cr-4 RunzeF. M. Müller Gerber Sprachkritische Philosophie    
 
SIEGFRIED J. SCHMIDT
Gerber - Runze - Müller

"Nur indem sich der Philosoph ständig der Wechselwirkung zwischen dem selbsttätig schaffenden Willen und der Gebundenheit des Intellekts an die Sprachform bewußt bleibt, kann ein Bewußtsein dafür entwickelt werden, daß es keine vollständige adäquate  Wiedergabe gegebener Vorgänge und Zustände  geben kann."

Sprache, Wahrheit und Denken

In einer Erkenntnistheorie, die solches Gewicht auf die Sprache legt, stellt sich dringlicher als sonst die Frage, inwiefern, in welchem Sinn hier von Wahrheit, Richtigkeit, Angemessenheit etc. der Erkenntnis gesprochen werden kann.

GERBER widmet dieser Frage ein ganzes Kapitel seines Buches "Sprache und Erkenntnis"; die Ergebnisse sollen hier kurz zusammegefaßt werden.

Im Bereich des Kennens, das vom Objekt abhängig ist und sprachlos rezipiert, kann der Begriff  Wahrheit  nicht sinnvoll verwendet werden; wohl aber im Feld des Erkennens, das - sprachbestimmt - unsere geistige Beziehung zu  Außendingen  realisiert. Wahrheit den Dingen selbst zuzuordnen, hält er für sinnlos; denn  Wahrheit  paßt nur zu der von  Subjekt  und  Verhältnis. 

GERBER schließt daraus: "Das Erkennen an sich selbst ist eben die Sphäre der Wahrheit." Das Erkennen will nicht Wahrheit, es konstituiert sie in seiner eigenen Bewegung; darum ist es auch unsinnig, von subjektiver und objektiver Wahrheit zu reden.

Im Bereich des produzierenden Subjekts verfestigt GERBER den Wahrheitsbegriff, indem er dem Subjekt - dessen körperliche wie geistige Natur dem Universum angehört - ein notwendiges Recht sichert, sein geistiges Beziehen auf  Außendinge  anzuwenden. Wahrheit ist dann die notwendige Art, "wie wir denken müssen, obwohl wir die Möglichkeit des Irrtums in jedem Fall zugeben".

Folgerichtig entsteht Irrtum erst im Urteil; GERBER ersetzt konsequent  veritas  durch  verum,  eine Formel für "unsere Ansicht, daß das menschliche Erkennen sich zwar in der Sphäre der Wahrheit bewege, der Begriff selbst aber nur die Richtung unseres Strebens bezeichne", eine Ansicht, die dadurch gestützt wird, "daß die Sprache, in deren Formen das Erkennen sich verwirklicht, diese Formen zwar deutlich herausgebildet hat, nie und nirgend aber abschließen und mit vollkommener Schärfe".

Trotzdem besitzt das Erkennen in den Begriffen und Formen der Begriffsverknüpfung (die GERBER als Reflext der Kategorien des Universums deutet) "einen der Realität entsprechenden Gehalt von der denkbar höchsten Bedeutung, durch welchen es in der Sphäre der Wahrheit sich hält".

Wahrheit und Erkenntnis sind demnach korrelative Begriffe; der Erkenntnisprozeß selbst, als Konstitution und Vergegenwärtigung von Beziehung, baut die Sphäre der Wahrheit sprachlich auf. In diesem Zusammenhang läßt sich auch GERBERs Satz verstehen, daß die Sprache nur ein "Weilen in Verhältnissen" gestattet.

Zur näheren Charakterisierung greift GERBER KANTs Aussagen über Analogieerkenntnis (Prolegomena §57 ff.) auf und schließt für seine Darstellung daraus, daß wir uns beim Erkennen immer in den Grenzen einer Analogie bewegen und nur in diesem Verhältnis  Wahrheit  haben in Bezug auf dieses Verhältnis.

Deutlicher noch als bei GERBER wird die Konsequenz der Ineinssetzung von Sprache und Denken für das Wahrheitsproblem bei RUNZE formuliert.

Er beginnt mit der sprachkritischen Einsicht, daß - wie alle Begriffe - so auch der Begriff  Wahrheit  vieldeutig und fließend ist. Gegen den modernen Empirismus seiner Zeit vertritt er die Ansicht, daß eine objektgetreue Abbildung (Nachzeichnung) der "phänomenalen Scheinwirklichkeit" nur eine elementare Voraussetzung der Erkenntnis von  Wahrheit  sein könne; die wesentlichen "Prinzipien, Normen und Regulative" der Wahrheit seien vielmehr in der "inneren Organisation unseres geistigen Vermögens gegründet".

