ra-2ra-2H. RitterF. StaudingerF. BodenA. SpirF. A. Lange    
 
SIGMUND EXNER
Die Moral als Waffe
im Kampf ums Dasein

[Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 30. Mai 1892]


"Warum ist eine Handlung sittlich? Hierauf fanden wir die präzise Antowrt: weil sie der Sozietät zum Vorteil gereicht. Diese Beantwortung involviert, daß der sittliche Wert einer Handlung vollkommen unabhängig ist vom Handelnden und von allen Intentionen und Motiven der Handlung. Die sittliche Handlung ist ein Naturprodukt, ein Resultat des Kampfes ums Daseins, unabhängig von allem, was wir Willen des Individuums nennen, ein Naturprodukt, wie das Honigsammeln der Biene, wie der Zug der Vögel, wie die Liebe zu den Kindern; die Sittlichkeit drängt den Menschen mit Naturkraft, im gegebenen Fall so und nicht anders zu handeln, wie die Wandersucht den Zugvogel drängt, im Herbst in den Süden zu fliegen."

"Die Moralgesetze als Naturgesetze sind hart gegen das Individuum, für sie besteht nur die Gesamtheit und deren Wohl, denn diese Gesamtheit besteht, wenn die Individuen von heute längst verschwunden sind. Welches Ziel aber ist ein höheres, das, welches die Moral als Naturkraft anstrebt, oder jenes, das ein in schwächliche Bahnen geleitetes, durch wissenschaftliche Mißverständnisse emporgehobenes Billigkeitsgefühl zu erreichen sucht, das nichts sieht, als was im Moment von den leiblichen Augen steht?"

Wenn in unseren Zeiten der ins Unabsehbare angewachsene Inhalt der Wissenschaften und die sich jährlich mehrenden Hilfsmittel und Methoden ihres Betriebes eine die Wertschätzung des Ganzen geradezu gefährdende Spezialisierung der Wissenszweige zur Folge hatten, wenn insbesondere die sogenannten Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften sich in einzelnen Gebieten durch Methode und Inhalt so verschieden gestaltet haben, daß ihre Denk- und Sprachweise gegenseitig fast nicht mehr verstanden wird, und man versucht sein könnte, nach dem gemeinsamen Band zu fragen, das die sämtlichen Bestrebungen verknüpft, die in dieser hohen kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, in welcher ich heute zu sprechen die große Ehre habe, vertreten sind, dann, hochgeehrte Versammlung, ist es eine ebenso tröstende, wie erfreuliche Erscheinung, daß andererseits bisher schroff getrennte Wissenszweige in den letzten Jahrzehnten eng aneinandergerückt, ja teilweise miteinander verschmolzen sind, gleichsam nach lange währender gegenseitiger Verstimmung, dem natürlichen Verwandtschaftsdrang folgend, sich als Schwesterwissenschaften wieder erkannt haben.

Es gilt das von mancherlei Zweigen wissenschaftlicher Bestrebungen, insbesondere auch von der Philosophie und der Physiologie, oder genauer gesagt, der Psychologie und der Physiologie des Gehirns. Wer wollte heute die Grenze zwischen diesen beiden ziehen? und wer wollte leugnen, daß die psychologischen Lehren von den bewußten Empfindungen, von den Willensbewegungen, von der Sprache und dem Sprachverständnis eine tiefgreifende Umgestaltung erfahren haben, seitdem die Physiologie des Gehirns, die noch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts kaum existierte, von einer ganze anderen Seite her in diese Gebiete vorgedrungen ist.

Es sei mir heute der Versuch gestattet, auch einen anderen Zweig der Philosophie, in dem diese bisher fast ausnahmslos als Alleinherrscherin anerkannt wurde, vom biologischen Standpunkt aus zu betrachten, nämlich die Grundprinzipien der Ethik.

Ich sage, die Ethik wurde bisher  fast  ausnahmslos nach philosophischer Art behandelt, denn die alle organischen Wesen umfassenden Ideen des großen Denkers CHARLES DARWIN reichen auch in dieses Gebiet, und DARWIN selbst beschäftigt sich in seinem Werk "Die Abstammung des Menschen" ziemlich ausführlich mit den Fragen nach dem Grund menschlicher Moral und Gesittung: Andere Forscher, auch Philosophen, z. B. HERBERT SPENCER (1), haben diese Ideen aufgenommen und weitergeführt, und kaum wird es einen Naturforscher geben, der den betreffenden Darlegungen DARWINs nicht zustimmen würde.

Auch hier begegnen wir der erfreulichen Tatsache, philosophische und naturwissenschaftliche Forschung einmütig auf demselben Weg zu finden, denn die Mehrzahl der lebenden Philosophen - ich werde mich darin nicht irren - nennt moralisch gut jene Handlungsweise, welche geeignet ist, unter den gegebenen Verhältnissen das Wohl der Gesamthit zu hüten und zu fördern. So findet ZIEGLER (2) den Maßstab dafür, ob eine Handlung gut sei oder nicht, in ihrer Beziehung zur Gesellschaft.
    "Es ist das Prinzip der allgemeinen Wohlfahrt, der Gedanke des größtmöglichen Glücks möglichst aller oder doch möglichst vieler."
Die DARWINsche Auffassung gelangt aufgrund der Selektionstheorie zu einem identischen Begriff des Guten. So wie sich im Kampf ums Dasein persönliche Eigenschaften ausgebildet haben, die der Erhaltung des Individuums dienen, so wie sich Eigenschaften ausgebildet haben, die der Erhaltung der direkten Nachkommenschaft dienen, ebenso haben sich bei all jenen Wesen, die in Stämmen, in Rudeln oder einer anderen Form von Sozietät leben, Eigenschaften entwickelt, welche dem Schutz der Sozietät und dadurch wieder indirekt der Erhaltung des Einzelnen und seiner Nachkommenschaft zum Vorteil gereichen.

Ich brauche hier nicht auf all jene Beispiele einzugehen, die sich aus dem Tierleben dafür anführen lassen, daß das einzelne Individuum seine persönlichen Vorteile zurücksetzt, ja Gefahren und den Tod nicht scheut, um für die Erhaltung der Gesamtheit zu sorgen. Es genügt zu erinnern, daß die Gemse, indem sie ihren bekannten Warnruf ausstößt, sich selbst dadurch dem Feind verrät, also gefährdet, sie macht aber alle Genossen des Rudels die in weitem Umkreis verstreut sind, auf die nahende Gefahr aufmerksam, schützt demnach diese auf eigene Kosten; oder daß Krähen Wachen aufstellen, welche auf einem Baum sitzend Ausschau halten, damit die anderen Individuen der Schar ruhig der Stillung ihres Hungers auf Acker und Wiese nachgehen können: das Individuum leidet also wenigstens vorläufig Hunger, zugunsten der übrigen.

Ähnliches sehen wir bei allen in Sozietäten lebenden Tieren von den geistig niedrig stehenden Insekten angefangen - jede Biene opfert ihr Leben, wenn sie dem ihren Stock gefährdenden Feind ihren Stachel einbohrt (3) - bis zu den in Rudeln lebenden Affen. (4)

Auch der Mensch steht seit vielen Tausenden von Jahren unter dem Einfluß des Kampfes ums Dasein, auch bei ihm haben sich in diesem Kampf Eigenschaften ausgebildet, die dem Schutz des Individuums, andere, die dem Schutz der direkten Nachkommenschaft dienen, auch der Mensch lebt gesellig, sollten hier nicht gleiche Ursachen gleiche Wirkungen gehabt haben? sollten sich nicht auch beim Menschen durch den Kampf ums Dasein Eigenschaften entwickelt haben, die dem Schutz der Sozietät dienen? Und haben diese Eigenschaften nicht die innigeste Beziehung zu dem, was wir Sitte und sittlich, was wir Pflicht und Tugend nennen? Ich denke, es könnte sich lohnen, diese Begriffe einmal von diesem weiteren Gesichtspunkt aus ins Auge zu fassen, von dem aus sie als eine kleine Gruppe in einer großen Masse von Phänomenen des menschlichen Tuns und Lassens erscheinen, welche sämtlich das Produkt einer natürlichen Züchtung sind, herangewachsen im Kampf ums Dasein zur Erhaltung des Individuums, seiner Nachkommenschaft und seiner Sozietät.


