Fritz Mauthner - Wirkungsgeschichte
Fragen zur literarischen Rezeption sind in jüngster Zeit zu einem vieldiskutierten Thema geworden; wir wollen mit unseren Ausführungen jedoch keineswegs in die abstrakte Methodendiskussion eingreifen, sondern nehmen das zunehmende Interesse an der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte lediglich als Voraussetzung und Bestärkung des eigenen, auf MAUTHNERs Werk beschränkten Forschungsinteresses auf. Unser Vorhaben darf aber auch nicht gleichgesetzt werden mit einer vollständigen und abschließenden Rezeptionsgeschichte MAUTHNERs, zu deren Herstellung die meisten Voraussetzungen in der wissenschaftlichen Erforschung dieses Autors und der Sprachkrise um 1900 noch fehlen. Vielmehr geht es uns um eine erste und vorläufige Skizzierung und Charakterisierung der wichtigsten vorliegenden Materialien zur Rezeption MAUTHNERs. Dabei richtet sich unser Interesse vornehmlich auf drei Aspekte: zunächst soll die wissenschaftsgeschichtliche Vorstufe der MAUTHNERschen Sprach- und Erkenntnistheorie gekennzeichnet werden, damit der vorauszusetzende Erwartungshorizont der zeitgenössischen Rezipienten MAUTHNERs Konturen gewinnt. Alsdann wollen wir diejenige Motive und Themen herausarbeiten, die sich als häufigste und hervorstechendste Merkmale der zeitgenössischen Rezension erweisen. Dabei ergeben sich ganz interessante, vor allem rezeptionssoziologische Beobachtungen, die für die besondere Wirkung MAUTHNERs relevant sind. Schließlich soll noch auf die besondere Beziehung zu einigen Dichtern der Jahrhundertwende hingewiesen werden. Ein paar abschließende Sätze gelten der Forschungslage, die ja in erster Linie die Beziehung des heutigen Lesers zu dem Werk MAUTHNERs vorherbestimmt und prägt. Zielsetzung der MAUTHNERschen Sprachkritik war die Grundlegung einer neuen, nämlich sprachkritischen Erkenntnistheorie. Sprachkritik und philosophische Erkenntniskritik waren für MAUTHNER identisch. Das Sprachproblem war für ihn nicht mehr ein philosophisches Problem unter anderen, sondern das alleinige und entscheidende Grundlagenproblem der Philosophie überhaupt. Wenngleich MAUTHNERs erkenntnistheoretische Argumentation im einzelnen noch häufig im Rahmen der traditionellen Philosophie des 19. Jahrhunderts befangen blieb, so stand er doch an einer wichtigen Wende von dieser herkömmlichen philosophischen Überlieferung zur neu einsetzenden sprachanalytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Andererseits ist festzuhalten, daß er keineswegs einen so gravierenden Bruch vollzog wie beispielsweise der 20 Jahre später erschienene "Tractatus" WITTGENSTEINs. MAUTHNER bezog sich noch ganz ausdrücklich auf KANTs Erkenntnistheorie; er verstand seine Sprachkritik geradezu als deren Fortsetzung und Ergänzung. KANTs Philosophie - so MAUTHNER - habe zwar die Erkenntniskritik am weitesten vorangebracht, den entscheidenden Schritt jedoch nicht getan, den er, MAUTHNER, mit seinem Werk vollziehen wolle: den Schritt von der Vernunftkritik zur Sprachkritik. Das Versäumnis KANTs, daß er dem Medium des Erkennens, der Sprache, keine Beachtung schenkte, sollte durch die Sprachkritik nachgeholt werden. Nun war dieser Gedanke MAUTHNERs keineswegs neu. Die KANT- Kritik reichte von HERDER, HAMANN, JACOBI über REINHOLD, GRUPPE und HERMANN bis zu MAUTHNERs unmittelbaren Vorläufern RUNZE, MAX MÜLLER oder GUSTAV GERBER. Sie alle hatten Konzeptionen entwickelt, die - mehr oder weniger deutlich ausgesprochen - den übereinstimmenden zentralen Gedanken enthielten, daß Erkenntnistheorie in eine Sprachkritik fortgeführt, bzw. umgewandelt werden müsse. GOETHEs Freund JACOBI wurden von MAUTHNER an entscheidender Stelle zitiert; er wählte eine Stelle aus "Allwills Briefsammlung" als Motto für seine Sprachkritik(1). KARL LEONHARD REINHOLD (1758-1823) hatte bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also noch ganz in der Epoche des philosophischen Realismus, die Bedeutung einer Sprachkritik erkannt.
