p-3 RickertJ. ReinkeSchmidPalágyiJerusalem    
 
HANS DRIESCH
Über den Begriff "Natur"

"Wie wir auf die Kategorien Substanz und Kausalität Faktoren des Wirklichen gründen, wie diese Kategorien den Theorien der Materie und des anorganischen Geschehens zugrunde liegen, ganz ebenso gründen wir auf die Individualität Faktoren des Wirklichen und ganz ebenso liegt sie den biologischen Theorien zugrunde."

"Natur ist die Gesamtheit aller Faktoren und aller Folgen aller Faktoren, die sich auf den Raum und auf räumliches Geschehen beziehen, nicht nur der Faktoren und der Folgen der Faktoren, die im Raum sind."

1. Als Mechanismus bezeichnet man diejenige Auffassung der Natur, welche jedes Geschehnis in ihr, einschließlich der sogenannten "Lebens"-vorgänge im weitesten Sinne, eindeutig und vollständig bestimmt sein läßt durch die Konstellation eines Systems von Kraftzentren; anders gesagt: welche in allen Geschehnissen im Raum nur die Äußerungen eines sogenannten mechanischen Systems erblickt und nichts weiter.

Es ist ohne Bedeutung für das Prinzipielle dieser Auffassung, ob die mechanische Theorie, welche ihr zugrunde liegt, korpuskular oder dynamisch oder elektrodynamisch formuliert ist, ob sie die Kontinuitätslehre oder die Diskontinuitätslehre oder beide verwertet, ja auch, ob sie die sogenannte "Energetik" an die Stelle der Mechanik stellt oder nicht. Die Energetik, sogar die qualitative Energetik, ist keine "Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus" im weitesten Sinne dieses Wortes: auch sie läßt alles Raumgeschehen eindeutig und vollständig bestimmt sein durch die Beschaffenheit räumlicher Orte und durch nichts weiter.

Es ist des weiteren ohne Bedeutung für das Prinzipielle der mechanistischen Naturtheorie, ob sie im Sinne des rohesten metaphysischen Materialismus oder ob sie im Sinne des sublimsten epistemologischen Kritizismus oder ob sie im Sinne des sublimsten epistemologischen Kritizismus gefaßt wird; bedeutungslos für sie also ist es, ob "die Materie" mit ihren Zentralkräften als das allein absolut Wirkliche im wirklichen Raum gilt, oder ob ein unerkennbares Etwas angenommen wird, welches unter der räumlichen Form der Materie "erscheint". Damit hängt auch zusammen, daß jede mögliche Form der sogenannten "parallelistischen" Lehre der Psychologie für die mechanistische Theorie als Naturtheorie irrelevant ist; das Psychische mag eine Jllusion oder ein Epiphenomenon oder das ganze oder teilweise echt parallele Gegenstück des mechanistisch begriffenen Physischen sein: in jedem Fall ist der mechanistischen Naturtheorie das Nicht-Psychische, das "Physische", eine lückenlose Kausalreihe rein räumlicher Geschehnisse.

Dem Mechanismus jeder Art ist also "Natur" ein eindeutig und vollständig bestimmter Komplex von Faktoren, welche örtlich lokalisiert sind und im Raum wirken. Auch wieder Begriff des "Wirkens" im einzelnen gedacht ist, ist für den Mechanismus im Prinzipiellen gleichgültig. -