Zunächst möge festgestellt sein, daß es gewisse Eigenschaften, die wir dem Gebiet der Moral zurechnen, an den Menschen gibt, welche, soweit die Geschichte nach rückwärts und die Völkerkunde in die Breite reicht, stets in demselben Sinn gewürdigt worden sind. Mut und Tapferkeit wurden von jeher für etwas Gutes, Feigheit für etwas Schlechtes gehalten, und heute noch urteilt der Wildeste der Wilden, wie der höchst Zivilisierte darüber in gleicher Weise. Und der Knabe, dem der Begriff des Guten und Bösen noch kaum aufgegangen ist, wird wegen seiner Feigheit von den Spielgenossen verhöhnt, wegen seines Mutes und seiner Unerschrockenheit ebenso gelobt und geschätzt. Mut und Tapferkeit aber sind Eigenschaften, die in der ausgesprochendsten Weise dem Schutz der Sozietät dienen, und wenn  Jason  allein auf der Welt gewesen wäre, so würde er sich durch seine Reise nach Kolchis und die Tötung des Drachens nicht als Held erwiesen haben, sondern als Narr. Für einen  Robinson  gibt es keine Tapferkeit als Tugend, sondern nur die  Raison [Vernunft - wp], dies zu tun und jenes zu unterlassen, und ein größeres oder geringeres Geschick in der Ausführung.

Wortbruch, Treulosigkeit und Mord sind, abgesehen von ganz speziellen Ausnahmefällen, bei allen Völkern in gleicher Weise als schändlich angesehen, wenn sie einem Mitglied der Sozietät gegenüber geübt werden, sie sind in vielen Fällen als zulässig, ja als Pflicht geschätzt, wenn sie Mitglieder anderer Sozietäten betreffen und denen der eigenen nützen.

Es ließe sich eine lange Reihe von Beispielen anführen, welche zeigen würden, daß für gut gehalten wird, was der Sozietät nützlich ist, und daß, wenn man zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern nicht immer dasselbe Urteil über den moralischen Wert einer Handlung gefällt hat, dies eben daher rührte, daß die Lebensbedingungen, die Bedürfnisse und die Zwecke der Sozietät auch verschiedene waren. Ich erlasse mir die Beispiele dafür, habe ich doch schon darauf hingewiesen, daß sich in diesem Punkt philosophische und naturwissenschaftliche Denkrichtung begegnen, daß diese Auffassung als allgemein akzeptierte zu betrachten ist.

Woher stammt aber die Neigung des individuellen Menschen, die Tugenden hochzuhalten, die Laster zu verurteilen? Gewiß nicht aus der Erfahrung des Einzelnen über die Nützlichkeit der moralischen Handlung für die Gesamtheit. Daß dies nicht der Ursprung ist, geht schon daraus hervor, daß man Jahrhunderte lang darüber streiten konnte, ob die moralische Handlung eben durch ihre Nützlichkeit moralisch ist. Es könnten also Traditionen sein, ungeschriebene Gesetze, die sich eben durch ihre Nützlichkeit gegenüber abweichenden Anschauungen erhalten haben, deren Ursprung aber dem Gedächtnis der Sozietät längst entschwunden und dem Einzelnen unzugänglich geworden ist. Diese Traditionen müßten dann jedem Individuum im Laufe seines Lebens mitgeteilt und eingepflanzt werden. Zweifellos ist das vielfach der Fall und jede Erziehung enthält als einen integrierenden Bestandteil die Übertragung der Tradition dessen, was die Sozietät für moralisch hält. Aber diese Erziehung setzt eine wichtige Tatsache voraus, nämlich,  daß der Mensch überhaupt die Fähigkeit besitzt, Vorgänge in und an seinen Genossen mit moralischen Empfindungen zu verknüpfen. 

Jede Empfindung ist der subjektive Eindruck eines physischen Vorgangs, der Erregung gewisser Nervenbahnen und Nervenzentren, welche, zumindest wenn sie ein gewisses Maß überschreitet, sich äußerlich kund tut indem das Herz anders schlägt, sich die Gefäße verändern, gewisse Muskeln gespannt werden oder erschlaffen, die Atmung alteriert [verändert - wp] wird usw. In diesen Verknüpfungen spricht sich zugleich der Charakter der Empfindung als einer angenehmen oder unangenehmen aus. "Der lustvoll gefärbte Affekt ist mit Angriffsbewegungen, der unlustvolle mit Abwehrbewegungen assoziiert", sagt MEYNERT (5).

Derartige Empfindungen begleiten in einem nennenswerten Ausmaß durchaus nicht alle psychischen Wahrnehmungen und die Verknüpfung von Empfindungen und Wahrnehmungen ist, wenn wir wieder einen Blick auf die Tierwelt werfen, bei verschiedenen Arten eine sehr verschiedene. Manche Tiere, z. B. Hunde, zeigen sehr lebhafte Empfindungen beim Schmerzensschrei eines anderen Hundes (6), während wir wohl sicher annehmen dürfen, daß sie das Schreien einer gefangenen Ratte oder eines Hasen vollkommen kalt läßt. Die mächtigsten Naturerscheinungen, z. B. die Kunde vom Untergang eines Sternes, lassen das Empfindungsleben auch des gebildetsten Mannes, der sich die Vorstellung eines solchen Weltereignisses wohl entwickeln kann, unbeirrt, da Individuum und Sozietät dabei aus dem Spiel sind, und andererseits: welcher Sturm sozialer Empfindungen, entfesselt durch die Vorstellung von Tugend und Tapferkeit, Verschlagenheit und Hinterlist, tobt in der Brust des Knaben bei der Lektüre von Heldenkämpfen oder uralten Mythen, die zwar auch für Individuum und Sozietät gar kein aktuelles Interesse mehr haben, die aber doch dem Gedankenkreis des sozialen Lebens angehören. Der Knabe ist fähig, sich für seine Helden zu begeistern, d. h. er besitzt die Eigenschaft, gewisse Vorstellungskombinationen mit intensiven Empfindungen zu verknüpfen, und diese Kombinationen betreffen, nebst anderen, die Vorstellungen jener menschlichen Eigenschaften, die sich als nützlich für die Sozietät erwiesen haben. Die Fähigkeit einer solchen Verknüpfung von Vorstellung und Empfindung ist angeboren. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß auch der Inhalt der Vorstellungen und der Empfindungen angeboren ist. Hier ist vielmehr der Punkt, an welchem die Erziehung einsetzt und im Laufe der Generationen immer wieder dafür sorgt, daß die richtige Vorstellung mit der richtigen Empfindung assoziiert wird.

Man kann nun allerdings die Frage aufwerfen, ob nicht doch auch von der Art dieser Verknüpfungen etwas in die embryonale Anlage des Zentralnervensystems übergegangen ist. Wir sahen ja, daß, wenn im Menschen beim Anblick einer Heldentat die Empfindungen des freudigen Stolzes ausgelöst werden, dies auf gewissen physischen Veränderungen beruth, und wenn derselbe Anblick bei einem anderen Menschen andere Empfindungen auslöst, so mß das auf einer physischen Verschiedenheit beruhen. Nun vererben sich ja physische Eigenschaften. Es erscheint deshalb nicht ausgeschlossen, daß bis zu einem gewissen Grad außer der Fähigkeit sozialer Empfindungen auch die Richtung derselben vererbt wird, das heißt dem Menschen wie den Tieren angeboren ist. Das oben angeführte Beispiel von der Sympathie der Knaben mit dem mutigen Genossen oder die ausgesprochene Art ihrer Empfindungen bei der Lektüre von Heldensagen möchte wohl schwer ganz auf Erziehung zurückzuführen sein; dasselbe gilt vom Gefühl des Mitleids, dieser eminent sozialen Empfindung, von der schwer zu glauben ist, daß ihr Charakter als "Leid" nicht angeboren ist.

