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WALTER ESCHENBACH
Fritz Mauthner -
Sprache und Denken

I I

Die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts
Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Die Kommunikationskrise
Überwindung der Sprachkrise
Wirkungsgeschichte Mauthners
"Symbole, Abstrakta, ja schon die Pluralia - das sind ebensoviele Fluchtversuche aus der erschütternden und verwirrenden Realität der Dinge in Spekulation, Metaphysik oder zu Gott."

Der zentrale Aspekt des Zusammenhangs von Sprache und Denken verrät zweifellos eine deutliche Übereinstimmung in der sprachkritischen Bewußtseinslage der Generation um 1900, die sich in der Grundtendenz einer zunehmenden Berücksichtigung und Anerkennung der Macht der Sprache über das Denken und Bewußtsein manifestierte. Dabei war das Wissen um die Geprägtheit der Gedanken durch die fixierende und vorherbestimmende Gestalt der Sprache nicht erst eine erkenntnis- oder sprachtheoretische Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Der im Chandos-Brief beschriebene "Prozeß vom Vertrauen ins Wort zur Unmöglichkeit, das Wort zu gebrauchen"(30), hatte aber in dieser Epoche einen gewissen Höhepunkt erreicht.

Äußerungen zur präjudizierenden Macht der Sprache über Denken und Handeln häufen sich in der Zeit MAUTHNERs. Schriftsteller und Philosophen sehen eine ihrer Hauptaufgaben darin, gegen diese  Gewalt der Worte  vorzugehen. Die sich voll entfaltende Wirkung der zugleich verwirrenden, aber auch fruchtbaren Fragestellung nach der Wechselbeziehung von Sprache und Denken hat sich gerade in dieser Epoche voll entfaltet.

Im philosophischen Werk WITTGENSTEINs z.B. niemmt der Fragenkomplex Sprache-Denken eine ganz entscheidende Stellung ein. Im  Tractatus  gibt es zwar noch die Vorstellung einer Abbildfunktion der Sprache; aber bereits hier heißt es:
    "Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen"(31).
Demgegenüber lesen wir in den später erschienenen  Philosophischen Untersuchungen: 
    "Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch  Bedeutungen  vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens"(32).
Die sprachkritische Aufgabenstellung rückte damit ganz in den Vordergrund der Philosophie:
    "Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache"(33).
Unter den Dichtern der Jahrhundertwende gehörte HUGO von HOFMANNSTHAL in allererster Linie zu den Autoren, die sich ein Leben lang mit der Problematik der Sprache und des Denkens auseinandersetzten. Das beschränkte sich keineswegs nur auf den Chandos-Brief; schon 1895 schrieb der junge Schriftsteller: "Wir sind im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken (...)"(34). Für den Lord Chandos haben sich die Begriffe, die er zwar wohl noch versteht, bereits selbständig gemacht und vor sein Denken gestellt: "aber sie hatten es nur miteinander zu tun, und das Tiefste, das Persönliche meines Denkens, blieben von ihrem Reigen ausgeschlossen"(35).

ARTHUR SCHNITZLER hat in seinem treffenden Aphorismus die Ambivalenz der Wechselbeziehung von Sprache und Denken charakterisiert, wobei der die jeweilige Insuffizienz des einen gegenüber dem anderen als zwei grundsätzliche Möglichkeiten nebeneinanderstellt.
    "Wir reden um unsere Gedanken herum, weil wir keinen Gedanken in Worten völlig auszudrücken vermögen, sonst wäre die Verständigung - mindestens zwischen Verständigen - längst erfolgt. Aber wir denken auch um die Worte herum, und das ist das Bedenkliche. Hätten wir die Kraft oder den Mut oder die Möglichkeit, von den Worten vollständig wegzudenken, wir wären weiter als wir sind"(36).
Eine Untersuchung der Dramen und Erzählungen SCHNITZLERs würde die Bedeutung seiner sprachskeptischen Haltung gegenüber diesem komplexen Zusammenhang von Sprache und Denken für sein dichterisches Werk nachweisen können.