2. Ich habe vor zehn Jahren zum ersten Mal aufgrund der Analyse biologischer Tatsachen zu zeigen versucht, daß der Mechanismus als alles umfassende Naturtheorie sachlich falsch ist; daß es nicht-mechanische Naturphänomene gibt. Selbstverständlich kann ich hier meinen ersten und meine weiteren indirekten Beweis des Vitalismus oder, wie ich lieber sage, der Autonomie der Lebensvorgänge, nur kurz erwähnen: Mein erster Beweis gründet sich auf die Differenzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme, d. h. auf Experimentaltatsachen der Lehre von der Morphogenesis [Entwicklung von Organen oder Geweben eines pflanzlichen oder tierischen Organismus -wp]: Die Tatsache der proportionalen Ganzentwicklung von organischen Bruchstücken läßt sich nicht als Ausfluß irgendeiner präformierten physikalisch-chemischen Konstellation begreifen. Mein zweiter Beweis ist basier auf die Genese komplex-äquipotentieller Systeme, wie sie bei der Bildung morphogenetischer Ausgangspunkte, der Eier also, aber auch bei Regeneration, adventivem [nachtreibendem - wp] Ersatz und anderem eine Rolle spielen: es ist mechanistisch unverständlich, wie die vielen Eier eines Individuums ontogenetisch aus dem Urei hervorgehen können; dabei müßte ja etwas, das mechanistisch nur eine "Maschine", d. h. eine spezifische, äußerst komplizierte, dreidimensionale physiko-chemische Konstellation sein könnte, sich fortgesetzt teilen und doch sich selbst ganz bleiben können. Mein dritter Beweis der Lebensautonomielehre geht von einer Analyse der Handlung aus, mit ihren beiden Kriterien, der "historischen Reaktionsbasis" und der "Individualität der Zuordnung"; dieser Beweis ist Gedankengängen ähnlich, die von Vertretern der sogenannten psychophysischen Wechselwirkungslehre gegen die parallelistische Theorie vorgebracht worden sind; doch geht meine Argumentation nur auf die Naturfakten als solche: die Handlung als Raumphänomen, so schließe ich, kann nicht durch räumliche Faktoren eindeutig und vollständig bestimmt sein. Ein vierter und fünfter Beweis des Vitalismus möchten sich wohl aus der Analyse der Restitutionsreize und aus der Analyse einiger Probleme der Instinktlehre gewinnen lassen.

Alle meine Beweise sind, wie schon angedeutet, indirekte Beweise; sie widerlegen von nur zwei Möglichkeiten die eine und stabilisieren damit die andere. Zunächst sagen sie daher über die von ihnen stabilisierte Wirklichkeit noch gar nichts Positives aus; zunächst ist meine "Entelechie" nur ein Wort für ein X. Ich habe in meinen "Gifford Lectures" auch einen direkten Beweis der Lebensautonomie, gegründet auf eine introspektive Analyse des unmittelbaren Wirklichkeitserlebens, formuliert. Dieser Beweis gilt aber nur auf der Basis des solipsistischen Idealismus - dann: freilich ist er zwingend - und gilt nur für die Geschehnisse an meinem Körper als meinem wissenschaftlichen Objekt.

Ich muß Sie für das Folgende nun bitten, meine Beweise als zwingend, die Lehre vom Vitalismus oder von der Autonomie der Lebensvorgänge also als positiv erwiesen anzusehen. Wenn Sie es lieber wollen, mögen Sie sagen, daß ich im Folgenden ex hypothesi spreche: falls die vitalistische Lehre richtig ist, ist auch richtig, was allgemein naturtheoretisch aus ihr folgt. -

3. Es folgt nun allgemein naturtheoretisch aus der Lehre von der Autonomie des Lebens, daß "Natur" nicht erschöpfend gekennzeichnet wird, wenn man sie ein "mechanisches System" irgendwelcher Art nennt; Natur ist jedenfalls nicht nur ein mechanisches System.

Eine solche Auffassung widerspricht aufs Schärfste dem Mechanismus jeder Form, sie widerspricht wohl auch dem eigentlichen Sinn der nicht ganz eindeutig niedergelegten kantischen Auffassung des Lebens. KANTs "Kritik der Urteilskraft" wird bekanntlich von Mechanisten und von Vitalisten für ihre Zwecke verwertet, und sie kann leider von beiden verwertet werden. Ich kann hier auf diese andernorts von mirausgeführten Dinge nicht näher eingehen und sage daher nur kurz, daß KANT meines Erachtens zu seinem Schwanken in biologischen Dingen bestimmt wurde durch eine gewisse unbestimmte Abneigung, als "Natur" anzusehen, was nicht durchaus durch Räumliches bestimmt ist. Transzendent andererseits wollte er die determinierenden Faktoren der Lebensphänomene auch nicht nennen, und so blieb alles letzthin ungelöst. Doch kehren wir zur sachlichen Analyse zurück.

Mit dem Wort Entelechie habe ich diejenige Art von Naturfaktoren bezeichnet, welche neben den mechanistischen in Lebensphänomenen wirksam ist. Entelechie ist zunächst nur ein Wort, benutzt aus Hochachtung gegen seinen Schöpfer und ohne Identität auszusprechen mit der Bedeutung, die ARISTOTELES ihm gegeben hat. Wie schon gesagt, es bezeichnet zunächst ein X. Aber nun können wir ohne alle Schwierigkeit doch sofort einiges sehr Wichtige über dieses X aussagen. Freilich zunächst nur Negatives. Entelechie ist nicht ausgedehnt und hat keinen Ort oder Sitz im Raum. Diese Negationen aber haben gewisse positive Korrelate: Entelechie ist "intensiv-mannigfaltig" und hat Manifestationsorte im Raum; sie wirkt gleichsam in den Raum hinein, wenn der Ausdruck erlaubt ist - aber natürlich nicht von "außerhalb" des Raumes. Alles ist hier nur denkbar, nicht vorstellbar.

