tb-2E. MachL. NelsonR. Thiele    
 
JOSEPH PETZOLDT
Metaphysikfreie Naturwissenschaft

"Wir werden einräumen müssen, daß die alten Gespenster der Substanz und Kausalität, die schon ein Hume für jeden, der sich nur darum kümmern wollte, mit kräftigen Sprüchlein gebannt hat, immer von Neuem umgehen, ohne als Betrüger und Schemen erkannt zu werden."

"Die Metaphysik wurde den Philosophen für den Fortschritt der Erkenntnis im engeren Sinn zum Verhängnis, den Naturforschern war sie immerhin nicht viel mehr als ein Schleier, der die Dinge wohl verhüllen und trüben, aber nicht völlig unsichtbar machen konnte."

"Dieses Hirngespinst des Äthers ist Gegenstand sehr ernst gemeinter Untersuchungen, und nicht wenige und nicht die schlechtesten Physiker halten es für das heutige Hauptproblem ihrer Wissenschaft, die Natur des Äthers zu erforschen."

"Wer Stallos klaren und fesselnden Darlegungen aufmerksam folgt, der wird an der Richtigkeit der mechanistischen Naturauffassung irre werden, wenn sie ihm auch noch so sehr nur auf Tatsachen der Erfahrung zu ruhen schien und ihn noch so sehr mit dogmatischem Schlummer umstrickt hielt."

Soweit wir heute eine metaphysikfreie Naturwissenschaft haben, verdanken wir das in erster Linie den Schriften ERNST MACHs. Wie weit haben wir sie aber? Wie weit ist 'MACH völlig verstanden worden? Wie weit ist in Wirklichkeit die Naturwissenschaft von willkürlichen Zutaten des Denkens befreit? Oder besser - denn kein noch so vorsichtiger und kritischer Forscher ist gänzlich gegen eigene metaphysische Beimengungen zu den von ihm aufgedeckten Tatsachen gefeit - besser fragen wir also: wie weit sind heute die Forscher und Lehrer der Naturwissenschaften von der ausgesprochenen Absicht erfüllt, ihr Denken hinsichtlich der immer von Neuem üppig wuchernden spekulativen Neigungen in scharfe Zucht zu nehmen? Wie weit sind sie gegen sich selbst mißtrauisch und verstehen sie Tatsachen der Natur und Zusätze des Denkens zu trennen, im Besonderen die berechtigte Hypothese und die berechtigte Hilfskonstruktion von der unberechtigten Metaphysik zu unterscheiden?

Wir werden einräumen müssen, daß das trotz des sichtbar wachsenden Einflusses von MACH noch immer recht wenig der Fall ist, und daß die alten Gespenster der Substanz und Kausalität, die schon ein HUME für jeden, der sich nur darum kümmern wollte, mit kräftigen Sprüchlein gebannt hat, immer von Neuem umgehen, ohne als Betrüger und Schemen erkannt zu werden. Wir müssen aber freilich auch zugeben, daß es keine so ganz einfache und im Handumdrehen zu erlernende Sache ist, hier eine selbständige Kritik zu üben und sich nicht blenden zu lassen. Leichter ist es schon, den Glauben an Druck und Stoß von Atomen und Molekülen als Naturauffassung ohne Prüfung zu übernehmen und nen, von Fragen nach dem Naturganzen nicht mehr behelligt, sich auf einem Sondergebiet seßhaft zu machen. Keinen weiten Blick, sondern nur Geduld erfordert es, auch die verwickeltsten neueren Methoden eines Spezialgebietes gründlich zu studieren und mit einigem Geschick zu handhaben, ohne sich um ihre Stellung im Zusammenhang aller Geistesarbeit zu kümmern. Aber wozu treiben wir Wissenschaft? Um auf irgendeinem Gebietchen etwas zu machen oder um der Erkenntnis der Wirklichkeit willen? Müßte nicht jeder Spezialforscher, der mehr als Kärrner und Handlanger sein will, dem Beispiel der großen Geister der Naturwissenschaft nacheifern, die jedes Sonderproblem nur im Hinblick auf das Ganze betrachteten und im Kleinen immer das Große sahen und förderten? Oder ist es zu entschuldigen, daß so viele hinter der chinesischen Mauer ihres engen Faches trotz aller Virtuosität in einen Aberglauben versinken?