RAINER MARIA RILKE, der mit MAUTHNER die Prager Jugendzeit und die multilinguale Sprachsituation teilt, hat wohl wie dieser sehr früh bereits den denkprägenden Einfluß der jeweiligen Sprache verspürt. Seine dichterischen Versuche in russischer und französischer Sprache stehen ganz sicher in einem Zusammenhang mit dem Versuch, das Vorgeformte und bereits Geprägte des muttersprachlichen Denkens und Ausdrückens zu überwinden.

RILKEs, aber auch KAFKAs Auseinandersetzung mit dem schlechten Prager Deutsch waren sicherlich immer auch ein Kampf gegen die Herrschaft bestimmter Sprachformen über ein davon abhängiges Denken und Bewußtsein. Damit ordnet sich die spezifische Prager Sprachkrise in die allgemeine Sprachproblematik um 1900 ein, wie andererseits das besondere Problem des Bezugs von Sprache und Denken auch immer wieder in den Fragenkomples des sprachlichen Vorverständnisses der menschlichen Wirklichkeitserfahrung einmündet.

Die Literatur der Jahrhundertwende sah sich, aus der Bewußtwerdung der engen Abhängigkeit des Denkens von der Sprache heraus, in zunehmendem Maße der Eigengesetzlichkeit der Sprache gegenüber. An die Stelle des subjektiven, freien Verfügens über vorgegebene Sprachmittel war eine veränderte
    "Haltung der Anerkennung der Sprache als einer objektiven, historisch gewordenen Wirklichkeit" getreten, "der sich umgekehrt als bisher der Dichter zu unterwerfen, der er zu dienen und die er nicht mehr durch sein  Lied,  sondern durch Arbeit und Lernen zu erneuern hat" (37).
Am Ende dieser schöpferischen sprachlichen Selbstreflexionen stand sehr oft eine neue Form des Verfügens über die Sprache - jetzt aber nicht mehr naiv und vertrauend, sondern selbstkritisch und sprachskeptisch.

Wenngleich die Zuspitzung dieser Problematik erst nach der Jahrhundertwende ihre volle Entfaltung zeigte - bis hin zur neuesten Literatur unserer Tage -, so darf doch nicht übersehen werden, daß bereits THEODOR FONTANEs geschärftes Sprachbewußtsein dieses Phänomen zu einem Gestaltungsprinzip seiner Romane gemacht hat. Die Besonderheit seiner Sprachskepsis ist nicht zuletzt die gelungene Verknüpfung des bewußtseinsprägenden Aspekts der Sprache mit den zeit- und gesellschaftskritischen Ansätzen seiner literarischen Sprachformung.

FONTANE
    "nimmt mit vollem Bedacht die formel- und klischeereiche Sprache seiner Zeitgenossen auf, nicht nur aus realistischem Triebe zum  Naturgetreuen,  (...) sinder auch um zu zeigen, wo das Maß dessen zu suchen ist, was Sprache noch aussagen kann und was sie bewirkt, wie sich Individuelles verwirklichen kann in einem Medium, das schon eine Fülle von sehr konkreten Bindungen und Verhaltensweisen zur Wirklichkeit und zur Gesellschaft präjudiziert" (38).
Dabei wird die Ambivalenz des Sprachlichen innerhalb des Erkenntnisprozesses sehr nachdrücklich hervorgehoben; denn der geistige Akt des Erkennens ist
    "nicht identisch mit dem Wort, das Erkennen verwirklicht und ausdrückt. Aber die Erkenntnis, die jenseits des Wortes ihren Ursprung und ihr Wesen hat, wird doch zur gegenwärtigen, aktualisierten Realität erst im Wort"(39).
Aus diesen exemplarisch verstandenen Beispielen literarischer Sprachskepsis um 1900 geht deutlich hervor, daß der Fragenkomplex Sprache-Denken zweifellos ein konstituives Element auch der dichterischen Sprachhaltung war. Dabei zeigt sich jedoch ein erheblicher Unterschied im Vergleich zu MAUTHNERs Theorie. Die Schriftsteller neigen nämlich viel weniger zu der einseitigen Überbetonung der  Macht der Sprache  über den Gedanken; sie sehen statt dessen einen größeren Freiraum des Denkens, das sich ständig neue Formen der sprachlichen Vermittlung erst suchen muß und kann.