Es fällt nicht schwer, analoge Verhältnisse, wie die eben dargelegten, auch in anderen Empfindungsgebieten aufzuweisen (7). Ich wähle eine Empfindung, die im Laufe des Kampfes ums Daseins  zum Schutz des Individuums  herangebildet worden ist.

Es ist bekannt, daß pflanzenfressende Tiere Giftpflanzen vermeiden. Man müßte ihrem Verstand zuviel zutrauen, wollte man glauben, daß sie eine bewußte Kenntnis von den Folgen des Genusses jener Pflanzen haben. Es muß sie vielmehr irgendeine Empfindung des Abscheus davon abhalten, diese Pflanze zu fressen. Suchen wir in unseren Empfindungen nach einer, die der jener Tiere möglichst ähnlich ist, so finden wir die des Ekels. Sowie wir den Tieren einen Instinkt in der Auswahl ihrer Nahrung zuschreiben, so müssen wir natürlich auch die Ekelempfindung des Menschen als eine instinktive Empfindung betrachten, und in der Tat ist sie ein Instinkt, der das Individuum vor Schädlichkeiten und Gefahren schützt. Wir ekeln uns im allgemeinen vor Schädlichem, vor häßlichen Krankheiten, die vielfach ansteckend sind, vor Sekreten und Exkreten des Menschen, die dieselbe Gefahr in sich bergen, vor faul gewordenen Nahrungsmitteln, die Krankheiten erzeugen, vor Amphibien und Reptilien, die oft giftig sind usw. Wir haben es also mit einem Instinkt zu tun, der, wie andere Instinkte (8), generalisiert und nur im Großen und Ganzen das Richtige trifft. Auch bei dieser Ekelempfindung, so ausgesprochen sie ist, wird wesentlich die  Fähigkeit  zur Empfindung, nicht der Inhalt, vererbt. Denn wenn die Erziehung und die erworbenen Kenntnisse das Generalisieren überflüssig machen, dann kan die Verknüpfung zwischen Vorstellung und Empfindung gelöst werden, wie die Tätigkeit des Arztes zur Genüge beweist und wenn jemand einmal weiß, welche Tiere giftig und welche nicht giftig sind, dann schwindet der Ekel einer unschuldigen Eidechse oder Natter gegenüber. Andererseits lehrt die Erfahrung, daß einem Kind leicht der Ekel vor unschädlichen Objekten beizubringen ist und daß diese Assoziation dann häufig durch das ganze Leben währt.

Hier haben wir es also mit einem seinem Ursprung nach durchaus begreiflichen und zum Schutz des Individuums wohl entwickelten Instinkt zu tun, sehen aber auch, daß wesentlich nur die Fähigkeit, jene instinktiven Empfindungen durch Vorstellungen auszulösen, erblich ist. Welche Vorstellungen die Auslösung bewirken, ist größtenteils abhängig von Erziehung und Erfahrung des Individuums. So werden wir zum Schluß gedrängt, daß in beiden betrachteten Fällen der Mechanismus in der Verknüpfung von Vorstellung und Empfindung wesentlich gleichartig ist, daß wir also auch im ersten Fall von instinktiven Empfindungen zu sprechen haben.

Die Begriffe von Gut und Schlecht, von Tugendhaft und Lasterhaft beruhen auf Empfindungen, die den sozialen Instinkten der Menschen angehören. 

Ein großer Teil seines Empfindungslebens führt also den Menschen dazu, sich nicht allein als Individuum, sondern auch immer in seinen Beziehungen zu den Genossen zu betrachten. Hieraus entspringen seine Ideale, entspringt sein Gewissen. Der sonst so kalte IMMANUEL KANT (9) ruft aus:
    "Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich füht, in dir faßt, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohst, was eine natürliche Abneigung im Gemüt erregt und schreckt, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüt Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn auch nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenngleich sie insgeheim ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft?"
Und der sinnige THEODOR FECHNER (10) sagt:
    "Der Mensch weiß oft nicht, woher ihm seine Gedanken kommen, es fällt ihm etwas ein, es wandelt ihn eine Sehnsucht, eine Bangigkeit, eine Lust an, von der er sich keine Rechenschaft zu geben vermag, es drängt ihn eine Macht zu handeln oder es mahnt ihne eine Stimme davon ab, ohne daß er sich eines eigenen Grundes bewußt ist. Das sind Anwandlungen von Geistern, die in ihn hineindenken, in ihn hineinhandeln von einem anderen Mittelpunkt aus als seinem eigenen."
Jawohl, möchte ich heute diesen vor Jahrzehnten gesprochenen Worten nachrufen, das sind Stimmen, das sind Anwandlungen von Geistern, die in den Menschen hineinrufen, in ihn hineindenken, hineinhandeln; diese Geister lebten, sie sind unsere Voreltern seit Hunderten von Generationen, und die Stimmen, sie sind ihre Empfindungen, die sie im Busen gehegt und die sie uns als unser bestes Erbteil mit ins Leben gegeben, und die Summe dieser Empfindungen ist zusammegefaßt in das große Wort, die Pflicht. Die Frage KANTs, "woher stammst Du?" wird der Mensch stets beantworten müssen durch jene FECHNERschen Geister, die in ihn hineindenken, "von einem anderen Mittelpunkt aus als seinem eigenen", d. h. niemals aufgrund von Erfahrungen der Person, immer aufgrund von Erfahrungen der Gesamtheit.


Man kann die Empfindungen, welche unser seelisches Leben beherrschen, einteilen in solche, welche erstens dem Vorteil des Individuums dienen; zu ihnen gehören nicht nur instinktive Empfindungen, nach der Art des als Beispiel angeführten Ekels, sondern auch alle Sinnesempfindungen, die uns vor körperlichen Gefahren warnen (als Schmerz), uns arbeitstüchtig machen, also nähren helfen usw. Zweitens in jene, die dem Vorteil der direkten Nachkommenschaft dienen und drittens in die Gruppe von Empfindungen, die den sozialen Instinkten angehören. Es gibt Tiere, denen diese letzte Gruppe fehlt, andere, nämlich alle gesellig lebenden Tiere besitzen die sozialen Instinkte, und damit hat auch ihr Leben etwas von einem Idealen, etwas von Pflicht, von dem Bewußtsein "ich soll", von einer Unterordnung unter allgemeinere, wenn auch unerkannte Mächte mitbekommen. Ich mache darauf aufmerksam, daß alle uns geläufigen domestizierten Tiere im wilden Zustand gesellig leben. Der Hund (11), der Elefant, das Pferd (12), das Rind, die Ziege, das Schaf, das Lama, das Schwein, die Hühnervögel, Gänse, Enten, alle sind sie Herdentiere, und wollte man sagen, die Katze mache eine Ausnahme, so kann ich das nicht zugeben, denn die Katze ist nicht in dem Sinne ein domestiziertes Tier, wie die übrigen. Die Katze lebt mit dem Menschen in Symbiose, sie zieht ihren Vorteil aus seiner Nähe, und der Mensch zieht seinen Vorteil aus ihrer, sie hat dadurch die Scheu vor den Menschen abgelegt, aber dienstbar ist sie ihm nicht, so wenig wie der Sperling.

Daß aber gerade die geselligen Tiere Nutztiere für den Menschen werden konnten, liegt in dem ihnen, sowie dem sozialen Menschen angeborenen Empfindungskomplex. Uns so wie dem Menschen in erster Linie die Empfindungs fähigkeit  angeboren ist, die Verknüpfung der speziellen Empfindungen mit speziellen Vorstellungen größtenteils erst durch die Erziehung bewirkt wird, so erzieht der Mensch auch in gleicher Weise das Tier zu seinem Vorteil, indem er den angeborenen Empfindungen ursprünglich fremde Vorstellungen assoziiert, und so den Effekt sozialer Empfindungen in neue, ihm nutzbringende Bahnen lenkt. Niemals aber würde das gelingen, wenn im Tier nicht schon eine Art von Pflicht, eine Art von Gewissen ruhen würde, wenn keine Saite seines Innern vorhanden wäre, die auf das magische "du sollst" ins Mitschwingen gerät.


