ra-2ra-2P. RéeW. JamesF. C. S. SchillerE. AdickesM. Schlick    
 
WILLIAM KINGDON CLIFFORD
Wahrhaftigkeit
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"Hinsichtlich der heiligen Überlieferung der Menschheit lernen wir, daß sie nicht in Lehrsätzen oder Bestimmungen besteht, welche auf die Autorität der Überlieferung hin angenommen und geglaubt werden müssen, sondern in richtig gestellten Fragen, in Begriffen, die uns befähigen, weitere Fragen zu stellen, und in Methoden, die Fragen zu beantworten. Wer Resultate dazu benutzt, seine eigenen Zweifel zu unterdrücken oder die Forschungen anderer zu verhindern, der macht sich des Frevels schuldig, den Jahrhunderte werden nicht auslöschen können."


II. Die Bedeutung der Autorität

Sollen wir nun alles bezweifeln, immer besorgt sein, einen Fuß vor den andern zu setzen, wenn wir nicht persönlich die Sicherheit des Weges geprüft haben? Sollen wir uns der Hilfe und Leitung berauben, welche jene große Gesamtheit von Erkenntnissen, die täglich der Welt zuwachsen, uns gewähren, weil weder wir noch irgendein anderer Einzelner imstande ist, auch nur den hundertsten Teil davon durch unmittelbare Erfahrung und Beobachtung zu prüfen, und weil, selbst wenn wir es könnten, sie nicht vollständig bewiesen sein würden? Sollen wir stehlen und lügen, weil unsere Erfahrung nicht umfassend genug ist, um den Glauben zu rechtfertigen, daß es unrecht ist, dies zu tun?

Es liegt keine Gefahr vor, daß aus Gewissenhaftigkeit und Selbstbeherrschung in Glaubenssachen sich solche Folgen ergeben könnten. Die Menschen, welche der Pflichterfüllung in dieser Hinsicht am nächsten gekommen sind, haben gefunden, daß gewisse große, für die Lebensführung wichtigste Grundsätze in dem Maße, wie sie sorgfältig und ehrlich geprüft wurden, sich immer mehr als richtig erwiesen, und sind so zu praktischer Gewißheit gelangt. Die Vorstellungen über Recht und Unrecht, welche unsere Handlungen im Verkehrt mit den Menschen in der Gesellschaft leiten, und die Vorstellungen hinsichtlich der physischen Natur, welche unser Verhalten gegen die belebten und unbelebten Körper leiten, diesen schadet die Untersuchung nie; sie sorgen für sich selber, ohne zu ihrer Unterstützung der "Glaubensakte", der Verteidigung durch bezahlte Advokaten oder der Unterdrückung gegenteiliger Beweise zu bedürfen. Überdies gibt es viele Fälle, in denen es unsere Pflicht ist, der Wahrscheinlichkeit nach zu handeln, obwohl die vorliegenden Gründe keinen bestimmten Glauben rechtfertigen; da gerade durch solches Handeln und durch die Beobachtung seiner Folgen die Gründe gewonnen werden, welche einen künftigen Glauben rechtfertigen können. Und so brauchen wir dann nicht zu fürchten, daß die Gewohnheit gewissenhafter Untersuchung die Handlungen unseres täglichen Lebens lähmen würde.

Doch da es nicht genug ist zu sagen: "Es ist unrecht, auf unwürdige Gründe hin zu glauben", ohne hinzuzufügen, welche Gründe würdig sind, so müssen wir nun feststellen, unter welchen Umständen es recht ist, auf das Zeugnis anderer hin zu glauben; und weithin müssen wir die allgemeinere Frage beantworten, wann und warum wir das glauben dürfen, was über unsere eigene Erfahrung oder selbst über die Erfahrung der Menschheit hinausgeht.

In welchen Fällen also, laßt uns zuerst fragen, ist das Zeugnis eines Menschen unglaubwürdig? Wissentlich oder unwissentlich kann er die Unwahrheit sagen. Im ersteren Fall lügt er, und sein moralischer Charakter ist zu tadeln; im letzteren Fall ist er unwissend oder im Irrtum, und nur in seinen Kenntnissen oder seinem Urteil liegt der Fehler. Wenn wir das Recht haben sollen, aufgrund seines Zeugnisses hin zu glauben, was er sagt, so müssen wir vernünftige Gründe haben, seiner  Wahrhaftigkeit  zu trauen, nämlich daß er wirklich versucht, die Wahrheit zu sagen, so weit er sie kennt; ferner seinem  Wissen nämlich daß er die Gelegenheit gehabt hat, die Wahrheit in dieser Sache zu erkennen; und schließlich seinem  Urteil nämlich daß er, als er seine Schlußfolgerungen zog, diese Gelegenheit gehörig benutzt hat.

So klar und einleuchtend diese Erwägungen auch sein mögen, so daß kein Mensch mit gewöhnlichem Verstand, der sich die Sache überlegt, verfehlen könnte, zu ihnen zu gelangen, so ist es dennoch wahr, daß sehr viele Personen sie bei der Prüfung von Zeugnissen regelmäßig mißachten. Die Mehrzahl der Menschen ist vollkommen befriedigt, wenn von den beiden Fragen, die für die Glaubwürdigkeit eines Zeugen gleich wichtig sind: "Ist er redlich?" und "Ist er im Irrtum?" die  eine  mit einiger Wahrscheinlichkeit verneinend beantwortet werden kann. Der treffliche moralische Charakter eines Menschen wird als Grund dafür geltend gemacht, seine Aussagen über Dinge anzunehmen, die er unmöglich gewußt haben kann. Ein Mohammedaner, z. B., versichert uns, der Charakter seines Propheten sei ein so edler und erhabener gewesen, daß er selbst denjenigen Hochachtung abnötigte, welche nicht an seine Mission glaubten. So bewunderungswürdig sei seine moralische Lehre, so weise ineinandergefügt das große soziale Räderwerk, welches er schuf, daß seine Gebote nicht nur von einem großen Teil der Menschheit angenommen, sondern auch wirklich befolgt worden sind. Seine Einrichtungen haben die Schwarzafrikaner aus der Barbarei hinausgeführt und andererseits dem fortgeschrittenen Westen die Zivilisation gelehrt; und obwohl alle die Volksstämme, welche die höchste Form seines Glaubens aufrechthielten und seinen Geist und seine Gedanken am vollkommensten in sich verkörperten, durch barbarische Horden besiegt und hinweggefegt worden sind, so bleibt die Geschichte ihrer wunderbaren Erfolge doch ein unzerstörbarer Ruhmestitel für den Islam. Dürfen wir an den Worten eines so großen und guten Mannes zweifeln? Können wir annehmen, daß dieser erhabene Genius, dieser herrliche moralische Heros uns in Bezug auf die erhabensten und heiligsten Dinge belogen hat? Das Bekenntnis  Mohammeds  ist klar: daß es nur  einen  Gott gibt und daß er,  Mohammed,  sein Prophet ist, daß, wenn wir an ihn glauben, wir ewige Seligkeit genießen, aber verdammt sein werden, wenn wir es nicht tun. Dieses Bekenntnis ruht auf der hehrsten Grundlage: auf der Offenbarung des Himmels selber; denn wurde  Mohammed  nicht durch den Engel  Gabriel  besucht, als er in seiner einsamen Höhle fastete und betete, und wurde ihm nicht erlaubt, in die gesegneten Fluren des Paradieses einzutreten? Wahrlich, Gott ist Gott, und  Mohammed  ist der Prohet Gottes.

