ra-2cr-1A. SpirJ. B. ErhardF. Bodendow59 KB    
 
AFRIKAN SPIR
Von der Erkenntnis
des Guten und Bösen


"Ein jeder, der Lüge oder Böses übt oder in Irrtum verfällt, erniedrigt sich und wird zum Knecht."

"Das Übel verstellt sich, um andauern zu können: es nimmt den Schein des Guten an. Dieser täuschende Schein des Guten ist die Quelle aller Laster und Verbrechen und die Phantasie der Menschen hat denselben unter der Erscheinung des Satans, des verführerischen Teufels, personifiziert."


Der Mensch ist ein moralisches Wesen nur vermöge seiner Fähigkeit, das Gute und das Böse zu erkennen oder zwischen Gutem und Bösem zu unterscheiden; denn an diese Erkenntnis knüpft sich der Begriff eines moralischen Gesetzes und einer moralischen Verpflichtung. Zwar besteht bei den Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen bloß in Form unbestimmter Intuition, weil sie das Prinzip jener nicht kennen und einige gelangten sogar dahin, den Unterschied zwischen Gutem und Bösem mit dem Gegensatz zwischen Freude und Schmerz zu verwechseln und somit das Vorhandensein eines moralischen Gesetzes, das für den Menschen innerlich bindend ist, zu leugnen.

Es soll hier nun versucht werden, in allgemeiner Weise darzutun, auf welchem Prinzip der Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen beruth und wie uns dieses Prinzip dahin führt, das moralische Gesetz als das höchste Gesetz unseres Willens anzuerkennen, das uns eine Verpflichtung aber nur im Namen unserer Freiheit selbst auferlegt.

Wir befinden uns in einer Welt, in der Gutes und Schlechtes, Wahres und Falsches fast unentwirrbar miteinander vermengt sind. Was soll man von diesen Tatbestand halten?

Hier stehen uns nur zwei Wege offen: entweder muß man eine Gemeinschaft zwischen Gutem und Bösem, Wahrem und Falschem nach Wesen und Ursprung zugeben oder eine solche leugnen.

Betrachten wir zunächst die beiderseitigen Folgen dieser zwei Anschauungsweisen.

Behauptet man, dieses Gemisch von Gutem und Schlechtem, von Wahrem und Verkehrtem, das wir in der Welt der Erfahrung vorfinden, sei der normalen Natur und Ordnung der Dinge angemessen: das Gute und Schlechte, das Wahre und Unwahre habe einen gemeinsamen Ursprung, so folgt daraus, daß es weder etwas rein Gutes noch rein Wahres gibt, sondern daß alles naturgemäß miteinander vermischt und zweideutig, also gut und schlecht, wahr und falsch zugleich ist; daß ferner der Schmerz, das Laster, das Elend und das Verbrechen überall, wo man es antrifft, eben das ist, was sein soll. Man hat daher auch kein Recht, weder das Übel zu verneinen, den Irrtum zu widerlegen noch das Gemeine zu verwerfen. Folglich gibt es keine Moralität, keine Logik, noch überhaupt eine Wissenschaft. Eine Gemeinschaft zwischen Gutem und Bösem, Wahrem und Falschem ihrem Wesen und Ursprung nach zugeben, heißt also so viel, als den Unterschied zwischen Gutem und Schlechten, zwischen Wahrem und Verkehrtem einfach leugnen. Aufgrund dieser Annahme bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als daß man seinen Neigungen und natürlichen Trieben zufolge wie ein Tier dahinlebt.

Allein, die meisten Menschen können sich hierzu nicht entschließen; denn sie haben, obwohl nur dunkel, das Bewußtsein: wir besitzen eine höchste Norm des Denkens und der Dinge; diese Norm ist die Gewißheit, daß der Grundcharakter der normalen Natur der Dinge Identität mit sich selbst ist, eine Identität, die jegliche Beimischung und jeglichen Zweideutigkeit ausschließt. Alles, was zur normalen Natur der Dinge gehört, ist schlechterdings von vollendeter Reinheit und wir haben mithin die Gewißheit, daß das rein Gute und Wahre da ist, daß es nicht eine bloße Idee oder ein leerer Wahn, sondern eine Realität, ja selbst die höchste Realität ist: die normale Natur der Dinge (Gott). Indem wir das Gute ausüben und das Wahre erkennen, handeln wir also der normalen Natur der Dinge gemäß: wir sind frei, wir nehmen Teil am absoluten oder göttlichen Charakter.

Wir erkennen hingegen, daß das Übel und das Falsche, dessen wesentlicher Charakter Uneinigkeit mit sich selbst ist, etwas Abnormes und Verwerfliches sind, etwas Nichtseinsollendes oder etwas, das kein Recht hat zu existieren. Darum erkennen wir auch diese zwei Sätze: Du sollst nichts Böses tun und: Du sollst nicht lügen, weder gegen dich selbst noch gegen andere, als die unbedingten Gesetze oder Befehle unseres Willens. Ein jeder, der Lüge oder Böses übt oder in Irrtum verfällt, erniedrigt sich und wird zum Knecht.