Nur indem sich der Philosoph ständig der Wechselwirkung zwischen dem selbsttätig schaffenden Willen und der Gebundenheit des Intellekts an die Sprachform bewußt bleibt, kann ein Bewußtsein dafür entwickelt werden, daß es keine vollständige adäquate "Wiedergabe gegebener Vorgänge und Zustände" geben kann, sondern daß nur durch ständig neue "hypothetische Unterscheidungsversuche" und "schärfere Beobachtung" fortgesetzte Differenziale" zwischen Wirklichkeitsphänomenen und "bis dato erreichten künstlichen Reproduktionen" mittels Sprache geleistet werden können.

Daraus folgt, daß es keine  reinen  Begriffe geben kann. RUNZE folgert daher, daß die Sprache (qua Denkspracheinheit) die Kriterien der Wahrheit in sich haben muß. Ein über der Sprache (als Form) stehendes begrifflich-gedankliches Kriterium kann es auf dem Boden einer solchen Theorie nicht geben. "So ist für uns auch die Vernunft kein absolutes Prinzip außer oder über der Sprache; sondern die Sprache selbst ist ebensosehr kritisches Prinzip für die Vernunftwahrheit."

Nimmt man hinzu, daß Wörter nicht die Dinge bezeichnen, sondern nur uns selbst (bzw. die von uns logisierte Welt), dann wird doch bei allem Schwanken in der Argumentation zwischen Idealismus (d.h. hier: Verlegen der Wahrheitsfrage in die innere Organisation unseres geistigen Vermögens) und Sprachphilosophie (womit gesagt sein soll: Reduktion der Wahrheitsfrage auf Aussagen zum Symbolismus) wahrscheinlich, daß die endgültige Verlagerung der Wahrheitsproblematik auf die Vermittlungsebene der Sprache zumindest angestrebt wird.


Philosophie und Philosophiekritik

Der erklärte Anspruch auf Weiterführung und Vollendung KANTischer Erkenntniskritik auf dem Boden einer linguistisch erweiterten Sprachphilosophie mußte zu einer neuen Einstellung der sprachkritischen Philosophie zu den metaphysischen und antimetaphysischen Strömungen der Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts führen.

Dem meist scharf polemischen Argumentationsstil der Zeit entsprechend, wurde die Diskussion oft extrem geführt (vor allem von MÜLLER aus England), sowohl gegen die als traditionalistisch hingestellte englische Philosophie, als auch gegen die kontinentalen Schulen des Positivismus, Materialismus und Darwinismus, von konservierten metaphysischen Positionen ganz zu schweigen.

Dem nach-wittgensteinschen Leser fällt nun eine - zum Teil wörtliche - Übereinstimmung in den Argumentationsfiguren und Denkmodellen der linguistischen Philosophie der besprochenen Autoren mit neopositivistischen Autoren und WITTGENSTEIN auf, so daß er sich einer Gegenüberstellung kaum entziehen kann, zumal sich die Konvergenzen nicht auf MÜLLER beschränken, sondern in ähnlicher Form auch bei RUNZE und GERBER wiederkehren.

Die Analyse ihrer Philosophiekritik zeigt etwa folgende Struktur:

Aus Unkenntnis der Bedeutung der Sprache für das Erkennen glauben die Philosophen, sich auf Ebenen zu bewegen, die unabhängig sind von aller sprachlich-determinierten Begrifflichkeit; daraus folgt, "daß die bedeutenden Denker, wann sie grundlegend philosophierten, von der Hand der Sprache geleitet wurden und sprachliche Probleme behandelten, wann sie im reinen Denken sich zu bewegen glaubten". Zum anderen folgt, daß man nur dann als Philosoph die Sprache beherrscht, wenn man ihr folgt. (GERBER) RUNZE weist darauf hin, daß jeder Philosoph an seine "Muttersprache" gebunden ist und damit an die in ihr zur Verfügung stehende Welt und ihre Weltanschauung.

"... für den Deutschen ist nur die deutsche Sprache die zum Philosophieren geeignete..."
Von dieser Einsicht her stellt sich notwendig die Forderung, "daß philologische Schulung und sprachwissenschaftliche Begabung wesentliche Erfordernisse für philosophisches Urteilen sind."

RUNZE betont, daß mit der Sprache auch die Sache fluktuiert, daß sich also mit dem Wortschatz (etwa für das Zeitliche) auch erst die Begrife (des Zeitlichen) entwickeln. Zudem sind die wissenschaftlichen Grundbegriffe einem steten Bedeutungswandel unterworfen, was  begriffsgeschichtliche  Untersuchungen notwendig macht, soll die Philosophie nicht der Gefahr der Fehldeutung ihrer sprachlichen Charakterisierungsmittel erliegen.