Was sollen wir diesem Muselmann entgegnen? Erstens würden wir ohne Zweifel geneigt sein, gegen seine Ansicht vom Charakter des Propheten und dem stets wohltätigen Einfluß des Islam Einwendungen zu erheben: ehe wir ihm hierbei überhaupt folgen könnten, würden wir, so möchte es scheinen, manche schreckliche Dinge, von denen wir gehört oder gelesen haben, vergessen müssen. Aber wenn wir ihm alle diese Behauptungen einmal zugeben wollten, zumal es für den Gläubigen wie für den Ungläubigen schwierig ist, sie gerecht und leidenschaftslos zu erörtern, so würden wir doch etwas zu sagen haben, was den Grund seines Glaubens vernichtet und daher zeigt, daß es unrecht ist, ihn zu hegen. Nämlich dieses: Der Charakter  Mohammeds  beweist vollkommen, daß er ehrlich war und die Wahrheit sprach, so weit er sie kannte; aber dieser Charakter ist gar kein Beweis dafür, daß er wußte, was die Wahrheit war. Welche Mittel konnte er haben, um zu wissen, daß die Gestalt, welche ihm als der Engel  Gabriel  erschien, nicht eine Halluzination und sein angeblicher Besuch im Paradies nicht ein Traum war? Zugegeben, daß er selbst vollständig überzeugt war und ehrlich glaubte, unter dem Schutz des Himmels zu stehen und das Werkzeug einer überirdischen Offenbarung zu sein: - wie konnte er wissen, daß seine starke, feste Überzeugung nicht ein Irrtum war? Versetzen wir uns selbst in seine Lage: wir werden finden, daß, je mehr wir versuchen, uns zu vergegenwärtigen, was in seinem Geiste vor sich ging, wir umso deutlicher erkennen werden, daß der Prophet keinen zureichenden Grund für den Glauben an seine eigene Inspiration haben konnte. Es ist höchstwahrscheinlich, daß er selbst niemals die Sache bezweifelte oder daran dachte, sie in Frage zu stellen; aber wir sind in der Lage derer, an welche die Frage gerichtet worden ist, und welche verpflichtet sind, sie zu beantworten. Medizinischen Beobachtern ist es bekannt, daß Einsamkeit und Mangel an Nahrung mächtige Mittel sind, Jllusionen hervorzurufen und die Tendenz zur Geisteskrankheit zu verstärken. Laßt und demnach annehmen, ich ginge, gleich  Mohammed,  in einsame Gegenden, um zu fasten und zu beten: was kann mir da begegnen, was mir das Recht geben könnte, zu glauben, ich sei vom Himmel inspiriert? Nehmen wir an, ich erhielte, anscheinend von einem himmlischen Besucher, eine Nachricht, welche sich als richtig erweist. Ich kann, erstens, nicht sicher sein, daß der himmlische Besucher nicht ein Gebilde meines eigenen Geistes war, und daß mir die Nachricht nicht, ohne daß es mir bewußt wurde, durch einen verborgenen Kanal der Sinne zuging. Doch wenn mein Besucher ein wirklicher Besucher wäre und mir seit langer Zeit Nachrichten gegeben hätte, die als glaubwürdig befunden worden wären, so würde dies in der Tat ein guter Grund sein, ihm in der Zukunft hinsichtlich solcher Dinge zu glauben, deren Wahrheit sich durch menschliche Mittel ausmachen läßt; aber es würde kein Grund sein, seinem Zeugnis zu glauben, wo es sich um andere Dinge handelt. Denn obwohl sein erprobter Charakter mich berechtigen Würde, zu glauben, daß er die Wahrheit sagt, soweit er sie kennt, so würde sich doch dieselbe Frage einstellen: Welchen Grund haben wir, anzunehmen, daß er sie kennt?

Selbst wenn mein angeblicher Besucher mir solche, später von mir als wahr erkannte, Nachrichten gegeben hätte, welche bewiesen, daß ihm Mittel der Erkenntnis hinsichtlich konstatierbarer Wahrheiten zu gebote stehen, welche die meinigen weit übersteigen, so würde dies meinen Glauben an das nicht rechtfertigen, was er über Dinge sagt, welche einer menschlichen Bestätigung gegenwärtig nicht zugänglich sind. Es würde der Grund für interessante Vermutungen und für die Hoffnung sein, daß wir, als die Frucht unserer geduldigen Forschung, nach und nach zu solchen Mitteln der Beglaubigung gelangen können, welche rechtmäßig die Vermutung in einen Glauben umwandeln. Denn der Glaube gehört der Menschheit und der Führung der menschlichen Angelegenheiten: kein Glaube ist echt, der nicht unsere Taten leitet; und gerade diese Taten ermöglichen die Prüfung seiner Wahrheit.

Aber, kann geantwortet werden, die Annahme des Islam als eines Systems ist gerade jene Tat, welche durch den Glauben an die Mission des Propheten hervorgerufen wird, und welche zur Prüfung ihrer Wahrheit dienen kann. Ist es möglich, anzunehmen, daß ein System, welches einen so guten Erfolg gehabt hat, wirklich auf einer Täuschung beruth? Nicht nur haben einzelne Heilige Freude und Frieden im Glauben gefunden und jene Erfahrungen des Geistes bestätigt gefühlt, welche dem Gläubigen versprochen worden sind, sondern auch ganze Nationen sind durch diesen Glauben aus der Wildheit oder der Barbarei zu einer höheren sozialen Stufe emporgehoben worden. Sicherlich steht es uns frei zu sagen, daß nach dem Glauben gehandelt worden ist und er sich bewahrheitet hat.