Wir können nähere Einsichten darüber gewinnen, wie Entelechie auf das Unorganische wirkt, wie sie gewissermaßen das Unorganische benutzt, und zwar können wir, wie ich in meinen "Gifford Lectures" zeigte, die hier vorliegenden Verhältnisse mit Bezug zum zweiten Satz der Energetik oder rein mechanisch formulieren. Doch gehört das alles und Verwandtes nicht eigentlich zu unserem heutigen Thema, ebenso wie nicht zu ihm gehört der strikte Nachweis, daß Entelechie keine "Energieart" und daß sie nicht von irgendeiner materiellen Konstellation als ihr "Ausfluß" oder ihre "Resultante" abhängig sein kann; nur ihre jedesmalige Leistung ist von einer solchen Konstellation abhängig.

Als indirekte Rechtfertigung des Entelechiebegriffs kann man alles bezeichnen, was über die Möglichkeit einer Inbeziehungsetzung von Entelechie und Anorganischem ausgemacht werden kann: als Rechtfertigung insofern, als gezeigt wird, daß sich mit der Entelechie, als mit einem essentiell zunächst vorwiegend negativen Begriff, doch arbeiten läßt.

Es kommt die positive Rechtfertigung dazu: es kann gezeigt werden, daß es neben den Kategorien der Substanz-Inhärenz und der Kausalität eine dritte gleichberechtigte Relationskategorie gibt; nicht "Wechselwirkung", wie KANT wollte, sondern "Individualität". Finalität würde eine besondere Unterart dieser Kategorie sein. Ohne den Besitz der Individualitätskategorie würde es unmöglich sein, über aus Teilen zusammengesetzte Ganzheiten eine Erfahrung irgendwelcher Art zu machen. Sogar die Mechanisten wenden diese neue Relationslehre unbewußt an, sonst wäre ihr ganzes Diskutieren unmöglich.

Die neue Relationskategorie, Individualität, ist, um kantisch zu sprechen, ebenso "konstitutiv" wie die Kategorien Substanz und Kausalität, und nicht etwa nur "regulativ", wie KANT es von seiner Teleologie behauptete. Wie wir auf die Kategorien "Substanz" und "Kausalität" Faktoren des Wirklichen gründen, wie diese Kategorien den Theorien der Materie und des anorganischen Geschehens zugrunde liegen, ganz ebenso gründen wir auf die "Individualität" Faktoren des Wirklichen und ganz ebenso liegt sie den biologischen Theorien zugrunde. Anders gesagt: die Kategorie Individualität erlaubt uns gewisse Faktenreihen der Gegebenheit zu "verstehen", und diesem Verstehen wird durch eine Schöpfung der Entelechie als eines Gegebenheitsfaktors Ausdruck verliehen. All das ist wieder ganz unabhängig von einem besonderen philosophischen Glaubensbekenntnis. Freilich ermangeln alle auf die Individualitätskategorie gegründeten Wirklichkeitsfaktoren nicht nur jeder Anschaulichkeit, was ja auch manche kausalen Faktoren, wie z. B. das Potential, tun, sondern sie ermangeln auch jeder Räumlichkeit, sogar des bloßen Ortes, wie wir gelegentlich der negativen Charakteristik der Entelechie bereits erwähnten.

4. Wir gelangen nun zu einem inhaltlich schon kurz vorweggenommenen Zentrum unserer Betrachtungen.

Was im Raum geschieht, ist nicht, wie die Mechanisten wollen, allein durch im Raum lokalisierte Faktoren bestimmt. Es gibt Geschehen im Raum - das "vitale" Geschehen -, welches nicht ableitbar ist aus den gegebenen Maßen, Geschwindigkeiten und beschleunigenden Kräften der gegebenen materiellen Elemente, oder, anders gesprochen, nicht aus den gegebenen Energiequanten und den Differenzen und Kupplungen energetischer Intensitäten. Wo vitales Geschehen ist, tritt Nicht-Raum-Geschehen in bestimmt angebbarer Weise in das Raumgeschehen hinein, nicht Energie schaffend - denn Entelechie ist keine Energie -, wohl aber den Ausgleich energetischer Potentiale regulierend.

