tb-1 Hermann CohenGegenstand bei KantKant und Hume    
 
WILHELM WINDELBAND
Kants theoretische Philosophie
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"Dogmatisch nennt Kant alle Philosophie, welche ohne Prüfung der Erkenntnistätigkeit und ihrer Grenzen von irgendwelchen Voraussetzungen und Vorurteilen her gleich unmittelbar an die Erkenntnis der Dinge gehen will, und darunter fällt ihm der Empirismus so gut wie der Rationalismus seiner nächsten Vorgänger. Nicht minder verwerflich aber erscheint ihm der Skeptizismus, insofern derselbe den Nachweis liefern will, daß das menschliche Denken den Anforderungen, welche man von irgendwelchen dogmatischen Voraussetzungen her an dasselbe gestellt hat, nicht genügen kann, und darauf dann eine Art von Verzweiflung an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen überhaupt gründet. Nicht also insofern er eine Kritik der Erkenntnis gibt, sondern insofern er diese Kritik unter dogmatischen Vorurteilen ausführt, wird der Skeptizismus von Kant bekämpft."

KANT selbst hat stets das größte Gewicht darauf gelegt, daß der unterscheidende Charakter seiner Philosophie in jener neuen Methode zu suchen sei, welche er die kritische oder die transzendentale genannt hat. Umso merkwürdiger ist es, daß über diese Methode unter den historischen Forschern eine fast noch geringere Übereinstimmung herrscht, als über den Entwicklungsgang des Philosophen. Während KANT sich schmeichelte, es werde das Ende des Jahrhunderts nicht vergehen, ohne daß der von ihm durch unbetretenes Dickicht gebahnte Fußsteig sich in eine breite Heeresstraße verwandelte, so herrscht über die Gesamtrichtung und die einzelnen Windungen dieses Fußsteigs noch heute Streit. Diese Tatsache macht es wahrscheinlich, daß ebenso wie KANTs Entwicklungsgang und ebenso wie der Grundstock seiner Ansichten sich auch seine Methode nicht in eine einfache Formel bringen, sondern als eine Verdichtung mannigfacher methodischer Gesichtspunkte ebenso vielfache Deutungen möglich erscheinen läßt, wie jene.

Als  "transzendental"  setzt KANT seine Philosophie dem "transzendenten" Bestreben der früheren Metaphysik, die Dinge ansich zu erkennen, in dem Sinne entgegen, daß er es für ihre Aufgabe erklärt, die Bedingungen apriorischer Erkenntnis auf allen Gebieten des menschlichen Denkens festzustellen, und transzendental will er in diesem Sinne all das nennen, was sich auf die Möglichkeit eines allgemeinen und notwendigen Denkinhalts bezieht. Aber die bei KANTs sonstiger Pedanterie außerordentlich merkwürdige Erscheinung seines höchst laxen und unbestimmten Sprachgebrauchs, welche zur Dunkelheit seiner Schriften ebensoviel wie die Schwerfälligkeit seines Periodenbaus beiträgt und ein deutliches Bild seines steten Ringens mit dem Gedanken gibt, - dieser sein Schreibgebrauch läßt ihn an jener Fixierung des Unterschieds von transzendent und transzendental durchaus nicht festhalten und sehr häufig nach der alten Sitte transzendental da gebrauchen, wo er transzendent meint. Sicherer deshalb und weniger Verwirrungen ausgesetzt scheint die Bestimmung seiner Methode als der  kritischen,  umso mehr, als dieser Terminus in einem greifbaren und deutlichen Gegensatz erscheint. Dogmatisch nennt KANT alle Philosophie, welche ohne Prüfung der Erkenntnistätigkeit und ihrer Grenzen von irgendwelchen Voraussetzungen und Vorurteilen her gleich unmittelbar an die Erkenntnis der Dinge gehen will, und darunter fällt ihm der Empirismus so gut wie der Rationalismus seiner nächsten Vorgänger. Nicht minder verwerflich aber erscheint ihm der Skeptizismus, insofern derselbe den Nachweis liefern will, daß das menschliche Denken den Anforderungen, welche man von irgendwelchen dogmatischen Voraussetzungen her an dasselbe gestellt hat, nicht genügen kann, und darauf dann eine Art von Verzweiflung an der Erkenntnisfähigkeit des Menschen überhaupt gründet. Nicht also insofern er eine Kritik der Erkenntnis gibt, sondern insofern er diese Kritik unter dogmatischen Vorurteilen ausführt, wird der Skeptizismus von KANT bekämpft. Für die kritische Philosophie aber setzt er die Aufgabe, zunächst den Begriff der Erkenntnis neu, d. h. ohne dogmatische, metaphysische oder psychologische Voraussetzungen zu formulieren und dann zu untersuchen, inwieweit das menschliche Denken denselben zu realisieren vermag. So wurzelt der Begriff der kritischen Philosophie in ihrer erkenntnistheoretischen Aufgabe; aber derselbe überträgt sich dann, wenn auch mit einigen Veränderungen, auf die übrigen Gebiete der Philosophie. In diesem Sinne gilt es, daß durch KANT der  erkenntnistheoretische Gesichtspunkt  zum maßgebenden für die Philosophie überhaupt gemacht worden ist. Nun gab es Ansätze zu dieser erkenntnistheoretischen Behandlung genug auch in der vorkantischen Lehre. Bei LOCKE, bei LEIBNIZ, bei HUME sind sie unverkennbar vorhanden; aber die Voraussetzung, daß das Urteil über den Erkenntniswert der Vorstellungen von der Einsicht in ihren Ursprung abhänge, verquickte vor KANT überall diese Untersuchung mit psychologischen Theorien. KANT wurde erst dadurch originell, daß er sich klar machte, es sei für den Erkenntniswert des Denkens ganz gleichgültig, wie es zustande gekommen ist. Die Erkenntnistheorie soll weder eine beschreibende noch erklärende Psychologie sein; sie ist eine kritische, den Wert prüfende Wissenschaft, und sie muß deshalb statt von Voraussetzungen über das Wesen der Seele und den Ursprung der Vorstellungen, vielmehr von einem Idealbegriff der Erkenntnis ausgehen, welcher sich lediglich auf immanente Unterschiede im Wert der Vorstellungen bezieht. In dieser Rücksicht stellt KANT nun das Ideal der  synthetischen Urteile a priori  an die Spitze seiner Unterschungen. Erkenntnisse sind Urteile, aber Urteile, in denen Vorstellungen miteinander in eine Verknüpfung gebracht werden, die nicht durch eine bloße logische Analyse ihres Inhalts begründet ist, sondern synthetische Urteile, welche auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit Anspruch machen. Man hat den Unterschied analytischer und synthetischer Urteile, von dem die Kritik der reinen Vernunft ausgeht, vielfach damit bemängelt, daß man auf die psychologische Tatsache hinwies, es könne dasselbe Urteil für den einen Menschen synthetisch sein, welches für den anderen analytisch ist. Dieser Einwurf ist ebenso wohlfeil, wie er den Sinn der Kantischen Unterscheidung völlig mißversteht. KANTs Unterschied analytischer und synthetischer Urteile will nicht ein solcher der psychologischen Genesis, sondern der erkenntnistheoretischen  Begründung  sein. Die analytischen Urteile haben keinen Erkenntniswert, weil die formal-logische Begründung nur dem Inhalt der Prämissen eine neue Form gibt. Der wahre Erkenntniswert gebührt erst denjenigen Urteilen, welche Vorstellungen in Beziehungen zueinander setzen, die nicht durch das logische Verhältnis ihres Inhalts begründet sind. Dieser Wert gebührt in erster Linie allen tatsächlichen Vorstellungsverknüpfungen, die durch die Wahrnehmung gewonnen werden. Der Grund der Synthesis ist aber in diesem Fall ein Akt der Erfahrung. Deshalb nennt KANT diese Urteile synthetische Urteile  a posteriori.  Nun kommt der rationalistische Charakter seines Denkens mit voller Klarheit darin zutage, daß er diese Urteile zwar als zu Recht bestehend und als die Grundlage aller Erkenntnistätigkeit anerkennt, daß sich aber seine Erkenntnistheorie mit der Kritik derselben prinzipiell nicht befaßt. Wenn man KANTs Lehre eine Theorie oder Kritik der Erfahrung genannt hat, so darf man darunter im Prinzip keine Untersuchung über den Wert derjenigen einzelnen Urteile vermuten, welche, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, durch die Erfahrung gewonnen sind. Alle diese Urteile bilden vielmehr für KANT keinen Gegenstand der philosophischen Kritik: diese richtet sich auf die ganz neue Art von Erkenntnissen, welche KANT im Begriff der synthetischen Urteile  a priori  aufstellt. Die LEIBNIZsche Theorie hatte den  vérités de fait  [Tatsachenwahrheiten - wp] nur die  vérités éternelles  [ewigen Wahrheiten - wp] d. h. die lgoischen Grundsätze des analytischen Verfahrens gegenüber zu stellen gewußt. KANT aber fand, daß es ursprüngliche Begriffsverknüpfungen gibt, welche nicht logischen Charakters, und doch allgemein und notwendig sind. Gibt es solche, so muß man sich fragen, worin in diesem Fall der Grund der Synthesis liegt. Damit ist die Aufgabe der Kantischen Philosophie und die kritische Methode ihrer Lösung bestimmt.