Es erfordert jedoch nur eine geringe Überlegung, um zu erkennen, daß, was sich wirklich bewahrheitet hat, durchaus nicht der übernatürliche Charakter der Mission des Propheten oder die Glaubwürdigkeit seiner Autorität in Sachen, die wir nicht prüfen können, sondern lediglich seine praktische Weisheit in gewissen sehr weltlichen Dingen ist. Die Tatsache, daß Gläubige ihre Freude und Frieden im Glauben gefunden haben, gibt uns das Recht, zu sagen, daß die Lehre tröstlich und für die Seele angenehm ist, aber sie gibt uns kein Recht, zu sagen, daß sie wahr ist. Und die Frage, die unser Gewissen immer stellt in Bezug darauf, was wir geneigt sind zu glauben, lautet nicht: "Ist es tröstlich und angenehm?" sondern: "Ist es wahr?" Daß der Prophet gewisse Lehren predigte und voraussagte, daß innerer Trost in ihnen gefunden werden wird, beweist nur seine Sympathie mit der menschlichen Natur und seine Kenntnis derselben; aber es beweist nicht seine übermenschliche Kenntnis der Theologie.

Und wenn wir einmal zugeben wollten (wozu wir schwerlich ein Recht haben), daß die Fortschritte, welche die dem Islam anhängenden Nationen in gewissen Fällen gemacht haben, wirklich dem von  Mohammed  aufgestellten und in der Welt verbreiteten System zu verdanken sind, so sind wir nicht berechtigt, daraus zu schließen, daß er inspieriert war, die Wahrheit über Dinge zu verkünden, deren Wahrheit wir nicht feststellen können. Wir sind nur berechtigt zu schließen, daß seine moralischen Vorschriften oder die Mittel, welche er ersann, um die Menschen so zu beeinflussen, daß sie jenen wirklich gehorchen, oder der soziale und politische Mechanismus, welchen er einrichtete, vortrefflich waren. Und es würde einen großen Aufwand an sorgfältiger Untersuchung der Geschichte jener Nationen erfordern, um zu entscheiden, welches von diesen Dingen den größten Anteil am Resultat hatte. So ist es auch hier wieder nur des Propheten Kenntnis der menschlichen Natur und seine Sympathie mit derselben, und nicht seine göttliche Inspiration oder seine Kenntnis der Theologie, was bewahrheitet worden ist.

Wenn es nur  einen  Propheten gäbe, dann könnte es in der Tat als eine schwere und sogar als eine undankbare Aufgabe erscheinen, zu entscheiden, in welchen Punkten wir  Mohammed  vertrauen dürfen und in welchen wir seine Autorität bezweifeln müssen; da wir doch gewahren, welche Hilfe und Förderung aller Menschen zu allen Zeiten von denjenigen zuteil geworden ist, welche klarer sahen, tiefer fühlten und die Wahrheit mit einem aufrichtigeren Herzen suchten, als ihre schwächeren Brüder. Aber es gibt nicht nur  einen  Propheten; und während die Übereinstimmung vieler in dem, wofür sie als Menschen wirkliche Mittel zur Kenntnisnahme hatten, und was sie auch wirklich wußten, sich bis ans Ende dauern erwiesen hat und mit Ehren in den großen Bau menschlicher Wissenschaft eingefügt worden ist, bleiben uns die verschiedenen Zeugnisse Einzelner über das, was sie nicht wußten und nicht wissen können, eine Mahnung, daß die prophetische Autorität zu überschätzen, sie mißbrauchen und diejenigen mißachten heißt, welche gesucht haben, uns nach ihrem Vermögen zu helfen und zu fördern. Es liegt schwerlich in der menschlichen Natur, daß ein Mensch die Grenzen seiner eigenen Einsicht ganz genau ermißt; aber es ist die Pflicht derer, die aus seinem Werk Nutzen ziehen, sorgfältig zu untersuchen, wo er über sie hinausgegangen sein mag. Wenn wir durchaus seine möglichen Irrtümer mitsamt seinem sicher Errungenen annehmen und seine Autorität als Entschuldigung für unseren Glauben an das benutzen wollen, was er nicht gewußt haben kann, so machen wir seine Güte zu einer Veranlassung zur Sünde.

Um nur noch ein anderes solches Zeugnis zu betrachten: die Nachfolger  Buddhas  haben wenigstens ebensoviel Recht, sich auf individuelle und soziale Erfahrungen zum Beweis der Autorität des Erlösers des Ostens zu berufen. Das besondere Merkmal seiner Religion, so sagt man, das, worin sie noch nie übertroffen worden ist, ist die Erquickung und der Trost, die sie den Kranken und Kummervollen spendet, das zarte Mitgefühl, mit dem sie all die Leiden der Menschen mildert und besänftigt. Und sicherlich kann kein Triumph sozialer Moral größer und edler sein, als der, welcher nahezu die Hälfte der Menschheit vor Verfolgung im Namen der Religion bewahrt hat. Wenn wir den Berichten seiner ersten Nachfolger trauen dürfen, so glaubte er selbst, mit einer himmlischen und kosmischen Mission auf die Erde gekommen zu sein, um das Rad des Gesetzes in Bewegung zu setzen. Ursprünglich ein Prinz, entäußerte er sich seines Königreiches und begab sich freiwillig in das Elend, damit er lernte, wie ihm zu begegnen und wie es zu bewältigen ist. Konnte so ein Mann über heilige Dinge die Unwahrheit sagen? Und was sein Wissen anbetrifft, war er nicht ein Wundertäter, mit Kräften begabt, höher als die des Menschen? Er war vom Weibe geboren, ohne des Mannes Hilfe; er stieg in die Lüfte und wurde von den Seinen verklärt; schließlich fuhr er von der Spitze des Adamberges körperlich in den Himmel. Ist nicht seinem Wort zu glauben, wenn er himmlische Dinge bezeugt?

