cr-4tb-2P. KampitsE. LeinfellnerR. HallerM. HerbertTractatus    
 
RUDOLF HALLER
Wittgenstein und Mauthner

"Es gibt keine Raubtierigkeit und ebensowenig von ihr zwei Unterarten, die Katzigkeit und die Hundigkeit."

In der logisch-philosophischen Abhandlung von LUDWIG WITTGENSTEIN - besser bekannt unter dem Titel: Tractatus logico-philosophicus - heißt es im Satz 4.0031:
"Alle Philosophie ist "Sprachkritik". (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.)"
Gleich den anderen Sätzen der logisch-philosophischen Abhandlung ist auch dieser Passus im Laufe der Jahre und insbesondere der letztvergangenen immer häufiger kommentiert worden. Und obschon es ja im Gefüge des sieben Hauptsätze umfassenden Traktat-Aufbaus eine Passage von geringem logischen Gewicht ist, in der der Erläuterungssatz "Alle Philosophie ist "Sprachkritik" steht, ist der Stellenwert als Interpretandum doch recht gewichtig. Gewissermaßen wird hier ein Terminus technicus, eine Markenbezeichnung dessen eingeführt, was Philosophie ist, oder sein soll, und um Verwechslungen auszuscheiden, wird die MAUTHNERsche Version als divergent von der eigenen hervorgehoben.

Dies hatte nicht zuletzt zur Folge, daß die Interpreten WITTGENSTEINs zumindest von der Existenz MAUTHNERs Kenntnis nahmen und damit das ungerechte Schweigen über diesen genialen Dilettanten wieder gebrochen wurde. WITTGENSTEIN hatte den Ausdruck "Sprachkritik" selbst zwischen Anführungszeichen gesetzt, in dem Sinne eines zitierten Ausdrucks, der bereits als bekannt vorausgesetzt wird. Was ist nun unter Sprachkritik zu verstehen und welche Rolle spielt sie in der Philosophie und als Philosophie?

Eine Untersuchung der Herkunftsgeschichte dieses Topos zeigt, daß sich die WITTGENSTEINsche wie die MAUTHNERsche Theorie in einen breiteren Rahmen stellen lassen, der uns erlaubt, aus größerer Distanz die Geschichte eines Kapitels der Philosophie zu sehen, von dem viele überzeugt sind, daß es in einer Revolution der Philosophie kulminierte. Wer dieser Linie folgt, wird vermutlich davor bewahrt bleiben, die Fehlurteile über den Deskriptivismus der "philosophischen Untersuchungen" dadurch zu multiplizieren, daß man ihnen auch eine beabsichtigte Enthaltsamkeit von Kritik prädiziert (1). So als hätte sich WITTGENSTEINs programmatische Erklärung: "Alle Philosophie ist Sprachkritik" im Dunste des Weihrauchs der gewöhnlichen Sprache menschlicher Kommunikation ins Nichts aufgelöst.

Doch bevor wir uns mit diesem Interpretationsirrtum befassen, möchte ich zur Frage nach der Herkunftsgeschichte zurückkehren. Ihre Beantwortung wird angemessenerweise von MAUTHNERs Auffassung ausgehen, deren Kenntnis man bei WITTGENSTEIN (schon auf Grund des Zitates) in einem gewissen Maße voraussetzen darf. FRITZ MAUTHNER, der von sich selbst sagt (2), daß er sich viel Mühen ersparen hätte können, wäre ihm zur rechten Zeit ein wissenschaftlicher Berater zur Seite gestanden, ist nicht gerade zufällig auf die Mitglieder eines Stammbaumes der Sprachkritik gestoßen: eines Stammbaumes, der einerseits über JOHN LOCKE und THOMAS HOBBES zu den spätscholastischen Nominalisten führt und andererseits über OTTO FRIEDRICH GRUPPE und FRIEDRICH H. JACOBI zu HERDER, HAMANN und VICO. Es gibt eine, nur durch das wechselnde öffentliche und akademische Interesse gewissermaßen verdeckte, nahezu ununterbrochene Tradition einer Kritik der Sprache, die MAUTHNER auch rezipiert hat und für deren Neutentdeckung in unserem Jahrhundert er, zumindest im Falle GRUPPEs, Entscheidendes geleistet hat (3).