Auf allen Gebieten des menschlichen Denkens, nicht nur auf denjenigen des Erkennens, forscht KANT nach der Existenz synthetischer Urteile  a priori,  d. h. ursprünglicher, nicht logisch begreiflicher Begriffsverknüpfungen von allgemeiner und notwendiger Geltung. Aber mit ihrer Konstatierung ist es nicht getan, sondern darauf folgt erst die wichtigere Frage nach dem Grund ihrer Synthesis; und erst die Einsicht in diesen kann für die Kritik den Maßstab abgeben, nach welchem sie beurteilt, ob der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit im einzelnen Fall berechtigt ist oder nicht. Man hat die kritische Methode so aufgefaßt, als schlösse sie von den konstatierten synthetischen Urteilen a priori auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit und lehrte dann, daß diese Bedingungen im menschlichen Geist wirklich vorhanden seien, weil ja ihre Wirkungen konstatiert sind. Wäre dies das Schlußverfahren KANTs, so müßte er aus der von ihm konstatierten Tatsache synthetischer Urteile  a priori  in der Metaphysik des Übersinnlichen haben erschließen müssen, daß die von ihm deduzierte Bedingung derselben, die intellektuelle Anschauung, dem menschlichen Geist angehört: denn es wäre sonst ganz willkürlich von ihm, den Anspruch der einen Wissenschaft anders als denjenigen der andern zu behandeln. Aber KANTs Schlußweise ist eine ganz andere. Er konstatiert die synthetischen Urteile  a priori  nicht als Beweismaterial, sondern als Objekt der Kritik. Er untersucht bei einer jeden Art, unter welchen Bedingungen allein sie berechtigt sein können, und fragt dann, ob diese Bedingungen im menschlichen Geist erfüllt sind oder nicht. Je nachdem diese Frage bejaht oder verneint wird, entscheidet sich dann das Urteil über die Berechtigung der synthetischen Urteile  a priori.  Wenn das die eigentliche Anlage der kritischen Methode ist, so kann es andererseits nicht zweifelhaft sein, daß dieselbe aus den verwickelten Deduktionen der Kantischen Lehre erst herausgeschält werden muß. Namentlich auf dem Gebiet der praktischen Philosophie wird sie, wie sich zeigen wird, durch einen anderen Gedanken derartig gekreuzt, daß sie fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Hauptsächlich aber ist ihre Klarheit durch die Nötigung getrübt, in welche sich KANT versetzt sah, zu ihrer Durchführung wiederumg psychologische Voraussetzungen und Untersuchungen anzuwenden. Denn wenn die Frage nach der Berechtigung des Anspruchs der synthetischen Urteile auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit danach entschieden wurde, daß die Bedingungen dazu im menschlichen Geist entweder vorhanden sind oder fehlen, so liegt ja die Entscheidung der erkenntnistheoretischen Fragen zuletzt doch immer wieder bei einer psychologischen Einsicht, wenn auch nicht in den Ursprung der Vorstellungen, so doch in die Eigenschaften der menschlichen Intelligenz oder, wie KANT mit der empirischen Psychologie seiner Zeit sagt, in die Vermögen des menschlichen Gemüts. So kommt es, daß die Erkenntnistheorie, wenn sie auch ihre Aufgabe ohne jede Rücksicht auf psychologische Voraussetzungen formuliert hat, doch zur Lösung derselben überall auf psychologische Tatsachen und Theorien rekurrieren muß, und dieses Verhältnis rechtfertigt sich von selbst, sobald man bedenkt, daß es sich um die Kritik nicht irgendeiner anderen, sondern eben der menschlichen Erkenntnisfähigkeit handelt. Aber KANT hat es nun in seiner Durcheinanderarbeitung des ungeheuren Stoffs versäumt, diese verschiedenen, im Ganzen sich gegenseitig ergänzenden und tragenden Gedankenreihen, auseinanderzuhalten und ihre Gliederung überall klarzulegen, und er hat dadurch nicht wenig das Verständnis seines gesamten philosophischen Werkes erschwert.