Wenn es nur ihn gäbe und keinen anderen mit ebensolchen Ansprüchen! Doch da ist  Mohammed  mit seinem Zeugnis; wir können nicht umhin, auf beide zu hören. Der Prophet sagt uns, daß es  einen Gott  gibt, und daß wir ewig in Freude oder Elend leben werden, je nachdem wir dem Propheten glauben oder nicht.  Buddha  sagt, daß es keinen Gott gibt und daß wir nach und nach vernichtet werden, wenn wir gut genug sind. Beide können nich unfehlbar inspiriert sein; der eine oder andere muß das Opfer einer Täuschung gewesen sein und geglaubt haben, er wisse, was er in Wirklichkeit nicht wußte. Wer wagt es zu sagen, welcher? und wie können wir es rechtfertigen, zu glauben, daß der andere nicht auch in einer Täuschung befangen war?

Wir sind demnach zu folgendem Urteil gelangt: die Güte und Größe eines Menschen rechtfertigt es nicht, daß wir auf seine Autorität hin einen Glauben annehmen, wenn es nicht vernünftige Gründe zu der Voraussetzung gibt, daß er die Wahrheit dessen wußte, was er sagte. Und es kann keine Gründe für die Annahme geben, daß ein Mensch das weiß, was wir, ohne daß wir aufhören, Menschen zu sein, unmöglich als wahr dartun können.

Wenn ein Chemiker mir, der ich kein Chemiker bin, sagt, daß eine gewisse Substanz hergestellt werden kann, wenn andere Substanzen in gewissen Verhältnissen miteinander vermischt und einem bekannten Prozeß unterworfen werden, so bin ich ganz berechtigt, ihm dies auf seine Autorität hin zu glauben, sofern ich nichts gegen seinen Charakter oder gegen sein Urteil einwenden kann. Denn seine berufsmäßige Bildung ist darauf gerichtet, die Wahrhaftigkeit und die ehrliche Forschung nach Wahrheit zu fördern und ein Mißfallen an voreiligen Schlüssen und leichtfertigen Untersuchungen hervorzurufen. Und ich habe vernünftige Gründe zu der Annahme, daß er die Wahrheit dessen weiß, was er sagt; denn obwohl ich kein Chemiker bin, kann ich doch dazu gebracht werden, so viel von den Methoden dieser Wissenschaft zu verstehen, um, ohne aufzuhören, ein Mensch zu sein, die Wahrheit seiner Behauptung feststellen zu können. Ich mag sie in Wirklichkeit niemals feststellen oder auch nur  ein  Experiment sehen, welches darauf hinzielt, sie zu bestätigen; dennoch bin ich völlig berechtigt zu glauben, daß jene Bestätigung etwas uns Menschen Mögliches ist, und im Besonderen, daß sie von meinem Gewährsmann tatsächlich erbracht worden ist. Sein Ergebnis, der Glaube, zu dem er durch seine Untersuchungen gelangt ist, ist nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere gültig; es ist von denen beachtet und geprüft worden, welche auf demselben Gebiet arbeiten, und welche wissen, daß der Wissenschaft kein größerer Dienst geleistet werden kann, als durch die Reinigung angenommener Resultate von den Irrtümern, die sich in sie eingeschlichen haben. Auf diese Weise werden die gewonnenen Ergebnisse Gemeingut, ein rechtmäßiger Gegenstand des Glaubens, welcher eine gesellschaftliche, keine bloß private Angelegenheit ist. So sehen wir, daß seine Autorität Geltung hat, weil es Menschen gibt, die sie in Frage stellen und prüfen, - daß es gerade dieses Verfahren der Untersuchung und Reinigung ist, welches unter den Forschern die Liebe für das wach erhält, was alle Proben bestehen kann: das Gefühl öffentlicher Verantwortlichkeit als von solchen Personen, deren Werk, wenn es wohl getan wird, der Menschheit als ein dauerndes Erbe verbleiben wird.

Aber wenn mein Chemiker mir sagt, daß ein Atom Oxygen im Gewicht und in der Art der Vibration durch alle Zeiten unverändert vorhanden war, so habe ich kein Recht, dies auf seine Autorität hin zu glauben; denn es ist etwas, was er nicht wissen kann, ohne aufzuhören, ein Mensch zu sein. Er mag ganz ehrlich überzeugt sein, daß diese Behauptung eine rechtmäßige Folgerung aus seinen Experimenten ist; doch in diesem Fall ist sein Urteil ein falsches. Eine sehr einfache Betrachtung des Charakters der Experimente würde ihm klar machen, daß sie niemals zu Resultaten dieser Art führen können, - daß, da sie selbst nur approximativ und begrenzt sind, sie uns keine Kenntnis geben können, welche exakt und schlechthin allgemein ist. Keine Trefflichkeit des Charakters und Talents kann einem Mann Autorität genug geben, um uns zu rechtfertigen, ihm zu glauben, wenn er Behauptungen aufstellt, welche exakte oder schlechthin allgemeine Kenntnisse voraussetzen.

Ein Nordpolfahrer kann uns erzählen, daß er unter einem gegebenen Breiten- und Längengrad den und den Grad Kälte gefunden, daß das Meer die und die Tiefe und das Eis die und die Eigenschaften gehabt hat. Wir würden ganz im Recht sein, ihm zu glauben, falls seine Wahrheitsliebe keinem Zweifel unterliegt. Es ist denkbar, daß wir, ohne aufzuhören Menschen zu sein, hingehen und seine Behauptung bestätigt finden können; sie kann durch das Zeugnis seiner Gefährten geprüft werden; und es besteht ein zureichender Grund zu der Annahme, daß er die Wahrheit dessen weiß, was er sagt. Aber wenn ein alter Walfischjäger uns erzählt, daß das Eis den ganzen Weg bis zum Pol dreihundert Fuß dick ist, so sind wir nicht berechtigt, ihm zu glauben, Denn obgleich die Wahrheit jener Behauptung durch Menschen überhaupt angestellt werden könnte, so konnte sie doch sicherlich nicht durch  ihn  festgestellt werden, durch keines der Mittel, welche er besaß; und er muß zum Glauben an die Wahrheit der Sache durch solche Mittel gelangt sein, welche seinem Zeugnis keinerlei Gewicht geben. Selbst wenn also die behauptete Tatsache im Bereich menschlicher Kenntnisnahme liegt, so haben wir doch kein Recht, sie auf Autorität hin anzunehmen, wenn sie nicht im Bereich der Kenntnisnahme unseres Berichterstatters liegt.