Wir sind aufgrund dieser Betrachtungen in die Lage gesetzt, mit einem offeneren Blick das zu beurteilen, was von verschiedenen Schulen und zu verschiedenen Zeiten als moralisch oder sittlich betrachtet wurde. Ich habe bereits hervorgehoben, daß die Beziehung desselben zur Sozietät allgemein anerkannt ist und schon ARISTOTELES knüpft ein festes Band zwischen den Begriffen Sittlichkeit und Staat. Andererseits aber hatte SOKRATES das Sittliche als das  gewußte  Gute definiert (13) und bis auf den heutigen Tag findet man immer wieder die Frage aufgeworfen und beantwortet, in welcher Weise das Sittliche mit der Absicht und dem Bewußtsein des Handelnden verknüpft ist, ob jemand auch ohne Überlegung sittlich handeln, ob er mit der Absicht, sittlich zu handeln, auch schon seinen Pflichten der Sittlichkeit gegenüber entsprochen hat, ja ob eine Handlung, die in unsittlicher Absicht ausgeführt ist, aber der Sozietät zum Besten gereicht, dadurch eine sittliche geworden ist.

Der Mangel an Übereinstimmung in der Beantwotung dieser Frage beruth auf einem Umstand, der, wie mir scheint, der Unfruchtbarkeit mancher seit Jahrhunderten geführten philosophischen Diskussion zugrunde liegt, und es möge mir deshalb gestattet sein, etwas genauer auf denselben einzugehen.

Wir können jeder Erscheinung, die uns im Leben begegnet, in verschiedener Weise entgegentreten. Wir können sie naiv aufnehmen als eine Erscheinung der körperlichen Objekte oder der unkörperlichen, aber ebenso objektiven Beziehungen derselben untereinander. Wir können uns aber auch sagen, daß alle uns zum Bewußtsein gelangenden Erscheinungen nur der Ausdruck von Veränderungen sind, die irgendwelche äußere Objekte und Vorgänge in uns erzeugen, daß also, was uns zur Wahrnehmung eines Objektes führt, nur subjektive Zustände, und was wir für Veränderungen an den Objekten halten, Veränderungen dieser subjektiven Zustände sind. Wir kommen dann folgerichtig zu der Anschauung, daß uns die ganze Außenwelt ewig fremd bleiben muß, daß wir nichts wissen, als daß unter gewissen Verhältnissen diese, unter anderen jene Vorgänge in uns stattfnden.

So allgemein bekannt diese beiden Betrachtungsweisen sind, so wenig scheint man doch darauf hingewiesen zu haben, daß zwischen diesen beiden Extremen eine große Reihe Mittelstufen denkbar ist. Diese sind dadurch von einander unterschieden, daß bei ihnen in verschieden hohem Grad die zweite der eben charakterisierten Betrachtungsweisen in die erste hineingetragen ist. Die Mittelstufen bilden geradezu die Basis für die Denkweise innerhalb großer Wissenszweige und letztere sind nur dadurch möglich, daß die Grenze, bis zu welcher die subjektive Anschauung in die objektive hineinreicht, eine ganz bestimmte, allgemein anerkannte und mit Absicht festgehaltene ist. Jede Durchbrechung dieser Grenze macht den wissenschaftlichen Fortschritt unmöglich und erzeugt Verwirrung.

Wenn ein Maler erklärt, er müsse, um den Schatten jenes Berges zu malen, seiner Farbe Kobalt beimischen, der Schatten sei blau, weil er in großer Ferne liege, so steht er auf dem Boden einer naiven Anschauung und seine Erklärung der blauen Farbe des Schattens ist der Erfahrung entnommen und vollkommen richtigt. Wenn aber ein anderer die Frage "warum ist die Farbe jenes Schattens blau?", dahin beantwortet, daß sie, physikalisch untersucht, diese und jene Wellenlänge habe, deshalb in unserer Netzhaut gewisse Veränderungen hervorrufe, welche ihrerseits wieder Nervenfasern von bestimmter Art in Erregung versetzen, und diese Erregungen durch den Sehnerv dem Organ des Bewußtseins zugeführt werden, so hat dieser mit seiner Behauptung auch recht; er steht aber nicht mehr auf dem Standpunkt naiver Beobachtung, sondern hat gewisse funktionelle Eigenschaften des sehenden Subjektes in sein Urteil eingeflochten, er ist auch kein Maler mehr, sondern Physiologe. Und wenn ein Dritter die Ursache der blauen Farbe jenes Schattens darin findet, daß die in der geschilderten Weise zustande gekommene Erregung gewisser Netzhautanteile im Bewußtsein Vorstellungen erweckt, die zum Teil identisch sind mit den Vorstellungen, die wir im Laufe unseres ganzen Lebens beim Anblick einer Kornblume oder des heiteren Himmels gehabt haben, daß dieser gemeinsame Anteil assoziativ eng verknüpft ist mit dem optischen Erinnerungsbild des Wortes "blau" und mit dem akustischen Erinnerungsbild desselben Wortes, wohl auch mit mancherlei gemütlichen Erinnerungen usw., so hat auch dieser Dritte Recht, er ist aber kein Physiologe, sondern ein Psychologe, und bei seiner Beantwortung der Frage "warum ist der Schatten blau?" ist das Subjekt in noch reicherem Maß als von Seiten des Physiologen in die Urteilsbildung mit einbezogen worden. Der Physiologe hat nur die Vorgänge in den Sinnesorganen des beobachtenden Subjektes bei seiner Formulierung der Antwort verwendet, im Übrigen stand er auf dem Boden der naiven Weltanschauung wie der Maler, indem er von der Entstehung der Empfindung Blau sprach. Der Psychologe ging in der Eintragung des Subjekts noch weiter; er untersuchte, welche Denkvorgänge im Subjekt ablaufen müssen, soll es zu dem Urteil gelangen, daß eine eine Blau-Empfindung habe.

Man stelle sich nun die Verwirrung vor, wollte der Physiologe sagen, der Maler habe eine wertlose Behauptung aufgestellt, wenn er den Schatten deshalb für blau erklärte, weil er so fern sei, in der Tat beruhe die Blau-Färbung auf gewissen Vorgängen und Zuständen in der Netzhaut und der Benachrichtigung des Organes des Bewußtseins von diesen Zuständen; und andererseits wollte der Psychologe behaupten, der Physiologe habe eine wertlose Behauptung aufgestellt, denn von eine Blau-Empfindung sprächen wir nur dann, ewnn gewisse Vorstellungsassoziationen wachgerufen würden, und das Wachrufen dieser sei demnach die wahre Ursache dafür, daß wir den Schatten für blau erklären.

In diesem Beispiel urteilt der Physiologe und der Psychologe wesentlich in der gleichen Art. Ihre Auffassung ist nur graduell verschieden. Der erstere erkannte, daß der Eindruck des Blau an die Lebensfunktionen des Subjekts geknüpft ist, trägt diesen aber nur insofern Rechnung, als es sich um die Lebensfunktionen der Sinnesorgane handelt.

Einen Schritt weiter ist der Psychologe gegangen, indem er auch die Vorstellung und Empfindung des Blau als Bewußtseinsvorgänge in der Funktionsweise des Subjekts begründet erkannt und mit in seine Urteilsbildung einbezogen hat. Ersterer hat eben in geringerem, letzterer in höherem Grad das Subjekt in sein Urteil hineingetragen. Man sage nicht, der Maler habe die Ursache der  Entstehung des Blau  angegeben, und der Physiologe und Psychologe geben die Ursache für die  Entstehung der Empfindung  des Blau an, denn das Blau würde gar nicht existieren, wenn es nicht Subjekte gäbe, die es als solches empfinden könnten. Würden heute alle Lebewesen von der Erde verschwinden, so gäbe es morgen auf derselben nur mehr Ätherwellen von bestimmter Frequenz, aber kein Blau mehr. Der Unterschied zwischen den drei Urteilen ist vielmehr der, daß der Maler die lange Kette von Ursachen, die zwischen dem Objekt und dem bewußten Eindruck eingeschaltet ist, nur bis zum Subjekt verfolgt; der Physiologe verfolgt sie noch eine Strecke weit in das Subjekt hinein, nämlich bis zu den Bewußtseinsvorgängen; der Psychologe aber bleibt auch vor diesen nicht stehen.