Es ist aber hieraus klar, daß dem ganzen Umfang der Kantischen Kritik eine nicht minder umfangreiche psychologische Ansicht zugrunde liegt, und es wird das umso merkwürdiger dadurch, daß KANT im Verlauf seiner Kritik der Wissenschaften der Psychologie den Charakter der Apodiktizität [unumstößlichen Gewißheit - wp] absolut abgesprochen hat. Im energischen Hinblick auf die Kritik des Werts bedachte er nicht die große Anzahl von psychologischen Voraussetzungen, mit denen er selbst nicht nur bei der Lösung jedes einzelnen Problems verfuhr und der Natur der Sache nach verfahren mußte, sondern auch den ganzen Aufbau seiner neuen Lehre gliederte. So enthält seine Lehre zwar die vollkommene Unterordnung des psychologischen unter das erkenntnistheoretische Moment, aber doch auch zugleich den Beweis, daß ohne die Aufnahme des ersteren die kritische Aufgabe durchaus nicht gelöst werden kann.

Von der psychologischen Grundlage seines gesamten Systems hat KANT den klarsten Ausdruck teils in der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft teils besonders in einem kleinen Aufsatz gegeben, welcher anfänglich für diese Einleitung bestimmt war, später von SIGISMUND BECK am Schluß seines "Erläuternden Auszuges aus den kritischen Schriften des Herrn Professor Kant" mit Autorisation des Philosophen auszugsweise veröffentlicht wurde und unter dem Titel "Über die Philosophie überhaupt" in die Sammlung seiner Schriften übergegangen ist. KANT akzeptiert hier die Dreiteilung der psychischen Funktionen, welche in der empirischen Psychologie seiner Zeit durch SULZER, MENDELSSOHN und TETENS geläufig geworden war und neben dem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ein Empfindungsvermögen ansetzte. Er fügt dann hinzu, daß allen drei Vermögen gewisse synthetische Urteile  a priori  eigen seien und daß deren kritische Untersuchung das ganze Geschäft seiner Transzendentalphilosophie ausmache. Im Erkenntnisvermögen bestehen die apriorischen Synthesen in einer Reihe von Urteilen, welche ohne formal-logische Verknüpfung die Grundbegriffe unserer Weltauffassung in notwendiger und allgemeingültiger Weise miteinander verbinden. (1) Auf dem Gebiet des Begehrungsvermögens bestehen die apriorischen Synthesen darin, daß gewissen Willensbetätigungen die moralischen Prädikate gut oder böse in notwendiger und allgemeingültiger Weise zugesprochen werden: die praktischen Synthesen  a priori  sind Wertbeurteilungen von allgemeiner und notwendiger Geltung. Auf dem Gebiet des Empfindungsvermögens bestehen die synthetischen Urteile  a priori  darin, daß es gewissen Gegenständen gegenüber allgemeingültige und notwendige Gefühle der Lust oder Unlust gibt, welche sich durch die Prädikate der Schönheit oder Häßlichkeit, der Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit zu erkennen geben: die  a priorischen  Synthesen des Gefühlsvermögens sind,  a potiori  [der Hauptsache nach - wp] benannt, die ästhetischen (2) Urteile. Demnach gliedert sich die kritische Philosophie in die drei Hauptteile einer Kritik der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen synthetischen Urteile  a priori,  und das ganze Kantische System in seine theoretische, praktische und ästhetische Lehre. Den Grundstock der kritischen Werke KANTs bilden deshalb die sogenannten drei großen Kritiken, von denen jede das Grundwerk für einen dieser Teile bildet: die Kritik der reinen Vernunft, die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft, - die drei Werke, um welche sich alle übrigen Kantischen Schriften mit mehr oder minder naher Beziehung gruppieren.

Wen man unter theoretischer Philosophie bei den früheren Philosophen in erster Linie ihre wissenschaftliche Begründung der Weltanschauung, mit anderen Worten ihre Metaphysik versteht, so bezieht sich bei KANT dieser Name im Wesentlichen auf seine Theorie der menschlichen Erkenntnis, d. h. also eigentlich auf die Theorie der Theorie. Es ist seine Wissenschaftslehre, welche diesen Namen verdient, und nur der besondere Charakter derselben gibt, wie sich entwickeln wird, die Berechtigung, seine Naturphilosophie in diesen Kreis seiner Betrachtungen hineinzuziehen.

Die Grundfrage dieses Teils der Kantischen Lehre ist also diejenige nach der Berechtigung derjenigen Wissenschaften, welche synthetische Urteile a priori enthalten. KANT konstatiert nach dem Schema, welches zuerst die Prolegomena darbieten, deren drei. In erster Linie steht die Mathematik. Die Gesetze, welche dieselbe entwickelt, sind zweifellos als allgemeingültig und notwendig anerkannt: daß sie zugleich synthetischen Characters sind, behauptete KANT aufgrund seiner Einsicht in den anschaulichen Charakter des mathematischen Denkens. In zweiter Linie kommt die "reine Naturwissenschaft" in Betracht. Unter diesem Namen begreift KANT das System der Grundsätze, welche aller Naturauffassung und Naturforschung zugrunde liegen, und welches er nicht als gegeben vorfand, sondern selber erst in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schuf. Drittens aber beansprucht die Metaphysik mit ihrer Seelen-, Welt- und Gotteslehre die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit von Sätzen, welche nur scheinbar durch bloß logische Analyse, in Wahrheit aber durch synthetische Akte begründet sind.

Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft ist die Prüfung dieser drei Wissenschaften, und sie vollzieht sich wiederum nach einer psychologischen Schematisierung. Der Gegensatz von Sinnlichkeit und Denken gliedert die transzendentale "Elementarlehre" in die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Logik, von denen die erstere die Kritik der Mathematik zu ihrem Gegenstand hat. Die Letztere teilt sich danach, daß das Denken als Verstand eine rationale Erkenntnis der Sinnenwelt, als Vernunft dagegen eine solche der übersinnlichen Welt zu finden sucht, in transzendentale Analytik und transzendentale Dialektik, von denen der ersteren die Kritik der reinen Naturwissenschaft, der letzteren diejenige der Metaphysik anheimfällt.

Der gesamten erkenntnistheoretischen Kritik KANTs liegt die psychologische Auffassung bestimmend zugrunde, daß Sinnlichkeit und Verstand die beiden vielleicht in ihrer letzten Wurzel vereinigten, in unserem Bewußtsein jedoch vollkommen gesondert und verschieden funktionierenden Stämme der Erkenntnis seien, daß aber andererseits jede objektive, d. h. notwendige und allgemeingültige Erkenntnis nicht an einem dieser beiden Stämme allein reife, sondern vielmehr stets die Frucht von beiden sei. Spielt dabei die Sinnlichkeit die weibliche Rolle der Empfänglichkeit, so gebührt dem Verstand die befruchtende Funktion der Spontaneität. Es erweisen sich im Kantischen System alle Arten der Erkenntnis  a priori  durch die verschiedenen Verhältnisse bedingt, in welche diese beiden Faktoren unseres Denkens miteinander treten.