"Die Sprache weist auf die Bahn der Vorsicht und lehrt immer bescheidener werden in der Erwartung, mit Begriffen ein Wissen zu gewinnen."
Jede Mißachtung der Dominanz des Sprachlichen in ihrer Arbeit bringt die Philosophie in Gefahr, dem "Bann der Sprache" zu erliegen, von der Sprache dazu verführt zu werden, und von der Sache auszusagen, was in der Darstellungsweise liegt.

Besonders groß ist diese Gefahr durch die Neigung zu  begrifflicher Sonderung,  die zu "philosophischem Polytheismus (Vielgötterei)" verführt.

"Die sprachliche Differenzierung hat die sachliche angeregt, aber auch... manche unnötigen Hirngespinste veranlaßt." (RUNZE)

"Die Sprache... rächt sich immer, so oft wir ihr Gewalt antun oder ihre Antezedenzien (Ursachen) vergessen." (MÜLLER)
Die Philosophie hat sich nach RUNZE in allen entscheidenden Fragen der Sprache als der "nächstberechtigten Schiedsrichterin im Streit der Meinungen" zu unterwerfen, will sie auf vernünftig-wirklichem Boden stehen bleiben.

Entschieden radikaler faßt MÜLLER den geschichtlichen Augenblick des Durchbruchs der Sprachphilosophie und der damit verbundenen Konsequenzen. Bei einer historischen Musterung der Philosophen nach dem Kriterium der Philosophie- und Denkkritik von der Sprache her kommt er zu der Folgerung, daß keiner der Philosophen bis auf seine Zeit erkannt hat, daß die Einsicht in den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken "eine vollständige Revolution in der Philosophie bedeutet", die ihre Existenz vollständig verändern muß und sie auf die Position eines extremen "noministischen Monismus" reduziert. Alle anderen philosophischen Denkweisen und Systeme müssen im Laufe der Zeit sprachlich widerlegt und als Verführung durch die Sprache erwiesen werden.


Metaphysikkritik

Sehr kraß fällt die Abfuhr der Metaphysik aus, bei der sich MÜLLER an HERBERT SPENCERs Formulierung ausschließt, es könne mit Recht von der Metaphysik gesagt werden, "daß sie in allen ihren antirealistischen Entwicklungen eine Krankheit der Sprache ist." Allerdings verlagert MÜLLER Spencer gegenüber den Aspekt dergestalt, daß er die Krankheit der Sprache als allgemeines, natürliches und unvermeidliches Phänomen darstellt, nämlich als "Mythologie", die sich in keiner Sphäre geistiger Tätigkeit vermeiden läßt.

So gesehen stellt sich ihm die "ganze Geschichte der Philosophie von THALES bis auf HEGEL" dar als ein ununterbrochener "Kampf gegen die Mythologie", als ein beständiger "Protest neuer Gedanken und neuer Sprache gegen alte Gedanken und alte Sprache".

Ihm als Sprachphilosophen erweist sich die Geschichte der Sprache, "und diejenigen, welche die wahre Entwicklungsgeschichte des Menschengeistes lesen wollen, müssen sie in der Sprache lesen lernen, der urältesten und nimmer endenden Autobiographie unserer Rasse".

Aufschlußreich für den Stil dieser Art von Philosophiekritik ist MÜLLERs Auseinandersetzung mit dem Materialismus.

MÜLLER entwickelt, daß die unsachgemäße (exklusive?) Benutzung des Wortes  Materie  zu Statuierung eines Etwas - Materie geheißen - geführt hat, während das Wort doch nur meinen kann, was jeder Benutzer (seinem Vorwissen gemäß) in einer bestimmten Redesituation darin gefunden oder hineingelegt hat.

"Ein Wort, welches nur in einem obliquen Casus gebraucht werden kann, wird von den Materialisten fälschlicherweise im Nominativ gebraucht."
Aus diesem Verstoß gegen die Grammatik entsteht die metaphysische Konzeption des Materialismus, so daß man "den Materialismus ... in gewissem Sinne einen grammatischen Schnitzer nennen kann".

Einem analogen Fehler verdankt auch die Theorie des Spiritualismus ihre Existenz. Hinter beide Mißverständnisse kommt man aber nur durch sprachliche Analysen; nur dadurch, "daß wir das Denken in der Sprache studieren, können wir lernen, was Geist und Materie ursprünglich bedeuten, welche Bedeutung sie mit der Zeit erhielten, was sie für uns zukünftig bedeuten sollen."

