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Der Wirklichkeitsgedanke [2/13]
II. Wer unserer Erörterung bis hierher gefolgt ist, wird leicht folgenden Einwand erheben. Wir sind uns auf das deutlichste bewußt, mit Zuerkennung der Wirklichkeit in allen Fällen ein und dasselbe zu meinen; mögen wir noch so verschiedene Dinge für wirklich halten, mit der Behauptung, daß sie wirklich sind, sagen wir doch von ihnen allen ein und dasselbe aus. Hiermit aber scheint die von uns behauptete Vieldeutigkeit des W-Vorgangs nicht recht verträglich zu sein. In der Tats sind derartige Einwände öfters erhoben worden. MARTY glaubt, ERDMANNs Theorie der Existenzialsätze damit ad absurdum führen zu können, (1) daß er als ihre notwendige Konsequenz einen "äquivoken" [gleichbedeutend - wp] Begriff des Seins hinstellt, eine Auffassung, die er offenbar für so widersinnig ansieht, daß sie nicht einmal in Erwägung gezogen zu werden braucht. DYROFF macht CORNELIUS den Vorwurf (2), er spreche von den verschiedenen Bedeutungen des Existenzialbegriffs so, daß man sich wundern müsse, daß dieselben überhaupt mit demselben Wort benannt werden. Allein derartige Bedenken, die beim Logiker begreiflich sind, treffen unsere psychologische Betrachtungsweise überhaupt nicht. Beide Standpunkte aber sind für unser Problem auf das sorgfältigste voneinander zu trennen. In Wahrheit liegt die Sache überall so, daß sich erst aufgrund eines vielgestaltigen psychischen Geschehens der Begriff entwickelt, aus dessen gedachter Einheitlichkeit niemals rückwärts auf die Gleichartigkeit der Vorgänge, denen er seine Entstehung verdankt, geschlossen werden darf. Der Begriff "Empfindung" z. B. ist nicht möglich, wenn nicht sehr verschiedenartige psychische Erlebnisse vorangegangen sind, aber aus der Einheitlichkeit des schließlich gewonnenen Begriffs folgt durchaus nicht, daß diese Erlebnisse einander gleich sind. Ja noch mehr, es gibt überhaupt keine einzige Empfindung, die die Allgemeinheit des Begriffs besäße, wir erleben niemals die Empfindung, sondern immer nur bestimmte Empfindungen. Kein Vernünftiger aber wird aus der Einheitlichkeit des Begriffs die Folgerung ziehen, daß ein Studium der Einzelempfindungen überflüssig sei. Ebenso liegen die Verhältnisse in unserem Fall. Mag die Logik das Recht haben, mit dem Begriff der Wirklichkeit als einem einheitlichen zu operieren, so darf damit die Tatsache nicht abgestritten werden, daß wir einen Inhalt immer nur in bestimmtem Sinne für wirklich halten können. Versucht man einen Inhalt, z. B. einen roten Ball, für schlechthin wirklich zu halten, so erkennt man bei einiger psychologischer Beobachtungsgabe, daß das unmöglich ist. Immer müssen wir irgendwelche zeitlich-räumliche Beziehungen oder psychische Individuen heranziehen, um einen Halt zu gewinnen, um dem sonst leeren Gedanken einen Sinn zu geben. Der Logiker, der das (schematische) Urteil fällt "A ist wirklich", vergißt all das, nicht aus Unachtsamkeit, sondern weil es es vergessen will, der Psychologe dagegen hat die Aufgabe, den Vorgängen nachzugehen, auf denen sich der einheitliche Begriff aufbaut. Wie freilich das Vergessen der bedingenden und unentbehrlichen Momente des psychischen Vorgangs möglich ist, ohne daß man zum bloßen Zero gelangt, ist eine Frage, die uns hier nicht beschäftigt. Die Vieldeutigkeit der W-Vorgänge ist, wie wir gesehen haben, das notwendige Korrelat der inhaltlichen Identität von Objekt und Vorstellung. Fragt man, woher es kommt, daß die letztere manchem noch weniger plausibel erscheint als die erstere, daß man geneigt ist, in dem als objektiv gedachten Ereignis einen anderen Inhalt zu erblicken als in seiner Vorstellung, so antworte ich, daß das zum großen Teil auf das Konto des sprachlichen Ausdrucks zu setzen ist. Seit BACON hat man die Sprache mit Recht als eine Hauptquelle von wissenschaftlichen Irrtümern angesehen, seit dem Emporkommen der historischen Methode durch HEGEL sucht man umgekehrt durch ihre Betrachtung zu psychologische Einsichten zu gelangen. Wie trügerisch jedoch diese Methode ist, hat unter anderen besonders MARTY schlagend nachgewiesen. Wie verhält sich nun die Sprache gegenüber den Begriffen, die uns beschäftigen? Ich behaupte zunächst, daß die Nomina bisweilen bloße Inhalte, häufiger jedoch Objekte, d. h. als