Man ist im Gegensatz hierzu gewöhnt, die Fähigkeit, ebenso leicht Gutes wie Schlechtes zu wollen, als das eigentliche Wesen der Freiheit zu betrachten. Doch ist dies eben ein Mißverständnis. Freisein heißt seiner eigenen Natur gemäß wollen und handeln. Nun ist aber das Übel und der Irrtum der normalen Natur der Dinge völlig fremd; somit ist es rein unmöglich, daß man aus freiem Antrieb Übel und Irrtum wolle. Man kann das Schlechte und Falsche nicht um ihrer selbst willen lieben, so wie man das Schöne und Wahre liebt; man bekennt sich zu einem Irrtum nur, weil man ihn für eine Wahrheit hält; auch tut und will man Schlechtes nur deshalb, weil man daraus, bewußt oder unbewußt, einen Vorteil für sich selbst zu gewinnen glaubt. Folglich ist man Sklave der natürlichen Täuschungen, wenn man das Böse will und an das Verkehrte glaubt.

Dies begreifen Menschen freilich nur schwer; denn sie werden unter der natürlichen Täuschung geboren und leben in ihr. Man hat noch nicht anerkannt, daß zwischen dem Guten und Bösen, zwischen dem Wahren und Unwahren, eine Opposition oder eine absolute Unverträglichkeit besteht und  das  sollte man doch vor allem wissen. Das wahrhaft oder schlechthin Gute, d. h. die Identität oder völlige Harmonie mit sich selbst kann nicht mit dem Übel zugleich da sein, noch kann die unbedingte Wahrheit, die den gleichen Charakter innerer Harmonie in sich trägt, mit dem Irrtum und der Lüge zusammen bestehen. Das Gute, das wir in dieser Welt mit dem Schlechten vermischt finden, ist also nur ein relatives Gut, d. h. im Grunde betrachtet ein verkapptes Übel; auch ist die Wahrheit der Erfahrung, vermischt mit dem Irrtum, bloß eine relative Wahrheit, welche in der systematischen Organisation der natürlichen Täuschung besteht.

Man glaube ja nicht, daß das Falsche allein in unseren Begriffen und unserem Urteil besteht: es befindet sich vielmehr in den Dingen dieser Welt selbst. Denn die Dinge dieser Welt sind so beschaffen, daß sie uns täuschen und das zu sein scheinen, was sie nicht sind. Die Empfindungen unserer Sinne (des Gesichts, Gefühls usw.) sind so beschaffen, daß sie als Körper im Raum erscheinen (1) und unser eigenes Selbst ist darauf angelegt, eine unbedingte, einfache und im Grunde unveränderliche Einheit darzustellen, die es in Wirklichkeit gar nicht ist.

Ebenso verstellt sich auch das Übel, um andauern zu können: es nimmt den Schein des Guten an.

Dieser täuschende Schein des Guten ist die Quelle aller Laster und Verbrechen und die Phantasie der Menschen hat denselben unter der Erscheinung des Satans, des verführerischen Teufels, personifiziert. Allerdings hat dieser Schein des Guten auch seine wohltätige Seite, sofern nämlich ohne die Linderung, die er der Herbe des Übels beifügt, die abnorme Realität nicht aushalten könnte, sondern sich notgedrungen von selbst vernichten würde. Wäre das Leben ein unaufhörliches und unheilbares Leiden, so könnte es nicht ertragen werden.

Man merke sich nun Folgendes: Alles, was schlecht, gemein und unwürdig, überhaupt alles was physischer Natur ist, beruth auf Täuschung und Schein; dagegen, was erhaben ist: die Philosophie, die Moralität und die Religion, beruth auf der Wahrheit oder wirklichen Realität. Indem wir ganz diesen höheren Interessen leben, werden wir der wahren Realität, des wahren Lebens teilhaftig, während der gemeine und namentlich der boshafte Mensch gleich einem Nachtwandler lebt,  von  Täuschungen und  für  Täuschungen.

Nun sieht man, in welche verhängnisvolle Bahnen heutzutage diejenigen geraten sind, die das Moralische dem Physischen unterzuordnen trachten und - das tatsächliche Verhältnis umkehrend - glauben, daß die empirische Welt erhabener sei als das Denken und das Gewissen des Menschen. Nein, unser Denkgesetz ist mehr als die Welt, denn es besitzt eine höchste Norm, den Begriff des Absoluten und mit ihm die Gewißheit des rein Guten und Wahren, das man sonst in der physischen Welt nirgends vorfindet; es ist zugleich die Basis der Logik und der Wissenschaft, sowie die Grundlage der Moralität und der Religion.
LITERATUR - Afrikan Spir, Von der Erkenntnis des Guten und Bösen, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 19, Leipzig 1895
    Anmerkungen
    1) Wenn die Körper wirklich existieren würden, so wären sie Substanzen, absolute Dinge und unsere Erfahrung besäße dann eine unbedingte Wahrheit: die Physik wäre eine Metaphysik, wie es ja die Materialisten behaupten. In Wirklichkeit jedoch enthält unsere Erfahrung nichts Unbedingtes; die Gegenstände der Wahrnehmung sind unsere eigenen Sinneseindrücke, was sich leicht durch experimentelle Beweise feststellen läßt und auch von allen Denkern anerkannt wird. Aber unsere ganze Erfahrung ist so organisiert, als ob die wahrgenommenen Objekte Körper im Raum wären. Diese systematische Organisation der natürlichen Täuschung ist es, die die relative unserer Erfahrung eigene "Wahrheit" konstituiert und sie erschwert die wahre Erkenntnis der Dinge sogar für geübte Denker so sehr, daß die meisten an die Realität der Körper glauben und doch zugleich erklären, die Erfahrung enthalte nur relative Wahrheit, d. h. sie lassen sich auch dann noch durch den natürlichen Schein beherrschen, wenn sie schon teilweise dessen täuschende Natur erkannt haben.

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