MÜLLER schließt mit dem programmatischen Satz: "Hier wie sonst besteht wahre Philosophie in einer Verbesserung der Sprache."


Das Ende der Philosophie

Auffällig ist die Neigung zu einem  medizinischen  Wortgebrauch, der gerade durch WITTGENSTEINs Diagnosen zu ihrer zwiespältigen Berühmtheit verholfen hat. Eliminierung der Philosophie und sprachkritisches Philosophieren scheinen ein Korrelationspaar zu sein, fast unabhängig vom historischen Ort seiner Vermittlung, ihm verpflichtet nur darin, daß je nach dem Zeitpunkt die sprachkritische Philosophie entweder Kritik bleibt oder sich zum Urteilsvollstrecker machen möchte.

MÜLLER jedenfalls faßt ernsthaft die Möglichkeit einer Eliminierung der Philosophie ins Auge, und zwar von einer perfekten Begriffsgeschichte her. "Verstünden wir jedes Wort nach seiner Entstehung und weiteren Entwicklung vollständig, so hätte die Philosophie keine weiteren Geheimnisse mehr und könnte keine mehr haben. Sie würde zu existieren aufhören."

Dieses Ziel liegt allerdings noch in weiter Ferne; es wird aber erreicht, wenn die Philosophie Ernst damit macht, "daß die Sprache ihr Gegenstand ist"! Von hier aus stellt sich die Praxis WITTGENSTEINscher Philosophie dar als die konsequente Verlängerung und Verwirklichung der MÜLLERschen Forderung. "Unsere Betrachtung", sagt WITTGENSTEIN, "ist... eine grammatische. Und diese Betrachtung bringt Licht in unser Problem, indem sie Mißverständnisse wegräumt. Mißverständnisse, die den Gebrauch von Worten betreffen; hervorgerufen, unter anderem, durch gewisse Analogien zwischen den Ausdrucksformen in verschiedenen Gebieten unserer Sprache."


Grundlagen einer linguistischen Philosophie

An der Tatsache der bestehenden, ausgebildeten und vielseitig arbeitenden Philosophie ihrer Zeit kann und will die Sprachphilosophie des späten 19. Jahrhunderts keineswegs vorbeigehen.

Zudem ist die Verpflichtung an die philosophische Tradition bei GERBER, MÜLLER und RUNZE so stark, daß die von ihnen entwickelten neuen Gedanken und Formulierungen immer vor dem Hintergrund und im Rahmen der traditionellen und zeitgenössischen Philosophie vorgetragen werden und nicht zuletzt darum viel an argumentativer Eindeutigkeit einbüßen, weil der Vermittlungsversuch mit historischen oder aktuellen philosophischen Theorien zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führt und nicht selten den charakteristischen Ansatz sprachbewußten Nachdenkens verdeckt oder verwässert.

Symptomatisch für diese Situation ist der Vortrag des Lizenziaten GEORG RUNZE vor der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin am 26.4.1884. RUNZE entwickelt die Bedeutung der Sprache für das wissenschaftliche, speziell das philosophische Erkennen und stellt so etwas wie einen Rahmenplan einer linguistischen Philosophie auf.

Er beginnt mit seinem analytischen Ansatz, der in dieser Form ausführlich erst bei WITTGENSTEIN wieder auftritt. Und zwar betrachtet er die philosophischen Probleme auf ihre sprachliche Formulierung und die damit bedingte Lösungsmöglichkeit hin und fragt nach den grundlegenden Beziehungen zwischen sprachlicher Problemformulierung und Problemlösung.

"Eine oberflächliche Annahme setzt nun voraus, das Problem ... könne zwar an und für sich - als Problem - gestellt werden, die Lösung desselben hingegen bleibe das ferne Ziel, dem wir uns nur allmählich annähern ... Demgegenüber ist zu behaupten, daß sukkzessive Überbrückung von THALES bis SCHOPENHAUER die Riesenarbeit des Weltgeistes bildet, sondern zwischen den verschiedenen Versuchen richtiger und richtigerer Problemformulierung ..."
Formulierung und Lösung bedingen sich unmittelbar, die "richtige Problemstellung ist zugleich schon der wichtigste Schritt zur Lösung des Problems".

WITTGENSTEIN hat sich vor allem in den "Philosophischen Bemerkungen" eingehend mit diesem Problem befaßt. Ausgangspunkt ist die Betonung der Intentionalität als konstitutiven Strukturmoments der Sprache. "Der Sinn des Satzes ist sein Zweck." - "Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt, so bricht damit ihre ganze Funktion zusammen."