objektiv wirklich bewertete Inhalte, bezeichnen. Welcher von beiden Fällen vorliegt, ist im allgemeinen nicht durch äußere Betrachtung der Worte zu erkennen, sondern muß sich aus dem Zusammenhang ergeben. "Ein Pferd, welches im eigentlichen Sinn diesen Namen verdient," sagt MARTY, "ist selbstverständlich ein Pferd, welches ist, als ein existierendes Pferd ... denn eine Pferd, welches nicht existiert, ist nicht etwas, was eigentlich diesen Namen verdient." In der Tat ist diese der herrschende Sprachgebrauch. Wer z. B. von einem Baum spricht, meint nicht den Inhalt Baum, sondern das Objekt. Die Sprache überspringt gleichsam das, was ursprünglich da ist und setzt erst bei Inhalten ein, die sich einer besonderen Bewertung erfreuen. Daneben werden jedoch dieselben Worte auch zur Bezeichnung von Inhalten schlechthin verwendet. Machen wir uns den behaupteten Doppelsinn der Nomina an einigen Beispielen klar. Ich vergleiche die beiden Urteile: Rot ist verschieden von Grün und Rot reizt den Stier zur Wut. Es ist offenbar, daß das Nomen Rot in beiden Sätzen etwas verschiedenes bedeutet. Im ersten bezeichnet es den bloßen Inhalt, an dem ich eine Beziehung zu einem anderen Inhalt vorfinde, ohne Rücksicht auf irgendwelche Wirklichkeitsbewertung, im zweiten dagegen etwas objektiv Wirkliches. Wie man sieht, findet das erstere in den sogenannten analytischen (besser Inhalts-), das letztere in den synthetischen (besser Wirklichkeits-) urteilen statt. Daß hier in der Tat eine Zweideutigkeit des sprachlichen Ausdrucks vorliegt, geht auch daraus hervor, daß man durch ihre Benutzung zu Paralogismen [Fehlschlüsse - wp] gelangen kann. Man nehme z. B. folgenden Fehlschluß:
Der Pegasus ist geflügelt; Folglich ist usw. Der Grund, weswegen die Sprache in der angegebenen Weise verfährt, ist leicht anzugeben. Zu der Zeit, als sie sich entwickelte, hielt man fast ausschließlich das objektiv Wirkliche für wichtig genug, um darüber Mitteilungen zu machen, auf dieses gewöhnte man sich also in erster Linie die Worte zu beziehen, doch bediente man sich ihrer, wenn es nötig war, gleichzeitig zur Bezeichnung von Inhalten. Als man später die subjektive Wirklichkeit erkannte und sich eingehender mit ihr beschäftigte, stand man vor der Aufgabe, etwas Neues (d. h. in neuem Sinn Bewertetes) zu bezeichnen, doch so, daß seine inhaltliche Identität mit etwas schon Bezeichnetem deutlich wurde. Man wählte das denkbar einfachste Auskunftsmittel, indem man vor die Bezeichnung des inhaltsgleichen objektiv Wirklichen gewisse für alle Inhalte gültige Substantiva wie Vorstellung, Bewußtsein und dgl. setzte, durch welche die neue Wirklichkeitsbewertung ausgedrückt wurde. Dahinter trat dann das bereits vorhandene Nomen, entweder als Apposition oder als Genitivattribut, wobei der Genitiv mit Erlaub ursprünglich als Genitivus epexegeticus [Attribut, das eine Definition liefert - wp] anzusehen ist. So sprechen wir von der Vorstellung Baum oder des Baumes, der Empfindung Rot oder des Roten, wenn wir die subjektive Wirklichkeit meinen. Da nun zur Kennzeichnung des subjektiv Wirklichen ein neues Nomen verwandt wurde, so war der Irrtum fast unvermeidlich, als wären die Vorstellungen neue Inhalte, während es in Wahrheit doch nur die alten, längst bekannten waren, die nur eine neue Bewertung erfuhren. Die Tatsache, daß objektive und subjektive Wirklichkeitsbewertung zwei selbständige Vorgänge sind, die sich auf dieselben Inhalte beziehen, wird eben durch den sprachlichen Ausdruck völlig verdunkelt, der zu einer Zeit geprägt wurde, als man sich mit subjektiven Phänomenen nicht oder nur ausnahmsweise beschäftigte. Hier liegt auch der Ursprung des Irrtums, daß Vorstellungen ein intentionales Objekt haben. Da die Vorstellung durch zwei Nomina bezeichnet wird, von den das zweite für sich allein ein objektiv Wirkliches bedeutet, glaubte man, daß die Vorstellung selbst in geheimnisvoller Weise das Objekt umschließt oder sich auf dasselbe bezieht, daß ferner in ihr eine Art Dualismus von Vorstellungstätigkeit und Objektinhalt läge. Daß dieses keineswegs der Fall ist, glaube ich deutlich gezeigt zu haben. Das bisher Gesagte war notwendig, um den Sinn unserer Aufgabe völlig klarzulegen, wir gehen jetzt dazu über, den ersten Schritt zu ihrer Lösung zu tun. Man hat öfter darauf