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WILHELM TRAUGOTT KRUG
(1770 - 1842)
Briefe über die
Wissenschaftslehre


Die Kritik hebt mit dem Satz an, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, weil das Erkenntnisvermögen nicht zur Ausübung erweckt werden kann, wenn es nicht durch Gegenstände geschieht, die unsere Sinne rühren ... um so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt. - ... sie läßt aber auch im Fortgang ihrer Untersuchung die Frage, woher der Stoff der empirischen Erkenntnis kommt, ganz zur Seite liegen, und indem sie die Voraussetzung annimt, daß derselbe von den Gegenständen gegeben wird, so beschäftigt sie sich bloß mit der Untersuchung der formalen Bedingungen oder der in der urprünglichen Einrichtung des Gemüts bestimmten Gesetze der Erkenntnis, um die Grenzen der Anwendung derselben zu bestimmen."


Vorerinnerung

So trostlos und wohl gar gefährlich auch der Skeptizismus als objektives und transzendentales Prinzip, d. h. als Grundsatz einer Gewißheit aller Erkenntnis zerstörenden Philosophie, sein mag, so heilsam und nützlich ist er unstreitig als subjektives und logisches Prinzip, d. h. als Maxime des Philosophierens über jedes System, das sich als unbezweifelt gewisse und allgemeingültige Erkenntnis ankündigt. Hat nicht AENESIDEMUS der kritischen Philosophie einen wesentlichen Dienst geleistet, als so viele ihrer Freunde, die kein anderes Geschäft zu kennen schienen, als die Kritik zu exzerpieren, zu kommentieren, zu paraphrasieren und zu akkomodieren? - Was KANT im "Streit der Fakultäten" von den Philosophen überhaupt sagt, daß sie in Beziehung auf die übrigen vom Staat gleichsam instruierten und autorisierten höheren Fakultäten im literarischen Parlament die Oppositionspartei ausmachen, das läßt sich eben so richtig von den Skeptikern in Beziehung auf ihre philosophischen Zeitgenossen sagen. Dieses Oppositionsrecht darf die philosophierende Vernunft in der Versammlung ihrer Repräsentanten denen, welche sich desselben bedienen wollen, durchaus nicht versagen, damit in der philosophischen Welt immer Wachsamkeit und Regsamkeit erhalten bleibt.

Der Verfasser gegenwärtiger Briefe hat sich eben dieses Rechtes in Beziehung auf das neueste philosophische System, die "Wissenschaftslehre" genannt, bedient, und er hofft, daß ihm dasselbe von ihr, so sehr sie auch ihrer unbezweifelbaren Gültigkeit versichert sein mag, nicht werde streitig gemacht werden. Die Wissenschaftslehre hat zwar bisher ziemlich spröde getan, und ihre Gegner größtenteils in einem etwas unsanften Ton zurecht gewiesen. Indessen ist auch nicht zu leugnen, daß sie in manchen Fällen bloß das Widervergeltungsrecht gebraucht hat, und, wenn sie dabei die Grenzen desselben hin und wieder überschritten hat, dies vielleicht mehr von der Kraftfülle, womit sie den Kampfplatz betreten hat, als von einer feindseligen Gesinnung herrühren mag. Der Verfasser hat bisher an diesem Streit keinen Anteil genommen, weil er es für seine Pflicht hielt, ein System erst genauer für sich selbst zu prüfen, ehe er mit einer öffentlichen Prüfung desselben hervortritt. Er hat in dieser Prüfung die Wissenschaftslehre mit der ihr gebührenden Achtung behandelt, hat ihr nicht gehässige Folgerungen, sondern Gründe entgegengesetzt, und hat diese Gründe nicht aus dem System seiner eigenen Überzeugungen, welches darzulegen und geltend zu machen hier gar nicht seine Absicht war, sondern wie es der echten Skepsis ziemt, aus dem geprüften System selbst, der Wissenschaftslehre, hergenommen. Er darf also wohl auch auf eine gleiche Behandlung von Seiten der Gegner Anspruch erheben, und wenn er sich in denselben nicht ganz irrt, so fürchtet er gar nicht einmal eine entgegengesetzte Behandlung. Denn er hat vom Unterscheidungsvermögen derselben eine zu vorteilhafte Meinung, als daß er nicht hoffen sollte, auf einen anderen Fuß von ihnen behandelt zu werden, als geistlose Possenreißer und herzlose Sykophanten [Denunzianten - wp]. Sollte er sich gleichwohl in dieser Hoffnung getäuscht finden, so wird er eine Untersuchung, die durch diese Briefe bloß eingeleitet werden sollte, gänzlich aufgeben, weil aus einer literarischen Fehde, die mit leidenschaftlicher Hitze geführt wird, selten etwas Kluges herauskommt, und am Ende den Zuschauern nur ein Skandal gegeben wird, das die Wissenschaft samt ihren Pflegern in öffentlichen Mißkredit bringt.

Was die Abhandlung über die philosophische Bestimmung des religiösen Glaubens betrifft, so war dieselbe eigentlich zu einem Journalaufsatz bestimmt, so wie sie sich auch zwei solcher Aufsätze bezieht. Da sie indessen mit den Briefen in einer sehr natürlichen Verwandtschaft steht und durch dieselben einiges Licht gewinnen kann, so hat sie der Verfasser in ihrer ursprünglichen Form den Briefen folgen lassen, obgleich jene späteren Ursprungs sind, als die Abhandlung. Diese war nämlich schon entworfen, ehe noch gegen die in der Abhandlung geprüften Aufsätze politische Maßregeln ergriffen waren, und bereits zum Druck völlig ausgearbeitet, als eine Appellation an das Publikum gegen diese Maßregeln erschienen ist. Der Verfasser wurde durch eine solche Einleitung des Streits über den Glauben an Gott unschlüssig gemacht, ob er sich einmischen sollte, indem er fürchtete, daß seine Teilnahme leicht mißdeutet werden könnte, ob er sich gleich bewußt war, aus bloßem Interesse für die Sache selbst die Feder ergriffen zu haben. Indessen hat er sich, aufgemuntert durch seine Freunde und durch den Gedanken, daß vielleicht jetzt die in Frage gekommene Sache mit mehr Unbefangenheit als früher beurteilt werden möchte, über alle kleinlichen Rücksichten hinweg gesetzt, und gibt daher seine Arbeit dem Publikum mit freudiger Zustimmung seines Herzens und mit dem Wunsch hin, daß auch sie etwas zur genaueren und gründlicheren Erörterung des höchst wichtigen Gegenstandes, den sie betrifft, beitragen möge. Geschrieben zu Wittenberg, im Mai 1799.