Diese Tradition der Sprachkritik als Instrument philosophischer Analyse hat mit der nominalistischen Kritik und mit dem späteren logischen Empirismus einen Feind gemein: die metaphysische Spekulation. Daß diese eher zu einer Systematik führt, hat viele Sprachkritiker auch zu Systemkritikern, oder, wie im Falle MAUTHNERs, zu Vertretern einer Skepsis werden lassen, deren leuchtendes Vorbild HUME war. Dem Ruf "Zurück zu Kant" erwiderte daher MAUTHNER "Zurück zu Hume" und durchschaut gleichermaßen ein typisches Klischee der Beurteilung empiristischer Tradition, ein Klischee übrigens, das seine Wirksamkeit bis auf unsere Tage zu bewahren scheint:
"Die deutsche Philosophenschule - so sagt er - hat sich daran gewöhnt, den englischen common-sense, der die englische Philosophie gerade so fruchtbar gemacht hat, über die Achsel anzusehen; wo der common-sense sich aber, wie bei HUME, mit äußerster Denktapferkeit paart, da scheint mir die Beschränkung auf wirklich psychologisches Denken, der Verzicht auf deutsche Metaphysik, doch ein Vorzug englischen Geistes." (4)
Ich selbst habe schon seit einiger Zeit die Meinung vertreten, daß die österreichische Philosophie - soweit man für eine hundertjährige Tradition einen solchen Namen verwenden darf - als ihre Lehrer nicht KANT und HEGEL, sondern MILL und HUME erwählte und in dieser Linie in allen ihren wesentlichen Gestalten "hauptsächlich empiristisch, wissenschaftlich und sprachkritisch orientiert" gewesen ist (5).

Es scheint mir daher nicht ungerechtfertigt, daß man den in Böhmen aufgewachsenen MAUTHNER trotz seines späteren Lebenslaufes dieser Tradition zuzählt, wie dies jüngst WILLIAM M. JOHNSTON in seinem kenntnisreichen und umfassenden Werk über den österreichischen Geist getan hat (6). Doch dies nur als Randnotiz zu einer künftigen Geschichte der Sprachkritik, in der z. B. auch ein Kapitel über ADOLF STÖHR ebensowenig fehlen dürfte wie eines über die verschiedenen Stadien der BRENTANOSCHULE.

Allein unter den Motti des ersten Bandes der dreibändigen "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" (1901/1902) ) von FRITZ MAUTHNER scheinen LOCKE und VICO, HAMANN und JACOBI auf, und von dem letzteren das von HAMANN herkommende Wort, daß es uns nur noch "an einer Kritik der Sprache, die eine Meta Kritik der Vernunft sein würde" fehlte. Mit diesem JACOBI-Motto ist uns eine aufschließende Analogie geboten, die Frage nach der Sprachkritik zu beantworten.

Die Kritik der Sprache soll in einem umfassenden Sinne Erkenntniskritik sein, aber eben nicht eine Kritik der "reinen Vernunft", sondern eine Kritik der sprachabhängigen, also "unreinen Vernunft", um ein Wort von GUSTAV GERBER zu verwenden, dessen Werk "Die Sprache und das Erkennen" (1884) zu den wesentlichsten Vorläufern MAUTHNERs gezählt werden muß. "KANT - so wiederholt GERBER nach hundert Jahren HAMANNs Anklage - hat die Sprache einer Kritik nicht unterzogen" (7), dieses "einzige, erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft", wie es in den bezeichnenden Worten des Magus des Nordens heißt.

Will man jedoch die Möglichkeit und Leistungsfähigkeit des Denkens, bzw. der Erkenntnis erforschen, dann muß notwendig dieses "einzige ... Organon" mit in Frage gestellt werden. Und MAUTHNER wird nicht müde zu betonen, daß dieses Werkzeug kritisiert gehört, weil der Mensch gar keine andere Vernunft als seine Sprache hat (8), weil Sprache "untauglich für die Welterkenntnis" ist (9). Damit ist auch gleich eines der wesentlichen Resultate, ja vielleicht das wesentlichste Resultat dieses "erkenntnistheoretischen Normalismus" (MAUTHNER) ausgesprochen.