Würde es nun angesichts dieser Sachlage irgendeine Berechtigung haben zu sagen: nur das reinräumliche, das anorganische Geschehen ist in seiner Gesamtheit "Natur", die Lebensvorgänge aber gehören nicht zur "Natur"? Natürlich wäre das per definitionem möglich - denn definitionsmäßig ist alles möglich -, aber es wäre höchst gekünstelt und ohne einen irgendwie sichtlichen intellektuellen Nutzen; ja, es wre der kategorischen Gleichstellung von "Kausalität" und "Individualität" geradezu zuwider. Manifestiert sich doch entelechiales Geschehen im Raum, wenn es auch nicht aus dem Raum herstammt.

Wir wollen also den Begriff Natur gegenüber einer weit verbreiteten Fassung desselben, die man in letzter Linie die cartesianische Fassung nennen könnte, erweitern, und wollen sagen: Natur ist die Gesamtheit aller Faktoren und aller Folgen aller Faktoren, die sich auf den Raum und auf räumliches Geschehen beziehen, nicht nur der Faktoren und der Folgen der Faktoren, die im Raum sind. Ein Teil von "Natur" kann also durchaus nur gedacht werden, aber er ist, obwohl nur noumenon in diesem Sinne, doch nichts Metaphysisches im Sinne eines absoluten Seins, zumindest braucht er das in keiner Weise zu sein: das noumenon kann hier als Bestandteil eines allgemeinen phainomenon auftreten. Das metaphysische Problem ist durchaus eine Sache für sich.

5. Es muß an dieser Stelle eingeschaltet werden, daß wir in unseren Begriff Natur nichts Psychisches im eigentlichsten Sinn des Wortes einbeziehen wollen. Selbst die Entelechie, soweit sie die Handlungen anderer Menschen leitet, ist für die objektive, die "Natur"-Betrachtung nichts Psychisches sensu stricto [im engeren Sinn - wp], sie bleibt ein Naturfaktor, der freilich nur mit psychologischer Terminologie in seinem Wirken analogiehaft verständlich beschreibbar ist. Sie mögen das für eine Pedanterie halten. Mir scheint aber, hier liegt wirklich ein fundamentaler Unterschied vor: Bewußtheit als solche kann nie zur Natur gehören, sie bezieht sich in keiner Weise auf ein Geschehen im Raum, das ja ihr Objekt ist. Reine Psychologie ist daher auch nie und nimmer Naturwissenschaft. Auf den Raum aber bezieht sich und zur "Natur" gehört deshalb ein gewisses Wirkliches, welches unmechanisch in Bezug auf Räumliches wirkt, soweit es das tut. Wohl können wir, wie schon gesagt, das Verhalten dieses Wirklichen nur psychologisch verstehen, aber das bleibt ein analogiehaftes Verstehen. Bewußtheit als solche ist nicht "Natur"; wir können metaphysisch wohl im Sinne eines seltsam anmutenden unmechanischen Parallelismus sagen, daß Bewußtheit gewissen autonomen unmechanischen Naturereignissen "parallel" geht. (1)

6. Wir wenden uns am Schluß zu einer Art von Anhang zu unseren Betrachtungen über das Leben als Naturbestandteil. Passend knüpfen wir dabei wieder an gewisse Punkte an, in denen wir mit KANT nicht übereinstimmen können.

KANTs Lebenstheorie erschien uns zweideutig. KANTs Philosophie des Moralischen erscheint uns, wegen der von ihm gelehrten völligen Losgelöstheit des Moralischen von allem übrigen Gegebenen, durchaus unannehmbar. Wie kann das Ethische einen irgendwie verpflichtenden Sinn haben, was es nach KANT soll, wenn es sich bezieht auf eine sogenannte "Welt", deren vollständige Unerkennbarkeit in jeder Beziehung ausdrücklich behauptet wird. Das Ethische ist doch jedenfalls auch Gegebenes. Bei KANT wird alle Gegebenheit in zwei, ja in drei völlig isolierte Teile zerrissen. SCHOPENHAUER faßt das Ethische nur metaphysisch und eleminiert es aus der determinierten Gegebenheit durchaus, aber KANT will das Ethische für die Gegebenheit retten und es zugleich auf das prinzipiell Nicht-Gegebene beziehen.