Erster Brief

Sie sind also, lieber Freund, durch den Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehr (1) für dieses System ebenfalls gewonnen worden und sind geneigt zu glauben, daß es das einzige philosophische System ist, bei welchem ein denkender Kopf volle Beruhigung zu finden hoffen kann? - Ich bewundere mit Ihnen die originelle und konsequente Denkart seines Erfinders. Aber noch liegen im Innersten meiner Seele einige Zweifel an der Richtigkeit seiner Prinzipien verbrorgen. Solange Sie mir diese Zweifel nicht lösen können, solange kann ich diesem System auch nicht meine Zustimmung geben.

Zuvörderst will ich ihnen aber gern bekennen, daß ich das Ich, von welchem die Wissenschaftslehre ausgeht und anhebt, weder so lächerlich, noch so undenkbar finde, als es so Viele zu finden scheinen. Warum sollte ich nicht mich selbst, abgesondert von Allem, was nicht zu mir selbst gehört, denken können? Und was liegt denn Ungereimtes darin, was einem verständigen Menschen ein Lachen oder auch nur ein Lächeln abnötigen könnte, wenn das, was ich durch diese Abstraktion denke, schlechthin Ich oder das absolute, das reine Ich genannt wird, zum Unterschied vom relativen, empirischen Ich, in dessen Gedanken gar Vieles enthalten ist, was nicht zu mir selbst unmittelbar gehört, weil es mir erst in der Zeit entstanden ist, und nur in einer außerwesentlichen Beziehung zu mir selbst steht?

Auch finde ich die Forderung, welche die Wissenschaftslehre gleich zu Anfang (2) an jeden, der philosophieren will, tut, sehr gegründet: "Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von Allem, was dich umgibt, ab, und in dein Inneres!" Ohne jenes Einkehren in sich selbst, ohne jenes Abstrahieren von Allem, was nicht zu uns selbst gehört, ohne jenes Reflektieren auf sich selbst, kann schlechterdings keine wahre Philosophie zustande kommen. Ohne diesen freien und ersten Akt des Gemüts schwebt und schwankt die Spekulation immer nur auf der Oberfläche der Gegenstände herum, und hascht nach leeren Schattenbildern, die ihr die Phantasie vorgaukelt, statt daß sie mit nüchterner Besonnenheit und festem Tritt dem Leitstern der Vernunft folgen sollte. Wovon soll denn die Philosophie sonst anfangen, als von demjenigen, was philosophiert? Wie kann man denn über etwas Anderes gründlich philosophieren, wenn man nicht zuvor über sich selbst philosophiert hat, mit sich selbst vertraut und einig geworden ist? Wie kann man aber über sich selbst gründlich philosophieren, und mit sich selbst vertraut und einig werden, ohne jene Einkehrung, Abstraktion und Reflexion? (3)

Hierüber also bin ich mit Ihnen und dem Verfasser der Wissenschaftslehre völlig einverstanden. Mit Recht charakterisiert daher diese ihre eigene und aller gründlichen Philosophie Methode durch folgende Worte (4):
    "Dasjenige, was sie (die Wissenschaftslehre) zum Gegenstand ihres Denkens macht, ist nicht ein toter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhält, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas macht, sondern es ist ein Lebendiges und Tätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloß zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als daß er jenes Lebendige in eine zweckmäßige Tätigkeit versetzt, dieser Tätigkeit desselben zusieht, sie auffaßt und als Eins begreift. Er stellt ein Experiment an. Das zu Untersuchende in die Lage zu versetzen, in der bestimmt diejenige Beobachtung gemacht werden kann, welche beabsichtigt wird, ist seine Sache; es ist seine Sache, auf die Erscheinungen aufzumerken, sie richtig zu verfolgen und zu verknüpfen; aber wie das Objekt sich äußert, ist nicht sein Sache, sondern die des Objekts selbst, und er würde seinem Zweck gerade entgegen arbeiten, wenn er dasselbe nicht sich selbst überlassen würde, sondern in die Entwicklung der Erscheinung Eingriffe täte."
Ferner habe ich auch nichts dagegen, wenn die Wissenschaftslehre ihr Problem, und mit demselben zugleich das Problem aller Philosophie in folgender Formel aufstellt (5):
    "Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühl der Notwendigkeit begleitenden Vorstellungen, und dieses Gefühls der Notwendigkeit selbst?"
oder (6):
    "Wie kommen wir dazu, dem, was doch nur subjektiv ist, objektive Gültigkeit beizumessen?" -
Gesetzt auch, daß sich die Philosophie in ihrem ganzen Umfang mit noch anderen Aufgaben zu beschäftigen hätte - gesetzt auch, daß sich am Ende die Unauflöslichkeit jener Aufgabe darstellen sollte, so kann doch keine gründliche Philosophie dieselbe ganz umgehen, so muß sie sich doch mit ihr vor allem anderen beschäftigen.

Endlich kann ich auch den Idealismus der Wissenschaftslehre, wenn er auch, sobald er ins Handeln überginge, höchst schädlich wäre, dennoch als philosophische Theorie nicht für so gefährlich halten, als er von Vielen scheint gehalten zu werden; und zwar aus dem sehr einfachen Grund, weil es nicht möglich ist, daß er jemals ins Handeln übergeht."
    "Der Idealismus", sagt die Wissenschaftslehre selbst (7) - "kann nie Denkart sein, sondern ist nur Spekulation. Wenn es zum Handeln kommt, dringt sich der Realismus uns allen, und selbst dem entschiedensten Idealisten auf" -
ungefähr so, wie der Astronom, der noch so fest am kopernikanischen System hängt, und von dessen objektiver Gültigkeit innigst überzeugt ist, dennoch im gemeinen Leben so reden und handeln wird, als wenn die Sonne wirklich im Osten auf, und im Westen unterginge.

Von diesen Seiten aus betrachtet wüßte ich also, Ihnen und Ihrem transzendentalen Idealismus, in welchem Sie Sich jetzt so wohl zu gefallen scheinen, nichts entgegenzusetzen. Ob dieses System, von anderen Seiten betrachtet, nicht auch seine Blößen hat, wird sich in der Folge zeigen.