Die Begründungen, die MAUTHNER für diese These vorbringt, sind vielfältig und gehören, logisch gesehen, verschiedenen Prämissenmengen an. Eine solche wird z. B. gebildet durch das empiristisch -positivistisch motivierte Argument, daß nichts im Verstande sein kann, was nicht in den Sinnen war, d. h. daß die Erkenntnis auf sinnlichen Konstituenten beruht. ERNST MACH, auf den sich MAUTHNER stolz beruft, ist der unmittelbare Vorläufer eines solchen Sensualismus, und BERTRAND RUSSELL hat einen ähnlichen, wenngleich weniger phänomenalistischen Standpunkt vertreten und ihn auch bei seiner Traktat-Deutung auf WITTGENSTEIN projiziert (10). Die entscheidenden Prämissen bezieht MAUTHNER jedoch aus der Kritik der Sprache selbst:

Erstens ist die "Sprache mitsamt ihren allgemeinsten Formulierungen in Grammatik und Logik, mit ihren Worten oder Hypothesen ... eine zufällige Erscheinung." (11) "Die Worte der Sprache sind ... ungeeignet zum Eindringen in das Wesen der Wirklichkeit, weil die Worte nur Erinnerungszeichen sind für die Empfindungen unserer Sinne und weil diese Sinne Zufallssinne sind, die von der Wirklichkeit wahrlich nicht mehr erfahren als eine Spinne von dem Palaste, in dessen Erkerlaubwerk sie ihr Netz gesponnen hat." (12)

Wenn man sagt, daß die Sprache das Werkzeug des Denkens sei, so urteile man auf Grund einer falschen Voraussetzung, denn "Denken ist Sprechen" oder "Denken ist das Sprechen auf seinen Ladenwert hin beurteilt."(13) Demzufolge besteht, zweitens, auch Wahrheit nicht in einer Übereinstimmung des Gesagten mit einem Sachverhalt oder der Wirklichkeit, sondern ist nur "in der Sprache zu suchen" (14). Nicht, daß MAUTHNER an diesem Punkte immer konsistent geblieben wäre. Aber auch, wenn er die Wahrheit wie üblich durch die Obereinstimmung mit der Wirklichkeit bestimmt, setzt er dazu, daß auch diese wiederum nichts anderes sei als Sprache. Der tiefere Grund hierfür besteht, drittens, darin, daß die Vielheit der Sprachen und Sprachgebräuche nur das Interesse der sie schaffenden und gebrauchenden Menschen ausdrücken: "Der Mensch hat in seiner Sprache die Welt nach seinem Interesse geordnet"(15), und weil die Sprache sich viel schwieriger ändern läßt als der Mensch, ist diese Ordnung häufig nicht einmal so nützlich, wie sie sein könnte.
"Auch die Kategorien der Grammatik, welche sich in den endlosen Zeiten der Sprachgeschichte ausgebildet haben - und welche das Kind binnen wenigen Jahren in den Formen seiner Muttersprache lernt, sind doch nur das Register eines Weltkatalogs, den die Sprache zu erreichen strebt, gewissermaßen das Alphabet, nach welchem der Realkatalog der Welt geordnet wird. Es wäre sehr unphilosophisch, an die Objektivität dieses Alphabets zu glauben." (16)
Darum ist in den Augen MAUTHNERs auch jeder Versuch, eine "Weltkatalogsprache" erfinden zu wollen, eine Utopie, die Versuche von RAIMUNDUS LULLUS, WILKINS oder LEIBNIZens von vornherein zum Scheitern verurteilt (17). Damit wäre allerdings auch das Programm des Traktats einbegriffen, insoferne es die Verwendung einer Zeichensprache proponiert, welche die "fundamentalen Verwechslungen", die durch die Umgangssprache entstehen können, ausschalten sollte. Und WITTGENSTEIN vorwegnehmend, charakterisiert MAUTHNER die Logik als inhaltsleer, als ein System von Tautologien. Aber während WITTGENSTEIN der Oberzeugung war, daß die Sätze der Umgangssprache "so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet sind" (18) (freilich aus Gründen, die hier nicht besprochen werden können), hatte MAUTHNERs sprachkritische Untersuchung ein skeptisches Resultat: für ihn ist nicht nur das Werkzeug - unsere Kultursprachen - "zerfressen bis auf die Knochen"(19), sondern, indem die Sprache abhängig ist von der sinnlichen Erfahrung, bleibt sie selbst ein Zufallsprodukt.