Wenn zunächst KANT die  Mathematik  als eine anschauliche Wissenschaft bezeichnet, so ist das nicht so zu verstehen, als ob damit aus ihr die Verstandestätigkeit eliminiert werden sollte. Begriffsbildung, Urteil und Schluß gehören selbstverständlich zu ihrem Apparat ebenso wie zu demjenigen aller anderen Wissenschaften. Was KANT der früheren Auffassung gegenüber behauptet, ist vielmehr nur dies, daß der Grund für die Begrife und die Axiome (3), mit denen die Mathematik operiert, nicht in rein logischen Prozessen, sondern vielmehr in Akten der Anschauung zu suchen sei. Daß die gerade Linie die kürzeste zwischen zwei Punkten, daß die Summe von 5 und 7 gleich 12 ist, sind Sätze, welche durch logische Analyse ihrer Subjektbegriffe nicht gefunden werden können. Im Begriff der Geradheit liegt kein Merkmal der Entfernungsgröße, im Begriff der Summe zweier Zahlen liegt nicht eine andere Zahl als ihr Merkmal. Diese Sätze müssen also in einer Synthesis begründet, und diese Synthesis kann nicht diejenige einer zufälligen Erfahrung sein, denn sonst wäre die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit jener Sätze nicht erklärt. Das ein- oder mehrmalige Ausmessen, das ein- oder mehrmalige Zusammenzählen ist kein Beweis für jene Sätze. Aber dieselben leuchten sofort und unmittelbar ein, sobald man ihren Inhalt in der Anschauung konstruiert. Indem man die gerade Linie zwischen zwei Punkten zieht, ergibt es sich in der Anschauung als unmittelbar selbstverständlich, daß es keine kürzere geben kann, und indem man den Akt des Summierens in der Zahlenreihe ausführt, bleibt auch nicht der Schatten eines Zweifels darüber bestehen, daß das Resultat unter allen Umständen dasselbe sein muß. Liegt somit der Grund der Synthesis in der Anschauung, so ist es nicht eine einzelne oder die Summe mehrerer einzelner Erfahrungen, sondern vielmehr die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit des Aktes als solchen, denen jene Sätze ihre Apodiktizität verdanken. Diese Apodiktizität gilt also nur, wenn es allgemeingültige und notwendige Anschauungsakte gibt. Nun ist aber in der Anschauung alles, was die sinnliche Qualität der einzelnen Gegenstände der Wahrnehmung bildet, Farben, Töne und so weiter, von subjektiver, individueller Wandelbarkeit. Allgemein und notwendig können deshalb nur die räumlichen und zeitlichen Formen sein; und auch nur für diese gilt ja die mathematische Gesetzmäßigkeit. Die Bedingung also, unter welcher allein der Anspruch der Mathematik auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit berechtigt sein kann, ist diejenige, daß sie eine Reflexion auf die notwendigen und allgemeingültigen Formen aller Anschauungen überhaupt bildet, und daß die beiden Elemente der mathematischen Konstruktion,  Raum und Zeit solche Formen, d. h. Anschauungen  a priori  sind. Die Untersuchung dieser Frage gibt also eine transzendentale Anschauungslehre, d. h. (nach dem etymologischen Sinn des Wortes) Ästhetik.

Den Beweis für die Apriorität von Raum und Zeit führt KANT auf vier Wegen. Die Vorstellungen von Raum und Zeit können nicht erst auf dem Weg der Abstraktion aus denjenigen von einzelnen Räumen und einzelnen Zeiten begründet werden, sondern die letzteren tragen bereits in den Merkmalen des Nebeneinander und Nacheinander das allgemeine Merkmal der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit in sich. Haben sie auf diese Weise keine empirische Begründung, so sind sie zweitens dennoch durchaus notwendige Vorstellungen, da man zwar alle Gegenstände aus ihnen, nicht aber sie selbst fortzudenken imstande ist. Drittens sind Raum und Zeit überhaupt nicht Begriffe in einem logischen Sinn des Wortes. Denn es gibt eben nur den einen allgemeinen Raum und die eine allgemeine Zeit, und eine Vorstellung, der nur ein einziges Objekt entsprechen kann, ist kein Gattungsbegriff, sondern eine Anschauung. Das Verhältnis des Raums zu den einzelnen Räumen und der Zeit zu den einzelnen Zeiten ist ein gänzlich anderes als dasjenige eines Gattungsbegriffs zu seinen Arten, bzw. Exemplaren. Einzelne Räume, bzw. Zeiten sind realiter Teile des allgemeinen Raums, bzw. der Zeit; aber ein einzelner Tisch ist durchaus nicht realiter ein Teil des allgemeinen Tisches, sondern hier ist umgekehrt die allgemeine Vorstellung Tisch nur ein Teil der Vorstellung des einzelnen Tisches. Endlich würde ein Begriff niemals so gedacht werden können, daß sein Gegenstand eine unendliche Menge einzelner Gegenstände in sich als reale Teile enthielte. Da nun Raum und Zeit das letztere tun, so folgt daraus, daß sie nur durch die Unbegrenztheit einer anschaulichen Funktion zustande kommen. So findet KANT durch eine Untersuchung des Verhältnisses, in welchem sich die Vorstellung von Raum und Zeit zu unseren einzelnen Anschauungen befinden, daß die letzteren überhaupt erst dadurch zustande kommen, daß ihnen Raum und Zeit  als  notwendige und allgemeine Anschauungsformen, als Anschauungsformen  a priori  zugrunde liegen. Ist aber dies erwiesen, so ergibt sich daraus, daß die Reflexion auf die innere Gesetzmäßigkeit dieser reinen Anschauungen - und nichts anderes enthält die Mathematik - notwendige und allgemeine Geltung mit vollem Recht beansprucht.