Wer erkennen will, dem kann die Kritik der herrschenden naturwissenschaftlichen Lehren nicht gleichgültig sein. Denn eine neue Tatsache wird ihn in erster Linie nicht um ihrer selbst oder etwa um der Sensation willen, die sie hervorruft, interessieren, sondern um des Zusammenhangs willen, in dem sie mit dem bereits gewonnenen Wissen steht, und wegen der Ausblicke, die sie eröffnet. Er wird sie begrifflich seinen übrigen Erkenntnissen einordnen wollen, und die hierzu erforderlichen Begriffe werden ihm mehr und mehr zur Hauptsache werden. Glücklicherweise sind wird bereits so weit, daß die Erkenntniskritik, die vergleichende Beurteilung der geschichtlich gewonnenen Einsichten und der auf einer solchen Vergleichung beruhende Aufbau ihrer Gesamtheit für umso notwendiger erachtet werden, je mehr sich die ermittelten Tatsachen aufhäufen. Auch zeigen die erfolgreichsten Forscher heute wie zu allen Zeiten dieses echt philosophische Streben. Aber wir sind von dem hohen Ziel, es allgemein zu machen, doch noch sehr sehr weit entfernt. Und wo es auftritt, da wird es gewöhnlich dadurch wieder stark beeinträchtigt, daß es sich noch immer mit den Fesseln der Scholastik und einer mechanistischen Naturauffassung schleppt.

Es ist leider nicht zu bestreiten, daß das, was man die Philosophie im engeren Sinne nennt, der Naturerforschung im allgemeinen nur wenig förderlich, ja, daß es ihr zu einem nicht geringen Teil geradezu verhängnisvoll geworden ist. Die platonisch-aristotelische Philosophie wurde eben dadurch, daß sie die Naturforschung scheinbar in sich aufnahm, ihr Verderben. Die experimentelle Methode, die ja schon im Altertum bedeutende Ansätze aufzuweisen hat, ging unter ihrer Herrschaft fast völlig verloren. Zur weiteren Aufklärung über die Welt trug jene Philosophie nur wenig bei, und wie hoch man auch über ihre Wirkungen auf sittlichem Gebiet zu denken geneigt sein mag, so ist es doch eine traurige Tatsache, daß sie nicht imstande gewesen ist, die Menschheit von der würdelosen Geißel der Sklaverei zu befreien und die Ausbreitung von Hexen- und Teufelsglauben und von Inquisition und Tortur zu verhindern. Diesem Jammer und Schimpf war das Urteil erst mit dem Wiederaufleben der sorgfältigen Beobachtung und methodischen experimentellen Erforschung der Natur ausgesprochen. In die undurchsichtigen metaphysischen Nebelmassen fegte der Sturm der Geister hinein, und es wurde Licht auf Erden. Philosophen trotz aller früheren - wenn die Geschichte der zukünftigen Philosophie sie auch nicht als solche anerkennt -, von einem Erkenntnisdrang und einer Kraft des Gedankens, wie sie größer noch nicht aufgetreten waren, Philosophen von einer bewundernswerten Vorurteilslosigkeit häuften Entdeckung auf Entdeckung. Welche Aufklärungen würden wir - vor die Wahl gestellt - lieber missen: die wir KOPERNIKUS, GALILEI und NEWTON verdanken, oder was die Jünger der SCHELLING und HEGEL, ja selbst KANTs als Errungenschaften ihrer Meister preisen? Jene großen Naturphilosophen haben uns in unverlierbaren Begriffen den Weltenbau beschrieben, diese klassischen der nebelfreien Erfassung des Wirklichen Hemmnisse über Hemmnisse bereitet. Und sie bereiten sie noch. Sie können das Erbe der PLATON und ARISTOTELES nicht verleugnen, der erfolgreichsten und also verderblichsten Metaphysiker, und haben es glücklich dahin gebracht, daß HUME, dem unbefangendsten ihrer Vorgänger, noch heute die Stellung und der Einfluß vorenthalten bleiben, die ihm gebühren.