Eine Erkenntnis der Außenwelt, des eigenen und des fremden Ich ist unmöglich, weil als Basis unserer Urteile nur die augenblicklichen und die ständig wandelnden sinnlichen Erfahrungen dienen und wir uns mit unserem "Wortaberglauben" nur auf Chimären und Selbsttäuschungen stützen, wenn wir die menschlichen und allzumenschlichen Begriffe und Kategorien in die Natur projizieren. Demzufolge sind nicht nur die theologischen, sondern auch die metaphysischen und im engeren Sinne ontologischen Wortverwendungen Gegenstand sprachkritischer Anatomie. "Wir müssen zurück zu HUME, um von da aus weiter zu schreiten in der erkenntnisreichen Skepsis ..." (20)

Wenn MAUTHNER von den drei Welten der Sprache spricht, der adjektivischen Welt der Gemeinsprachen, der substantivischen Welt der Metaphysik und der verbalen Welt der Wissenschaft, ist es vornehmlich die substantivische und verbale, die der kritischen Entzauberung zum Opfer fällt. Nur als ein Beispiel von unzähligen bringe ich das folgende:
"Es gibt nichts Wirkliches, das dem Begriffe von Verstand entspräche. Es gibt nichts Wirkliches, das dem Begriffe Vernunft entspräche. Und noch weniger gibt es etwas Wirkliches, das in die beiden Wirklichkeiten Verstand und Vernunft zerfiele. Ebensowenig wie es eine Raubtierigkeit gibt und von ihr zwei Unterarten, die Katzigkeit und die Hundigkeit."(21)
Die antiplatonistische, entdinglichende Metaphysikkritik, die nur eine Konsequenz der sprachkritischen Skepsis zu sein scheint, richtet MAUTHNER durchaus konsequent auch gegen die Sprache selbst. Denn erstens existiert "die Sprache", die der Gegenstand der Forschung ist, gar nicht, auch nicht als Volkssprache. Was es gibt, sind immer nur Individualsprachen und genauer Sprachgebräuche. ,,Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs (wie z.B. ein Werkzeug, R. H.), sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch."(22)

Und, zweitens, ist sie - auch wie sie existiert - kein Mittel zur Erkenntnis und daher auch kein Mittel zur Überbrückung des erkenntnistheoretischen Abgrundes zwischen Denken und Wirklichkeit. Da der Mensch aber keine andere Vernunft besitzt als seine Sprache, ist die Kritik der Vernunft, die die Bedingungen und Grenzen des Erkennens bestimmen soll, nur als Sprachkritik möglich. Eine Veränderung der Welt ist durch sie nicht möglich. Philosophie selbst kann nichts anderes sein wollen,
"als kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache. Philosophie kann dem Organismus der Sprache oder des Menschengeists gegenüber nicht mehr tun als ein Arzt gegenüber dem physiologischen Organismus; sie kann aufmerksam zusehen und die Ereignisse mit Namen benennen."(23)
Philosophie kann für MAUTHNER nicht System oder Lehre sein, sondern nur der zum Scheitern verurteilte Versuch, das Unsagbare zu sagen. Demnach müssen wir, seinem Verständnis von Philosophie folgend, zwischen zwei Aufgaben unterscheiden:
  • Kritik aller Scheinbegriffe und
  • Aufhebung oder "Selbstmord der Sprache"
Die eine befreit uns von dem "Schrecken über das absurde Ungeheuer der Sprache", die andere führt uns zum entschlossenen und endgültigen Verzicht auf das Wort, zum mystischen Erlebnis: zum Schweigen.