Die Apodiktizität der Mathematik gründet sich also darauf, daß Raum und Zeit die apriorischen Formen der sinnlichen Anschauung sind. Man muß den Begriff der  Apriorität  ganz scharf verstehen, um die Kantische Lehre nicht von vornherein zu mißdeuten. Sein Begriff von Apriorität hat mit der psychologischen Priorität nichts zu tun, so sehr es bei KANTs vieldeutiger und unsicherer Ausdrucksweise manchmal den Anschein haben mag. Es ist KANT auch nicht im Entferntesten eingefallen, jemals zu behaupten, daß Raum und Zeit angeborene Ideen etwa im Sinne des Cartesianismus seien; er hat niemals daran gedacht, zu meinen, daß der Mensch die Vorstellung des allgemeinen Raums und der allgemeinen Zeit mit auf die Welt brächte und in dieselbe nun die einzelnen sinnlichen Anschauungen an passenden Stellen einfügte. Sein Begriff der Apriorität will eben nur sagen, daß Raum und Zeit die immanente, dem Wesen der Anschauungstätigkeit eigene Gesetzmäßigkeit bilden, welche nicht etwa erst durch die einzelnen Erfahrungen erzeugt wird, sondern vielmehr ihrerseits zu den konstitutiven Prinzipien jeder einzelnen Wahrnehmung gehört. Lösen wir daher in der Abstraktion die räumliche und die zeitliche Form von ihrem besonderen sinnlichen Inhalt ab, so bringen wir uns nur die Gesetzmäßigkeit zu Bewußtsein, welche bei der Genesis der Wahrnehmung ohne unser bewußtes Zutun in uns wirksam war. Mit der psychologischen Frage, wie wir dazu kommen, uns diese unbewußt in uns tätige Gesetzmäßigkeit zu Bewußtsein zu bringen, hat sich KANT niemals eingehender beschäftigt; wo er sie jedoch streift, hat er stets seine Ansicht dahin ausgesprochen, daß diese Gesetzmäßigkeit uns nicht anders zu Bewußtsein kommen kann, als indem wir sie in den besonderen, einzelnen Wahrnehmungen anwenden. Im Streit der modernen Physiologen und Psychologen über den Ursprung der Raumvorstellung würde KANT zweifellos auf der Seite der Empiristen stehen; aber seine Lehre von der Apriorität hat überhaupt mit der ganzen Streitfrage nichts zu tun und ist daher am allerfalschesten gedeutet worden, wenn man meint, sie mit dem jetzigen Nativismus vergleichen zu dürfen.

Mit der Gültigkeit der mathematischen Apodiktizität ist aber durch die Lehre von der Apriorität von Raum und Zeit jene  phänomenalistische  Konsequenz verbunden, welche in KANT Entwicklung eine so bedeutsame Rolle spielte. Waren Raum und Zeit die Formen unserer sinnlichen Anschauung und zwar die notwendingen und allgemeingültigen Formen derselben, so galt die mathematische Gesetzmäßigkeit ausnahmslos für den gesamten Umfang unserer sinnlichen Vorstellungswelt. Aber diese Konsequenz reichte nur so weit, als es sich eben um unsere Vorstellungswelt handelt. Müßten wir räumliche und zeitliche Verhältnisse erst durch die Einwirkung wirklicher räumlicher und zeitlicher Dinge auf unseren Geist erfahren, so könnten wir niemals sicher sein, daß nicht eine spätere Erfahrung unsere bisherige Erkenntnis der mathematischen Gesetzmäßigkeit rektifizierte [korrigierte - wp]. Die absolute Apodiktizität derselben ist dagegen begreiflich, sobald wir in ihr nur unsere eigene Funktionsweise erkennen. Dann sind wir sicher, daß dieselbe Funktionsweise sich in allen ihren späteren Anwendungen mit derselben Notwendigkeit und Allgemeinheit wiederfindet. So ist die Apriorität der Mathematik nur zu begreifen, wenn alles, was wir anschauen, das Produkt eben unserer Anschauungsweise und ganz originaliter in uns entsprungen ist. Die Rätselfrage, welche KANT durch die NEWTONsche Naturphilosophie nahegelegt war, wie es denn kommen könne, daß die mathematischen Gesetze, die wir aus dem eigenen Geist heraus zu entwickeln vermögen, sich als bestimmende Mächte des Naturgeschehens zu erkennen geben, diese Rätselfrage nach der realen Geltung der Mathematik, welche noch viel weiter greift, als diejenige der Apodiktizität, löste sich nur, aber sie löste sich auch vollständig unter dem phänomenalistischen Gesichtspunkt. Wenn die Sinnenwelt nur unsere Vorstellungsweise von den Dingen ist, so gelten die Formen unserer sinnlichen Anschauung d. h. die mathematischen Gesetze für ihren ganzen Umfang, aber es ist in keiner Weise abzusehen, wie sie weiter reichen sollen. In diesem Sinne spricht Kant von der empirischen Realität und der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit.

Auf den ersten Blick sieht diese Kantische Lehre wie eine einfache Erweiterung der allgemeinen phänomenalistischen Lehre aus, welche schon vor ihm in der modernen Philosophie herrschte. Bei LOCKE, der die Theorien von DESCARTES und HOBBES in seiner Weise verknüpfte, hatten alle Qualitäten der einzelnen Sinne für subjektiv, dagegen die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen für primäre Qualitäten oder reale Eigenschaften der Dinge gegolten - ganz so, wie es die moderne Naturwissenschaft lehrt. Was scheint nun KANT anders getan zu haben, als die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften auch für subjektiv zu erklären? Gegen eine solche Auffassung hat KANT mit vollem Recht auf das Äußerste protestiert. Ihm gelten Raum und Zeit in einem ganz anderen Sinn für subjektiv als die sinnlichen Qualitäten. Die letzeren sind es in der Weise, daß sie von einer Beziehung des Gegenstandes auf die Sinne der wahrnehmenden Organismen abhängen, daß sie also durch die wechselnde Funktion dieser Sinne sogar individuell different auftreten. Derselbe räumlich-zeitliche Gegenstand erscheint deshalb verschiedenen wahrnehmenden Organismen und wiederum den verschiedenen Sinne desselben Organismus, ja sogar demselben Sinn unter verschiedenen Umstände verschieden, und die naturwissenschaftliche Theorie selbst liefert den Beweis, daß wir alle diese sinnlichen Qualitäten vom Gegenstand fortdenken und doch einen deutlichen und klaren Begriff von ihm haben können. Die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen der Wahrnehmungsgegenstände dagegen sind nicht nur den verschiedenen Auffassungen der verschiedenen Sinne gemeinsam, sondern sie konstituieren das Wesen der Gegenstände derartig, daß ohne sie dieselben überhaupt nicht mehr gedacht werden können. Sie bilden daher eine allgemeine und notwendige Vorstellungsform der Gegenstände, während die sinnlichen Qualitäten nur besondere und zufällige Wahrnehmungsweise derselben darstellen. Die Subjektivität der sinnlichen Qualitäten ist individuell und zufällig, diejenige von Raum und Zeit ist allgemein und notwendig. Indem KANT diese  allgemeine  und notwendige gesetzmäßige Subjektivität als Objektivität bezeichnet, gelten ihm Raum und Zeit als objektive Bestimmungen der Erscheinungen (4); aber diese ihre Objektivität, lehrt er, sei weit entfernt von einer  Realität  im Sinne der alten metaphysischen Auffassung.