Die "Moralität" ist eine Kategorie, ebenso wie Kausalität und Individualität; wie letztere bezieht sie sich auf Räumliches, ohne selbst räumlich zu sein. Sie ist freilich zunächst nur eine regulative Kategorie: sie setzt beurteilend ein, wo immer die Beziehung zwischen den Handlungen zweier Menschen in Frage kommt. Ob Moralität in irgendeinem Sinn eine konstitutive Kategorie werden kann? Die Antwort auf diese Frage würde die Lösung des Problems erfordern, ob es überindividuelle, wahre, elementare Einheiten - etwa im Sozialen oder Historischen - gibt. Wir wissen es nicht und wollen hier nicht davon reden.

Wovon wir aber reden wollen, das ist dieses: Auch Moralität bezieht sich auf Natur, auch moralisches Handeln ist "natürliches" Handeln; es ist nur ein anderes Natürliches als unmoralisches Handeln. Nur auf diese Weise bleibt Gegebenheit in sich kohärent: alle Gegebenheit als raumbezügliches Objekt genommen ist "Natur".

7. Metaphysischen Ableitungen soll hiermit durchaus nicht vorgegriffen oder Halt geboten werden. Aber es soll gesagt werden, daß das Ethische kein Alleinvorrecht auf eine metaphysische Ausdeutung hat; es hat nicht einmal ein erstes Vorrecht.

Metaphysik kann vom Objekt, d. h. von der Natur oder vom Subjekt, d. h. von der Seele, oder von dem, was Subjekt und Objekt gemeinsam haben, d. h. von den Kategorien ausgehen; in allen Fällen muß sie sich mit allen Formen des Gegebenen abfinden. Nicht nur meine Bewußtheit und nicht nur das Kategoriensystem selbst, sondern auch Natur, d. h. die raumbezügliche objektive Gegebenheit, zeigt mir Substanz und Kausalität und Individualität und Moralität.

8. Nur also wenn der Begriff "Natur" so gefaßt wird, daß er die Gesamtheit dessen, was "Objekt" ist oder sich auf "Objekte" bezieht, unter sich begreift, ist ein in sich einheitliches Begreifen des als Objekt Gegebenen, und ist auch, weiterhin, eine einheitliche Metaphysik möglich.

In letzter Linie hängt die Einheitlichkeit unseres so erweiterten "Natur"-Begriffs ab von der Vollständigkeit und Einheitlichkeit des Systems der Kategorien.

Der umfassende Versuch, zu einem wirklich einheitlichen Weltbild zu gelangen, ist bekanntlich der HEGELs. Aber auch die Systeme von EDUARD von HARTMANN und von HERMANN COHEN sind einheitliche Systeme, wenn sie schon die intellektual-kategorische Seite der Moralität nicht anerkennen.

Mein eigenes biotheoretisches System hat bekanntlich enge Beziehungen zu demjenigen HARTMANNs, wennschon ich glaube, größeren Nachdruck auf seine sachliche Fundierung gelegt zu haben. Diese Übereinstimmung zwischen den von HARTMANN und von mir vertretenen biologischen Systemen spricht umso mehr für die Wahrheit der Sache, als ich HARTMANNs Doktrin erst kennenlernte, nachdem die wesentlichsten Punkte meiner eigenen vitalistischen Lehre bereits niedergelegt waren. Auch ist ja der Gang unserer Argumentationen durchaus verschieden.

Aber wir beide kommen nicht nur zu einer vitalistischen Lebenslehre, sondern auch zu einem Begriff der "Natur", der mehr umfaßt als nur die unmittelbaren Realitäten im Raum. -

9. Endlich noch eins: Manche Philosophen behaupten heutzutage, von der Naturwissenschaft führt nie und nimmer ein Weg zur Philosophie. Das ist richtig, soweit die Theorie des Erkennens in Frage kommt, aber nur in Bezug auf sie. Schon die Kategorienlehre entwickelt sich zumindest am Leitfaden der Naturlehre. Alle Metaphysik aber fußt geradezu auf ihr, wennschon nicht allein, so doch zu einem sehr großen Teil. Oder kann es etwa für die Metaphysik - ihre Berechtigung überhaupt zugestanden - gleichgültig sein, daß es so etwas wie materielle Unstetigkeiten, oder daß es so etwas wie die objektiven Lebensphänomene "gibt"? Würde wirklich das Weltbild eines Philosophen so sein, wie es jetzt ist, wenn er das einzige lebende Wesen wäre? Daß er nicht das einzige lebende Wesen ist, daß es Leben als Objekt gibt, das lehrt die Naturwissenschaft. Und sie lehrt auch, was das heißt. Damit aber wird Naturwissenschaft ein Fundament der Philosophie - freilich eine Naturwissenschaft, die den Begriff "Natur" universell und vollständig erfaßt hat.