Auch CONRAD HERMANN hat in seiner 1858 erschienen "Philosophischen Grammatik" schon eine Fülle sprachkritischer Fragen gestellt, die bei MAUTHNER und späteren Sprachphilosophen wiederkehrten(5). Mit den Werken GUSTAV GERBERs (1820-1901), FRIEDRICH MAX MÜLLERs (1823-1900) und GEORG RUNZEs (1852-1922) kommen wir schon sehr nahe an das Erscheinungsdatum der MAUTHNERschen Sprachkritik heran. Auch für GERBER gilt, wie für MAUTHNER, daß KANTs Kritik der reinen Vernunft als Kritik der Sprache fortgeführt werden müsse(6) und MAX MÜLLER nimmt beispielsweise den fundamentalen Satz MAUTHNERs vorweg, daß Sprache und Denken untrennbar seien(7). GEORG RUNZE wiederum, der vor allem die Abhängigkeit sämtlicher philosophischer Problemformulierungen und -lösungen vom sprachlichen Bild betonte, wandte sich in seiner 1905 erschienen "Metaphysik" sehr entschieden gegen MAUTHNERs extremen Skeptizismus(8). Die Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen zwischen diesen drei Sprachphilosophen und MAUTHNERs Sprachkritik sind trotzdem sehr weitreichend.
Eine Heilung der Philosophie von den Krankheiten der Sprache kann nach der Überzeugung der Autoren durch eine sprachkritische Begriffs- und Problemanalyse und eine Verbesserung der philosophischen Sprache geschehen; ein altes, seit LOCKE der modernen Philosophie ventiliertes Problem, das dann der Wiener Neopositivismus durch die Einführung logischer Sprachen zu lösen versuchte. Erst nach einer grundsätzlichen kritischen Läuterung der Sprache der Philosophie wird nach MÜLLERs Ansicht die vollkommenste Sprache zur vollkommensten Philosophie"(9). Die Tradition der Sprachkritik im 19. Jahrhundert, als deren Endstufe wir MAUTHNERs Werk betrachten müssen, ist also wesentlich umfangreicher, als man gemeinhin anzunehmen pflegt. Was alle diese sprachphilosophischen Schriften einschließlich MAUTHNERs Werk interessant und beachtenswert für die heutige Forschung werden läßt,
MAUTHNERs mögliche Sonderstellung innerhalb dieser Geschichte der Philosophie als Sprachkritik zeichnete sich aber dadurch aus, daß er am konsequentesten und radikalsten die absolute Vorrangstellung der Sprache innerhalb jedes Philosophierens vertrat, gewissermaßen die gesamt bisherige Philosophie auf das Phänomen einer Sprachkrise reduzierte und daß seine sprachkritische Erkenntnistheorie am weitesten in die skeptizistische, agnostizistische Richtung wies. Damit erhält sein Werk im Vergleich zu dem seiner Vorgänger und Zeitgenossen den besonderen Stellenwert eines das allgemeine Zeitbewußtsein übersteigenden, provokativen und betont spekulativen Dokuments, in dem die umfassende Sprachkrise, die sich innerhalb der philosophischen Sprachkritik vor und um 1900 abzeichnete, einen Endpunkt erreichte. Die vollständige Umwandlung sämtlicher erkenntnistheoretischer Fragestellungen in solche der Sprache und die totale Leugnung jeglicher Erkenntnismöglichkeit aufgrund der sprachlichen Unangemessenheit bildeteten einen ausweglosen Abschluß, eine Art Sackgasse der Entwicklung der Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, aus der erst der Weg der neubegründeten sprachanalytischen Philosophie des neuen Jahrhunderts herausführte. Das Ausmaß der gesteigerten und widersprüchlichen Sprachverzweiflung und -resignation MAUTHNERs ist vor allem aus dieser Übergangsposition heraus zu erklären, in die sich seine Sprachkritik nahezu aussichtslos verirrt hatte. Als ausdrucksvollster und engagiertester Vertreter der radikalsten Richtung der Sprachkritik um 1900 hat MAUTHNER sicherlich eine beachtenswerte Rolle im Geistesleben der Jahrhundertwende gespielt. Die problematische Übergangsstellung MAUTHNERs, die ungeklärten, oft falschen Fragestellungen und die extremen Konsequenzen seiner Sprachtheorie sind zweifellos Ausdruck einer überindividuellen Krisensituation der Sprachphilosophie überhaupt die aber bei MAUTHNER außerdem noch eine zusätzliche, subjektiv bedingte Steigerung erfuhr. Seine Vorstellungen gingen zwar streckenweise mit dem