E. MachL. NelsonR. Thiele | ||||
Metaphysikfreie Naturwissenschaft
Wir werden einräumen müssen, daß das trotz des sichtbar wachsenden Einflusses von MACH noch immer recht wenig der Fall ist, und daß die alten Gespenster der Substanz und Kausalität, die schon ein HUME für jeden, der sich nur darum kümmern wollte, mit kräftigen Sprüchlein gebannt hat, immer von Neuem umgehen, ohne als Betrüger und Schemen erkannt zu werden. Wir müssen aber freilich auch zugeben, daß es keine so ganz einfache und im Handumdrehen zu erlernende Sache ist, hier eine selbständige Kritik zu üben und sich nicht blenden zu lassen. Leichter ist es schon, den Glauben an Druck und Stoß von Atomen und Molekülen als Naturauffassung ohne Prüfung zu übernehmen und nen, von Fragen nach dem Naturganzen nicht mehr behelligt, sich auf einem Sondergebiet seßhaft zu machen. Keinen weiten Blick, sondern nur Geduld erfordert es, auch die verwickeltsten neueren Methoden eines Spezialgebietes gründlich zu studieren und mit einigem Geschick zu handhaben, ohne sich um ihre Stellung im Zusammenhang aller Geistesarbeit zu kümmern. Aber wozu treiben wir Wissenschaft? Um auf irgendeinem Gebietchen etwas zu machen oder um der Erkenntnis der Wirklichkeit willen? Müßte nicht jeder Spezialforscher, der mehr als Kärrner und Handlanger sein will, dem Beispiel der großen Geister der Naturwissenschaft nacheifern, die jedes Sonderproblem nur im Hinblick auf das Ganze betrachteten und im Kleinen immer das Große sahen und förderten? Oder ist es zu entschuldigen, daß so viele hinter der chinesischen Mauer ihres engen Faches trotz aller Virtuosität in einen Aberglauben versinken? Wer erkennen will, dem kann die Kritik der herrschenden naturwissenschaftlichen Lehren nicht gleichgültig sein. Denn eine neue Tatsache wird ihn in erster Linie nicht um ihrer selbst oder etwa um der Sensation willen, die sie hervorruft, interessieren, sondern um des Zusammenhangs willen, in dem sie mit dem bereits gewonnenen Wissen steht, und wegen der Ausblicke, die sie eröffnet. Er wird sie begrifflich seinen übrigen Erkenntnissen einordnen wollen, und die hierzu erforderlichen Begriffe werden ihm mehr und mehr zur Hauptsache werden. Glücklicherweise sind wird bereits so weit, daß die Erkenntniskritik, die vergleichende Beurteilung der geschichtlich gewonnenen Einsichten und der auf einer solchen Vergleichung beruhende Aufbau ihrer Gesamtheit für umso notwendiger erachtet werden, je mehr sich die ermittelten Tatsachen aufhäufen. Auch zeigen die erfolgreichsten Forscher heute wie zu allen Zeiten dieses echt philosophische Streben. Aber wir sind von dem hohen Ziel, es allgemein zu machen, doch noch sehr sehr weit entfernt. Und wo es auftritt, da wird es gewöhnlich dadurch wieder stark beeinträchtigt, daß es sich noch immer mit den Fesseln der Scholastik und einer mechanistischen Naturauffassung schleppt. Es ist leider nicht zu bestreiten, daß das, was man die Philosophie im engeren Sinne nennt, der Naturerforschung im allgemeinen nur wenig förderlich, ja, daß es ihr zu einem nicht geringen Teil geradezu verhängnisvoll geworden ist. Die platonisch-aristotelische Philosophie wurde eben dadurch, daß sie die Naturforschung scheinbar in sich aufnahm, ihr Verderben. Die experimentelle Methode, die ja schon im Altertum bedeutende Ansätze aufzuweisen hat, ging unter ihrer Herrschaft fast völlig verloren. Zur weiteren Aufklärung über die Welt trug jene Philosophie nur wenig bei, und wie hoch man auch über ihre Wirkungen auf sittlichem Gebiet zu denken geneigt sein mag, so ist es doch eine traurige Tatsache, daß sie nicht imstande gewesen ist, die Menschheit von der würdelosen Geißel der Sklaverei zu befreien und die Ausbreitung von Hexen- und Teufelsglauben und von Inquisition und Tortur zu verhindern. Diesem Jammer und Schimpf war das Urteil erst mit dem Wiederaufleben der sorgfältigen Beobachtung und methodischen experimentellen Erforschung der Natur ausgesprochen. In die undurchsichtigen metaphysischen