Zweiter Brief

Ehe wir zur Sache selbst fortgehen, so erlauben Sie mir eine allgemeine vorläufige Bemerkung über die Benennung, welche die Wissenschaftslehre ihrem eigenen und dem entgegengesetzten philosophischen System gibt. Sie nennt nämlich (8) jenes Idealismus und dieses Dogmatismus. Nun kommt zwar auf die Namen in der Hauptsache nichts an; allein hier scheint doch selbst in der Bezeichnung dieser Systeme durch jene Ausdrücke eine Unbilligkeit gegen alle diejenigen enthalten zu sein, welchen es etwa beifallen möchte, an der Allgemeingültigkeit des transzendenten Idealismus zu zweifeln, und auf die Prinzipien der Wissenschaftslehre kein unbedingtes Vertrauen zu setzen, indem durch die Entgegensetzung eines Dogmatismus gewissermaßen schon vor der Untersuchung vorher der Stab über alle und jede Gegner der Wissenschaftslehre gebrochen, und eben dadurch dem Geist der unparteiischen Prüfung, wozu das philosophische Publikum doch so oft und so nachdrücklich von ihr aufgefordert worden ist, aller Zugang, wo nicht verwehrt, so doch erschwert wird. Der Dogmatismus ist seit einiger Zeit in einem so üblen Ruf, daß man glaubt, einem System keinen härteren Vorwurf machen zu können, als den, daß es dogmatisiert. Eines solchen Vorwurfs müßte man sich also, wie mir dünkt, solange enthalten, bis derselbe nach vollständig dargelegter Untersuchung gehörig begründet ist. Nun steht nach dem allgemeinen philosophischen Sprachgebrauch dem Idealismus nicht der Dogmatismus, sondern der Realismus, der Dogmatismus aber dem Skeptizismus entgegen. Hierbei hätte es die Wissenschaftslehre im Anfang ihrer Untersuchung wohl bewenden lassen sollen, um auf ihre Gegner nicht gleich von vornherein ein nachteiliges Licht zu werfen, und dadurch selbst in den Verdacht der Parteilichkeit zu fallen. Nach meiner Einsicht müßte die allgemeine Einteilung der philosophischen Systeme auf folgende Art eingerichtet sein. Zu oberst stände der Unterschied zwischen Skeptizismus und Dogmatismus (das letzte Wort in einer weiteren Bedeutung genommen). Wer die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis leugnet, ist ein Skeptiker, wer sie zugibt und behauptet, ein Dogmatiker. Der Dogmatismus (in einem weiteren Sinn) ist nun in formaler Hinsicht entweder ein Dogmatismus im engeren Sinne (den man auch, um die Unterscheidung des weiteren und engeren Sinnes zu vermeiden, mit einem von einigen Neueren, obgleich in anderer Beziehung, in Vorschlag gebrachten Wort, Dogmatizismus nennen könnte) oder Kritizismus. Wer ohne vorausgegangene Prüfung des Erkenntnisvermögens selbst und Untersuchung seiner Schranken philosophiert, und, dadurch verleitet, eine Kenntnis der Gegenstände, als Dinge-ansich, sich anmaßt, heißt ein dogmatischer Philosoph im engeren Sinne oder ein Dogmatizist; wer jene Prüfung und Untersuchung angestellt hat, und, durch dieselbe belehrt, sich bescheidet, daß er die Gegenstände nur insoweit erkennt, als es den ursprünglichsten Bedingungen des Erkenntnisvermögens gemäß ist, heißt ein kritischer Philosoph. Der Dogmatismus (im weiteren Sinn) in materialer Hinsicht aber ist entweder ein Idealismus oder ein Realismus. Wer die Realität der Außenwelt leugnet, ist ein Idealist, wer sie zugibt und behauptet, ein Realist. Zufolge dieser Einteilung, welche, wie ich glaube, vielen Mißverständnissen vorbeugen würde, wenn sie durchgänging annehmen wollte, werden Sie mir also erlauben, daß ich in der Folge dem Idealismus der Wissenschaftslehre nicht den Dogmatismus, sondern den Realismus entegensetze. - So viel über die Namen. Im nächsten Brief werde ich zu Sache selbst übergehen.


Dritter Brief

Das System des transzendentalen Idealismus ist erbaut auf der Behauptung der absoluten Selbständigkeit des Ich oder der Vernunft (9) und eben darum hat es Ihren Beifall gewonnen; eben darum meinen Sie, es behaupte der Erbauer desselben mit Recht (10),
    "der transzendentale Idealismus zeige sich zugleich als die einzige pflichtgemäße Denkart in der Philosophie, als diejenige Denkart, wo die Spekulation und das Sittengesetz sich innigst vereinigen."
Wollen sie mir dadurch die Sache etwa ins Gewissen schieben? Wir wollen sehen, mit welchem Recht.