Zum Glück hat die neuere Naturforschung durch ihre ersten großen Vertreter einen so kräftigen Anstoß und einen so erfolgreichen Hinweis auf die Bedeutung der Erfahrung als der ersten und lautersten Erkenntnisquelle erhalten, daß sie sich in weitem Maße dem Einfluß der Schulphilosophie zu entziehen wußte, ja alsbald auch selbst eine Bresche in den Wall der Scholastik legte. Sie baute nicht wie die spekulative Pseudowissenschaft auf dem schmalen und sandigen Grund nur weniger und vereinzelter, oft zusammenhangloser Erfahrungen auf, sondern auf dem breiten und felsigen der systematischen Tatsachenermittlung. Aber es gelang ihr trotzdem nicht, sich von der Metaphysik fernzuhalten. Sie schuf sich in der mechanistischen Naturauffassung, also in der Lehre, daß alles Naturgeschehen im letzten Grund mechanisch ist, daß alles auf Anziehung und Abstoßung von Molekülen und Atomen beruth, ihre eigene Metaphysik. Der erkenntnistheoretische Idealismus ist die Metaphysik von Philosophen, die ihr Augenmerk fast ausschließlich auf das formale Denken und das sittliche Handeln des Menschen richten, der erkenntnistheoretische Materialismus aber die Metaphysik von Naturforschern, die alles übrige Naturgeschehen auf der Grundlage der nächstgelegenen mechanischen Vorgänge betrachten und den psychischen Erscheinungen nur ein oberflächliches Interesse zuwenden. Jene erweiterten das Gebiet der erfahrungsmäßig festzustellenden Tatsachen fast gar nicht, diese ungeheuer. So wurde für den Fortschritt der Erkenntnis den Philosophen im engeren Sinn die Metaphysik zum Verhängnis, den Naturforschern war sie immerhin nicht viel mehr als ein Schleier, der die Dinge wohl verhüllen und trüben, aber nicht völlig unsichtbar machen konnte.

Natürlich sind beide Richtungen nicht ohne alle Verbindung nebeneinander hergegangen. Die Idealisten sind nicht ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse gewesen, ja haben gelegentlich selbst Hand an die Förderung naturwissenschaftlicher Probleme gelegt, und viele Naturforscher taten einen Einblick in die eigentümliche Gedankenwelt der engeren Philosophie. Aber im Ganzen überwog doch bei weitem fast bei jedem Vertreter beider Richtungen die Seite, die uns eben gestattet, ihn ohne Schwanken der einen oder anderen Richtung zuzuweisen. Einen besonderen Ausdruck hat dieser Gegensatz in dem noch immer tobenden Kampf um die Mittelschule gefunden: die Philosophie derer, die für das Vorwiegen der sprachlichen Bildung eintreten, ist meist der erkenntnistheoretische Idealismus, die Vorkämpfer der mehr realistischen Bildung huldigen im allgemeinen der mechanistischen Naturauffassung.

Metaphysische Annahmen sind solche, die durch die Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden können. Sie liegen jenseits jeder Möglichkeit der Erfahrung und damit außerhalb des Reiches wahrer Wissenschaft, soweit man sie nicht selbst als Gegenstand der Untersuchung nimmt. Sie sind Spiele einer unwissenschaftlichen Phantasie, Erdichtungen, Willkürlichkeiten. Ein treffliches Beispiel dafür bieten die Atome des Lichtäthers. Daß sie völlig transzendente Gebilde sind, geht daraus hervor, daß ihre Erfahrbarkeit noch nicht einmal gedacht werden kann. Auch wenn es gelingen könnte, optische Vergrößerungen zu erreichen, die die gegenwärtigen um das billionenfache übertreffen, so müßten die Ätheratome doch ewig unsichtbar bleiben, da sie ja selbst nur die Vermittler des Sehens sein sollen: ihre Bewegung ist die unerläßliche Bedingung für die Wahrnehmung derjenigen Körper, durch die ihre Bewegung veranlaßt oder modifiziert wird, sie selbst müssen also als unsichtbar gedacht werden. Natürlich dürfen wir sie aber auch nicht vollkommen durchsichtig denken, da das einen Äther [hypothetisches Medium für die Ausbreitung des Lichts im Vakuum - wp] zweiter Ordnung voraussetzen würde. Also bleibt nur übrig, sie als lichtlos oder schwarz anzunehmen. Ja, streng genommen, dürfen wir sie noch nicht einmal als schwarz voraussetzen, da schwarz keineswegs ein optisches Nichts, eine bloße Negation ist, sondern einen positiven optischen Wert hat. Lassen wir es aber einmal gelten, daß die Ätheratome schwarz zu denken sind. Ebenso lichtlos ist dann natürlich der leere Raum zwischen ihnen. Sie könnten sich also nie von ihm abheben und müßten somit ihrem Wesen nach für das Auge unwahrnehmbar sein. Genausowenig wie optische Qualitäten können ihnen aber solche des Temperatursinns zugesprochen werden. Noch weniger solche des Tast- oder irgendeines anderen Sinnes, denn die Ätheratome sollen ja denen der wahrnehmbaren Körper gegenüber verschwindend klein sein. Sie sind also völlig qualitätslos, durch nichts vom Nichts zu unterscheiden. Und eine solche Chimäre [Zwitterwesen - wp] hält man für geeignet, die Farbenpracht der Natur zu erklären! Sie soll die objektive Wirklichkeit sein und einen höheren Grad an Realität beanspruchen dürfen als das Blau des Himmels und das Funkeln der Sterne, dessen ich doch unmittelbar gewiß bin. Daß die Sache nicht besser wird, wenn man dem Äther die atomistische Struktur nimmt, ihn dafür den Raum kontinuierlich erfüllen und seine Bewegungen zu Wirbeln werden läßt, braucht nicht ausgeführt zu werden: er bleibt qualitätslos und also ein wahrhaftiges Nichts.