Was sollen wir von jener Autorität sagen, die ehrwürdiger und erhabener ist, als irgendein individuelles Zeugnis: von der durch die Zeit geheiligten Tradition der Menschheit? Durch die Mühe und Arbeit unserer Vorfahren hat sich eine Atmosphäre von Glaubensvorstellungen und Begriffen gebildet, welche uns befähigt, inmitten der verschiedenen und verwickelten Umstände unseres Lebens zu atmen. Sie ist um uns und über und in uns: wir könnten nicht denken, außer in den Formen und Denkprozessen, zu welchen sie uns verhilft. Ist es möglich, an ihr zu zweifeln und sie zu prüfen? und wenn möglich, ist es recht?

Wir werden Gründe zu der Antwort finden, daß es nicht nur möglich und recht, sondern unsere unbedingte Pflicht ist; daß der Hauptzweck der Tradition selbst der ist, uns die Mittel zu verschaffen, Fragen zu stellen und die Dinge zu prüfen und zu untersuchen; daß, wenn wir sie mißbrauchen und als eine Sammlung fix und fertig gelieferter Bestimmungen auffassen, die ohne eine weitere Untersuchung anzunehmen sind, wir nicht nur jetzt uns selbst schädigen, sondern durch unsere Weigerung, unseren Teil zum Aufbau des Gebäudes beizutragen, welches unsere Kinder von uns erben sollen, darauf hinwirken, daß wir selbst und unser Geschlecht vom Stamm der Menschheit abgeschnitten werden.

Prüfen wir zuerst eine Art der Tradition, welche zu untersuchen und in Frage zu stellen besonders erforderlich ist, weil sie besonders vor der Untersuchung zurückschreckt. Nehmen wir an, ein Medizinmann im Innern Afrikas erzählt seinem Stamm, daß ein gewisser wundertätiger Fetisch in seinem Zelt versöhnt wird, wenn sie ihr Vieh töten, und daß der Stamm ihm Glauben schenken soll. Ob der Fetisch versöhnt worden ist oder nicht, kann nicht festgestellt werden; doch das Vieh ist verloren. Dennoch kann sich im Stamm der Glaube erhalten, daß auf diese Art eine Versöhnung bewirkt worden ist; und in einer späteren Generation wird es für einen anderen Medizinmann umso leichter sein, sie zu einem ähnlichen Tun zu überreden. Hier ist der einzige Grund für den Glauben der, daß so lange Zeit hindurch ein jeder die Sache geglaubt hat, daher muß sie wahr sein. Und doch ist der Glaube auf einen Betrug gegründet und nur durch Leichtgläubigkeit verbreitet worden.  Der  Mann wird zweifellos recht tun und ein Freund der Menschen sein, der ihn in Frage stellt und sieht, daß kein Grund für ihn vorliegt, der seinen Nächsten hilft, dasselbe zu sehen, wie er, und sogar, wenn es nötig ist, in das heilige Zelt zu gehen und den Fetisch zu zerschmettern.

Die Regel, welche uns in solchen Fällen leiten muß, ist einfach und klar genug: daß das Gesamtzeugnis unserer Nächsten denselben Bedingungen unterliegt, wie das Zeugnis irgendeines derselben. Nämlich: wir haben kein Recht, eine Sache darum für wahr zu halten, weil ein jeder so sagt, wenn nicht gute Gründe zu der Annahme vorliegen, daß wenigstens  eine  Person die Mittel besitzt, um zu  wissen was wahr ist, und sie die Wahrheit spricht, soweit sie sie kennt. Wieviele Nationen und Generationen von Menschen auch immer in die Zeugenloge gebracht werden mögen, - sie können nichts bezeugen, wenn sie nichts  wissen.  Ein jeder, der die Sache von einem Anderen angenommen hat, ohne sie selbst zu prüfen und ihre Wahrheit festzustellen, scheidet aus der Zeugenschaft aus; sein Wort ist gänzlich wertlos. Und wenn wir schließlich zum wahren Anfang und Ursprung der behaupteten Sache zurückgelangen, so müssen zwei ernste Fragen in Bezug auf denjenigen, der die Behauptung zuerst machte, erledigt werden: War er im Irrtum, indem der dachte, er  wüßte  etwas um die Sache, oder log er?

Diese letzte Frage ist unglücklicherweise eine sehr aktuelle und praktische, sogar für uns in diesen Tagen und in diesem Land. Wir haben es nicht nötig, nach La Salette oder nach Zentralafrika oder nach Lourdes zu gehen, um Beispiele eines unmoralischen und erniedrigenden Aberglaubens zu finden. Es ist für ein Kind nur zu möglich, in London aufzuwachsen, umgeben von einer Atmosphäre von Glaubensvorstellungen, die nur für die Wilden passen und in unserer eigenen Zeit auf Betrug gegründet und durch Leichtgläubigkeit verbreitet worden sind.

Indem wir also solche Traditionen beiseite lassen, welche ungeprüft von Generation zu Generation überliefert worden sind, betrachten wir nun diejenigen, welche sich ehrlich aus den gemeinsamen Erfahrungen der Menschheit gebildet haben. Dieses große System dient zur Leitung unserer Gedanken und durch sie unserer Taten, in der moralischen wie in der physischen Welt. In der moralischen Welt gibt es uns zum Beispiel den Begriff von Recht im allgemeinen, von Gerechtigkeit, Wahrheit, Wohltätigkeit und dgl. Diese sind als Begriffe, nicht als Behauptungen oder Lehrsätze gegeben; sie entsprechen gewissen bestimmten Instinkten, welche sicherlich in uns sind, wie sie auch immer in uns hineingekommen sein mögen. Daß es recht ist, wohltätig zu sein, ist eine Sache unmittelbarer persönlicher Erfahrung; denn, wenn ein Mensch sich in sich selbst zurückzieht und dort etwas findet, größer und dauernder als seine einsame Persönlichkeit, was sagt: "Ich will recht tun", ebenso gut als: "Ich will den Menschen Gutes tun", so kann er es durch direkte Beobachtung ausmachen, daß der eine Instinkt auf dem andern beruth und vollständig mit ihm übereinstimmt. Und es ist seine Pflicht, dies wie alle ähnlichen Bestimmungen so auszumachen.