Es wird von der Wissenschaftslehre (11) eingestanden, daß der transzendentale Idealist seinen Gegner nicht (zumindest nicht direkt) widerlegen kann, so wie auch dieser jenen nicht zu widerlegen imstande ist. Dasjenige also, was den Philosophen bestimmt, sich für das eine oder das andere System zu entscheiden, sei bloß die verschiedene Beziehung derselben auf den Charakter. Da nämlich der Streit zwischen beiden eigentlich der ist (12), ob der Selbständigkeit des Ich die des Dings oder umgekehrt der Selbständigkeit des Dings die des Ich aufgeopfert werden soll: so muß den Philosophen das Interesse für sich selbst oder die Behauptung seiner eigenen Selbständigkeit bestimmen, sich für den transzendentalen Idealismus zu entscheiden (13). - Nun frage ich Sie: Wird durch den transzendentalen Idealismus wirklich dem Interesse der Selbständigkeit in dem Maße Genüge getan, als es der Erfinder dieses Systems fordert und glaubt? Dies ist es, was ich sehr bezweifle. Die Wissenschaftslehre deduziert alles aus dem eigenen inneren Handeln des Ich oder der bloßen Intelligenz, aber nicht aus ihrem freien oder willkürlichen Handeln, sondern aus ihrem Handeln innerhalb gewisser Schranken, in die wir nun einmal eingeschlossen sind. Sie fragt (14):
    "die Voraussetzung des Idealismus ist diese: die Intelligenz handelt; aber sie kann vermöge ihres eigenen Wesens nur auf eine gewisse Weise handeln. Denkt man sich diese notwendige Weise des Handelns abgesondert vom Handeln, so nennt man sie sehr passend die Gesetze des Handelns. Also gibt es notwendige Gesetze der Intelligenz."
Noch deutlicher und bestimmter erklärt sie sich hierüber im "System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre" (15) in folgenden Worten:
    "Da hier schlechthin nicht weder Dinge-ansich, noch Naturgesetze als Gesetze einer Natur außerhalb von uns selbst angenommen werden sollen: so läßt sich diese Beschränktheit nur so begreifen, daß das Ich selbst nun einmal sich so beschränkt, und zwar nicht etwa mit Freiheit und Willkür, sondern zufolge eines immanenten Gesetzes seines eigenen Wesens, durch ein Naturgesetz seiner eigenen (endlichen) Natur. Dieses bestimmte Vernunftwesen ist nun einmal so eingerichtet, daß es sich gerade so beschränken muß." (16) -
Ist denn nun meine absolute, oder, wie man sie auch nennen könnte, totale Selbständigkeit dadurch gerettet, daß die Schranken, in die ich eingeschlossen bin, aus mir selbst hervorgehen, wenn sie nicht aus meiner Freiheit und Willkür hervorgehen? Ob ich durch die Notwendigkeit meiner eigenen Natur auf gewisse Weise beschränkt bin, oder durch die Notwendigkeit einer Natur außerhalb von mir, das ist im Grunde völlig einerlei. Ich bin also beschränkt, ich handle auf eine gewisse Weise notwendig, ich muß so handeln, und kann nicht anders handeln; ich handle also nicht absolut, nicht in jeder Hinsicht selbständig, mag jener Drang und Zwang herkommen, woher auch immer. Ein Instrument mag durch sich selbst harmonische Töne hervorbringen, wie eine Flötenuhr, oder durch einen Künstler, der das Instrument spielt, wie eine bloße Flöte; das Instrument handelt in keinem von beiden Fällen selbständig, sondern abhängig von einer Naturnotwendigkeit. Gibt es also für das System des transzendentalen Idealismus keinen anderen Beglaubigungsbrief, als das Interesse der Selbständigkeit, so sehe ich nicht ein, warum ich zur Behauptung der Selbständigkeit meine Zuflucht zu einer Erklärung nehmen soll, vermöge welcher die totale Selbständigkeit des Ich ebenso gut aufgehoben wird, als wenn man nach der natürlichen Denkart des gemeinen Bewußtseins die selbständige Realität der Außenwelt annimmt, und das Subjekt von außen her affiziert werden läßt, wenn es sich äußere Gegenstände vorstellt. So sehr ich daher auch mit Ihnen und dem Urheber der Wissenschaftslehre für meine Selbständigkeit interessiert bin, so sehe ich doch ein, daß dieselbe in dieser Hinsicht nicht behauptet werden kann, und muß mir dieses gefallen lassen, weil es nun einmal so ist. Das Vorstellen der Objekte, die als gegeben betrachtet werden, geht vor sich nach notwendigen Naturgesetzen, sie mögen nun als innere (in der Natur des Subjekts gegründete) oder als äußere (in der Natur der Objekte gegründete), entweder ganz oder zum Teil, angesehen werden. Hier findet also keine Selbständigkeit statt, und kann keine stattfinden, weil es nicht, wie die Wissenschaftslehre selbst eingesteht, von der Freiheit und Willkür abhängt, wie ich mir ein solches Objekt vorstelle. Nur in Anbetracht des Wollen (im Praktischen) bin ich durchaus selbständig, kann es zumindest sein, sobald ich nur will, weil den Willen nichts, als er selbst, bestimmen kann. Und nur an dieser Selbständigkeit kann uns, als endlichen Vernunftwesen, etwas gelegen sein. Eine totale oder absolute Selbständigkeit könnte nur einem unendlichen Vernunftwesen zukommen. Daß aber die eine Selbständigkeit ohne die andere nicht stattfinden kann, hat die Wissenschaftslehre nirgends erwiesen, und kann es auch nicht einmal behaupten, weil dann durch die ursprüngliche Beschränktheit, welche sie als unabhängig von Freiheit und Willkür annimmt, die Selbständigkeit des Wollens (die praktische oder moralische, so wie man jene die theoretische oder physische nennen könnte) ebenfalls aufgehoben werden müßte, welches ihren eigenen Grundsätzen gänzlich widersprechen würde.

Hieraus erhellt sich also wohl auch zur Genüge, daß es mit der obigen Pflichtgemäßheit der idealistischen Denkart so ernsthaft nicht gemeint sein kann. Ohnehin scheint diese Behauptung im Widerspruch mit derjenigen zu stehen, welche bereits in meinem ersten Brief an Sie über diesen Gegenstand angeführt worden ist. "Der Idealismus kann ja nie Denkart sein, sondern er ist nur Spekulation." (17) Wie soll er denn noch obendrein eine pflichtgemäße Denkart - wäre es auch nur für den Philosophen - sein? Alles, was durch den Begriff der Pflicht bestimmt sein soll, ist einzig und allein praktisch, nicht theoretisch, kann nur die Handlungen des Willens, nicht die Spekulationen der Vernunft betreffen. Der Philosoph, als solcher, hat keine Pflicht, sondern nur als Mensch. Als Philosoph sucht er lediglich Wahrheit, sie ist für ihn das Höchste und Letzte, deren Interesse alles Übrige weichen muß; Wahrheit aber ist ihm nur das, wovon er sich überzeugen kann. Nähme er die idealistische Denkungs- oder vielmehr Spekulationsart an, ohne von ihrer Gültigkeit überzeugt zu sein, so würde er eben dadurch als Mensch pflichtwidrig handeln, d. h. seine Menschenwürde verletzen, indem er sich in seiner Überzeugung der Autorität eines Andern unterwirft, der vor dem Richterstuhl der Vernunft nicht mehr und nicht weniger gilt, als er selbst. Wäre die idealistische Denkart wirklich Pflicht, so müßte sie sich jedem vordemonstrieren lassen, wovon die Unmöglichkeit der Wissenschaftslehre selbst eingesteht; denn was Pflicht ist, muß sich mit allgemeinfaßlicher Evidenz darlegen lassen, so daß nur ein sittlich verdorbenes Gemüt sich gegen die Pflicht empören kann. So müßte also aller Widerspruch gegen den transzendentalen Idealismus zuletzt aus einem bösen Herzen abgeleitet werden. Unmöglich kann aber die Wissenschaftslehre so etwas behaupten, sie, die sich selbst so nachdrücklich gegen dieses Art zu argumentieren erklärt hat (18). Oder hat die Wissenschaftslehre im Eifer für ihre Sache das Sprüchlein: "Was ihr nicht wollt usw" einen Augenblick lang vergessen? - Mit jeder philosophischen Theorie kann in der Praxis ein guter Wille, eine moralische Gesinnung bestehen, weil das sittliche Gefühl oder das Gewissen den guten Menschen, der einer schlechten vielleicht alle Moralität und Religiosität zerstörenden Theorie im Spekulieren folgt, gewöhnlich inkonsequent oder seiner Theorie untreu im Handeln macht. Wenn selbst der entschiedenste Idealist nach dem eigenen Geständnis der Wissenschaftslehre, sobald es zum Handeln kommt, Realist ist, wie könnte es der Pflicht entgegen sein, auch im Denken Realist zu bleiben? Warum sollte der, welcher an die theoretische oder physische Selbständigkeit des Ichs nicht glaubt, nicht gleichwohl an die praktische oder moralische glauben, und sie zur Richtschnur seines Handelns machen können? Lassen wir also, lieber Freund, den Begriff des Pflichtgemäßen bei dieser und allen künftigen Untersuchungen über die Annehmbarkeit einer spekulativen Theorie ganz aus dem Spiel!


Vierter Brief.