MAUTHNERs Argumentation hingegen, die jede Denkmöglichkeit über die bestehende Sprache hinaus beinahe völlig leugnen wollte und dadurch die Möglichkeit eines Sprachwandels, einer Spracherweiterung und -bereicherung stark einschränkte, geriet immer wieder in die Gefahr eines neuaufkommenden Wortaberglaubens, weil sie verschiedene Phänomene, die sicherlich sehr eng zusammenhängen - Ich, Bewußtsein, Denken, Sprache - einfach per definitionem gleichsetzte und damit die komplizierten und vielschichtigen Zwischenbereiche und Querverbindungen zugunsten einer radikalen Identifikation ausklammerte. MAUTHNER führte damit die gemeinsame zeittypische Grundtendenz des Mißtrauens gegenüber einer Sprache, die das Denken fixiert und präjudiziert, zu einem absoluten und beinahe ausweglosen Abschluß.

Seine Versuche, den Zusammenhang von Denken und Sprache zu klären, führten ihn immer wieder in die Nähe bloßer Nominaldefinitionen, die er selbst, als Sprachkritiker und an anderer Stelle, strikt ablehnte, während die sprachskeptische Haltung mancher Schriftsteller seiner Zeit in der literarischen Ausgestaltung des Verhältnisses von Sprache und Denken schon eher einer von MAUTHNER gewünschten Realdefinition näher kamen.
    "Nominaldefinitionen sind sprachliche Konventionen, wobei für einen bekannten sprachlichen Ausdruck ein neuer (meist kürzerer) eingeführt wird; Realdefinitionen sollen etwas über das "Wesen" eines zu definierenden Gegenstandes aussagen, oder besser - im Sinne MAUTHNERs -: etwas über seine wichtigsten empirischen Eigenschaften"(40).
Mit dem Begriff  Erinnerung  bzw.  Gedächtnis  glaubte MAUTHNER die letzte Formel gefunden zu haben, die den gesamten Komplex der Sprach- und Bewußtseinsproblematik lösen sollte. In Wahrheit war auch dieser Lösungsvorschlag eine  wortabergläubische  Begriffsreduktion, die für die tatsächliche Klärung des Sachverhalts nur als ein Hinweis in einer bestimmten Richtung verstanden werden kann.
    "Meine Überzeugung ist, daß die Rätsel der Sprache mit dem Schlüsselworte Gedächtnis zu lösen seien, oder vielmehr daß die Rätsel, welche das Wesen und die Entstehung der Sprache uns aufgibt, zurückzuschieben seien auf das Wesen des menschlichen Gedächtnisses. (...) Die Sprache ist nichts als Gedächtnis weil sie gar nichts anderes sein kann"(41).
Mit dem Zauberwort  Gedächtnis  wollte MAUTHNER die Sprach- und Bewußtseinskrise gedeutet haben, ohne zu erkennen, daß er damit nur einen weiteren, wenn auch ganz zentralen Begriff aus dem Gesamtkomplex der Sprachkrise hervorgehoben hatte, der den Blick zwar auf eine wesentliche Einschränkung der Sprache lenkte, aber keineswegs die umfassende Sprachproblematik zu erklären vermochte.

Diese absolut begriffliche Reduktion des Denkens und Bewußtseins - und damit der Sprache überhaupt - auf das Gedächtnis, auf die in der Erinnerung festgehaltenen Wahrnehmungen und Erfahrungen, erklärt die absolute Steigerung des MAUTHNERschen Skeptizismus, der in dieser Form und aufgrund solcher Prämissen nicht unwidersprochen bleiben konnte.