Es ließen sich derartige Beispiele für die verschiedensten Zweige der Wissenschaft anführen, doch genügt das eine, um die Notwendigkeit zu erweisen, daß innerhalb eines Wissensgebietes eine klare und bewußte Grenze für die Einführung des Subjekts eingehalten werden muß.

Nach dieser Abschweifung zur Frage der Moral zurückkehrend, verweise ich darauf, daß die vorgeführten Betrachtungen über Sittlich und Unsittlich auf vollkommen naiv-objektivem Boden fußten. Wir haben sozusagen naturgeschichtlich untersucht, wie Moral entstanden ist und welches ihre Aufgabe sein kann. Ich muß deshalb die Fragestellung: "was ist sittlich?" für eine verfehlte halten, denn es kann unter diesem "was" eine Handlung oder aber auch ein Handelndes, ein Subjekt oder das Motiv eines Subjekts verstanden werden. Das wären dann aber nicht nur zwei verschiedene Fragen, sondern, wie wir eben sahen, zwei Fragen, die ganz verschiedenen Wissensgebieten angehören können. Es muß vielmehr (in Analogie zu: warum ist der Schatten blau?) die Frage gestellt werden: "warum ist diese  Handlung  sittlich?" Hierauf fanden wir die präzise Antowrt: "weil sie der Sozietät zum Vorteil gereicht". In dieser Antwort ist nur der Begriff der Sozietät noch einer Erläuterung bedürftig; ich komme später darauf zurück. Diese Beantwortung involviert, daß der sittliche Wert einer Handlung vollkommen unabhängig ist vom Handelnden und von allen Intentionen und Motiven der Handlung. Die sittliche Handlung ist ein Naturprodukt, ein Resultat des Kampfes ums Daseins, unabhängig von allem, was wir Willen des Individuums nennen, ein Naturprodukt, wie das Honigsammeln der Biene, wie der Zug der Vögel, wie die Liebe zu den Kindern; die Sittlichkeit drängt den Menschen mit Naturkraft, im gegebenen Fall so und nicht anders zu handeln, wie die Wandersucht den Zugvogel drängt, im Herbst in den Süden zu fliegen, und wenn jährlich Hunderte von Schwalben den Termin versäumen und bei uns elend zugrunde gehen, so ändert das nichts an der Naturgewalt des Wandertriebs.

In diesem Sinne gibt es die Tatsache des sittlichen Handelns und die Absichten und Motive für dasselbe so gleichgültig, wie es für die Tatsache des Wandertriebes gleichgültig ist, ob der einzelne Vogel aus Sehnsucht nach dem südlichen Land oder aus Hass gegen das nordische oder aus Eßlust fortfliegt, und wie es für die Tatsache der Kinderliebe gleichgültig ist, ob die Mutter dem Kind das Ebenbild Vaters oder ihr eigenes, oder das ihrer Eltern zu sehen glaubt.

Diese durch Naturkräfte bedingte und geleitete sittliche Handlung kommt beim ursächlich denkenden Menschen nun freilich in etwas anderer Art zustande, wie bei den, blind den Instinkten folgenden Tieren. Wir haben ja gesehen, daß der Mensch zumindest größtenteils den Inhalt seiner sozialen Empfindung erst durch die Erziehung, im weitesten Sinn des Wortes, erwirbt; die Normen dieser Erziehung müssen also von der Gesellschaft festgestellt sein, diese muß ein Urteil darüber fällen, was moralisch und war unmoralisch ist, und sie kann sich bei dieser Urteilsfällung täuschen. Die Sozietät ist deshalb auch in vollem Recht, wenn sie nach den Motiven einer Handlung frägt, und einen Fanatierk, der einen Raubmord begeht um das gewonnene Geld bis auf den letzten Heller zu Zwecken zu verwenden, die seiner Ansicht nach die übrige Menschheit beglücken werden, milder beurteilt als den gemeinen vom Egoismus getriebenen Mörder, denn jener hat eine Denkweise, eine Energie, eine Aufopferungsfähigkeit, die unter anderen Verhältnissen der Sozietät zum größten Vorteil gereichen könnten, dieser nicht, jener hat, wie man sagen könnte, moralische Anlagen und den Wert derselben darf die Gesellschaft nicht übersehen. Ein schwerer Mißgriff aber wäre es, wenn die Gesellschaft, bestochen durch diese moralischen Anlagen, den Abscheu vor dem begangenen Raubmord ablegen oder auch nur mäßigen würde.

Hier leitet uns die Natur immer wieder auf den richtigen Weg, indem sie uns angewiesen hat, die sozial schädliche Handlung, unabhängig von allen Vorgängen im Individuum, mit den Empfindungen des Widerwillens zu begleiten und eine gesunde moralische Erziehung wird also auch stets die Instinkte in diese Bahnen leiten müssen, in die Bahnen der Liebe zur sozial nützlichen und des Hasses gegen die sozial schädliche Handlung, welche Motive auch immer der Handlung zugrunde liegen mögen.

Es kann freilich die Frage gestellt werden, ob ich nicht dem Sprachgebrauch Gewalt antue, wenn ich diese der Sozietät nützlichen Handlungen als moralische bezeichne (ob die einzelne Handlung mit Recht oder Unrecht für nützlich gehalten wird, ist für die Definition so gleichgültig, wie es für die Definition einer Pflanze gleichgültig ist, ob wir einen bestimmten Organismus mit Recht oder Unrecht zu den Pflanzen rechnen). In der Tat ist man gewohnt, mit dem Begriff des sittlichen Handelns schon etwas von den Vorgängen im handelnden Subjekt, von seinen Gesinnungen und Intentionen mit zu erfassen. Wenn es aber, wie wir sahen, notwendig ist, eine scharfe Grenze zwischen jenen Handlungen zu ziehen, welche einerseits objektiv charakterisiert und von der Natur durch besondere Einrichtungen angestrebt sind, andererseits jenen, welche diese Charaktere nicht haben, obwohl sie bisweilen mit den sozialen Instinkten, mit der aus diesen entspringenden sittlichen Erziehung und sittlichen Eigenschaften von Individuen zusammenhängen, dann bin ich der Anschauung, daß es dem Sprachgebrauch nicht mehr entspricht die erste Klassen von Handlungen mit dem Namen der moralischen zu belegen. Denn in diesem Fall ist man zwar gezwungen, eine gesellschaftlich nützliche Handlung eine moralische zu nennen, auch wenn das Individuum einen unmoralischen Zweck bei der Ausführung derselben verfolgt, im anderen Fall aber würde man in die noch viel mißlichere Lage kommen, eine durch falsche soziale Erziehung bedingte Handlungsweise, die ein ganzes Volk zugrunde gerichtet hat, deshalb eine moralische zu nennen, weil alle handelnden Individuen in dem Wahn lebten, sich für das allgemeine Beste aufzuopfern.

Wie immer man übrigens das eingebürgerte Wort  moralisch  verwenden will, ob man es, wie ich es für zweckmäßiger halte, für die eben charakterisierten Handlungen oder für die Intentionen des Handelnden anwenden will, das scheint mir von untergeordneter Bedeutung. Worauf ich Gewicht lege ist, daß es eine besondere Klasse von Handlungen gibt, die von allen anderen scharf zu trennen und dadurch charakterisiert sind, daß sie der Sozietät zum Vorteil gereichen. Zur Hervorrufung derselben hat die Natur besondere Einrichtungen in den Menschen hineingelegt, ihn mit besonderen Instinkten und einem reichen Empfindungsleben ausgestattet.