herkömmlichen, generellen Krisengefühl konform, übertrafen aber an anderen Stellen immer wieder die bereits bekannten sprachkritischen Argumente. Die sprachanalytische Philosophie des beginnenden 20. Jahrhunderts kannte und rezipierte zwar MAUTHNERs Werk zum Teil, mußte es jedoch auch ganz grundlegend verändern und ihm widersprechen(12). Eine klare Trennung zwischen denjenigen Elementen der MAUTHNERschen Sprachkritik, die den Erwartungshorizont seiner Zeit lediglich bestätigten und anderen, die diesen grundlegend erweiterten und veränderten, ist bei der unerhörten Fülle sprachkritischer Themen und Einzelfragen kaum möglich, wohl auch im einzelnen nicht erforderlich. Zusammenfassend läßt sich jedenfalls behaupten, daß sein Werk eine umfangreiche Entwicklung und eine wichtige Zeitströmung im Sinne einer letzten Zuspitzung und Radikalisierung abschloß, wobei er aber keineswegs sehr viele weiterführende Alternativen aufzeigen konnte. MAUTHNER, der als Geschichtsschreiber der Philosophie als Sprachkritik dieser reichhaltigen und umfangreichen Tradition zu einer letzten Steigerung und einem gewissen Abschluß verhalf, war mehr Phänomenologe als Methodiker oder Systematiker; aber durch seine aus der Verzweiflung geborene Sprachhinterfragung vermochte er doch einige wesentliche Denkanstöße für die Diskussion der Sprachproblematik um die Jahrhundertwende geben, die ihre Wirkung nicht verfehlen konnten.
1) "Und es fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache, die eine Metakritik' der Vernunft sein würde, um uns alle über Metaphysik eines Sinnes werden zu lassen." (vgl. auch Beiträge I, Seite 303) 2) HERMANN-JOSEF CLOEREN, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl I, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 14 3) HERMANN-JOSEF CLOEREN, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl I, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 15 4) CLOEREN schreibt über GRUPPEs Sprachkritik: "Frappierend ist außerdem GRUPPEs Aufstellung der These von der Interdependenz von Sprache und Denken in Verbindung mit seiner Antizipation der WHORF-SAPIRschen Theorie der linguistischen Relativität. (...) Sein - man würde heute sagen - 'linguistic approach to philosophy' läßt ihn Gefahren in der Sprache aufweisen, insofern diese in der Lage ist, durch ihre autonome Macht irrezuführen. Wertvoll und weitreichend sind seine Hinweise auf die Voraussetzungen, die all unserem Denken und Sprechen in der Sprache (...) zu Grunde liegen und jeweils für die Konstitution von Bedeutung wesentlich sind, darauf daß Sprache als faktisches a priori unser Weltverständnis prägt." (HERMANN-JOSEF CLOEREN: (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl I, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 18) - Vgl. dazu auch HERMANN-JOSEF CLOEREN, O.F. Gruppe und die sprachanalytische Philosophie, Phil. Diss. Münster i.W. 1967 5) "Die Grenzen der Sprache sind HERMANN wie später WITTGENSTEIN die Grenzen der menschlichen Welt. Sprache ist das empirische a priori für das Denken. Wie HUMBOLDT und GRUPPE lehnt er darum eine rein instrumentalistische Auffassung der Sprache ab." (HERMANN-JOSEF CLOEREN: O.F. Gruppe und die sprachanalytische Philosophie, Phil. Diss. Münster i.W. 1967 Seite 19) 6) vgl. Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, Band 1, Berlin 1885, Seite 262, ders.: Die Sprache und das Erkennen, Berlin 1884, Vorwort 7) SIEGFRIED J. SCHMIDT, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 12 8) SIEGFRIED J. SCHMIDT, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 13f und 235 9) SIEGFRIED J. SCHMIDT, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 14 10) SIEGFRIED J. SCHMIDT, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 10 11) SIEGFRIED J. SCHMIDT, (Hg) Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, Seite 10 12) "Alle Philosophie ist Sprachkritik." (Allerdings nicht im Sinne MAUTHNERs.)" (WITTGENSTEINs Tractatus logico-philosophicus, 4.0031, in Werke, Band 1, Frankfurt/Main 1963, Seite 26) |