Nebelmassen fegte der Sturm der Geister hinein, und es wurde Licht auf Erden. Philosophen trotz aller früheren - wenn die Geschichte der zukünftigen Philosophie sie auch nicht als solche anerkennt -, von einem Erkenntnisdrang und einer Kraft des Gedankens, wie sie größer noch nicht aufgetreten waren, Philosophen von einer bewundernswerten Vorurteilslosigkeit häuften Entdeckung auf Entdeckung. Welche Aufklärungen würden wir - vor die Wahl gestellt - lieber missen: die wir KOPERNIKUS, GALILEI und NEWTON verdanken, oder was die Jünger der SCHELLING und HEGEL, ja selbst KANTs als Errungenschaften ihrer Meister preisen? Jene großen Naturphilosophen haben uns in unverlierbaren Begriffen den Weltenbau beschrieben, diese klassischen der nebelfreien Erfassung des Wirklichen Hemmnisse über Hemmnisse bereitet. Und sie bereiten sie noch. Sie können das Erbe der PLATON und ARISTOTELES nicht verleugnen, der erfolgreichsten und also verderblichsten Metaphysiker, und haben es glücklich dahin gebracht, daß HUME, dem unbefangendsten ihrer Vorgänger, noch heute die Stellung und der Einfluß vorenthalten bleiben, die ihm gebühren. Zum Glück hat die neuere Naturforschung durch ihre ersten großen Vertreter einen so kräftigen Anstoß und einen so erfolgreichen Hinweis auf die Bedeutung der Erfahrung als der ersten und lautersten Erkenntnisquelle erhalten, daß sie sich in weitem Maße dem Einfluß der Schulphilosophie zu entziehen wußte, ja alsbald auch selbst eine Bresche in den Wall der Scholastik legte. Sie baute nicht wie die spekulative Pseudowissenschaft auf dem schmalen und sandigen Grund nur weniger und vereinzelter, oft zusammenhangloser Erfahrungen auf, sondern auf dem breiten und felsigen der systematischen Tatsachenermittlung. Aber es gelang ihr trotzdem nicht, sich von der Metaphysik fernzuhalten. Sie schuf sich in der mechanistischen Naturauffassung, also in der Lehre, daß alles Naturgeschehen im letzten Grund mechanisch ist, daß alles auf Anziehung und Abstoßung von Molekülen und Atomen beruth, ihre eigene Metaphysik. Der erkenntnistheoretische Idealismus ist die Metaphysik von Philosophen, die ihr Augenmerk fast ausschließlich auf das formale Denken und das sittliche Handeln des Menschen richten, der erkenntnistheoretische Materialismus aber die Metaphysik von Naturforschern, die alles übrige Naturgeschehen auf der Grundlage der nächstgelegenen mechanischen Vorgänge betrachten und den psychischen Erscheinungen nur ein oberflächliches Interesse zuwenden. Jene erweiterten das Gebiet der erfahrungsmäßig festzustellenden Tatsachen fast gar nicht, diese ungeheuer. So wurde für den Fortschritt der Erkenntnis den Philosophen im engeren Sinn die Metaphysik zum Verhängnis, den Naturforschern war sie immerhin nicht viel mehr als ein Schleier, der die Dinge wohl verhüllen und trüben, aber nicht völlig unsichtbar machen konnte. Natürlich sind beide Richtungen nicht ohne alle Verbindung nebeneinander hergegangen. Die Idealisten sind nicht ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse gewesen, ja haben gelegentlich selbst Hand an die Förderung naturwissenschaftlicher Probleme gelegt, und viele Naturforscher taten einen Einblick in die eigentümliche Gedankenwelt der engeren Philosophie. Aber im Ganzen überwog doch bei weitem fast bei jedem Vertreter beider Richtungen die Seite, die uns eben gestattet, ihn ohne Schwanken der einen oder anderen Richtung zuzuweisen. Einen besonderen Ausdruck hat dieser Gegensatz in dem noch immer tobenden Kampf um die Mittelschule gefunden: die Philosophie derer, die für das Vorwiegen der sprachlichen Bildung eintreten, ist meist der erkenntnistheoretische Idealismus, die Vorkämpfer der mehr realistischen Bildung huldigen im allgemeinen der mechanistischen Naturauffassung. Metaphysische Annahmen sind solche, die durch die Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden können. Sie liegen jenseits jeder Möglichkeit der Erfahrung und damit außerhalb des Reiches wahrer Wissenschaft, soweit