Eine von der Frage nach dem sittlichen Wert einer Handlung grundverschiedene Frage ist nun die: was geht im handelnden Subjekt vor sich, wenn es eine sittliche oder unsittliche Handlung ausführt? So wie wir diese Frage aufwerfen, tragen wir das Subjekt in unsere Betrachtungen hinein, stehen somit auf dem Boden eines ganz anderen Wissenskreises, sowie der Physiologe und Psychologe auf einem ganz anderen Boden stand wie der die Natur beobachtende Maler.

Ein Beispiel soll den Unterschied der beiden Fragestellungen noch weiter erläutern:

Der Zoologe weiß, daß viele Amphibien, Reptilien, Fische und anderes mehr ihre Hautfarbe nach ihrer Umgebung zu wechseln vermögen, so daß sie dadurch ihren Feinden, sowie den zu erbeutenden Tieren weniger sichtbar werden. Dieser Farbenwechsel und die Erkenntnis von deren Bedeutung im Kampf ums Dasein ist das Resultat vielfachr und sorgfältiger Beobachtung. Andererseits sagt uns der Physiologe, daß der Farbenwechsel in diesen Fällen dadurch zustande kommt, daß schwarz pigmentierte Zellen der Haut mit Nerven in Verbindung stehen, bei deren Erregung die Zellen ihre an die Hautoberfläche entsandten zahlreichen Fortsätze zurückziehen, diese Nerven mit dem Zentralnervensystem zusammenhängen usw.

Das sind die Vorgänge, die im Individuum beim Farbenwechsel ablaufen. Der Charakter desselben aber als einer Lebenstätigkeit, die zum Schutz des Individuums bestimmt ist, steht fest, vollkommen unabhängig von der nächsten Ursache der Nervenerregungen, die vom Rückenmark ausgehend die Pigmentzellen zur Kontraktion bringen, und es wäre ein grober Fehler, wenn der Physiologe den zoologisch festgestellten Charakter des Farbenwechsels in Frage stellen würde, indem er die Ursache desselben in der Nervenerregung sieht. Er würde dann auch wieder die Vorgänge im Individuum hineintragen in ein Gebiet, in das sie nicht gehören.

Ganz ebenso bei der Lebensbetätigung in Form einer sittlichen Handlung. Von ihr getrennt steht die Frage nach den Vorgängen im handelnden Individuum und es muß als Mißgriff bezeichnet werden, wenn das erste mit dem zweiten konfundiert [verwirrt - wp] wird.

Ich lege auf die scharfe Trennung der objektiv sittlichen Handlung von allem Subjektiven ein so großes Gewicht, denn die sittlichen Empfindungen sind, wie die anderen Lust- und Unlustempfindungen, Institutionen, geschaffen  von der Natur. Diese, und nicht der Mensch, verfolgt mit dem vererbbaren Vermögen, gewisse Vorstellungen mit Empfindungen zu verknüpfen, den Zweck der Erhaltung des Individuums, der Nachkommenschaft und der Sozietät.  Sowie ein Individuum jener Fische Schaden leiden wird, wenn der zu seinem Schutz geschaffene Farbenwechsel nicht mehr stattfindet, es mag das aus was auch immer für Ursachen, aus Selbstverschulden oder nicht, mit oder ohne Willen, geschehen, ebenso wird die Sozietät Schaden leiden, wenn die in der hervorgehobenen Weise charakterisierten unsittlichen Handlungen geschehen, im handelnden Individuum mag dabei was auch immer vor sich gehen, es möge mit Absicht oder ohne Absicht, unter sogenannten guten oder sogenannten schlechten Motiven, ergriffen von diesen oder jenen Empfindungen, handeln. (14)


Die Betrachtung der menschlichen Sozietäten als Naturprodukte hat uns zu der Anschauung geführt: Die gesunde Gesellschaft muß die Wahrnehmung jeder sittlichen Handlung mit freudigen, jeder unsittlichen Handlung mit bitteren Gefühlen begleiten, unabhängig von allen Absichten und Motiven des handelnden Subjektes. Da sich die Gesellschaft aber, wie wir sahen, über den sittlichen Wert einer Handlung täuschen kann, so muß die Frage diskutierbar sein, ob das allgemeine Urteil auch wirklich dieser Forderung entspricht. Im oben angeführten Beispiel von den beiden Raubmördern, die unter ganz entgegengesetzten psychischen Vorgängen ihre verwerfliche Handlung ausführten, wird die heutige Gesellschaft zweifellos eine unsittliche Handlung sehen und in beiden Fällen mit den Empfindungen des Abscheus begleiten. Sie wäre demnach von den richtigen Instinkten geleitet und gäbe ein den Intentionen der Natur entsprechendes Urteil ab.

Anderen Handlungen gegenüber, deren sittlicher Charakter nicht so augenfällig ist, fürchte ich aber, entfernt sich das Urteil unserer Gesellschaft recht nennenswert von dem oben als einzig berechtigt erkannten Standpunkt. Ja gerade die persönlich Besten aus unserer Gesellschaft laufen Gefahr durch ein Mißverständnis, das ihnen die Bedeutungslosigkeit aller im handelnden Subjekt ablaufenden Vorgänge verhehlt, in Bezug auf die Entwicklung sittlicher Empfindungen in jenen Fehler zu verfallen, der im Hineintragen des Subjekts in die objektive Weltauffassung besteht. Nicht immer herrschte diese Gefahr. Ich möchte behaupten, daß das Urteil der antiken Kulturvölker in den Fragen der Moral dem naturwissenschaftlichen Standpunkt viel näher stand, als das der modernen Kulturvölker, trotz des heutigen Übergewichts der Naturforschung. Wie ich das meine, soll ein Beispiel zeigen.

Ödipus  erschlägt  unbewußt  seinen Vater  Laios,  heiratet  unbewußt  seine Mutter  Jokaste  und indem er nach Jahren hierüber aufgeklärt wird, empfindet er unsägliches Unglück, straft sich selbst, indem er sich blendet, es wird das ganze Geschlecht unglücklich,  Jokaste  tötet sich,  Ödipus  stirbt in der Fremde, die Söhne erschlagen sich gegenseitig im Krieg der Sieben gegen Theben, SOPHOKLES verarbeitet die Sage zu einem Drama, in dem die Enthüllung des entsetzlichen Schicksals, die Verzweiflung des  Ödipus  und seiner Angehörigen vorgeführt wird und der Chor des Volkes, nachdem er eben über den Sachverhalt aufgeklärt wurde, in die Worte ausbricht:
    Dich holte doch ein
    die allerschauende Zeit
    Und längst suchte sie heim den Ehe-Graus,
    Der Kinder-Saat vom Kind empfing.
    O weh, Sohn des Königs Laios,
    Hätt ich nimmer, ach,
    Nimmer Dich gesehen!
    Übermäßig bricht
    Aus dem Herzen schreiend mir
    Jammer hervor, und sprech ich's ganz aus:
    Das Eratmen meiner Brust
    Fand ich mit Dir, schloß mit Dir die Augen. (15)
In diesen Worten tiefsten Schmerzens und Grauens spiegelt sich die Empfindung des Volkes angesichts der aufgedeckten Greueltaten seines Königs.

Ich frage: Würde das Volk von heute nicht sagen:  "Er kann ja nichts dafür?" 

In diesen beiden Äußerungen der Volksseele aber zeigt sich eine sehr bedeutungsvolle Umwandlung in den Empfindungen, die ein und derselben Handlung entgegengebracht werden. In der Tat,  Ödipus  kann nichts dafür, er  wußte  ja nicht, daß  Laios,  den er erschlug, sein Vater, daß  Jokaste,  die er heiratete, seine Mutter war; er ist also unschuldig, warum blendet er sich, warum ist er und seine Familie unglückselig, bis der letzte Sproß verdorben ist? Uns ist die Tragik und Sühne der Ödipus-Sage fast unverständlich geworden und eben dadurch zeigt sich, welche Wandlung das Urteil seit jenen Zeiten durchgemacht hat. Es sind das aber nicht die Zeiten der Entstehung der Sage, sondern zweifellos noch die Zeiten des SOPHOKLES, denn der Dichter hätte keine Wirkung unter den Zuschauern erzielt, würde er sein Drama nicht nach den Empfindungen derselben aufgebaut haben, würde der Chor nicht die Eindrücke des lebendigen Volkes zum Ausdruck bringen. Und wenn SOKRATES auch sagt, sittlich sei das bewußte Gute, so war das die Ansicht eines Philosophen, das Volk derselben Zeit war entsetzt über die Greuel im Leben des  Ödipus  und wendet sich mit Mitleid, aber Abscheu von ihm, obwohl er unbewußt gehandelt hat.