Die Tradition sagt an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit auch, daß die und die Handlungen gerecht oder wahr oder wohltätig sind. Für alle solche Regeln ist eine weitere Untersuchung notwendig, da sie zuweilen von einer anderen Autorität ausgehen, als derjenigen des auf Erfahrungen gegründeten moralischen Gefühls. Bis vor kurzem lehrte die moralische Tradition unseres Landes - und in der Tat die von ganz Europa, - daß es ein wohltätiges Werk ist, unterschiedslos den Bettlern Geld zu geben. Doch das Infragestellen dieser Regel und die Untersuchung derselben führten dahin, einzusehen, daß wahre Wohltätigkeit die ist, welche dem Menschen gilt, die Arbeit zu tun, für die er am meisten geeignet ist, - nicht jene "Wohltätigkeit", welche ihn in der Trägheit erhält und bestärkt; und daß diese Unterscheidung jetzt vernachlässigen, Verarmung und Elend für die Zukunft vorbereiten heißt. Durch diese Prüfung und Erörterung ist nicht nur die praktische Tätigkeit reiner und heilsamer geworden, sondern der Begriff der Wohltätigkeit selbst ist weiter und weiser geworden. Hier besteht nun das große soziale Erbe aus zweit Teilen: dem Instinkt der Wohltätigkeit, welcher eine gewisse Seite unserer Natur, wenn sie überwiegt, wünschen läßt, den Menschen Gutes zu tun, und dem intellektuellen Begriff der Wohltätigkeit, welchen wir mit jeder vorgeschlagenen Art des Verhaltens vergleichen können, indem wir fragen: "Ist dies wohltätig oder nicht?" Durch das fortgesetzte Aufstellen und Beantworten solcher Fragen wächst der Begriff an Weite und Deutlichkeit, und der Instinkt wird stärker und reiner. So ergibt es sich also, daß der große Nutzen des Begriffs, des intellektuellen Teils des Erbes, der ist, uns das Stellen von Fragen zu ermöglichen; daß er wächst und aufrechterhalten wird mittels dieser Fragen, und wenn wir ihn nicht zu diesem Zweck benutzen, wir ihn allmählich ganz und gar verlieren und mit einer bloßen Liste von Regeln zurückbleiben, welche rechtmäßigerweise überhaupt nicht mehr Moral genannt werden kann.

Solche Betrachtungen haben eine womöglich noch klarere Anwendung auf die Gesamtheit von Vorstellungen und Begriffen, welche unsere Väter für uns in Bezug auf die materielle Welt gesammelt haben. Wir sind geneigt, über die "Daumenregel" des Australiers zu lachen, der fortfährt, sein Beil seitwärts an den Griff festzubinden, obwohl der englische Fabrikant es mit einem Loch versehen hat, damit er den Griff hineinstecken kann. Sein Volk hat seit Menschenaltern die Beile so angebunden: wer ist er, daß er sich gegen ihre Weisheit auflehnen sollte? Er ist so tief gesunken, daß er das nicht mehr zu tun vermag, was einige seiner Vorfahren in der fernen Vergangenheit getan haben müssen: eine hergebracht Gewohnheit in Frage stellen und etwas Besseres erfinden oder erlernen. Aber hier, im dämmernden Anfang des Wissens, wo Wissenschaft und Kunst noch eins sind, finden wir nur dieselbe einfache Regel, welche auf die höchste Spitze und den tiefsten Grund jenes kosmischen Baumes, auf seine äußersten blumenbekrönten Zweige wie auf die tiefsten seiner verborgenen Wurzeln Anwendung findet: die Regel nämlich, daß, was aufgehäuft und uns hinterlassen worden ist, rechtmäßig von denen benutzt wird, welche so handeln, wie die Erfinder handelten, als sie es aufhäuften: von denen, welche es dazu benutzen, weitere Fragen zu stellen, zu prüfen, zu untersuchen; welche ernst und ehrlich zu finden suchen, welches der rechte Weg ist, die Dinge zu betrachten und zu benutzen.

Eine richtig gestellte Frage ist bereits halb beantwortet, sagt JACOBI; wir können hinzufügen, daß die Methode der Lösung die andere Hälfte der Antwort ist, und daß das wirkliche Resultat neben diesen beiden nichts gilt. Nehmen wir als Beispiel den Telegraphen, bei dem Theorie und Praxis, eins wie das andere völlig ausgereift, sich zum fruchtbarsten Dienst der Menschen wunderbar vereinen. OHM fand, daß die Stärke des elektrischen Stromes zur Stärke der Batterie, die ihn produziert, im direkten Verhältnis und im umgekehrten zur Länge des Leitungsdrahtes steht, an dem er entlang läuft. Dies wird das  Ohmsche Gesetz  genannt; doch das Resultat, als ein zu glaubender Satz betrachtet, ist nicht der wertvolle Teil davon. Die erste Hälfte ist die Frage: Welches Verhältnis besteht zwischen diesen Größen? So gestellt, enthält die Frage bereits den Begriff der Stärke des Stroms und der Stärke der Batterie, als Größen, die gemessen und verglichen werden müssen; sie weist deutlich darauf hin, daß dies die Dinge sind, auf welche beim Studium des elektrischen Stroms geachtet werden muß. Die zweite Hälfte ist die Methode der Forschung: wie diese Größen zu messen sind, welche Apparater für das Experiment erfordert werden, und wie sie zu benutzen sind. Man verlangt vom Schüler, der die Elektrizität zu studieren beginnt nicht, daß er an das  Ohmsche Gesetz  glaubt; man läßt ihn einfach die Frage verstehen, stellt ihn vor die Apparate und lehrt ihn, wie sie zu lösen ist. Er lernt mit den Dingen etwas tun, nicht zu glauben, daß er sie kennt, - Instrumente benutzen und Fragen stellen, nicht überlieferte Bestimmungen annehmen. Die Frage, welche richtig zu stellen ein Genie erfordern würde, wird von einem Lehrling beantwortet. Wenn OHMs Gesetz plötzlich verloren und von allen Menschen vergessen würde, während die Frage und die Methode der Lösung übrig bliebe, so könnte das Resultat in einer Stunde wieder entdeckt werden. Doch das Resultat ansich wäre, wenn es einem Volk bekannt wäre, das den Wert der Frage und die Mittel, sie zu lösen, nicht verstehen könnte, wie eine Uhr in der Hand eines Wilden, der sie nicht aufziehen kann.