Sprache wird hier vorwiegend von der Handlung her beschrieben über Ausdrücke wie  suchen, Erwartung, Ereignis, Antwort  oder  Raum,  etwa nach folgendem Schema: Mit der sprachlichen Formulierung einer Frage erzeugt sich ein gewisser Erwartungsraum (Erwartungshorizont), eine Antworterwartung, bzw. deren Richtung. Nun stellt sich sofort die Frage: "Wie weiß ich, daß ich  das  gefunden, was ich früher gesucht habe?"

Dazu ist es erforderlich, den Zusammenhang zwischen Erwartung, Ereignis und Antwort näher zu bestimmen. WITTGENSTEIN betont, daß die Antwort auf die Frage das Ereignis ist, das die Erwartung ersetzt (Sprache hier gesehen als System von Satzhandlungen); notwendig liegt sie "im gleichen Raum" wie das Erwartete.

Die Erwartung nun hängt mit dem Suchen zusammen. "Suchen kann man nur in einem Raum. Denn nur im Raum hat man eine Beziehung zum Dort, wo man nicht ist." Für das Suchen, das so an einen Raum gebunden ist, stellt WITTGENSTEIN eine Sprichwortapostrophe auf:

"Sage mir,  wie  du suchst, und ich werde dir sagen,  was  du suchst."
Auf die Fragesituation abgebildet heißt das: die Frage legt einen Such- und Erwartungsraum fest und vorbestimmt den  Charakter  des Erwarteten; die Struktur der Frage bestimmt die Struktur dessen, was ihr als Antwort genügen kann.
"Ich will sagen: Einer Frage entspricht immer eine  Methode  des Findens. Oder man könnte sagen: Eine Frage  bezeichnet  eine Methode des Suchens." - "Der Sinn einer Frage ist die Methode ihrer Beantwortung."

Analyse und Diagnose

"Hier wie sonst besteht wahre Philosophie in einer Verbesserung der Sprache." (F.M. MÜLLER)

In der Radikalität seiner Formulierungen erinnert MÜLLER am ehesten an den zweiten Wahlengländer, an (besonders den frühen) LUDWIG WITTGENSTEIN; sowohl in seiner Ansicht, daß in allen Mythologien, Religionen und Philosophien die Leiden und Krankheiten des Geistes aufgezeichnet vorliegen, als auch in der Konsequenz, daß "schließlich die vollkommenste Sprache zur vollkommensten Philosophie wird", da eine vollkommen geordnete, in der Diagnose ihrer Begriffe nach Herkunft und Gebrauchsmorphologie fortgeschrittene Sprache die Philosophie überflüssig machen wird, da sie den kausalen Zusammenhang zwischen der Struktur ihrer Probleme und den Verstößen gegen die Grammatik erkennt.

Es ist auffällig, daß erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts (nicht zuletzt durch die Bemühungen HERMANN LÜBBEs) langsam nachgeholt wird, was MÜLLER schon 1888 dringend forderte: eine engere Zusammenarbeit und Kenntnisnahme der Philosophien und philosophischen Methoden Englands und des Kontinents, den Abbau der gegenseitigen Vorurteile und Chauvinismen. Weder geht es an, von England aus die "deutsche Wolkenmetaphysik" zu verlachen (und vor allem KANT zu ignorieren), noch ist es möglich, ohne Gefahr geistigen Provinzialismus die Arbeit der englischen Philosophie zu vernachlässigen.

Gerade in der gegenwärtigen Situation müßte MÜLLERs Feststellung akut werden, daß die Philosophie, soll sie weiterhin Interesse erregen können, sich klar dazu stellen muß, daß die  Sprache  ihr Gegenstand ist, wie die Ereignisse Gegenstand der Geschichte sind", was nach MÜLLERs Erfahrung aber bis zu seiner Zeit noch kein Philosoph "je zu denken gewagt hat". "Sprache und Denken sind zu ihrem Vorteil oder Nachteil untrennbar miteinander verbunden. Beide scheiden heißt beide vernichten."

Die Bemerkungen HERMANN LÜBBEs zur "phänomenologischen Analytik des natürlichen Sprachgebrauchs" bei WITTGENSTEIN, "in der die natürliche Sprache als unentrinnbares faktisches Apriori des Denkens thematisiert wird", könnten - und das zeigt noch einmal die Berechtigung und den Aufschlußwert der Beschäftigung mit der vergessenen Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts - auch auf GERBER, MÜLLER und RUNZE angewandt werden; und die Beschäftigung mit einigen Vorläufern einer überwiegen positivistisch eingestellten Sprachphilosophie in Deutschland.



LITERATUR - Siegfried J. Schmidt, Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, Den Haag 1968