Gegen diese Wendung des Kantischen Gedankens ist früh eingeworfen worden, es sei damit zwar vielleicht bewiesen, daß die ganze Vorstellung, welche wir von der Erfahrungswelt haben, in unseren gesetzmäßigen Funktionen ihren Ursprung habe, aber es sei nicht widerlegt, daß sie trotzdem ein vollkommenes Abbild der absoluten Wirklichkeit sei. Die Möglichkeit bleibe offen, daß diese unsere gesetzmäßige Funktion von vornherein so eingerichtet sei, daß das in uns nach den Gesetzen unserer Sinnlichkeit vollkommen neu entspringende Weltbild dennoch der wirklichen Welt entspreche. Es ist richtig, daß KANTs Veröffentlichungen eine ausdrückliche Widerlegung dieses Einwurfes nicht enthalten. Seine Briefe dagegen bezeugen, daß er diese "präformierte" Harmonie zwischen den Formen der Intelligenz und der wirklichen Welt, welche er selbst noch in der Inauguraldissertation hinsichtlich der Verstandesbegriffe vertreten hatte, in seiner kritischen Periode für den seichtesten aller Auswege hielt, auf dem die Erkenntnistheorie sich ihren schweren Fragen entziehen könne. Gewiß hat er damit Reht, daß eine solche prästabilierte [vorgefertigte - wp] Harmonie ein rein problematischer Gedanke ist, für dessen Annahme sich ebenso wenig wie für seine Ablehnung irgendwie die geringsten Handhaben aufweisen lassen und der deshalb für eine erkenntnistheoretische Untersuchung gänzlich außerhalb ihres Horizontes bleiben muß. Aber er würde den Gedanken an die Möglichkeit, daß Raum und Zeit zugleich apriorische Formen unserer Sinnlichkeit und reale Formen der wirklichen Welt seien, nicht so völlig absprechend behandelt haben, wenn er nicht einerseits in den Antinomien einen direkten Beweis dagegen zu besitzen geglaubt hätte und wenn nicht andererseits seine persönliche Überzeugung vollständig in der Richtung befestigt gewesen wäre, daß die Welt der Dinge ansich den moralischen Wert der Übersinnlichkeit besitze und daß eben die gesamte sinnliche Welt nur ein mit dem wahren Wesen inkongruente Erscheinungsform desselben sei. Es ist unrichtig, in dieser Überzeugung KANTs philosophische Originalität zu suchen. Die Lehre, daß die Sinnenwelt nur der schwache Abglanz einer höheren Welt sei, ist so alt, wie das metaphysische Denken überhaupt. Sie ist weder dem Grübelsinn der indischen noch der begrifflichen Klarheit der griechischen Philosophie fremd, sie ist in der mittealterlichen und in der neueren Philosophie an mehr als einer Stelle und in mannigfachen Verhältnissen aufgetreten, und sie trägt bei KANT zunächst nur den eigentümlichen Zug, daß sie in der transzendentalen Ästhetik durch lediglich erkenntnistheoretische Überlegungen begründet erscheint und den Nerv derselben bei ihm das Prinzip bildet: eine allgemeingültige und notwendige Erkenntnis sei nur soweit möglich, als sich der menschliche Geist nach seinen eigenen Bewegungsgesetzen das Bild der Welt entwerfe, und zu diesen Formen, nach denen er dasselbe zu entwerfen genötigt sei, gehörten in erster Linie diejenigen der sinnlichen Synthese in Raum und Zeit.

Dagegen gibt es noch einen anderen Gesichtspunkt, hinsichtlich dessen KANTs Vertretung des Phänomenalismus eine neue Phase innerhalb dieser Lehre bedeutet: das ist seine vollkommen konsequente Ausdehnung der phänomenalistischen Ansicht auch auf die Zeit. Daß die Körperwelt mit ihrer ganzen sinnlichen Gestaltung nur ein subjektives Bild im Geist des Menschen sei, ist eine vielfach aufgestellte und verfochtene Ansicht: daß aber auch der zeitliche Charakter unserer ganzen Vorstellungswelt nicht eine reale Bestimmung desselben, sondern auch nur eine menschliche Auffassungsweise sei, ist vor KANT zwar gelegentlich in mystisch-religiösen Phantasien gestreift, von der wissenschaftlichen Philosophie dagegen nur selten und auch in gewissem Sinne nur schüchtern behauptet worden. Hauptsächlich nur bei den Eleaten, bei PLATON und bei SPINOZA finden sich Anklänge der Kantischen Auffassung. Die große Schwierigkeit für die Betrachtung der Zeit unter einem phänomenalistischen Gesichtspunkt besteht nämlich darin, daß wir uns ohne zeitliche Sukzession einen Prozeß des Geschehens, der Tätigkeit oder der Veränderung überhaupt nicht vorzustellen imstande sind, und daß deshalb die phänomenalistische Auffassung der Zeit, sobald sie sich mit einer positiven Metaphysik verbinden will, zur Annahme eines absolut starren, ansich veränderungslosen Seins hindrängt. Eine Welt, in der es keine Zeit gibt, ist auch eine solche, in der nichts geschieht. Diese Schwierigkeiten sind bei KANT dadurch verdeckt, daß sein Phänomenalismus eine Metaphysik der Erkenntnis überhaupt ablehnt und nur eine solche des ethischen Bewußtseins anerkennt; aber es wird sich zeigen, daß sie auch in seiner Freiheitslehre nicht überwunden sind. Zur Annahme dieser Konsequenz ist KANT wohl hauptsächlich dadurch geführt worden, daß er infolge des NEWTONschen Voranschreitens Zeit und Raum völlig parallel als die absoluten Bedingungen für den gesamten Inhalt unserer Erfahrung behandelte. In seiner psychologischen Schematisierung faßte er das Verhältnis dieser beiden Bedingungen unter Benutzung der LOCKEschen Unterscheidung von äußerem und innerem Sinn derartig auf, daß er den Raum als die reine Anschauungsform des äußeren, die Zeit als diejenige des inneren Sinnes bestimmte. Da nun alle Vorstellungen als Funktionen unseres Geistes überhaupt unter den Begriff des inneren Sinns fallen, so gilt die Zeit ausnahmslos für alle, und unter ihnen bilden den äußeren Sinn nur diejenigen, welche zu jener allgemeinen Bedingung der Zeit noch die weitere des Raums hinzufügen. KANTs völlig konsequenter Phänomenalismus lehrt also, daß der äußere Sinn mit seiner allgemeinen räumlichen Bestimmtheit nur eine Provinz des inneren Sinnes, d. h. unseres Wissens von unserer eigenen psychischen Tätigkeit ist. Die Zeit ist die Form, in welcher wir uns selbst und alle anderen Dinge, der Raum nur diejenige, unter welcher wir jene anderen Dinge anschauen.

