Sprachwissenschaft" besagte, daß "Denken und Sprache untrennbar seien." (vgl. Siegfried J. Schmidt (Hrsg), Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Seite 11)
    GUSTAV GERBER (1820-1902) und GEORG RUNZE (1852-1922), zwei weitere Vorläufer MAUTHNERs, sehen ebenfalls Sprache und Denken als "korrelative Aspekte eines einheitlichen Denk-Sprech-Prozesses." (Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Seite 12)
    Noch bei WITTGENSTEIN lesen wir beispielsweise: "Philosophie (...) ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache." (Philosophische Untersuchungen, in 'Schriften', Band 1, Frankfurt/Main 1960, Seite 342
    2) Beiträge I, Seite 164f
    3) Beiträge I, Seite 460
    4) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 69 (Eibl zitiert hier aus dem Philosophischen Wörterbuch I, Seite 180)
    5) ELISABETH LEINFELLNER, Zur nominalistischen Begründung von Linguistik und Sprachphilosophie: Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein, in 'Studium Generale' 22 (1969) Seite 219
    6) Beiträge II, Seite 676
    7) Alfred Kühtmann, Zur Geschichte des Terminismus (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, Heft 20, Leipzig 1911, Seite 93f
    8) Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, 48. Jhg, NF III, Leipzig 1904, Seite 433
    9) ADAM SCHAFF: Sprache und Erkenntnis, aus dem polnischen von E.M. Szarota, Wien-Frankfurt-Zürich 1966, Seite 63
    10) ADAM SCHAFF, Sprache und Erkenntnis, aus dem polnischen von E.M. Szarota, Wien-Frankfurt-Zürich 1966, Seite 142f
    11) PAUL MONGRÉ (Pseudonym für Prof. FELIX HAUSDORF) in "Neue deutsche Rundschau" 1903, Seite 1256
    12) Beiträge I, Seite 178
    13) FRITZ MAUTHNER in "Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen", Hrsg. RAYMUND SCHMIDT, Leipzig 1921, 2.Band, Seite 135
    14) Beiträge II, Seite 548
    15) Beiträge I, Seite 41
    16) Beiträge I, Seite 42
    17) Beiträge I, Seite 47
    18) HUGO von HOFMANNSTAHL, Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", aus "Werke", Hrsg. von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1951, Seite 84
    19 HUGO von HOFMANNSTAHL, Prosa I, aus "Werke", Hrsg von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1951, Seite 267
    20 Vgl. dazu: SIEGFRIED J. SCHMIDT, Sprache und Denken in Siegfried J. Schmidt (Hrsg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II)
    Zur Sprachkritik bzw. -skepsis NIETZSCHEs und deren Beziehung zur Literatur der Jahrhundertwende verweisen wir noch einmal auf ULRICH DITTMAN: Sprachbewußtsein und Redeformen im Werk Thomas Manns, Stuttgart 1969, Seite 26f
    21) Philosophisches Wörterbuch I, Seite 76
    22) "Die menschliche Sprache oder Vernunft hat eine Menge von Begriffen für richtig angenommen, weil sie von altersher gelten oder geglaubt werden oder weil sie gefallen" (Philosophisches Wörterbuch I, Seite 78)
    "Die Vernunft oder die Sprache wird ihrer Natur gemäß zur Abstraktion gedrängt, zum Begriff; und der Begriff nimmt das Fließende für ein Beharrendes. Es ist aber wertvoller, alles in seiner Bestandteile zu zerlegen, die Natur zu zerschneiden, zu analysieren als von ihr Abstrakta zu bilden." (ebd. Seite 79)
    "Das allergrößte Hemmnis kommt aber in dem Menschen zustande von der Natur seiner Sinne." (ebd.)
    "Für die praktische Orientierung in der Welt sind Sinne und Verstand ganz nützlich; da kann und mag viel zu Nachhilfe geschehen. Nur muß deren Schwäche für alle Erkenntniszwecke erkannt werden." (ebd. Seite 83)
    Selbst wenn man die freie Übersetzung MAUTHNERs in Rechnung stellt, ist die Übereinstimmung zwischen BACON und ihm - und natürlich auch den Gedanken im Brief des Lord Chandos- sehr weitgehend.
    23) Philosophisches Wörterbuch I, Seite 80
    24) HUGO von HOFMANNSTAHL, Prosa II, aus "Werke", Hrsg von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1951, Seite 20
    25) HUGO von HOFMANNSTAHL, Prosa II, aus "Werke", Hrsg von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1951, Seite 11
    26) GOTTHARD WUNBERG, Der frühe Hofmannsthal, Stuttgart 1965, Seite 109
    27) GOTTHARD WUNBERG, Der frühe Hofmannsthal, Stuttgart 1965, Seite 111
    28) WUNBERG weist auf eine Tagebuchaufzeichnung des 19-jährigen Jurastudenten HOFMANNSTAHL hin, die dessen Kenntnis BACONs ziemlich wahrscheinlich macht. (GOTTHARD WUNBERG, Der frühe Hofmannsthal, Stuttgart 1965, Seite 110
    LANDAUER hatte in "Skepsis und Mystik" geschrieben: "Die Klage SCHILLERs aber, daß der Dichter, in dessen Fesseln der Sprache das Wirkliche bezwingen müsse, ist von einem Dichter unserer Zeit neu aufgenommen worden: von HUGO von HOFMANNSTAHL. Sein Manifest, das wohl nicht ohne Kenntnis der Sprachkritik MAUTHNERs verfaßt sein wird" (GUSTAV LANDAUER: Skepsis und Mystik,' Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik', Berlin 1923)
    29) GOTTHART WUNBERG, Der frühe Hofmannsthal, Stuttgart 1965, Seite 111