Wenn auch, sagen Sie, das Interesse der Selbständigkeit, sofern sie absolut oder total sein soll, durch den transzendentalen Idealismus nicht hinlänglich befriedigt wird: so ist doch durch denselben für das spekulative Interesse der Vernunft ungemein viel gewonnen. Alles ist hier Licht und Klarheit; das Ich läßt und sieht alles vor seinen Augen entstehen; während man im System des Realismus auf eine Dunkelheit und Unbegreiflichkeit nach der andern stößt.

Wie ein wirklicher Zusammenhang zwischen den Vorstellungen in mir, und den nach dem gemeinen Bewußtsein als reell angenommenen Dingen außerhalb von mir stattfinden kann; wie die Gegenstände auf das Gemüt einwirken, und in demselben mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit verknüpfte Vorstellungen veranlassen, oder wie die mit dem Bewußtsein der Freiheit verknüpften Vorstellungen des Gemüts die Außendinge modifizieren können, ist nach dem realistischen System freilich durchaus unbegreiflich. Der Realist kann weiter nichts darauf antworten, als: Es ist nun einmal so: ich gehe von dieser Voraussetzung aus, und kann im Erklären derselben nicht weiter gehen; das Gefühl der Notwendigkeit gewisser Vorstellungen und ihrer Beziehung auf gewisse Gegenstände nötigt mich zu dieser Voraussetzung, und dieses Gefühl ist für meine Erkenntnis das Höchste und Letzte, über das ich nicht hinausgehen kann.

Den transzendentalen Idealisten drückt diese Unbegreiflichkeit freilich nicht; denn da er die Gegenstände Produkte seines Ich sein läßt, so hebt er allen reellen Zusammenhang zwischen den Vorstellungen und den vorgestellten Gegenständen schlechthin auf; folglich kann auch nicht nach der Art und Weise oder dem Grund dieses Zusammenhangs gefragt werden.

Aber wird denn dadurch die Sache selbst, ich meine, die Notwendigkeit gewisser Vorstellungen und ihrer Beziehung auf bestimmte Gegenstände, und das Gefühl dieser Notwendigkeit, auch nur um ein Haar begreiflicher? - Unsere Vorstellung von der Außenwelt und deren Bestimmtheit wird in der Wissenschaftslehre (19) abgeleitet aus den ursprünglichen Schranken des Gemüts und deren Bestimmtheit. Zugleich wird aber auch (20) eingestanden, daß diese Bestimmtheit unserer Beschränktheit nicht weiter abgeleitet werden kann und folglich hat hier alle Deduktion ein Ende; daher nennt sie selbst (21) die Schranken, in welche das Ich nun einmal eingeschlossen ist, unbegreifliche Schranken, und sagt (22) gerade heraus:
    "dieses bestimmte Vernunftwesen ist nun einmal so eingerichtet, daß es sich gerade so beschränken muß; und diese Einrichtung läßt sich, darum, weil sie unsere ursprüngliche Begrenzung ausmachen soll, über die wir durch unser Handeln nicht, folglich auch durch unser Erkennen nicht hinaus gehen können, nicht weiter erklären."
Wenn das ist, was ist denn nun durch den transzendentalen Idealismus für die Spekulation gewonnen? Es war mir nach dem realistischen System unbegreiflich, wie Materie die Vorstellung oder eine Vorstellung die Materie bestimmen kann. Statt dieser Unbegreiflichkeit wird mir aber im System des transzendentalen Idealismus eine andere und - wenn die eine Unbegreiflichkeit noch unbegreiflicher sein kann als die andere - eine weit größere gegeben, und zwar als Erklärungsgrund dessen, was mir nach jenem ersten System unbegreiflich geblieben ist, gegeben! Wie das sich selbst setzende Ich sich selbst Schranken setzen kann; warum es sich selbst Schranken setzt, da es och auch vermöge seiner Natur gedrungen ist, nach der Unendlichkeit zu streben, wie und warum es sich gerade so und nicht anders beschränkt, folglich gerade diese und keine anderen Vorstellungen von Außenwelt sich macht - all dies ist nach dem eigenen Geständnis der Wissenschaftslehre durchaus unbegreiflich, so unbegreiflich, daß sie es sogar für unsinnig erklärt, nur nach einer weiteren Erklärung zu fragen. (23) Denn die innere Naturnotwendigkeit des Ichs, worauf sie sich hierbei beruft, soll die Sache selbst, das Setzen der Schranken und deren Bestimmtheit, gar nicht begreiflich machen, sondern nur das mit gewissen Vorstellungen verknüpfte Gefühl ihrer Notwendigkeit erklären (24). Aber diese innere Naturnotwendigkeit selbst ist bei einem Wesen, das nur als ein Tätiges oder gar nur als ein Tun, und zugleich als ein absolut Selbständiges, das sich selbst und alles Andere setzt, gedacht werden soll, etwas so Unbegreifliches, daß man am Ende wohl geneigt ist, sich selbst zu fragen, ob man überall etwas gedacht hat.


Können Sie also wohl einem Realisten billigerweise ansinnen, daß er um einer gewissen Unbegreiflichkeit willen, den natürlichen Standpunkt des gemeinen Bewußtseins verläßt, und sich in einen anderen Standpunkt versetzt, wo ihm beim ersten Anblick alles so widernatürlich erscheinen muß, und dennoch die Unbegreiflichkeit nicht aufgehoben, sondern nur um einen Schritt weiter hinausgeschoben wird, am Ende aber die Hauptsache ebenso unerklärt, als zuvor, bleibt? Wenn der neuere Astronom den Standpunkt der gemeinen Anschauung, auf welchem TYCHO stehen blieb, verläßt, und sich auf den höheren des KOPERNIKUS erhebt, so scheint zwar auch dem gemeinen Sinn, selbst des Astronomen, etwas Widernatürliches in dieser Ansicht der Sache enthalten zu sein; aber es verschwinden doch auf diesem letzten Standpunkt alle Schwierigkeiten, die den Astronomen auf dem ersten drücken; die Ordnung und der Zusammenhang der Weltkörper wird ihm begreiflicher; und darum entscheidet er sich für das System des KOPERNIKUS. Ist dies aber nach dem Obigen wohl auch der Fall beim transzendentalen Standpunkt der Wissenschaftslehre? Was nach dem mystischen Idealismus des BERKELEY Gott vermöge seiner Willkür in Beziehung auf das menschliche Gemüt tut, das tut nach dem transzendentalen Idealismus der Wissenschaftslehre das Gemüt selbst vermöge seiner inneren Naturnotwendigkeit. Diese Ansicht ist freilich philosophischer als jene; aber beide Voraussetzungen haben dies miteinander gemein, daß sie die Sache um nichts begreiflicher machen, als die gemeine Voraussetzung, daß Gemüt und Gegenstand sich wechselseitig affizieren [beeinflussen - wp] und modifizieren. Das Interesse der Spekulation bleibt also auf der einen Seite ebenso unbefriedigt, als auf der anderen.