Dabei haben wir die unerhörten Widersprüche, zu denen die Lehre vom Äther weiterhin gelangt, und die ferneren Zumutunen, die sie an das Denken des Unbefangenen stellt, noch gar nicht berührt, sondern nur seine wesentlichste, nämlich seine Vermittlereigenschaft im allgemeinen erörtert. Das reicht aber durchaus, um zu zeigen, daß er nicht etwa auf den logischen Ragn einer Hypothese Anspruch erheben kann. Denn für die Hypothese muß die Bestätigung durch die Erfahrung zumindest denkbar sein. Die Erfahrbarkeit des Äthers ist schon darum undenkbar, weil er ohne alle sinnlichen Qualitäten sein müßte. Er kann also nicht zu den Hypothesen gezählt werden, sondern ist schlecht und recht Metaphysik. Trotzdem ist dieses Hirngespinst Gegenstand sehr ernst gemeinter Untersuchungen, und nicht wenige und nicht die schlechtesten Physiker halten es für das heutige Hauptproblem ihrer Wissenschaft, die Natur des Äthers zu erforschen (1).

Wie ist so etwas möglich? Weil weite Kreise der Naturforscher noch immer nicht den Wert einer gründlichen erkenntnistheoretischen und historisch-psychologischen Bildung erkannt haben. Sie wissen nicht, wie weit und frei der Horizont dadurch werden könnte und wie sehr sie die Fragestellung beeinflussen und damit von unmöglichen Zielen zurückbringen müßte. Sie wissen nicht, in welche trostlose Lage geraten, sobald sie das Gebiet der Psychologie betreten würden. Sie haben offenbar keine rechte Vorstellung von der unauflösbaren Schwierigkeit, die das Problem des Parallelismus der seelischen Vorgänge mit Gehirnänderungen annimmt, wenn man jener mechanistischen Auffassung huldigt. Sonst müßte sich ja den Mechanisten beim Niederschreiben von Worten, wie man sie in zahllosen Lehrbüchern und sonstigen naturwissenschaftlichen Schriften immer wieder liest, die Feder sträuben: der Reiz pflanz sich von der Netzhaut den Sehnerven entlang fort bis zum Gehirn, "wo er sich in Lichtempfinungen umsetzt" oder "wo er zum Bewußtsein kommt!" Dieses Wo, dieses Umsetzen in ein völlig Heterogenes und dieses "Zum-Bewußtsein-kommen" sind der blanke Hohn auf exaktes Denkens. Nein, wo alle Qualitäten in Bewegungen von Atomen aufgelöst werden, da entsteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen Körper und Seele, zwischen Natur und Geist.