Hinsichtlich der heiligen Überlieferung der Menschheit lernen wir also, daß sie nicht in Lehrsätzen oder Bestimmungen besteht, welche auf die Autorität der Überlieferung hin angenommen und geglaubt werden müssen, sondern in richtig gestellten Fragen, in Begriffen, die uns befähigen, weitere Fragen zu stellen, und in Methoden, die Fragen zu beantworten. Der Wert aller dieser Dinge hängt von ihrer täglichen Erprobung ab. Gerade die Heiligkeit dieses kostbaren Unterpfandes macht es zu unserer Pflicht und Schuldigkeit, es nach allen unseren Kräften zu prüfen, zu reinigen und zu vergrößern. Wer dessen Resultate dazu benutzt, seine eigenen Zweifel zu unterdrücken oder die Forschungen anderer zu verhindern, der macht sich des Frevels schuldig, den Jahrhunderte werden nicht auslöschen können. Wenn die Arbeit und Forschung ehrlicher und tapferer Männer das Gebäude gewußter Wahrheit zu einer Pracht und Herrlichkeit emporgeführt haben wird, welche wir in dieser Generation weder erhoffen noch uns ausmalen können, dann wird in diesem reinen und heiligen Tempel kein Platz für ihn sein, sondern sein Name und seine Werke werden für immer in das Dunkel der Vergessenheit verstoßen sein.


III. Die Grenzen des Folgerns

Die Frage, in welchen Fällen wir das glauben dürfen, was unsere Erfahrung übersteigt, ist eine sehr große und schwierige, da sie den ganzen Bereich des wissenschaftlichen Verfahrens umfaßt und eine beträchtliche Vertiefung in dessen Anwendung verlangt, bevor sie mit einer auch nur annähernden Vollständigkeit beantwortet werden kann. Doch  eine  Regel von außerordentlicher Einfachheit und größter praktischer Wichtigkeit, die uns sogleich aufstößt, mag hier berührt und in Kürze dargelegt werden.

Einige Überlegung wird uns zeigen, daß jeder Glaube, selbst der einfachste und ursprünglichste, über unsere Erfahrung hinausgeht, wenn er als Führer unseres Handelns betrachtet wird. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, weil es glaubt, daß das Feuer es heute ebenso verbrennen wird, wie gestern; doch dieser Glaube geht über die Erfahrung hinaus und setzt voraus, daß das unbekannte Feuer von heute dem bekannten von gestern gleich ist. Sogar der Glaube, daß das Kind sich gestern verbrannte, geht über in die  gegenwärtige  Erfahrung hinaus, welche nur die Erinnerung an das Verbrennen enthält, nicht das Verbrennen selbst; er setzt demnach voraus, daß dieser Erinnerung glaubwürdig ist, obgleich wir wissen, daß die Erinnerung oft irrig sein kann. Aber wenn er zur Leitung des Handelns und als ein Wink, wie die Zukunft sein wird, dienen soll, so muß er etwas hinsichtlich dieser Zukunft annehmen, nämlich, daß sie mit der Voraussetzung übereinstimmt, daß das Verbrennen gestern wirklich stattfand; was über die Erfahrung hinausgehen heißt. Selbst das grundlegende "Ich bin", welches nicht bezweifelt werden kann, ist kein Führer zum Handeln, wenn es nicht zu sich selbst "Ich werde sein" hinzufügt; was über die Erfahrung hinausgeht. Die Frage ist demnach nicht: "Dürfen wir glauben, was über die Erfahrung hinausgeht?" denn dies ist in der eigensten Natur des Glaubens enthalten; sondern: "Wie weit und in welcher Weise dürfen wir bei der Bildung unseres Glaubens zu unserer Erfahrung etwas hinzufügen?"

Und eine Antwort von entscheidender Einfachheit und Allgemeinheit wird durch das Beispiel, das wir gewählt haben, "Ein gebranntes Kind scheut das Feuer", an die Hand gegeben. Wir können über die Erfahrung hinausgehen, indem wir annehmen, daß das, was wir nicht wissen, dem gleich ist, was wir wissen; oder, mit anderen Worten, wir können unter der Voraussetzung der Gleichförmigkeit der Natur etwas zu unserer Erfahrung hinzufügen. Was diese Gleichförmigkeit genauer ist, wie wir von Geschlecht zu Geschlecht in ihrer Erkenntnis Fortschritte machen, das sind Fragen, welche wir gegenwärtig beiseite legen, indem wir uns damit begnügen, zwei Fälle zu untersuchen, welche dazu dienen können, die Natur der Regel klarer zu machen.

Aus gewissen mit dem Spektroskop gemachten Beobachtungen schließen wir auf das Vorhandensein von Hydrogen in der Sonne. Wenn wir durch das Spektroskop sehen, während die Sonne dessen Spalte bescheint, bemerken wir gewisse bestimmte helle Linien, und Experimente, die mit irdischen Körpern angestellt worden sind, haben uns gelehrt, daß, wenn diese hellen Linien gesehen werden, Hydrogen deren Quelle ist. Wir setzen demnach voraus, daß die unbekannten hellen Linien in der Sonne den bekannten hellen Linien im Laboratorium gleich sind, und daß Hydrogen in der Sonne sich ebenso verhält, wie Hydrogen sich unter gleichen Umständen auf der Erde verhält.

Aber vertrauen wir unserem Spektroskop nicht zu sehr? Wenn wir es für irdische Stoffe, bei denen seine Angaben durch Menschen bestätigt werden können, des Vertrauens wert befunden haben, dann sind wir gewiß berechtigt, sein Zeugnis auch in anderen gleichen Fällen anzunehmen; aber sind wir es, wenn es uns über Dinge in der Sonne Kunde gibt, in Bezug auf welche sein Zeugnis von den Menschen nicht direkt bestätigt werden kann?

Sicherlich müssen wir ein wenig mehr wissen, ehe wir diese Schlußfolgerung berechtigt finden dürfen; und glücklicherweise wissen wir etwas mehr. Das Spektroskop bezeugt in den beiden Fällen genau dasselbe, nämlich, daß Lichtschwingungen einer gewissen Art durch dasselbe hindurchgehen. Seine Konstruktion ist eine solche, daß, wenn es hierin in dem einen Fall falsch wäre, es auch im andern falsch sein würde. Wenn wir uns die Sache näher ansehen, so finden wir, daß wir in der Tat vorausgesetzt haben, die Materie der Sonne sei der Materie der Erde gleich, aus einer gewissen Anzahl bestimmter Substanzen zusammengesetzt, und daß jede derselben, wenn sie sehr heißt ist, eine bestimmte Anzahl von Schwingungen hat, durch die sie erkannt und aus den übrigen herausgefunden werden kann. Aber dies ist eben die Art von Annahme, deren wir uns rechtmäßig bedienen dürfen, wenn wir zu unserer Erfahrung etwas hinzufügen. Es ist die Annahme einer Gleichförmigkeit in der Natur und kann nur durch den Vergleich mit vielen ähnlichen Annahmen, welche wir in anderen solchen Fällen zu machen haben, kontrolliert werden.