WITTGENSTEIN hatte im Traktat einen ähnlichen Schluß in der Formulierung des siebenten Satzes gezogen: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Und er hat das, was sich nicht aussprechen läßt, was sich bloß zeigt, das Mystische genannt. Dieses ist wie bei MAUTHNER, kein Problem und kein Rätsel - denn es gibt in sensu stricto keine unbeantwortbaren Fragen - sondern dieses ist ein Erlebnis, ein Gefühl: "das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes." (24)

WITTGENSTEINs Absicht im Traktat war, dem Denken eine Grenze zu ziehen, und dies konnte, entsprechend der sprachkritischen Intention, nur heißen, daß diese Grenze nur in der Sprache gezogen werden kann und daß, was jenseits der Grenze liegt, nicht intensional bedeutend, sondern "Unsinn" ist. Daher ist auch das Subjekt nicht Teil und auch nicht Konstituens der Welt, sondern eine Grenze:
"Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenze der Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten." (25)
Es scheint mir nicht selbstverständlich, daß hier ein wesentlich anderer Begriff des Zeigens vorliegen soll wie der zwischen dem Sagbaren, Aussprechbaren und dem, was nur gezeigt werden kann. Doch darauf komme ich gleich zu sprechen. Seit WITTGENSTEINs Tod sind genau 20 Jahre vergangen. Waren bis zu seinem Tod der Tractatus logico-philosophicus, ein Wörterbuch für Volksschulen sowie ein nicht besonders bedeutsamer Aufsatz aus dem Jahre 1929 die einzigen Publikationserzeugnisse, so gab es doch jedenfalls seit den Gesprächen mit FRIEDRICH WAISMANN und MORITZ SCHLICK in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und erst recht seit der "Rückkehr" nach Cambridge immer wieder gewissermaßen "private Publikationen" durch Aufzeichnungen, Vorlesungsmanuskripte und mündliche Oberlieferung. Dies erklärt den frühen und wachsenden Einfluß auf die angelsächsische Philosophie, aber natürlich auch auf SCHLICK.

HENRIK von WRIGHT weist in der einzigen vertrauenswürdigen und informativen unter den bisher erschienenen Lebensbeschreibungen darauf hin, daß die Entwicklung der "Cambridge School" wie des logischen Positivismus des Wiener Kreises in bedeutsame Maße so beeinflußt worden war. Damals hieß es noch ,,Cambridge School", und wer sich die zeitgenössische Beurteilung zur Kenntnis bringen möchte, sollte nicht versäumen, die unmittelbaren Zeugnisse aus den dreißiger Jahren: ERNEST NAGELs "Eindrücke von der analytischen Philosophie in Europa" oder MAX BLACKs "Darstellung der Beziehung zwischen dem Wiener Kreis und der Cambridge School der Analyse", einzusehen(26).

Wir überschauen heute die Entwicklung aus größerer Distanz und haben uns angewöhnt, zwischen der Oxforder Sprachanalyse und den Neopositivisten wesentliche Unterschiede zu sehen, und müssen uns wundern, wenn wir die frühen Referate über den sogenannten späten WITTGENSTEIN unter der Bezeichnung "Therapeutischer Positivismus" abgehandelt finden, gewissermaßen als einen Seitenzweig des Neopositivismus bzw. des Wiener Kreises.