Was sind doch die Menschen für ein merkwürdiges Geschlecht! Selbst aus der Natur hervorgegangen und ein Teil der Natur und zu vollkommener Harmonie mit ihr befähigt, sind sie doch noch immer unablässig bemüht, unübersteigbare Scheidewände zwischen sich und ihr zu errichten, und statt sie unbefangen zu nehmen, wie sie sich bietet, suchen sie ihr eigentliches Wesen in jammervollen und sinnlosen Erzeugnissen einer sich wissenschaftlich dünkenden Phantasie, in öden, aller wirklichen Natur entkleideten Surrogaten. Nicht besster als mit dem Äther ist es mit den Körperatomen und -molekülen bestellt und mit dem neuesten Erzeugnis dieser Art, den Elektronen. Bestenfalls sind das alles nichts anderes als Hilfskonstruktionen, die ja beim Aufbau der Erkenntnis eine Zeit lang nützliche Dienste leisten können, die man aber doch nun und nimmermehr mit dem Bau selbst verwechseln darf. Man müßte mehr darauf ausgehen, sie sobald wie möglich entbehrlich zu machen, damit sie die Schönheit des Gebäudes nicht länger verdecken. Das Klapperwerk der Atome ist noch viel weniger die Natur, als der Klaviermechanismus das Tonwerk und die Leinwand das Gemälde ist. Wir können aber noch immer nicht mit GOETHE empfinden, der von HOLBACHs "Systéme de la nature" gewiß auch gerade im Hinblick auf seine mechanistische Grundlage sagte:
    "Es kam uns so grau, so cimmerisch [von lat. cimmerius: von den Zimmereriern, die am nördl. Ende von Skythien wohnten; dah. cimmerische, dicke Finsternis, bei den Dichtern - wp] so totenhaft, daß wir davor wie vor einem Gespenst schauderten."
Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich schließlich allgemein dazu entschließen wollte, räumlich und auch zeitlich voneinander getrennte Vorgänge, von denen der eine als vom andern abhängig erkannt worden ist, erst einmal lediglich so miteinander verknüpft zu denken, wie in der Mathematik das Argument mit der Funktion. Damit wäre jedem Moment des einen ein bestimmter des anderen zugeordnet, und soweit für einen Vorgang eine solche Funktion aufgestellt wäre, hätten wir ihn völlig in unserer Hand wie etwa die Mondverfinsterungen oder eine telegraphische Mitteilung. Die Beantwortung der Frage nach einer Vermittlung der Wirkung in die Ferne könnte man dann zunächst aufschieben. Böte sich eine solche Vermittlung früher oder später ungezwungen dar, so könnte man sie ja noch immer annehmen. Ließe sich aber trotz aller Bemühungen keine finden, so würde man sich vielleicht das Suchen ganz abgewöhnen können. Die Hauptsache ist immer die Ermittlung des funktionellen Zusammenhangs zwischen den tatsächlichen Erscheinungen; sie durch fingierte Vorgänge, die sich durch keinen Erfahrungsbeweis bestätigen lassen, zu verknüpfen, kann auch im günstigsten Fall - nämlich wenn die verborgenen Bewegungen in sich und gegenüber denen der Erfahrung widerspruchsfrei sind - nur heuristischen [methodischen - wp] und pädagogischen, nie aber erkenntnistheoretischen Wert haben. Wir dürfen es als sicheres Ergebnis der naturwissenschaftlichen Erkenntniskritik bezeichnen, daß die Nahwirkung logisch und erkenntnistheoretisch keineswegs höher einzuschätzen ist als die Fernwirkung. Nur psychologisch liegen uns Druck und Stoß als die uns von Jugend auf vertrautesten Bewegungsursachen am nächsten. Wer das mit ROBERT MAYER, MACH und KIRCHHOFF eingesehen hat, der kann den Äthertheorien nur noch ein Interesse zweiten Ranges entgegenbringen. Und wenn er sieht, daß die atomistischen Theorien des Äthers in Wirklichkeit die Fortpflanzung der Bewegung noch gar nicht einmal durch Druck und Stoß bewerkstelligen lassen - was ihre Vertreter häufig gar nicht merken -, sondern daß hier die Fernwirkung zwischen den Ätheratomen genausogut benutzt wird wie bei der Beschreibung der Planetenbewegungen, so wird er dadurch nur in seiner Überzeugung bestärkt werden, daß es allein auf den funktionellen Zusammenhang, auf die eindeutige Bestimmtheit der Vorgänge ankommt, und daß die Aufgabe der Naturwissenschaft nur darin besteht, diesen Zusammenhang zu beschreiben, in seiner Tatsächlichkeit zu konstatieren. Wären alle Zusammenhänge auf solche Weise festgestellt, so wären sie eben damit auch erklärt, und wer sich an dieses System der Naturtatsachen erst gewöhnt hätte, der würde auch kein Bedürfnis nach einer weiteren Erklärung mehr empfinden.