Fünfter Brief.

Soll ich Ihnen denn nach dem, was ich Ihnen bisher über den transzendentalen Idealismus geschrieben habe, noch besonders darlegen, daß die Wissenschaftslehre durch die Annahme des eigentümlichen Standpunkts, auf welchen sie die Philosophie stellen will, ihr Problem nicht gelöst hat? Dieses Problem war: "Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls der Notwendigkeit selbst?" - oder, welches ebensoviel heißt: "Wie kommen wir dazu, dem, was doch nur subjekt ist, objektive Gültigkeit beizumessen?"

Ich gestehe Ihnen nochmals, daß ich ebensosehr, wie Sie, den mühsamen und eigentümlichen Scharfsinn bewundere, welcher in der "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre", wie auch in der neuen Darstellung derselben aufgewendet worden nist, um jene Aufgabe zu lösen; aber daß sie wirklich und befriedigend gelöst worden ist, davon konnte ich mich bis jetzt noch nicht überzeugen. Ich sehe zwei Menschen, einen Europäer und einen Schwarzafrikaner und fühle mich genötigt, mir den Einen mit weißer, den Anderen mit schwarzer Hautfarbe vorzustellen. Oder ich setze mir einen Zweck, fühle mich aber durch gewisse Objekte, die ich mir ihrem Dasein und ihrer Beschaffenheit nach als von mir völlig unabhängig vorzustellen genötigt bin, in der Ausführung jenes, vielleicht durch die Vernunft selbst gebotenen Zwecks, so behindert, daß ich denselben schlechterdings nicht realisieren kann. Ich möchte z. B. gern einen Menschen, der sich in Lebensgefahr befindet, retten, aber die Fluten toben oder die Flammen wüten so gewaltig, daß es durchaus unmöglich ist, dem Unglücklichen beizukommen. Oder es schmachtet jemand in einem unterirdischen Gefängnis, des Lichts, der freien Luft und des Umgangs mit Menschen beraubt; er möchte gern entfliehen, aber eiserne Ketten und Türen und undurchdringliche Mauern vereiteln jeden Versuch dazu. - Nun frage ich Sie, wie ist dieses alles aus der ursprünglichen Beschränktheit des Ich erklärbar? Warum setzt sich denn das Ich gerade so und auf keine andere Weise beschränkt, da doch diese Art der Beschränktheit sogarf seinen Zwecken widerstreitet, und es bei allem Gefühl der Notwendigkeit, sich die Gegenstände und deren Verhältnisse zu sich selbst auf diese bestimmte Weise vorzustellen, doch sich des Gedankens nicht entschlagen kann, die Beschaffenheit der Außendinge und sein eigener äußerlicher Zustand könnte auch anders sein, folglich ist beides nur zufällig? Durch das einfache Geständnis der Unbegreiflichkeit jener Schranken und ihrer Bestimmtheit kann doch wahrhaftig das Problem nicht als aufgelöst angesehen werden. Dies erhellt sich noch mehr, wenn wir das Problem der Wissenschaftslehre in seiner zweiten Formel erwägen. Nach derselben wird gefragt, wie wir dazu kommen, ein Äußeres, Objektives anzunehmen, da wir unmittelbar uns doch nur eines Inneren, Subjektiven bewußt sind? Ist denn nun diese Frage dadurch beantwortet, daß alles Äußere, alle reelle Objektivität aufgehoben, und zu einem lediglich Subjektiven, schlechthin Inneren, einer Anschauung der eigenen Tätigkeit des Ich gemacht wird? Und wenn er dann nur noch zerhauen wäre oder bliebe! denn in demselben Moment, wo er auf der einen Seite zerhauen wird, schürzt man ihn auf der anderen wieder, indem es weiter heißt: das Gefühl der Notwendigkeit gewisser Vorstellungen, welches uns zur Annahme eines Äußeren oder Objektiven verleitet, entspringt aus den unbegreiflichen Schranken, denen das Ich nun einmal unterworfen ist, innerhalb welchen es also seine Tätigkeit anschauen muß. Weiß man denn nun mehr, als wenn ein anderer, den ich um den Grund des Objektiven in meinen Vorstellungen befrage, sagt: Es sind unabhängig vom Gemüt Gegenstände da, die einmal so beschaffen sind, und das Gemüt unbegreiflicherweise affizieren? Die Wissenschaftslehre also in der Auflösung ihres Problems gerade da stecken, wo alle Philosophie, die sich die wirkliche Auflösung dieses Problems zum Zweck machte, bisher auch stecken geblieben ist, und allem Vermuten nach ewig stecken bleiben wird, sie mag idealisch oder realistische spekulieren.


Sechster Brief.

Sie verweisen mich von der neuen Darstellung zur alten, vom "Philosophischen Journal" zur Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, wo in der Seite 195 anhebenden Deduktion der Vorstellung meine Zweifel bereits gelöst, wo die vollständige Auflösung des philosophischen Problems enthalten ist. Mir war diese Deduktion sehr wohl bekannt, als ich Ihnen meine Zweifel vorlegte. Allein ich muß Ihnen aufrichtig auch nach wiederholter Durchsicht dieser Deduktion bekennen, daß wenn die neue Darstellung keinen näheren Aufschluß über die Sache gibt, als die alte, Sie mich durch die Verweisung auf die letzte in meinen Zweifeln nur noch mehr bestärkt haben. Da heißt es gleich im Anfang:
    "Auf die ins Unendliche hinaus gehende Tätigkeit des Ich, in welcher eben darum, weil sie ins Unendliche hinaus geht, nichts unterschieden werden kann, geschieht ein Anstoß; und die Tätigkeit, die dabei keineswegs vernichtet werden soll, wird reflektiert, nach innen getrieben; sie bekommt die gerade umgekehrte Richtung."
Hieraus wird dann sofort das wechselseitige Tun und Leiden des Ich beim Anschauen, und die Anschauung selbst, als sinnliche Vorstellung, erklärt. Allein es drängt sich dabei wohl jedem aufmerksamen und unbefangenen Leser die Frage auf: Woher denn jener Anstoß, durch welchen die ins Unendliche hinaus gehende Tätigkeit des Ich wieder zurück nach innen getrieben werden soll? Diesen Punkt, der doch vor allen andern und gerade hier erörtert und genau bestimmt werden mußte, hat, so viel mir bekannt ist, die Wissenschaftslehre ganz mit Stillschweigen übergangen. Absichtlich, um eine Blöße zu verbergen, kann sie dies wohl nicht getan haben; wenigstens hat man keinen Grund dies zu vermuten; folglich mag sie wohl vorausgesetzt haben, der Leser werde diesen Punkt leicht selbst ins Reine bringen können, wenn er das Vorhergehende wohl gefaßt hat. Nun gibt es nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre nur ein Zweifaches, wovon man jenen Anstoß herleiten könnte: das Ich und das Nicht-Ich. Vom Ich kann der Anstoß nicht herkommen; denn dessen ins Unendliche hinausgehende Tätigkeit soll eben durch den Anstoß nach innen zurückgetrieben werden, und in dieser ins Unendliche hinaus gehenden Tätigkeit soll eben darum, weil sie ins Unendliche hinausgeht, nichts unterschieden werden können; folglich kann in dieser Tätigkeit selbst auch kein derselben entgegengesetzter, sie selbst nach innen zurücktreibender Anstoß vorkommen. Vom Nicht-Ich kann er auch auch nicht herrühren; denn erstens sollte auf dieses Art erst die Vorstellung überhaupt, sofern sie sich auf ein Nicht-Ich bezieht, erklärt werden; folglich darf das Nicht-Ich bei dieser Erklärung nicht schon vorausgesetzt werden - sodann soll ja das Nicht-Ich erst durch das Ich gesetzt sein, und soll nur insofern sein, als es durch das Ich gesetzt ist; folglich wäre es immer wieder das Ich selbst, von dem dieser Anstoß herrührt, wenn man ihn auch vom Nicht-Ich ableiten wollte. Vom Ich selbst kann er aber nach dem soeben Gesagten unmöglich herrühren. Der Anstoß geschieht also, man weiß nicht, wie und wodurch? so, daß schon dieser einzige Umstand die ganze folgende Deduktion der Vorstellung in sich selbst unhaltbar und widerstreitend macht. Ich hoffe also, daß Sie mich mit einer ausführlicheren Prüfung derselben verschonen werden, und wünsche, daß Sie meinen Zweifeln auf andere Art begegnen mögen.