In den vergangenen zwanzig Jahren wurde nicht nur das Hauptwerk der späteren Entwicklung WITTGENSTEINs, die "Philosophischen Untersuchungen", sowie eine Reihe von Schriften aus der sogenannten Obergangsperiode aus dem Nachlaß veröffentlicht, sondern auch Vorstudien zum Traktat, verstreute und zusammenhängende "Zettel", kurz, wie man den Berichten der literarischen Nachlaßverwalter entnehmen darf, die wichtigsten Schriften WITTGENSTEINs, die ja bis auf die Diktate des Bluebook und Teilen des Brown-book alle in deutscher Sprache verfaßt worden waren. Im selben Zeitraum wuchs die Literatur über WITTGENSTEIN in zunehmendem Maße und erreicht heute bereits den Grad der Unüberschaubarkeit, den eine Bibliographie von 60 oder 70 Seiten repräsentiert. (Siehe etwa BORGIS oder FANN.)(27)

Seit der Veröffentlichung der "Schriften" bei Suhrkamp hat auch die deutschsprachige Philosophie ihr Interesse an WITTGENSTEIN entdeckt und die Literatur bereichert, sowohl durch eigene Beiträge (ich erinnere nur an E. K. SPECHT, W. STEGMÜLLER, A. MÜLLER, W. SCHULZ, v. SAVIGNY, K. WUCHTERL ) (28) wie auch durch Übersetzungen (z.B. der Bücher von HARTNACK, PITSCHER, STENIUS und PEARS, und einer Reihe von Artikeln von STRAWSON, MALCOLM u. a.) (29).

In diesen zwanzig Jahren haben sich auch einige Grundmuster der Interpretation der beiden Hauptwerke WITTGENSTEINs, der "Logisch-Philosophischen Abhandlung" und der "Philosophischen Untersuchungen", manifestiert. Die Beziehungen zu FREGE, RUSSELL, HERTZ auf der einen, zu KANT und SCHOPENHAUER auf der anderen Seite spielen für die Interpreten des Traktats eine wesentliche Rolle, gleich wie die Beziehungen zu SOKRATES / PLATON, AUGUSTINUS, DESCARTES, RUSSELL, MOORE und zum Traktat selbst bei der Interpretation der "Untersuchungen" herangezogen werden. Die geringe zeitliche Distanz zu den letzteren hat vermutlich auch dazu beigetragen, daß auf andere Bezüge noch wenig eingegangen wurde und daß man die Eigentümlichkeit des Traktats als einander ausschließend auffaßte. Die Philosophie WITTGENSTEINs wurde, wie diejenige KANTs in zwei gänzlich verschiedene Philosopheme gespalten: die Unterscheidung WITTGENSTEIN I und WITTGENSTEIN II war die Folge.

Einige Autoren, darunter STEGMÜLLER (30), der sich an STENIUS und PITSCHER anschließt, versuchen dann nicht einmal mehr die Frage zu untersuchen, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen den anscheinend heterogenen Stadien der WITTGENSTEINschen Philosophie besteht: Zwischen der Analyse der logisch perfekten Sprache und der Analyse des "rauhen Bodens" der Umgangssprache. Wie bei KANT die Abkehr vom dogmatischen Schlummer durch die Idee der Kritik die Unterscheidung des kritischen vom vorkritischen erlaubt, so sollte auch die Kritik an einzelnen Positionen des Traktats in den "Philosophischen Untersuchungen" eine solch strikte Unterscheidung nahelegen.