Anstatt also zu behaupten: das Licht ist eine Wellenbewegung, stimmen wir lieber den Worten MACHs bei: das Licht verhält sich wie eine Wellenbewegung. Wir haben mit der Anwendung dieses Bildes alle die Vorteile, auf die sich die Äthertheoretiker berufen, und sind doch - zumindest an dieser Stelle - vor dem Sturz in die bodenlose Tiefe der Metaphysik geschützt. Wer aber erst soweit gegangen ist, wird nicht still stehen. Von der vermeintlichen Natur wendet er sich zur wirklichen, und ihr Zauber läßt ihn nicht los.

Wer soll ihm aber ein Führer sein? Ich möchte ihm besonders drei namhaft machen. Zwei davon haben wir schon wiederholt genannt: HUME und MACH. Von jenem kommt hier der erste Teil des "Traktats über die menschliche Natur", also das Buch "Über den Verstand" in Frage, das in einer trefflichen Ausgabe von THEODOR LIPPS vorliegt (2); von MACH aber in erster Linie "Die Mechanik, in ihrer Entwicklung, historisch-kritisch dargestellt" (3) und die beiden ersten und das letzte Kapitel aus der "Analyse der Empfindungen" (4). Der dritte Führer schließlich ist das von MACH erst vor wenigen Jahren für Deutschland entdeckte Buch des Deutsch-Amerikaners STALLO "Die Begriffe und Theorie der modernen Physik" (5).

Über das letzte, das leider erst kürzlich den deutschen Boden betreten hat, noch ein paar Worte. MACH sagt:
    "Es wäre mir, als ich um die Mitte der sechziger Jahre meine kritischen Arbeiten begann, sehr ermutigend und förderlich gewesen, von den verwandten Bemühungen eines Genossen wie Stallo Kenntnis zu haben."