Das Volk der Ödipus-Sage und Sophlokeischen Zeit hatte eine gesunde Moral, indem es die unsittliche Handlung als solche verabscheute und sich um die Vorgänge im Gehirn des handelnden Subjekts nicht kümmerte, es hatte eine gesunde Moral, indem es die Söhne unglücklich werden, sich bekriegen, sich erschlagen ließ, denn ein solches Monstrum von Ehe schadet der Sozietät, schadet der Familie, ob das einzelne Mitglied derselben so oder anders denkt, ob es als Individuum eine Schuld auf sich geladen hat oder nicht. Die Sünden der Väter rächen sich an den Kindern, das ist eine Naturerscheinung des sozialen Lebens, und dieser hat die antike Moral Rechnung getragen. Auch in der Bibel wird die Strafe an Kindern und Kindeskindern mit der Allgüte Gottes vereinbar gefunden; das Kindeskind muß sein Schicksal ertragen; maßgebend für dasselbe ist seine Stellung in der Sozietät, in der Familie, nicht sein persönliches Denken und Fühlen.

Diese ungetrübten moralischen Instinkte der alten Völker dürften, wenn ich mir bei meinen laienhaften Kenntnissen aus der Geschichte des menschlichen Denkens eine Vermutung erlauben darf, bis gegen den Anfang unserer Zeitrechnung gewährt haben. Damals begann sich ein aus dem Orient, vielleicht aus Indien stammender Einfluß geltend zu machen, wahrscheinlich erst in Philosophenschulen (16), dann sich auf breitere Bevölkerungsschichten ausdehnend, der gegen die Härte der die Sozietät beherrschenden Naturgesetze das Individuum in Schutz nahm, den persönlichen Gedanken und Gefühlen Gewicht verlieh und das handelnde Subjekt aus seiner verschwindenden Kleinheit in der Gesamtheit der Sozietät zu einer selbständigen Stellung emporhob. (17) Die ganze moderne Kultur nahm diesen Gedanken auf und baute ihn zu dem Satz aus: nur eine bewußte Handlung kann eine sündhafte sein. (18)

Hier finden wir also eine systematische Verquickung der Vorgänge im Subjekt mit dem Urteil über Moral, und wenn wir bedenken, daß dieses Urteil für die moralische Erziehung immer maßgebend war und sein mußte, so werden wir zweifellos hierin die Ursache jener Wandlungen in der Beurteilung sozialer Verhältnisse finden müssen. Während es in der Natur der sozialen Instinkte liegt, Empfindungen des Abscheus angesichts jeder als sozial schädlich erkannten Handlung zu erregen, hat die moderne moralische Erziehung dahin gewirkt, diese Empfindungen zu mäßigen, zu hemmen oder gar zu unterdrücken, wenn im handelnden Individuum gewisse Bewußtseinsvorgänge erkannt worden sind.

So sympathisch diese Auffassung jeden anmuten muß: stand die alte, in welcher das Individuum gegenüber der Sozietät verschwand, nicht höher? Sie war persönlich bescheidener; was aber in erster Linie in Betracht kommt, sie war die gewaltigste Waffe im Kampf ums Dasein, der direkte Ausdruck der Naturgesetze, ausgestattet mit der Allgewalt der Naturkräfte, bestimmt zur Verteidigung der Sozietät. Die neue Moralanschauung ist ein Kompromiß zwischen objektiver Natur und Psychologie, zwischen Sozietät und Individuum, bei welchem das letztere zwar im Moment gewinnt, der Gewinn aber nur auf Kosten der ersteren gemacht werden kann.

Blickt man nach der wahrscheinlichen Quelle dieses Individualismus, nach Indien, so findet man die sozialen Instinkte in ihren Urtypen noch deutlich ausgeprägt, die Selbstentäußerung, das Vermögen, körperliche Quelen zu ertragen, sich aufzuopfern, sind verdienstliche Eigenschaften, denn durch sie wird das Individuum wertvoll für die Sozietät. Sie sind aber in ungeheuerliche Bahnen gelenkt, indem sie nicht mehr zum Schutz der Sozietät, sondern zur persönlichen Selbstbespiegelung verwendet werden; das Individuum glaubt moralisch zu handeln, wenn es sich von der Sonne brennen, von Schmerzen zerwühlen, wenn es sich lebendig begraben läßt, und die Sozietät ist zu einem machtlosen, schlaffen Wesen herabgesunken, das von einem fernwohnenden, aber mit gesunden sozialen Instinkten ausgestatteten Völkchen geleitet und beherrscht wird.

Schließlich ein Wort über den hier so oft verwendeten Begriff der Sozietät.

Ich brauche nicht hervorzuheben, daß darunter engere oder weitere Vereinigungen innerhalb eines Volksstammes oder auch verschiedener Volksstämme, daß Vereinigungen zu verschiedenen Zwecken verstanden werden können und daß je nach diesen Umständen auch die Moral der Sozietät eine verschiedene sein muß. Die Moral einer Armee, einer Familie, eines Staates, der Kirche sind verschieden und müssen verschieden sein. Nur auf einen Umstand, der mir zu wenig berücksichtigt zu werden scheint, möchte ich aufmerksam machen, nämlich, daß unter der Sozietät immer auch die Nachkommenschaft zu verstehen ist, sei sie durch leibliche, sei sie durch intellektuelle Bande mit den Vorfahren geknüpft. Die Moralgesetze als Naturgesetze sind hart gegen das Individuum, für sie besteht nur die Gesamtheit und deren Wohl, denn diese Gesamtheit besteht, wenn die Individuen von heute längst verschwunden sind. Welches Ziel aber ist ein höheres, das, welches die Moral als Naturkraft anstrebt, oder jenes, das ein in schwächliche Bahnen geleitetes, durch wissenschaftliche Mißverständnisse emporgehobenes Billigkeitsgefühl zu erreichen sucht, das nichts sieht, als was im Moment von den leiblichen Augen steht?

Nehmen wir einen konkreten Fall vor. Der englische Forscher GREG (19) stellt folgende Betrachtungen an:
    "Der sorglose, schmutzige, nicht höher hinauswollende Irländer vermehrt sich wie die Kaninchen; der frugale, vorsichtige, sich selbstachtende ehrgeizige Schotte, welcher streng in seiner Moralität, durchgeistigt in seinem Glauben und diszipliniert in seinem Wissen ist, verbringt die besten Jahre seines Lebens im Kampf und im Stand des Zölibats, heiratet spät und hinterläßt nur wenige Nachkommen. Man nehme ein Land, welches ursprünglich von tausend Sachsen und tausend Kelten bevölkert wurde, und nach einem Dutzend Generationen werden fünf Sechstel der Bevölkerung Kelten sein, aber fünf Sechstel des Besitzes, der Macht, des Intellekts werden dem einen übrig gebliebenen Sechstel der Sachsen angehören."
Nun, füge ich hinzu, denke man sich, daß in diesem Land, geleitet durch die das Individuum in den Vordergrund stellende naturwidrige sogenannte Moral Gesetze geschaffen werden, welche die Früchte des Besitzes, der Macht und des Intellekts den Sachsen auch nur teilweise abnehmen und allen Individuen des Landes gleichmäßig zugute kommen lassen, daß sich dieser Prozeß einige Male wiederholt, welche Eigenschaften wird schließlich die Sozietät des Landes haben? Wo ist die Macht, wo der Intellekt, wo die im Kampf ums Dasein herangewachsenen wahren sozialen Tugenden der "frugalen, vorsichtigen, sich selbstachtenden und ehrgeizigen Schotten." Sie sind verschwunden und die Eigenschaften des "sorglosen, schmutzigen, nicht höher hinauswollenden" Irländers sind geblieben, die Sozietät ist dadurch wehrlos geworden und muß im Kampf ums Dasein dem ersten Ansturm einer anderen Sozieatät von natürlicher und gesunder Moral unterliegen.