    "Wir haben unser Gedächtnis durch den Gebrauch der Worte bis zum vermeintlichen Denken gesteigert; und weil wir Worte haben, so glauben wir an sie"(42).
Aus dieser eingeengten und einseitigen Sehweise entstand ein Bild von der Sprache, das diese als ein mechanisches Prinzip darstellt, das dem jeweiligen Sprecher kaum bewußt wird und ihm keine Gelegenheit gibt, über die bestehenden Sprachzwänge sich hinwegzusetzen.
    "Die Sprache nun ist der instinktive Teil unseres Denkens oder Gedächtnisses und der unbewußte instinktive Teil des Bewußtseins"(43).
In einem solchen Modell, das die selbstreflexive Bewußtheit und damit die Möglichkeit zur schöpferischen Veränderung der Sprache völlig unterschlägt, konnte die tatsächliche Problematik der Sprachkrise um 1900 nicht angemessen und spezifisch dargestellt werden.

Dieser Darstellungs- und Deutungsversuch der Sprachproblematik zeigt die Sonderstellung der MAUTHNERschen Sprachkritik wieder ganz deutlich. Der Gegensatz zwischen einem solchermaßen totalen (Sprach-) Skeptizismus und der perspektivenreicheren Sprachskepsis innerhalb der sprachbewußten Literatur der Jahrhundertwende ist unübersehbar.

Exemplarisch und vorbildlich wird MAUTHNERs Sprachkritik immer nur an jenen Stellen, an denen sie weniger nach definitorischen Feststellungen und erkenntnistheoretischen Endpositionen trachtet, sondern sich als eine Infragestellung, eine selbstkritische Prüfung der sprachlichen Mittel versteht.

Der Hinweis auf den komplizierten Zusammenhang zwischen Sprache und Denken, den MAUTHNER in immer neuen Klärungsversuchen zu durchleuchten versuchte, ist zweifellos ein wichtiges und zeitspezifisches Element seiner Sprachtheorie, wenngleich er in vielen zugespitzten Schlußfolgerungen die komplexe Beziehung auf allzu eindeutige und undialektische Begriffe reduzierte.
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    30) RAINER NÄGELE, Die Sprachkrise und ihr dichterischer Ausdruck bei HOFMANNSTHAL, in "German Quaterly", Vol. XLIII (Nov. 1970), Nr.4, Seite 727
    31) WITTGENSTEIN, Schriften, Band 1, Frankfurt/Main 1960, Seite 25
    32) WITTGENSTEIN, Schriften, Band 1, Frankfurt/Main 1960, Seite 411
    33) WITTGENSTEIN, Schriften, Band 1, Frankfurt/Main 1960, Seite 342. Vgl. dazu auch RICHARD BRINKMANN, Hofmannsthal und die Sprache, in DVjs. 35. Jhg. (1961, Seite 69-95)
    34) Hugo von Hofmannstahl, Prosa I, aus "Werke", Hrsg von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1951, Seite 265
    35) Hugo von Hofmannstahl, Prosa II, aus "Werke", Hrsg von Herbert Steiner, Frankfurt/Main 1951, Seite 13
    36) ARTHUR SCHNITZLER, Aphorismen und Betrachtungen, in "Gesammelte Werke", Frankfurt 1960, Seite 278
    37) F. WODTKE, Das Problem der Sprache beim späten Rilke, in "Orbis litterarum" XI, (1965), Seite 64-109
    38) RICHARD BRINKMANN, Theodor Fontane, "Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen", München 1967, Seite 130
    39) RICHARD BRINKMANN, Theodor Fontane, "Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen", München 1967, Seite 144f
    40) ELISABETH LEINFELLNER, Zur nominalistischen Begründung von Linguistik und Sprachphilosophie, FRITZ MAUTHNER und LUDWIG WITTGENSTEIN, in "Studium Generale" 22 (1969) Seite 218f
    41) Beiträge I, Seite 408
    42) Beiträge I, Seite 452
    43) Beiträge I, Seite 425