Siebenter Brief

    "Aber lehrt denn die Vernunftkritik im Grunde etwas anderes, als die Wissenschaftslehre? Nennt nicht jene ebenfalls ihr System - wenn sie ein System und nicht vielmehr eine bloße Propädeutik [Vorschule - wp] zum System aufgestellt hat - einen transzendentalen Idealismus." -
Auf diese Frage, welche Sie mir in Ihrer letzten Zuschrift vorlegen, habe ich eigentlich nichts zu erwidern. Für mich ist ein System weder darum wahr, weil es mit der Kritik übereinstimmt, noch darum falsch, weil es nicht mit ihr übereinstimmt. Auch kümmert es mich wenig, ob jemand die Kritik, im Falle daß sie nicht mit der Wissenschaftslehre auf demselben Gesichtspunkt steht und ebendieselbe Ansicht der Dinge lehrt, "für die abenteuerlichste Mißgeburt, welche jemals von der menschlichen Phantasie erzeugt worden ist" - oder - "für das Werk des sonderbarsten Zufalls und nicht für das eines Kopfes" halten wollte. Da bis jetzt über die angebliche Einstimmung oder Nichteinstimmung beider Systeme schon so viel und mitunter von beiden Seiten mit solcher Heftigkeit gestritten worden ist, daß endlich der Urheber der Wissenschaftslehre selbst des Streits müde geworden ist, und, wie Ihnen wohl bekannt sein wird, sich neuerlich (25) feierlich davon losgesagt hat: so ist es wohl am Besten, sich des Urteils über diese Sache vorderhand ganz zu enthalten; und zwar umso mehr, da jene Streitfrage nicht sowohl den Philosophen selbst und unmittelbar, als vielmehr bloß den künftigen Geschichtsschreiber der neueren Philosophie interessiert. Sie wird also einst, wenn beide Systeme sich mehr entwickelt haben, und die Gemüter sie mit ruhigerem Blick überschauen werden, in der Geschichte der Philosophie sich mit leichter Mühe entscheiden lassen. Indessen dürften bei dieser Entscheidung folgende Punkte nicht außer Acht gelassen werden:

1.) Die Kritik hebt mit dem Satz an, daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, weil das Erkenntnisvermögen nicht zur Ausübung erweckt werden kann, wenn es nicht durch Gegenstände geschieht, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt. - Die Kritik schließt sich also vorerst genau an die gemeine Vorstellungsart an; sie läßt aber auch im Fortgang ihrer Untersuchung die Frage, woher der Stoff der empirischen Erkenntnis kommt, ganz zur Seite liegen, und indem sie die Voraussetzung annimt, daß derselbe von den Gegenständen gegeben wird, so beschäftigt sie sich bloß mit der Untersuchung der formalen Bedingungen oder der in der urprünglichen Einrichtung des Gemüts bestimmten Gesetze der Erkenntnis, um die Grenzen der Anwendung derselben zu bestimmen.

2.) Die Kritik beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außerhalb des Ich durch das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein seines eigenen Daseins (26). Hier nimmt sie ein Beharrliches in der Wahrnehmung als Bedingung der Zeitbestimmung des Ich an, unterscheidet aber dieses Beharrliche von der Anschauung im Gemüt, als bloßer Vorstellung, als welche selbst ein von ihr unterschiedenes Beharrliches bedarf, um in Beziehung darauf den Wechsel der Vorstellungen und durch denselben das Dasein des Ich in der Zeit zu bestimmen."
    "Also" - sagt sie - "ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außerhalb von mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außerhalb von mir möglich."
3.) nennt die Kritik ihren transzendentalen Idealismus auch den formalen und setzt ihm den materialen entgegen (27). Hier sagt sie ausdrücklich, ihr Idealismus betrifft nicht die Existenz der Sachen - wie der materiale - als welche zu bezweifeln ihr nie in den Sinn gekommen ist, sondern bloß die sinnliche Vorstellung der Sachen, sofern sie unter den Formen des Raums und der Zeit stehen, als welche nicht den Sachen, sondern nur dem Gemüt angehören. Sie nennt sich also darum idealistisch, weil sie behauptet, daß die formalen Bedingungen der Erkenntnis, welche von den dogmatisierenden Philosophen auf die Gegenstände selbst übertragen, und wodurch die Gegenstände zu Dingen-ansich gemacht werden, lediglich im Ich und nicht außerhalb desselben gegründet sind.