    "Ohne persönliche Führung eines Lehrers war er darauf angewiesen, seine Zweifel durch stilles, anhaltendes Nachdenken zu lösen. So gewann er die Eigenartigkeit und Selbständigkeit, welcher der orthodoxe Jünger der modernen physikalischen Schule fast befremdet und betroffen gegenübersteht."
Beide Forscher sind einig in dem Streben, aus der Wissenschaft die versteckten metaphysischen Gedanken zu beseitigen und beide gelangen in vielen wichtigen Punkten zu denselben Ergebnissen. Dabei ist es von großem Wert, daß die Wege, die sie gingen, nicht nur verschieden, sondern geradezu entgegengesetzt waren. MACH steigt von der Erörterung des einzelne naturwissenschaftlichen Problems zu den allgemeinen Einsichten auf. STALLO, der sich in jungen Jahren wie er selbst sagt, "unter dem Bann der ontologischen Träumereien Hegels befunden" und "ernstlich an der metaphysischen Krankheit gelitten" hat, "welche zu den unvermeidlichen Kinderkrankheiten unseres Geistes zu gehören scheint", geht von sehr allgemeinen Betrachtungen aus und wendet sie auf die Physik an. Er hat den verwüstenden Einfluß einer Spekulation, die die Erfahrung verachtet, ja sich nicht entblödet, sie zu vergewaltigen, sozusagen am eigenen Leib erfahren und ist dem Übel auf den Grund gegangen. Nicht die gewöhnlichen Übertretungen logischer Gesetze sind es, die ihm in vorderster Linie die Erkenntnis des Wahren zu verhindern scheinen, sondern mehrere "in gewissem Sinne natürliche Auswüchse der Entwicklung des Denkens", die "als solche nicht ohne Analogie zu den organischen Leiden des körperlichen Lebens stehen" und die er "Strukturfehler des Geistes" nennt (6). Sie laufen alle auf den Versuch hinaus, "die wahre Natur der Dinge aus unseren Begriffen von denselben abzuleiten". Damit tritt STALLO in den schärfsten Gegensatz zu unserer klassischen Philosophie. KANT hat ja gerade mit der Aufstellung, daß sich nicht, wie man immer gemeint hat, das Denken nach den Gegenständen, umgekehrt die Dinge nach dem Denken richten, eine neue Periode der Metaphysik eingeleitet: er selbst verglich diese Lehre, durch die die Erfahrung im Rang bedeutend herabgesetzt wurde, mit der umstürzenden Tat des KOPERNIKUS. Das Neue jedoch war nur, daß dieser alle Natur umkehrende Grundsatz ausdrücklich zur Herrschaft erhoben wurde; in Wahrheit ist das menschliche Denken in weitem Umfang immer nach ihm verfahren: sehr häufig auch da, wo es glaubte nur erfahrungsmäßig vorzugehen. Es hat ja auch einen außerordentlichen Reiz, sich ungehemmt der Kraft des Gedankens zu überlassen und statt der mühsam zu erwerbenden Erfahrungen nur die Eingebungen der willigeren Phantasie einer lediglich formal-logischen Kritik zu unterwerfen. Es ist sich er auch nicht zu vergessen, daß diese Kraft des phantasievollen Denkens, wenn sie auf einer breiten Erfahrungsgrundlage steht, zu den eindrucksvollsten Ergebnissen führt; was kann das Staunen und die Bewunderung mehr erregen als die Voraussage künftiger Naturereignisse oder gar der Entdeckung bestimmter Vorgänge oder Dinge der Natur? Ja, wir müssen noch weiter gehen und behaupten, daß jede naturwissenschaftliche Entdeckung eine Leistung der Phantasie und des sich über die bisher bekannten Tatsachen erhebenden Gedankens ist. Aber ein anderes ist es, wenn sich die Phantasie ausdrücklich und voll bewußt in den Dienst der Erfahrung stellt, und ein anderes, wenn sie die Erfahrung geradezu mißachtet und vergewaltigt. Und daß das letztere in hohem Grad auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet, ja auf dem anscheinend sich am strengsten der ununterbrochenen Kontrolle der Erfahrung unterwerfenden der Physik geschieht, das weist STALLO vor allein in den Kapiteln 9 - 12 eingehend nach. Wer seinen klaren und fesselnden Darlegungen aufmerksam folgt, der wird an der Richtigkeit der mechanistischen Naturauffassung irre werden, wenn sie ihm auch noch so sehr nur auf Tatsachen der Erfahrung zu ruhen schien und ihn noch so sehr mit dogmatischem Schlummer umstrickt hielt. Möge er sich von ihnen rütteln lassen, daß ihm die metaphysischen Schuppen von den Augen fallen und er sich des ungetrübten Lichts der Erkenntnis erfreut. Erst wer erkannt hat, daß nicht Atome und Moleküle, sondern Farbiges, Gerades, Krummes, Ebenes, Rundes, Spitzes, Eckiges, Hartes, Weiches, Tönendes, Heißes etc. die Elemente der Wirklichkeit sein, und daß das alles bei voraussetzungsloser Analyse weder innerhalb noch außerhalb des Bewußtseins oder Ichs vorgefunden wird, daß Welt und Ich vielmehr Begriffe sind, die beide gleichberechtigt erst aus jenen Elementen in gegenseitiger Beziehung entstehen, und erst wer diese Einsicht in allen Erkenntnislagen festzuhalten gelernt hat, der erst wird vom mechanistischen Vorurteil befreit sein.
LITERATUR - Joseph Petzoldt, Metaphysikfreie Naturwissenschaft, Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Bd. 17, NF Bd. 1, Jena 1902
    Anmerkungen
    1) Vgl. Seite 23f dieses Jahrgangs der "Naturwissenschaftlichen Wochenschrift".
    2) Hamburg und Leipzig 1895
    3) vierte Auflage, Leipzig 1901.
    4) dritte Auflage, Jena 1901.
    5) Nach der dritten Auflage des englischen Originals übersetzt und herausgegeben von HANS KLEINPETER (mit eine Vorwort von ERNST MACH), Leipzig 1901
    6) STALLO, a. a. O., Seite 135f.