Vermöge dieser Ausdehnung des Phänomenalismus auf den inneren Sinn erklärte nun KANT, daß das Wahrnehmungsmaterial unseres gesamten Wissens  Erscheinung  sei, von deren Verhältnis zum Ding-ansich nichts behauptet werden darf. Nicht nur unsere Vorstellung von den Körpern, sondern auch diejenige von uns selbst und unseren eigenen Tätigkeiten und Zuständen ist eben nur eine Art, wie wir vorstellen, und durchgängig durch die gesetzmäßige Form unserer Anschauung bedingt. Indem so der innere Sinn in den phänomenalen Bereich der Sinnlichkeit hineingezogen wird, entsteht bei KANT eine Doppelbedeutung des Terminus  "sinnlich",  welche dem ganzen Zusammenhang seiner Lehre große Schwierigkeiten bereitet und die Auffassung derselben bedeutend erschwert hat. Hatte sich KANT aus einem zum großen Teil ethischen Interesse die scharfe Sonderung der sinnlichen und der übersinnlichen Welt zur Lebensaufgabe gemacht, so war dabei der Begriff des "Sinnlichen" in metaphysischer Bedeutung und in einem populären Sinn genommen, welcher unter "sinnlich" das Materielle oder das auf materiellen Veranlassungen Beruhende versteht. Mit der Aufnahme der Lehre vom inneren Sinn gewann das Wort "sinnlich" die erkenntnistheoretische Bedeutung, alles zu umfassen, was durch Wahrnehmung, äußere oder innere, uns zu Bewußtsein kommt, und dabei fallen unter diesen Begriff auch all die psychischen Tätigkeiten, welche nach der metaphysischen Terminologie als übersinnlich bezeichnet zu werden pflegten und pflegen. Auf diese Weise schillern die metaphysische und die erkenntnistheoretische Bedeutung der "Sinnlichkeit" bei KANT fortwährend ineinander, und das außerordentlich schwierige Verhältnis seiner theoretischen und seiner praktischen Lehre ist zumindest nicht durch diese Unsicherheit bedingt.

KANTs Phänomenalismus ist aber mit der Lehre von Raum und Zeit noch keineswegs erschöpft, sondern erfährt seine wahre Vertiefung erst durch den Fortgang der erkenntnistheoretischen Untersuchung. Konnten nämlich auch Raum und Zeit als die objektiven, d. h. allgemeinen und notwendigen Anschauungsformen betrachtet werden, so würden sie doch allein noch nicht genügen, um unseren Vorstellungen den wahren Charakter der Objektivität, d. h. der Gegenständlichkeit aufzuprägen. Wenn die sinnlichen Empfindungen nach räumlichen und zeitlichen Gesetzen angeordnet werden, so entstehen dadurch zwar Anschauungsbilder; aber dieselben würden als bloße Vorstellungen in einer unbestimmten Schwebe bleiben, wenn nicht zur räumlichen und zeitlichen noch eine andere Synthese hinzukäme, um diese Bilder zu objektivieren. Erst dadurch, daß die Empfindungen, welche die Elemente unserer Anschauungsbilder sind, bei der räumlichen und zeitlichen Synthese zugleich als Eigenschaften von Dingen aufgefaßt und daß zwischen diesen Dingen bestimmte Beziehungen als notwendig gedacht werden, verwandelt sich der Inhalt unserer Vorstellungen in das Bild einer Welt von Dingen, die miteinander in Verhältnissen stehen. Diese Verwandlung ist nicht mehr eine Sache der Sinnlichkeit, so sehr auch das gewöhnliche Bewußtsein von einer unmittelbaren Wahrnehmung von Dingen und ihren Verhältnissen sprechen mag. Die reine Wahrnehmung enthält nichts als Empfindungen in räumlicher und zeitlicher Anordnung; das reine Wahrnehmungsurteil ist, wie es HUME charakterisiert hatte, nur das Bewußtwerden einer räumlichen Koordination und einer zeitlichen Sukzession von Empfindungen. Alles was darüber hinausgeht, enthält eine Deutung der Wahrnehmungen, welche nur durch die Anwendung gewisser begrifflicher Beziehungen auf das Material der Empfindungen zustande kommt. Begriffliche Beziehungen aber sind nicht mehr die Funktion der Sinnlichkeit, sondern des Verstandes. Wenn also das gemeine Bewußtsein davon spricht, daß es Dinge mit ihren Eigenschaften und Verhältnissen "erfahre", so ist diese Erfahrung eine Tätigkeit, welche sich aus dem Zusammenwirken der Sinnlichkeit und des Verstandes ergibt, und die Erkenntnistheorie hat die Aufgabe, den Anteil, welchen jeder dieser Faktoren an diesem Produkt hat, genau festzustellen. KANTs scharfe Sonderung der Sinnlichkeit und des Denkens führt ihn daher zu der weittragenden Einsicht, daß in allem, was wir Erfahrung nennen, unsere Wahrnehmung bereits mit einer großen Anzahl von Funktionen des Denkens durchsetzt und von denselben verarbeitet ist. Offenbar ist dies nun aber eine ganz andere Art der Verarbeitung des Empfindungsmaterials als diejenige, welche man im eigentlichen Sinne als die logische bezeichnet. Die logische Funktion des Verstandes, Begriffe, Urteile und Schlüsse zu bilden, setzt bereits ein Material von Vorstellungen voraus, an welchem sich jene Objektivierung der sinnlichen Bilder durch verstandesmäßige Beziehungen betätigt hat. Es muß also neben den logischen Formen der Verstandestätigkeit noch andere geben, welche von einem viel tieferen Gebrauch und von einer viel innigeren Beziehung zur Anschauungstätigkeit sind, obwohl von der letzteren durchaus verschieden.