Die Folgerungen hieraus (und besonders aus dem Umstand, daß die Kritik das Problem der Wissenschaftslehre, so nahe sie auch an demselben wegstreift, dennoch gar nicht auflösen zu wollen scheint), zu ziehen, überlasse ich billig Ihrem eigenen Ermessen. Was es aber auch mit der Einstimmung oder Nichteinstimmung der Kritik und der Wissenschaftslehre immer für eine Bewandtnis haben mag, so macht das Geständnis der Letzten, daß sie ihre eigene Einsicht der Hauptsache nach der Ersten zu verdanken hat, der Gerechtigkeitsliebe ihres Urhebers weit mehr Ehre, als Manchen ihrer Freunde ein anderes Geständnis derselben, als welche durch die Wissenschaftslehre auf einmal so klug geworden sein wollen, daß sie in der Kritik nichts als tote Begriffe und Formeln, in jener hingegen nichts als Geist und Leben finden können. Glauben sie wohl, lieber Freund, daß dieser erstickende Weihrauchdampf dem Urheber der Wissenschaftslehre ein lieblicher Geruch sein wird? - Schade, daß die Alten der Philosophie keine eigene Muße, als Schutzpatronin, geweiht haben, damit man sie, so oft ein neues System aufkommt, allemal anrufen könnte: "Ignavum, fucos, pecus a praespibus arcent!" [Die Bienen halten die Drohnen, dieses faule Pack, vom Futter fern. - Virgil]
LITERATUR - Wilhelm Traugott Krug, Briefe über die Wissenschaftslehre, Leipzig 1800
    Anmerkungen
    1) siehe "Philosophisches Journal", hg. von Fichte und Niethammer, Heft 1 und folgende.
    2) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 1, Seite 6.
    3) "Lasset uns" - sagt vortrefflich ein neuerer philosophischer Schriftsteller - "lasset uns den Jüngling, statt ihn in die äußeren Dinge zu zerstreuen, in sich selbst hineinführen! hier wird er die ersten Gründe aller Wahrheit entdecken, hier die Wunder beider Welten vereinigt antreffen, hier eine oberste Gesetzgebung erkennen, die ihn zur wahren Tugend, zur wahren Religion, zur wahren Seelengröße und Zufriedenheit hinaufgleiten, die ihn auf jeder Stufe, wozu er berufen werden wird, zum wahrhaftig brauchbaren Mitglied der Menschheit und des Staates bilden kann." - Johann Ith, Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen, Teil 1, Vorrede, Seite 12f.
    4) "Philosophisches Journal, Bd. 5, Heft 4, Seite 320
    5) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 1, Seite 8
    6) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 4, Seite 323
    7) "Philosophisches Journal, Bd. 5, Heft 4, Anm. zu Seite 322.
    8) "Philosophisches Journal, Bd. 5, Heft 1, Seite 12
    9) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 1, Seite 19 und Heft 4, Seite 352.
    10) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 4, Seite 340
    11) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 1, Seite 17
    12) ebd. Seite 21
    13) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 1, Seite 23
    14) ebd. Seite 35.
    15) Seite 124
    16) Reinhold in seiner Schrift "Über die Paradoxien der neuesten Philosophie" gibt es als den wesentlichen Unterscheidungscharakter dieser Philosophie von aller bisherigen an, daß jene von der unbedingten Freiheit, diese von der unbedingten Notwendigkeit ausgeht. Wie richtig oder unrichtig diese Behauptung in Anbetracht aller bisherigen Philosophie ist, mag an seinen Ort gestellt bleiben. Was aber die neueste Philosophie betrifft, so frage ich jeden unbefangenen Leser, ob wohl irgendein philosophisches System der älteren und neueren Zeit mit so klaren und dürren Worten die unbedingte Notwendigkeit an die Spitze seiner Untersuchungen gestellt hat, als es vor der Wissenschaftslehre in den oben angeführten Stellen geschehen ist? - Zum Überfluß mögen hier noch folgende zur oben zuletzt angeführten Stelle gehörigen Worte stehen: "Wenn nun diese einzelnen Beschränkungen, die als solche nur in der Zeit vorkommen, zusammengefaßt, und als ursprüngliche Einrichtung vor aller Zeit und außer aller Zeit gedacht werden, so werden absolute Schranken des Urtriebs selbst gedacht. Es ist ein Trieb, der nun einmal nur auf dieses, auf eine Wirksamkeit bestimmt in einer solchen Reihe geht, und auf keine andere gehen kann; und so ist es schlechthin. Unsere ganze, sowohl innere als auch äußere Welt, insofern das Erste nur wirklich Welt ist, ist dadurch auf alle Ewigkeit hinaus für uns prästabiliert [vorgefertigt - wp]." Freilich setzt die Wissenschaftslehre unmittelbar darauf gleich hinzu: "Inwiefern es nur wirklich Welt, d. h. ein Objektives in uns ist, sagte ich. Das bloße Subjektive, die Selbstbestimmung, ist nicht prästabiliert, darum sind wir freihandelnd." Damit sagt sie aber nichts weiter, als daß im Menschen Naturnotwendigkeit und Freiheit auf eine unbegreifliche Weise vereinigt angetroffen wird - eine Wahrheit, die Gottlob! schon lange vor dem Erscheinen der Wissenschaftslehre der philosophischen Welt bekannt war, so daß es zumindest über diese neue Entdeckung des vielen Pochens, Scheltens und Schreiens von beiden Seiten nicht bedurft hätte.
    17) Wie mit dieser Äußerung und einer anderen ("Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 4, Seite 365 Anmerkung), wo gesagt wird, die Anmutung der idealistischen Denkart im Leben sei von der Beschaffenheit, daß sie nur dargestellt werden darf, um vernichtet zu sein, die Prophezeiung bestehen kann, welche kurz vorher (Seite 345) zu lesen ist, nämlich: die der Wissenschaftslehre eigentümliche Ansicht der Welt werde sich gewiß allgemein verbreiten, und die wohltätigste Revolution in der Menschheit hervorbringen - ist freilich schwer zu begreifen.
    18) "Philosophisches Journal", Bd. 6, Heft 1, Seite 39.
    19) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 4, Seite 374
    20) ebd. Seite 375
    21) "Philosophisches Journal", Bd. 8, Heft 1, Seite 12
    22) im "System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre", Seite 124.
    23) Man mag wohl zuweilen etwas wunderliche Fragen an die Wissenschaftslehre gestellt haben; die Wissenschaftslehre aber hat die an sie gerichteten Fragen, so oft als unsinnig von der Hand gewiesen, daß man sich nicht wundern darff, wenn manche auf den Verdacht geraten sind, es gehöre mit zu den Entdeckungen der neuesten Philosophie, Fragen, die ihr lästig sind, mit dem Vorwurf der vAbsurdität
    zu beantworten. Allerdings die kürzeste und gemächlichste Art, sich aus der Verlegenheit zu ziehen.
    24) "Philosophisches Journal", Bd. 5, Heft 1, Seite 35.
    25) In der Vorrede zur zweiten Auflage der Schrift "Über den Begriff der Wissenschaftslehre".
    26) Seite 375 der dritten Auflage (vgl. mit der Vorrede Seite 39).
    27) Prolegomena, Seite 70, 141 und 208 der ersten Auflage.