DISKUSSION:

Nelson: Ich möchte mir einige methodische Bemerkungen zum Vortrag des Herrn DRIESCH erlauben. Ehe man sich daran macht, eine so schwierige und umstrittene Frage zu lösen wie die, ober wir zur Erklärung der organischen Prozesse eine Finalität anzunehmen haben oder nicht, erscheint es zweckmäßig und sogar notwendig, sich zunächst darüber klar zu werden, was man denn unter "Finalität" eigentlich verstehen will und zweitens, mit welchen Mitteln man die Frage ihrer Existenz beantworten zu können meint.

Was das Erste betrifft, so schließt der Begriff der Finalität offenbar den des Zwecks ein. Nach dem Sprachgebrauch kann man aber unter "Zweck" nichts anderes verstehen als die Vorstellung eines Gegenstandes, inwiefern sie die Ursache der Hervorbringung dieses Gegenstandes ist. Zwecke kann es also nur da geben, wo es ein vorstellendes Wesen, eine Intelligenz gibt. Eine Erscheinung durch die Annahme einer Finalität erklären, heißt daher jedenfalls, sie auf ein psychisches Agens irgendwelcher Art zurückzuführen. Dies stimmt insofern mit den Ausführungen Herrn Drieschs überein, als er ausdrücklich die Unräumlichkeit seiner "Entelechie" behauptet.

Zweitens: Welche Methode gibt es, um das Bestehen einer Finalität in den organischen Erscheinungen zu ermitteln? Man könnte diese Ermittlung auf zwei Wegen versuchen; auf einem empirischen oder auf einem spekulativen. Was zunächst den empirischen Weg betrifft, so könnte die Entscheidung entweder geradezu in einer unmittelbaren Beobachtung oder einem Experiment gesucht werden, oder aber mittelbar, durch Rückschlüsse aus den unmittelbar beobachteten Tatsachen. Nun können wir uns Beobachtungen und Experimente an den organischen Wesen denken, welche wir wollen, so wird doch immer der Bereich des durch Beobachtung und Experiment Erreichbaren auf räumliche Gegenstände eingeschränkt bleiben. Das Psychische ist kein Gegenstand möglicher äußerer Sinneswahrnehmung. Aus diesem Grund ist auch der Versuch, die vitalistische Lehre mittelbar, durch theoretische Rückschlüsse aus den Tatsachen, auf Erfahrung zu gründen, aussichtslos. Denn jedes zunächst hypothetische Hinausgehen über die Erfahrung ist - nach allen seit NEWTON anerkannten Regeln besonnener Naturforschung - nur insofern zulässig, als zumindest die Möglichkeit einer empirischen Bestätigung der gemachten Hypothese nicht ausgeschlossen ist. Diese Möglichkeit findet aber nach dem Gesagten für die vitalistische Hypothese nicht statt. Eine empirische Begründung der Annahme einer Finalität in den organischen Prozessen ist also unmöglich.

Bleibt nur noch der spekulative Weg. Dies wird eigentlich auch von Herrn DRIESCH zugegeben, wenn er erklärt, alles sei hier nur denkbar und könne in keiner Weise vorstellbar werden. Wenn Herr DRIESCH also versichert, metaphysischen Ableitungen nicht vorgreifen zu wollen, so steht diese Versicherung zu seinem wirklichen Vorgehen in einem offenbaren Widerspruch. Denn wenn man - nach dem bisher üblichen Sprachgebrauch - unter Metaphysik eine Erkenntnis der Dinge durch bloßes Denken versteht, so ist die vorgetragene Lehre des Herrn DRIESCH eine metaphysische. Ich will nun meinerseits die Zulässigkeit metaphysischer Untersuchungen nicht bestreiten; wohl aber muß ich die Forderung geltend machen, daß wer metaphysische Behauptungen aufstellt, sie auch begründet. Diese Begründung vermisse ich bei Herrn DRIESCH. KANT, gegen dessen Kategorienlehre sich Herr DRIESCH wendet, hat eine Methode angegeben, nach der sich das System der metaphysischen Grundbegriffe oder Kategorien vollständig aufstellen läßt. Will man also die kantische Kategorienlehre angreifen, so muß man entweder nachweisen, daß diese Methode verfehlt ist, oder aber, daß KANT in ihrer Anwendung geirrt hat. Herr DRIESCH hat weder das eine noch das andere getan, sondern nur die dogmatische Gegenbehauptung aufgestellt, daß die Finalität eine Kategorie ist.