man sie nicht selbst als Gegenstand der Untersuchung nimmt. Sie sind Spiele einer unwissenschaftlichen Phantasie, Erdichtungen, Willkürlichkeiten. Ein treffliches Beispiel dafür bieten die Atome des Lichtäthers. Daß sie völlig transzendente Gebilde sind, geht daraus hervor, daß ihre Erfahrbarkeit noch nicht einmal gedacht werden kann. Auch wenn es gelingen könnte, optische Vergrößerungen zu erreichen, die die gegenwärtigen um das billionenfache übertreffen, so müßten die Ätheratome doch ewig unsichtbar bleiben, da sie ja selbst nur die Vermittler des Sehens sein sollen: ihre Bewegung ist die unerläßliche Bedingung für die Wahrnehmung derjenigen Körper, durch die ihre Bewegung veranlaßt oder modifiziert wird, sie selbst müssen also als unsichtbar gedacht werden. Natürlich dürfen wir sie aber auch nicht vollkommen durchsichtig denken, da das einen Äther [hypothetisches Medium für die Ausbreitung des Lichts im Vakuum - wp] zweiter Ordnung voraussetzen würde. Also bleibt nur übrig, sie als lichtlos oder schwarz anzunehmen. Ja, streng genommen, dürfen wir sie noch nicht einmal als schwarz voraussetzen, da schwarz keineswegs ein optisches Nichts, eine bloße Negation ist, sondern einen positiven optischen Wert hat. Lassen wir es aber einmal gelten, daß die Ätheratome schwarz zu denken sind. Ebenso lichtlos ist dann natürlich der leere Raum zwischen ihnen. Sie könnten sich also nie von ihm abheben und müßten somit ihrem Wesen nach für das Auge unwahrnehmbar sein. Genausowenig wie optische Qualitäten können ihnen aber solche des Temperatursinns zugesprochen werden. Noch weniger solche des Tast- oder irgendeines anderen Sinnes, denn die Ätheratome sollen ja denen der wahrnehmbaren Körper gegenüber verschwindend klein sein. Sie sind also völlig qualitätslos, durch nichts vom Nichts zu unterscheiden. Und eine solche Chimäre [Zwitterwesen - wp] hält man für geeignet, die Farbenpracht der Natur zu erklären! Sie soll die objektive Wirklichkeit sein und einen höheren Grad an Realität beanspruchen dürfen als das Blau des Himmels und das Funkeln der Sterne, dessen ich doch unmittelbar gewiß bin. Daß die Sache nicht besser wird, wenn man dem Äther die atomistische Struktur nimmt, ihn dafür den Raum kontinuierlich erfüllen und seine Bewegungen zu Wirbeln werden läßt, braucht nicht ausgeführt zu werden: er bleibt qualitätslos und also ein wahrhaftiges Nichts. Dabei haben wir die unerhörten Widersprüche, zu denen die Lehre vom Äther weiterhin gelangt, und die ferneren Zumutunen, die sie an das Denken des Unbefangenen stellt, noch gar nicht berührt, sondern nur seine wesentlichste, nämlich seine Vermittlereigenschaft im allgemeinen erörtert. Das reicht aber durchaus, um zu zeigen, daß er nicht etwa auf den logischen Ragn einer Hypothese Anspruch erheben kann. Denn für die Hypothese muß die Bestätigung durch die Erfahrung zumindest denkbar sein. Die Erfahrbarkeit des Äthers ist schon darum undenkbar, weil er ohne alle sinnlichen Qualitäten sein müßte. Er kann also nicht zu den Hypothesen gezählt werden, sondern ist schlecht und recht Metaphysik. Trotzdem ist dieses Hirngespinst Gegenstand sehr ernst gemeinter Untersuchungen, und nicht wenige und nicht die schlechtesten Physiker halten es für das heutige Hauptproblem ihrer Wissenschaft, die Natur des Äthers zu erforschen (1). Wie ist so etwas möglich? Weil weite Kreise der Naturforscher noch immer nicht den Wert einer gründlichen erkenntnistheoretischen und historisch-psychologischen Bildung erkannt haben. Sie wissen nicht, wie weit und frei der Horizont dadurch werden könnte und wie sehr sie die Fragestellung beeinflussen und damit von unmöglichen Zielen zurückbringen müßte. Sie wissen nicht, in welche trostlose Lage geraten, sobald sie das Gebiet der Psychologie betreten würden. Sie haben offenbar keine rechte Vorstellung von der unauflösbaren Schwierigkeit, die das Problem des Parallelismus der seelischen Vorgänge mit Gehirnänderungen annimmt, wenn man jener mechanistischen