Aber die Ähnlichkeit mit der kantischen Wende ist offen gesagt gering, und so ohne weiteres teilt man in der Philosophiegeschichte die Philosophen nicht in nichtvereinbare Hälften, erst recht nicht, wenn beide Hälften lebendig sind und zusammenstimmen.
LITERATUR - Rudolf Haller in Sprachthematik in der österreichischen Literatur des 20 Jahrhunderts, Institut für Österreichkunde (Hrsg), Wien 1974
    Anmerkungen
    1) Vgl. HANS ALBERT, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968), Seite 145
    2) Vgl. HANS ALBERT, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968), Seite 145
    3) FRITZ MAUTHNER, Otto Friedrich Gruppe, in: Die Zukunft, Bd. 85 (1913); vgl. auch: Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert. Textauswahl 1, Problemata. Hrsg. von HERMANN JOSEF CLOEREN, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971.
    4) FRITZ MAUTHNER, Wörterbuch der Philosophie II, Seite 360
    5) RUDOLF HALLER, Ludwig Wittgenstein und die österreichische Philosophie. In: Philosophie in Österreich. Hrsg. von LEO GABRIEL und JOHANN MADER. Wissenschaft und Weltbild, 21. Jg. (1968)
    6) WILLIAM M. JOHNSTON, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848-1938. Berkeley-Los Angeles 1972, Seite 196 ff.
    7) GUSTAV GERBER, Die Sprache und das Erkennen (1848) p. 52; vgl. auch: Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, Textauswahl II, Problemata. Hrsg. von SIEGFRIED J. SCHMIDT, Stuttgart-Bad Cannstatt (1971)
    8) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II, Seite 495; vgl. zum folgenden auch: GERSHON WEILER, On Fritz Mauthner’s Critique of Language, Mind, Vol. 67, 1958, Seite 80 ff. ELISABETH LEINFELLNER, Zur nominalistischen Begründung von Linguistik und Sprachphilosophie, Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein, in Studium Generale, Bd. 22, 1969, Seiten 209-25.
    9) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 216
    10) BERTRAND RUSSELL, Introduction zum Tractatus logico-philosophicus. London 1922; JAMES GRIFFIN, Wittgenstein’s Logical Atomism. London 1964
    11) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache III, Seite 589
    12) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache III, Seite 650
    13) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache III, Seite 19, Seite 176
    14) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 638
    15) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 73
    16) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 73
    17) Vgl. RUDOLF HALLER, Das "Zeichen" und die "Zeichenlehre" in der Philosophie der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 4, 1959, Seiten 113-157
    18) LUDWIG WITTGENSTEIN, Tractatus 5.5563
    19) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 215; vgl. zum folgenden auch Selbstdarstellung, Seite 135 ff; ferner die kurze aber sehr klare Untersuchung von GERSHON WEILER, op. cit.
    20) FRITZ MAUTHNER, Selbstdarstellung, Seite 137
    21) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 588
    22) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 23
    23) FRITZ MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I, Seite 648
    24) LUDWIG WITTGENSTEIN, Tractatus 6.45
    25) LUDWIG WITTGENSTEIN, Tractatus 5.62, vgl. 5.6
    26) ERNEST NAGEL, Impressions and Appraisals of Analytic Philosophy in Europe, in: Journal of Philosophy 33 (1936), pp. 5-53. Wiederabgedruckt in: ders., Logic without Metaphysics and other Essays in the Philosophy of Science (1956). MAX BLACK, Relations Between Logical Positivism and the Cambridge School of Analysis, in: Journal of Unified Science /Erkenntnis 8/, 1939/40
    27) ILONA BORGIS, Index zu Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus" und Wittgenstein-Bibliographie, Freiburg-München 1958. - K. T. FANN, Wittgenstein’s Conception of Philosophy, Oxford (1969) Bibliographie Seiten 113-178
    28) ERNST KONRAD SPECHT, Die sprachphilosophischen und ontologischen Grundlagen im Spätwerk Ludwig Wittgensteins. In: Kant-Studien - Ergänzungshefte, Bd. 84, Köln 1963. - WOLFGANG STEGMÜLLER, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart 1969. - ANSELM MÜLLER, Ontologie in Wittgensteins Tractatus, Bonn 1967. - WALTER SCHULZ, Wittgenstein. Die Negation der Philosophie, Pfullingen 1967. - EIKE VON SAVIGNY, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt 1969.
    - KURT WUCHTERL, Struktur und Sprachspiel bei Wittgenstein, Frankfurt 1969
    29) JUSTUS HARTNACK, Wittgenstein und die moderne Philosophie, Stuttgart 1962. - GEORGE PITCHER, Die Philosophie Wittgensteins, Freiburg/München (1967). - ERIK STENIUS, Wittgensteins Traktat, Frankfurt (1969). - DAVID PEARS, Ludwig Wittgenstein, München 1971
    30) WOLFGANG STEGMÜLLER, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. Aufl., Stuttgart 1969; vgl. ders., Ludwig Wittgenstein als Ontologe, Isomorphietheoretiker, Transzendentalphilosoph und Konstruktivist. In: Philosophische Rundschau, 13. Jg., 1965