Rudolf Goldscheid: Es ist ganz unberechtigt, apodiktisch zu behaupten, die Lebensvorgänge - welche wohl zu unterscheiden sind von den psychischen Vorgängen - werden sich niemals vollständig physikochemisch begreifen lassen. Man darf höchstens sagen: bisher ist es nicht gelungen, ihre rein physikalisch-chemische Natur exakt nachzuweisen. Eine restlose Kenntnis ist uns überhaupt versagt. Die Erkenntnis ist ein unendlicher Entwicklungsprozeß. Nicht nur als Nacheinander, sondern auch als Nebeneinander. Die Chemie fußt auf der Physik, die Biologie auf Chemie, die Psychologie auf der Biologie und so fort in infinitum. Soviel ist aber sicher, aufgrund des gegenwärtigen Standes des Wissenschaft müssen wir einsehen: wir können an den Lebensvorgängen nur das wissenschaftlich erfassen, was sich auf mechanische, bzw. auf energetische Faktoren zurückführen läßt. Der Vitalismus ist das Bestreben, den Mechanismus zu verfeinern. Ein eigenes System besitzt er nicht. Auch DRIESCHs Entelechie ist nichts Anenergetisches. Sie ist nichts anderes als die Funktion der Kausalität der Vergangenheit. Sie ist eine Richtungskomplexion. Mit den Richtkräften, Dominanten etc. läßt sich aber gegen die zur Energetik fortgebildete mechanistische Weltanschauung kein Staat machen. Die Richtungsintensität tritt nicht erst im Organischen als neues Element auf. In meinem Vortrag über das "Richtungsproblem" habe ich gezeigt, daß es andere als gerichtete Kräfte im Naturgeschehen überhaupt nicht gibt. Die Welt ist ein System von Richtungsintensitäten. Da alle Kräfte gerichtete Kräfte sind, könnten die Richtkräfte, die metaphysischen "Agentien" höchstens Agentien mit dem Vermögen zu einem spontanen Richtungswechsel sein. Die Richtkräfte der Vitalisten sind also Kräfte, die keine Kräfte sind und keine Richtung haben. Ein Nonsens schon in der Definition! Ist aber mit den Richtkräften der geschlossene Kausalzusammenhang nicht zu sprengen, so auch nicht mit den Entelechien. DRIESCH muß darum notwendig immer wieder in die Energetik zurückfallen. Im geschlossenen Kausalzusammenhang, wie ihn das Erhaltungsprinzip nachweist, ist kein Platz für prinzipiell energetisch unkontrollierbare Agentien. Man kann die Einheit der Natur nicht in zwei Gebiete zerreißen, wo in dem einen das Erhaltungsprinzip gilt, in dem anderen nicht. Die Kausalität ist, wie schon SCHOPENHAUER treffend bemerkte, kein Fiaker, den man nach Belieben wegschicken kann. Was der Vitalismus zur Verfeinerung der Mechanistik der Lebensanschauungen durch seine Kritik beigetragen hat, soll nicht geleugnet werden. DRIESCH hat in dieser Hinsicht ebenso Wertvolles geleistet, wie die kritischen Mechanisten selber. Eine vitalistische Weltanschauung kann es aber nicht geben. Der Vitalismus ist nicht selbständig positiv, sondern nur als Opposition von Bedeutung. Er reinigt das Gold der Mechanistik von den ihm anhaftenden Schlacken; aber wenn er auch ganze Waggonladungen von Schlacken fortschleppt, während den Mechanisten nur relativ geringe Mengen reinen Goldes bleibt, so dar er deshalb nicht triumphierend rufen: Seht, wie reich ich bin! Er wird niemals ernten, was er nicht gesät hat!

Elsenhans 1. KANTs Lehre vom Leben ist allerdings schwankend, aber - konsequent ausgedacht - durchaus mechanisch als wissenschaftliche Erklärung, teleologisch als Betrachtungsweise.

