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Der Mensch empfindet ein natürliches Verlangen, seine eigene Denkungsart auch in andern wahrzunehmen, oder sie denselben einzuflössen; in den mehrsten Fällen erträgt er es geduldiger, wenn gegen seinen Vorteil gehandelt, als wenn wider seine Meinung geurteilt wird. Je lebhafter und ausführlicher die Vorstellung von den Gründen unserer Meinung ist, je mehr unser Bewusstsein nur das Bewusstsein unserer Einsichten geworden, desto grösser wird unser Abscheu gegen alles, was sie zweifelhaft zu machen droht; denn unser Bewusstsein selbst, unsere ganze Existenz scheint dabei Gefahr zu laufen.
Ebenso natürlich ist deswegen die Verfolgung, welche derjenige erfährt, der mit Wahrheiten, die herrschenden Lehrgebäuden zuwiderlaufen, auftritt. Diejenigen, welche ihn nicht fassen, verachten ihn und höhnen ihn aus; sie begreifen nicht, wie ein Mensch so wenig begreifen, so blind und so verkehrt sein kann. Die andern ergrimmen, und zwar in demselben Maß, wie sie ihre Wahrheit durch die entgegengesetzten Gründe angegriffen, ihre Überzeugung minder oder mehr erschüttert fühlen.
Hierdurch aber darf sich niemand abschrecken lassen. Einigen Beifall erhält die gründlich vorgetragene Wahrheit immer. Hier und da finden sich Köpfe, die, wenn kein äusserliches Interesse sie daran hindert, wenigstens soviel davon aufnehmen, als sich mit ihren Grundsätzen, ihren Vorurteilen oder Lieblingsmeinungen zusammenreimen lässt. Nicht von allen wird derselbe Teil, sondern beinah von jedwedem ein anderer gewählt, in Schutz genommen, und in einen Zusammenhang gebracht, der einen andern Zusammenhang aufhebt. So kommt nach und nach das Ganze in Umlauf, bildet sich aus und um, läutert und verbessert sich, und die Erkenntnis gewinnt allmählich Vollkommenheit und Fortgang.
LITERATUR, Jacobis Spinoza Büchlein, München 1912
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