Aber ist dieser Glaube an das Vorhandensein von Hydrogen in der Sonne berechtigt? Kann er mit zur richtigen Leitung des menschlichen Handelns führen? Sicherlich nicht, wenn er auf unwürdige Gründe hin und ohne Verständnis für das Verfahren, wodurch man zu ihm gelangt ist, gehegt wird. Doch wenn dieses Verfahren als Grund des Glaubens dient, dann wird er eine sehr ernste und praktische Sache. Denn wenn in der Sonne kein Hydrogen ist, so muß das Spektroskop - das heit, die Messung der Anzahl Schwingungen - ein sehr unsicherer Wegweiser zur Erkennung der verschiedenen Stoffe sein; und es sollte folglich zur chemischen Analyse, bei Metallproben z. B., nicht gebraucht werden, um sich große Zeitopfer, Mühe und Geld zu ersparen. In Wahrheit aber hat die Annahme der spektroskopischen Methode als einer glaubwürdigen uns nicht nur mit neuen Metallen bereichert, was eine große Sache ist, sondern auch mit neuen Untersuchungsweisen, was noch weit bedeutsamer ist.

Betrachten wir, als ein anderes Beispiel, die Art und Weise, wie wir die Wahrheit einer historischen Begebenheit, sagen wir: der Belagerung von Syrakus im peloponnesischen Krieg, folgern. Unsere Erfahrung ist, daß Handschriften vorhanden sind, welche Handschriften des THUKYDIDES sein ollen und sich selbst so nennen; daß in anderen Handschriften, von denen festgestellt ist, daß sie von späteren Historikern herstammen, von ihm gesagt wird, er habe während der Zeit des pelopponesischen Krieges gelebt; und daß Bücher, welche aus der Renaissancezeit stammen sollen, uns berichten, wie diese Schriften sich erhalten hatten und damals erworben wurden. Wir finden auch, daß die Menschen in der Regel ohne ein besonderes Motiv Bücher und Erzählungen nicht fälschen; wir setzen voraus, daß die Menschen der Vergangenheit in dieser Hinsicht den Menschen in der Gegenwart gleichen; und wir bemerken, daß in diesem Fall kein besonderes Motiv vorlag. Das heißt, wir fügen zu unserer Erfahrung etwas hinzu aufgrund der Annahme einer Gleichförmigkeit in den menschlichen Charakteren. Weil unsere Kenntnis dieser Gleichförmigkeit weit weniger vollständig und genau ist als unsere Kenntnis derjenigen, welche in der Physik obwaltet, so sind Schlußfolgerungen historischer Art weit unsicherer und weniger genau, als die Folgerungen vieler anderer Wissenschaften.

Wenn aber irgendein besonderer Grund vorliegt, dem Charakter der Personen, welche Bücher schrieben oder überlieferten, nicht zu trauen, so wird die Sache anders. Wenn eine Sammlung von Dokumenten den Beweis liefert, daß sie unter Menschen entstanden sind, welche Bücher schrieben und dieselben für Bücher anderer Personen ausgaben, und welche be der Beschreibung von Ereignissen solche Dinge unterdrückten, die ihnen nicht paßten, während sie solche vergrößerten, die ihnen paßten, - welche nicht nur diese Verbrechen begingen, sondern sich ihrer als Beweise ihrer Demut und ihres Eifers auch noch rühmten; so müssen wir sagen, daß auf solche Dokumente keine waren historischen Schlußfolgerungen gegründet werden können, sondern nur unzureichende Vermutungen möglich sind.

Wir können demnach unsere Erfahrung unter der Voraussetzung einer Gleichförmigkeit in der Natur ergänzen; wir können unser Bild von dem, was ist und gewesen ist, wie die Erfahrung es uns gibt, ausfüllen, in einer Weise, daß das Ganze mit jener Gleichförmigkeit im Einklang steht.

Kein Zeugnis daher kann uns das Recht geben, an die Wahrheit einer Angabe zu glauben, welche der Gleichförmigkeit der Natur widerspricht oder außerhalb derselben steht. Wenn unsere Erfahrung eine solche ist, daß sie mit jener Gleichförmigkeit nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann, so ist alles, worauf wir schließen dürfen, nur dieses, daß irgendwo irgendetwas nicht in Ordnung ist; aber die Möglichkeit, sonst irgendetwas zu folgern, fällt fort; wir müssen bei unserer Erfahrung stehen bleiben und können überhaupt nicht über sie hinausgehen. Wenn wirklich ein Ereignis stattfände, welches kein Teil der Gleichförmigkeit der Natur wäre, so würde es zwei Eigenheiten haben: kein Zeugnis könnte irgendjemand das Recht geben, es zu glauben, außer denjenigen, deren wirkliche Erfahrung es war, und überhaupt gar keine glaubwürdige Folgerung könnte auf sie gegründet werden.

Sind wir denn also zu glauben verbunden, daß die Natur absolut und schlechthin allgemein gleichförmig ist? Sicherlich nicht; wir haben kein Recht, irgendetwas derart zu glauben. Die Regel sagt uns nur, daß wir bei der Bildung von Überzeugungen, die über unsere Erfahrung hinausgehen, die Voraussetzung machen dürfen, daß die Natur gleichförmig ist, soweit unsere Praxis in Betracht kommt. Innerhalb des Bereiches menschlichen Tuns und Bestätigens können wir mit Hilfe dieser Voraussetzung zu wirklichen Überzeugungen gelangen, jenseits desselben nur zu solchen Hypothesen, die dem genaueren Aufstellen von Fragen dienen.

Ziehen wir die Summe unserer Erörterungen: 
Wir dürfen nur dann etwas glauben, was über unsere Erfahrung hinausgeht, wenn es aus dieser Erfahrung unter der Voraussetzung gefolgert ist, daß das, was wir nicht wissen, dem gleich ist, was wir wissen.

Wir dürfen der Angabe eines andern glauben, wenn ein vernünftiger Grund vorliegt, anzunehmen, daß er die Sache kennt, von der er redet, und daß er die Wahrheit sagt, soweit er sie kennt.

Es ist in allen Fällen unrecht, auf ungenügende Beweise hin zu glauben; und wo es eine Anmaßung ist, zu zweifeln und zu forschen, da ist es noch etwas Schlimmeres als Anmaßung, zu glauben.
LITERATUR - William Kingdon Clifford, Wahrhaftigkeit, Frankfurt/Main 1905