2. Wenn gegen Dr. DRIESCH eingewandt wurde, das "Noch Nicht" der Erklärung sei noch kein "Niemals", so wird seine Auffassung dadurch nicht getroffen. Denn DRIESCHs Experimente suchen zu zeigen, daß am Mechanismus ein Geschehen vorkommt, das dem Wesen des Mechanismus widerspricht. Die Individualität als Kategorie zu bezeichnen, halte ich jedoch für nicht unbedenklich. In gewissem Sinn ist alle Wirklichkeit individuell. Die Kategorien aber sind Formen, in denen wir die Wirklichkeit verstehen, und mit ihrer Hilfe auch das Individuelle zu erfassen, ist die unendliche Aufgabe der Wissenschaft. Auf das Nichtmechanische Geschehen im Organismus würde ich jedoch lieber nicht den Begriff der "Entelechie" anwenden, sondern den der biologischen Kausalität, die neben einer mechanischen und psychischen Kausalität anzunehmen ist.

Staudinger stellt zwei Fragen: 1. Warum für die Tatsache, daß der Weltzusammenhang tatsächlich außer der durch Größen zu bestimmenden Seite noch eine Menge anderer (Farben, Töne, Gedanken, Gefühle, denn wir gehören auch zur Natur) Seiten enthält, ein besonderer geheimnisvoller Faktor Entelechie? 2. Kann irgendeine Größe infolge dieser Entelechie größer oder kleiner werden? Wenn nicht, was gibt dann der Vitalismus für eine besondere Erklärung?

Driesch (Schlußwort): Der Redner bedauert, daß alle Opponenten insofern nicht zum Thema redeten, als sie nicht die Berechtigung des erweiterten Naturbegriffs als solche, sondern beiläufig erörterte Punkte sekundärer Bedeutung angriffen. - Gegen Herrn NELSON bemerkt der Vortragende erstens, daß er (Redner) Metaphysik gleich der Lehre vom absoluten Sein setzt, daß daher seine eigene Lehre nicht Metaphysik ist, doch könne man natürlich dem Begriff Metaphysik auch einen anderen Inhalt geben per definitionem; zweitens, daß seine Methode in der Beweisführung zugunsten des Vitalismus darin besteht, die Denkbarkeit einer "Maschine" (= typische Konstellation anorganischer Faktoren) auszuschließen; warum soll diese Methode nicht anwendbar und die Gewinnung eines sicheren Wissens über das Leben nicht möglich sein? ; drittens, daß sich die Kategorie der "Individualität" oder "Finalität" sehr wohl deduzieren läßt aus der Tafel der Urteile, wenn man nur die Gruppe der hypothetischen Urteile ("wenn ...") gehörig klassifiziert ("weil, "damit" etc.). - Gegen Herrn GOLDSCHEID bringt der Redner erstens den zweiten gegen Herrn NELSON erörterten Punkt vor; zweitens verweist er für angeblich fehlende positive Aussagen über den Entelechiebegriff auf seine im Erscheinen begriffenen "Gifford Lectures"; drittens führt er aus, daß Herr GOLDSCHEID ihm eine allgemeine statische Teleologie (in der Terminologie des Redners) zu vertreten scheint, daß eine solche als Grundlage des Lebens aber eben unmöglich ist; viertens bemerkt er, daß doch apriori kein Grund vorliegt, warum die Natur nicht in separierte Sphären zerfallen soll, wenigstens für die erste Betrachtung; eine Metaphysik kann da ja wieder Einheit schaffen. - Zu Herrn ELSENHANS, mit dem er in vielem übereinstimmt, weist der Redner zunächst auf eine dubiose, sich auch BLUMENBACH beziehende Stelle der "Kritik der Urteilskraft" hin; er bemerkt zweitens, da er "Individualität" sagt und nicht, oder doch erst in zweiter Linie, "Finalität", um vitales Geschehen nicht durchaus unter dem Gesichtspunkt menschlichen Handelns erscheinen zu lassen; drittens möchte er alles unmittelbar Wirkliche zwar spezifiziert, aber nicht individualisiert nennen; Berge, Wolken, Inseln etc. sind letzteres nicht, da das Ganze hier nicht die Teile bestimmt. - Zu Herrn STAUDINGER hebt der Redner hervor, daß sein Vitalismus nicht von einem "größer oder kleiner" in Bezug auf das Geschehen in der Natur sondern nur von Ordnung in Bezug auf dieses Geschehen spricht; der erste Energiesatz bleibt, wie des Näheren in den "Gifford Lectures" erörtert, durch den Vitalismus gänzlich unberührt.
LITERATUR - Hans Driesch, Über den Begriff "Natur", Bericht über den III. internationalen Kongreß für Philosophie, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    1) Näheres hierüber in meinen Gifford Lectures, Vol. II, Seite 293. - Man vergleiche auch die Beziehung des metaphysischen Unbewußten zur Bewußtheit bei EDUARD von HARTMANN.