An diesem Punkt liegt die eigenste Bedeutung, welche KANT für die Erkenntnistheorie hat. Sinnliche Anschauungen und logische Formen ihrer Verarbeitung, das waren die beiden einzigen Elemente der Erkenntnistätigkeit, welche man vor ihm kannte, und wenn den Inhalt aller menschlichen Erkenntnis die notwendigen Beziehungen des Vorstellungsinhalts bilden, so suchte den Grund derselben der Rationalismus in den logischen Formen, der Empirismus im ursprünglichen Inhalt der Wahrnehmungen. Nun hatte sich KANT davon überzeugt, daß mit den logischen Formen eine sachlich neue Erkenntnis niemals gewonnen werden kann; er hatte aber auch durch die Konsequenz des HUMEschen Gedankens erfahren, daß die wichtigste aller Notwendigkeitsbeziehungen, diejenige der Kausalität, in der Wahrnehmung selbst nicht enthalten ist. Sollte es daher eine allgemeingültige und notwenige Erkenntnis von den Verknüpfungen des Anschauungsinhaltes geben, so war dieselbe weder durch die Anschauungen selbst nocht durch die logischen Formen noch durch die Verbindung von beiden zu gewinnen. Diese Folgerung hatte HUME gezogen, und im Hinblick auf sie gilt es, daß der größte der englischen den größten der deutschen Philosophen "aus dem dogmatischen Schlummer gerüttelt hat". Denn im Gegensatz dazu erhob sich nun KANT gleichzeitig über den empirischen Skeptizismus und über den logisch-formalistischen Rationalismus durch die größte seiner theoretischen Entdeckungen, diejenige nämlich, daß es neben den logischen noch andere Formen der Verstandestätigkeit gibt und daß in ihnen der Grund für alle notwendige und allgemeingültige Erkenntnis der Erfahrungswelt zu suchen ist. Diese Formen, welche im Gegensatz zu den rein logischen die erkenntnistheoretischen genannt werden dürfen, bezeichnete KANT als  Kategorien

Aus diesen Prämissen ergibt sich KANTs durchaus neue und schöpferische Stellung zur Wissenschaft der Logik. Von der alten Gestalt derselben, in welcher sie eine Theorie des Begriffs, des Urteils und des Schlusses sein will, behauptete er mit Recht, daß sie seit ARISTOTELES keinen wesentlichen Fortschritt gemacht habe. Aber über den Wert dieser logischen Formen des Denkens hatte er erkannt, daß sie lediglich eine formale Umbildung und Verdeutlichung eines schon gegebenen Stoffes zu gewähren imstande sind. So betrachtet, können die logischen Formen nicht mehr als Erkenntnisformen im eigentlichsten Sinn des Wortes gelten, und dann ist die Logik nicht mehr eine Theorie der Erkenntnis, sondern vielmehr eine Lehre von den Formen des richtigen Denkens, soweit dasselbe sich auf die analytische Behandlung eines irgendwie sonst schon feststehenden Vorstellungsinhaltes beschränkt. Mit dieser Auffassung wurde KANT zu einem Vertreter der  formalen Logik  im modernen Sinn des Wortes. Er lehrte, daß für die wissenschaftliche Betrachtung dieser Denkformen jede Berücksichtigung des Inhalts des Denkens fortzufallen und lediglich die Form des Gedankenfortschritts die Untersuchung zu beschäftigen habe. Die scharfe Scheidung, welche er mit LAMBERT zwischen dem Inhalt und der Form des Denkens gemacht hatte, erwies sich für seine Bestimmung der Aufgabe der Logik entscheidend, und unter diesem Gesichtspunkt behandelte er dieselbe in seinen Vorlesungen, deren Grundzüge auf seine Veranlassung von JÄSCHE (1800) herausgegeben wurden. Aber dieser formalen Logik setzte KANT nun eine  erkenntnistheoretische Logik  entgegen, welche sich zwar auch mit den Formen des Denkens, aber nicht mit den logischen, sondern mit den erkenntnistheoretischen, die er neu entdeckt hatte, beschäftigte und die Frage zu beantworten hatte, wie aus diesen Kategorien eine allgemeine und notwendige Erkenntnis hervorzugehen imstande sei. Das ist KANTs Begriff der  "transzendentalen Logik",  welche sich zum Denken ebenso verhält, wie die transzendentale Ästhetik zum Anschauen. KANT suchte nun zwar formale und transzendentale Logik als vollkommen gesonderte Wissenschaften zu behandeln. Wenn sich aber doch zeigte, daß sie sich in der Lehre vom Urteil nicht nur flüchtig berührten, sondern vielmehr auf das Innigste verwachsen waren, so ergab sich daraus als eine Aufgabe der Zukunft eine neue Gesamtbehandlung der Logik mittels einer Ineinanderarbeitung des formalen und des erkenntnistheoretischen Gesichtspunktes. Auf diese Weise ist in der Tat durch KANT nach ARISTOTELES der erste große Schritt zu einer Umbildung der Logik geschehen.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Die Blütezeit der deutschen Philosophie, Leipzig 1880
    Anmerkungen
    1) Man übersieht von hier aus vielleicht am einfachsten KANTs - historisch übrigens, so weit bekannt, völlig unvermittelte - Stellung zur  schottischen  Schule. Diese behauptete gegen LOCKE und die Assoziationspsychologie die Existenz "ursprünglicher Urteile", welche sie auf empirisch-psychologischem Weg konstatieren wollte. In gewissem Sinne decken sich dieselben mit KANTs synthetischen Urteilen a priori: nur mit dem Unterschied, daß die Schotten diese Urteile als absolute Wahrheit des Common sense anerkannten, während KANT ihre Berechtigung in Frage stellte. KANT fängt also genau da an, wo die Schotten aufhörten.
    2) Über den Terminus "ästhetisch" vgl. Bd. 1, Seite 515
    3) Daß auch die Beweisführung der Mathematik nicht in der Form des Syllogismus stattfinde, sondern auf anschaulichen Überführungen beruhe, hat KANT niemals behauptet. Diese Konsequenz hat erst SCHOPENHAUER zu ziehen versucht, während für KANT sich die Anschaulichkeit des mathematischen Verfahrens auf die Konstruktion der Begriffe und die der Beweisführung zugrunde liegenden Axiome beschränkt.
    4) Inwieweit diese Kantische Unterscheidung zwischen der Subjektivität der sinnlichen Qualitäten und derjenigen der räumlichen und zeitlichen Bestimmungen tatsächlich berechtigt ist, kann hier nicht untersucht werden. Die moderne Physiologie würde ihr kaum beitreten; sie würde vielmehr geltend machen müssen, daß es gleichmäßig auf beiden Gebieten bei der Wahrnehmung jedes Gegenstandes einerseits einen Kern gesetzmäßiger, allgemeiner und notwendiger Normalität, andererseits aber auch in der räumlich-zeitlichen Auffassung so gut, wie in derjenigen der einzelnen Sinne einen gewissen Umfang individueller und zufälliger Differenzen gibt. Es genügt jedoch hier zu konstatieren, daß KANT von jener prinzipiellen Verschiedenheit des Wertes der spezifischen Sinnesqualitäten und der raumzeitlichen Bestimmungen überzeugt war und die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser psychologischen Überzeugung gezogen hat.