Ob diese Charakterisierung GREGs für die beiden genannten Volksstämme zutrifft oder nicht, habe ich hier nicht zu untersuchen. Darüber aber kann kein Zweifel sein, daß es in jeder Sozietät Individuen gibt, die mehr der Beschreibung des ersten, andere, die mehr der Beschreibung des zweiten Stammes entsprechen, und man darf gerade an der Schwelle des kommenden Jahrhunderts die ernste Erwägung darüber nicht von sich weisen, ob die heutigen Moralanschauungen dem Individuum nicht eine Rolle beimessen, welche der Sozietät der künftigen Jahrhunderte zum Schaden gereicht. In der Natur ist jedes Individuum nur das Mittelglied in einer unabsehbaren Kette, welche die Generationen der Vergangenheit mit jenen der Zukuft verbindet. Die kultivierte Gesellschaft muß, um ihren Bestand zu sichern, weit mehr auf die natürliche Züchtigung dieser Ketten als auf das Wohlbefinden des Individuums Rücksicht nehmen.

In unzähligen Beispielen zeigt uns die Natur, wie sie Hunderte und Tausende von Individuen opfert, zum Schutz und Heil der künftigen, und wie kleinlich muß uns eine Moral erscheinen, die auf dem Individuum basiert, neben mener die ganze Zukunft umfassenden der Natur, und wie hoffnungslos oder, wenn von Erfolg gekrönt, schädlich ein Streben ist, diese Wege durchkreuzen zu wollen. GOETHE (20) sagt von der Natur:
    "Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben
    und macht sich nichts aus den Individuen."
LITERATUR - Sigmund Exner, Die Moral als Waffe im Kampf ums Dasein, Almanach der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 42. Jahrgang, Wien 1892
    Anmerkungen
    1) HERBERT SPENCER, Die Prinzipien der Psychologie (übersetzt von VETTER), Stuttgart 1882.
    2) THEOBALD ZIEGLER: Sittliches Sein und sittliches Werden. Grundlinien eines Systems der Ethik, Straßburg 1890.
    3) BREHMs Tierleben, erste Auflage, Bd. VI, Seite 173.
    4) Vgl. DARWIN, Descent of Man, Bd. I, Seite 74. Hier findet sich eine Reihe von Beispielen für die Tatsache, daß gesellig lebende Tiere sich gegenseitig Hilfe leisten und Opfer bringen.
    5) MEYNERT, Psychiatrie, Wien 1884, Seite 171. CONTY und CHARPENTIER (Rech. s. les. effets cardio-vasculaires des excitations des sens, Arch. d. physiol. norm. et path. 1877, Seite 525) haben gezeigt, daß sich der Blutdruck eines Hundes verändert, wenn derselbe einen anderen Hund heulen hört, und daß diese Blutdruckänderung teilweise auf einer zentralen Erregung gewisser Herznerven (die schon RUDOLF WAGNER gekannt hatte), teilweise auf zentraler Erregung von vasomotorischen Nerven beruth.
    6) Man wende nicht ein, daß Kinder Tiere quälen; das tun sie, solange sie nicht wissen, daß es Qualen sind, die sie verursachen, und wenn die Vorstellung nicht erweckt ist, so wird auch die assoziierte Empfindung nicht auftauchen, sie mag angeboren sein oder nicht.
    7) In allen diesen Fällen muß die in neuester Zeit viel diskutierte Frage, ob auch erworbene Eigenschaften vererbt werden, unbeantwortet bleiben. Sie kommt für unseren Gegenstand nicht mehr in Betracht, als für alle übrigen Gebiete des Empfindungsvermögens.
    8) Ich habe in einem auf der 61. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte (Köln 1888) gehaltenen Vortrag nachgewiesen, daß dieses Generalisieren eine typische Eigentümlichkeit der Instinkte ist ("Über allgemeine Denkfehler", abgedruckt in der "Deutschen Rundschau" 4. Heft 1889). Aufgrund dieses Generalisierens kann es auch vorkommen, daß der soziale Instinkt zu einer für die Sozietät schädlichen Handlung führt. Es ändert das an der Immoralität dieser Handlung so wenig, wie es an der individuellen Schädlichkeit für eine Forelle etwas ändert, wenn sie, geleitet von dem zu ihrem Schutz entwickelten Instinkt, nach der sich bewegenden Mücke zu schnappen, an der Angel des Fischers hängen bleibt.
    9) IMMANEL KANT, Kritik der praktischen Vernunft (Ausgabe KIRCHMANN, Bd. VII, Seite 104).
    10) THEODOR FECHNER, Das Büchlein vom Leben nach dem Tode, zweite Auflage, Seite 17.
    11) Die Stammeltern unseres Haushundes sind zwar nicht bekannt, doch spricht der Umstand, daß die verwilderten Hunde in Rudeln leben, sowie daß die nahe verwandten Wölfe gesellig sind, dafür, daß jene Stammeltern auch in Rudeln lebten.
    12) Falls unser Pferde vom asiatischen Tarpan abstammt, so ist sein Ahne ein exquisites Herdentier; ist der Tarpan aber ein verwildertes Pferd, so gilt dieselbe Betrachtung wie beim Hund. Übrigens leben die bekannten wilden Equidae in Rudeln.
    13) FRIEDRICH JODL, Geschichte der Ethik, Bd. I, Seite 19
    14) Es ist  deshalb  für den sittlichen  Wert  einer Handlung auch gleichgültig, ob sie "instinktiv" ohne Überlegung oder nach reichlicher Erwägung geschieht (vgl. auch DARWIN, a. a. O., Bd. I, Seite 87).
    15) Zitiert nach der Übersetzung von ADOLF SCHÖLL.
    16) Vielleicht ist der oben mitgeteilte Ausspruch des SOKRATES, ebenso die Anschauungen von PLATO schon auf den Beginn dieses Einflusses zurückzuführen.
    17) "Sodann war der wesentliche Inhalt der spätheidnischen Anschauungen dem Christentum geradezu analog; der Zweck des Daseins wird nicht mehr auf das Erdenleben, seine Genüsse und Schicksale allein beschränkt, sondern auf ein Jenseits, ja auf eine Vereinigung mit der Gottheit ausgehend. Durch geheime Weihen hoffen die Einen sich der Unsterblichkeit zu versichern; die Anderen wollen sich durch eine tiefe Versenkung in die höchsten Dinge oder auch durch einen magischen Zwang der Gottheit aufdrängen; Alle aber huldigen dem  wesentlich neuen Begriff der bewußten Moralität,  die sich sogar bis zur Kasteiung steigert, und wo sie nicht im Leben durchgeführt wird, doch zumindest als theoretisches Ideal gilt." (JAKOB BURCKHARDT, Die Zeit Constantin des Großen, Basel 1853, Seite 279)
    18) Das junge Christentum bemächtigte sich dieser so milden, wie menschlichen Anschauung, wurde dadurch der Trost aller Elenden und trug in seinem Siegeslauf den neuen Gedanken durch die ganze kultivierte Welt. Es führte ihn bis zur letzten Konsequenz durch, indem es lehrt: auch dem irrenden Bewußtsein (conscientia) nicht zu gehorchen, ist Sünde. (vgl. A. J. HÄHNLEIN, Principia theologiae moralis, 1853, Seite 279)
    19) WILLIAM RATHBONE GREG, Fraser's Magazine, Sept. 1868, Seite 353
    20) GOETHE, Die Natur, Werke, Bd. 50, 1833