Auffassung huldigt. Sonst müßte sich ja den Mechanisten beim Niederschreiben von Worten, wie man sie in zahllosen Lehrbüchern und sonstigen naturwissenschaftlichen Schriften immer wieder liest, die Feder sträuben: der Reiz pflanz sich von der Netzhaut den Sehnerven entlang fort bis zum Gehirn, "wo er sich in Lichtempfinungen umsetzt" oder "wo er zum Bewußtsein kommt!" Dieses Wo, dieses Umsetzen in ein völlig Heterogenes und dieses "Zum-Bewußtsein-kommen" sind der blanke Hohn auf exaktes Denkens. Nein, wo alle Qualitäten in Bewegungen von Atomen aufgelöst werden, da entsteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen Körper und Seele, zwischen Natur und Geist. Was sind doch die Menschen für ein merkwürdiges Geschlecht! Selbst aus der Natur hervorgegangen und ein Teil der Natur und zu vollkommener Harmonie mit ihr befähigt, sind sie doch noch immer unablässig bemüht, unübersteigbare Scheidewände zwischen sich und ihr zu errichten, und statt sie unbefangen zu nehmen, wie sie sich bietet, suchen sie ihr eigentliches Wesen in jammervollen und sinnlosen Erzeugnissen einer sich wissenschaftlich dünkenden Phantasie, in öden, aller wirklichen Natur entkleideten Surrogaten. Nicht besster als mit dem Äther ist es mit den Körperatomen und -molekülen bestellt und mit dem neuesten Erzeugnis dieser Art, den Elektronen. Bestenfalls sind das alles nichts anderes als Hilfskonstruktionen, die ja beim Aufbau der Erkenntnis eine Zeit lang nützliche Dienste leisten können, die man aber doch nun und nimmermehr mit dem Bau selbst verwechseln darf. Man müßte mehr darauf ausgehen, sie sobald wie möglich entbehrlich zu machen, damit sie die Schönheit des Gebäudes nicht länger verdecken. Das Klapperwerk der Atome ist noch viel weniger die Natur, als der Klaviermechanismus das Tonwerk und die Leinwand das Gemälde ist. Wir können aber noch immer nicht mit GOETHE empfinden, der von HOLBACHs "Systéme de la nature" gewiß auch gerade im Hinblick auf seine mechanistische Grundlage sagte:
Anstatt also zu behaupten: das Licht ist eine Wellenbewegung, stimmen wir lieber den Worten MACHs bei: das Licht verhält sich wie eine Wellenbewegung. Wir haben mit der Anwendung dieses Bildes alle die Vorteile, auf die sich die Äthertheoretiker berufen, und sind doch - zumindest an dieser Stelle - vor dem Sturz in die bodenlose Tiefe der Metaphysik geschützt. Wer aber erst soweit gegangen ist, wird nicht still stehen. Von der vermeintlichen Natur wendet er sich zur wirklichen, und ihr Zauber läßt ihn nicht los. Wer soll ihm aber ein Führer sein? Ich möchte ihm besonders drei namhaft machen. Zwei davon haben wir schon wiederholt genannt: HUME und MACH. Von jenem kommt hier der erste Teil des "Traktats über die menschliche Natur", also das Buch "Über den Verstand" in Frage, das in einer trefflichen Ausgabe von THEODOR LIPPS vorliegt (2); von MACH aber in erster Linie "Die Mechanik, in ihrer Entwicklung, historisch-kritisch dargestellt" (3) und die beiden ersten und das letzte Kapitel aus der "Analyse der Empfindungen" (4). Der dritte Führer schließlich ist das von MACH erst vor wenigen Jahren für Deutschland entdeckte Buch des Deutsch-Amerikaners STALLO "Die Begriffe und Theorie der modernen Physik" (5). Über das letzte, das leider erst kürzlich den deutschen Boden betreten hat, noch ein paar Worte. MACH sagt:
"Ohne persönliche Führung eines Lehrers war er darauf angewiesen, seine Zweifel durch stilles, anhaltendes Nachdenken zu lösen. So gewann er die Eigenartigkeit und Selbständigkeit, welcher der orthodoxe Jünger der modernen physikalischen Schule fast befremdet und betroffen gegenübersteht."
1) Vgl. Seite 23f dieses Jahrgangs der "Naturwissenschaftlichen Wochenschrift". 2) Hamburg und Leipzig 1895 3) vierte Auflage, Leipzig 1901. 4) dritte Auflage, Jena 1901. 5) Nach der dritten Auflage des englischen Originals übersetzt und herausgegeben von HANS KLEINPETER (mit eine Vorwort von ERNST MACH), Leipzig 1901 6) STALLO, a. a. O., Seite 135f. |