hinweisen zu müssen geglaubt (3), daß die Wirklichkeit nicht Gegenstand einer Vorstellung sei. Das ist insofern richtig, als es kein noch so kompliziertes Vorstellungsgebilde gibt, das wir gleich wirklich setzen dürften, oder das uns das Wirkliche im Gegensatz zum Nichtwirklichen repräsentierte; können wir doch jedem Komplex, nachdem er entstanden ist, nun noch die Wirklichkeit zu- oder absprechen. Für uns handelt es sich aber auch nicht um die Wirklichkeit in abstracto, sondern um das konkrete Fürwirklichhalten und dieses könnte immerhin im Auftauchen bestimmter charakteristischer, mit dem für wirklich zu haltenden Inhalt verknüpfter Vorstellungen bestehen. Allein, wenn wir uns bei der Beschäftigung mit für wirklich gehaltenen Gegenständen beobachten, können wir beim besten Willen ein Auftauchen derartiger Gruppen nicht feststellen. Selbst wenn uns von einem Komplex, den wir bis dahin für nicht wirklich hielten, von glaubwürdiger Seite gesagt wird, er sei wirklich, was offenbar der günstigste Fall für die Beobachtung derartiger Vorstellungsgruppen wäre, wird die Beobachtung im allgemeinen kein positives Resultat ergeben. Die einzige Vorstellung, die sich in diesem Fall mit Sicherheit bemerkbar macht, ist das akustische Bild des Wortes "wirklich", aber damit ist der psychische Vorgang natürlich nicht erschöpft, der mehr als bloße Schallvorstellung ist. Werlcher Art ist nun dieser Vorgang, der, durch ein Wort veranlaßt, mit dem Auftauchen irgendwelcher Vorstellungen nicht verbunden zu sein braucht? Nichts gewonnen wäre mit der Auskunft, er sei die Auffassung des Existenzialbegriffs, geht dieser Begriff, wie früher gezeigt, doch erst aus den fraglichen Vorgängen hervor und halten die meisten Menschen doch in concreto Dinge für wirklich, ohne den allgemeinen Begriff gebildet zu haben. Ich antworte vielmehr, er ist von derselben Art wie die seelischen Vorgänge, die sich auch sonst an Worte knüpfen, deren Sinn wir verstehen, ohne ihn in reproduzierten Empfindungskomplexen zu veranschaulichen. Es ist experimentell nachgewiesen (4) und kann durch Selbstbeobachtung von jedermann bestätigt werden, daß uns nicht nur abstraktes Denken, sondern auch die Beschäftigung mit anschaulichen Begebenheiten und Gegenständen möglich ist, ohne daß wir optische oder akustische oder andere Empfindungskomplexe zu reproduzieren brauchten. Der rasche Verlauf einer gehaltvollen Rede, sowie ihre gefühlsmäßige Wirkung lassen uns nicht einmal Zeit, die Worte mit Phantasievorstellungen zu begleiten, ohne daß das Verständnis derselben beeinträchtigt würde. Wenn aber auch hin und wieder Reproduktionen auftauchen, dürfen wir sie nicht als Vermittler des Verständnisses ansehen; der Mangel an Vollständigkeit macht sie untauglich dazu. Wenn ich von einem königlichen Kaufmann reden höre, blitzt in mir vielleicht die Vorstellung der Purpurfarbe und eines Mastbaumes auf, aber diese Vorstellungen reichen natürlich nicht hin, den Sinn der beiden Worte zu vermitteln. Was spielt sich nun in meinem Innern ab, wenn ich ein Wort verstehe, das keinerlei Vorstellung in mir erweckt? Unhaltbar ist offenbar die Ansicht, daß im fraglichen Augenblick nichts anderes vor sich geht, als die Auffassung des Wortbildes; der Unterschied zwischen dem verständnislosen Anhören einer Rede und dem Begreifen des Inhaltes ist zu deutlich, asl daß er verkannt werden könnte. Ich behaupte vielmehr, daß uns hier eine eigene Klassen von psychischen Phänomenen entgegentritt, die keine noch so eindringende Analyse auf etwas Einfacheres zurückführen kann. Ich will diese Phänomene als Gedanken bezeichnen, ein Ausdruck, der zwar im gewöhnlichen Leben vielfach und in verschiedenem Sinne angewandt, der aber in der Psychologie sonst nicht benutzt wird. Der Gedanke hat mit der einfachen Empfindung dieses gemein, daß er eine bestimmte Qualität, aber keine Teile besitzt, denn wir können von solchen, weder während er durch unser Bewußtsein zieht, noch auch während wir uns seiner erinnern, das Geringste entdecken. Das geflissentliche Übersehen dieses psychologischen Phänomens ist, wie ich glaube, eine Quelle folgenschwerer Irrtümer gewesen, so z. B. der BERKELEYschen Lehre von der Nichtexistenz allgemeiner Begriffe. - Die am meisten charakteristische und wunderbare Eigenschaft des Gedankens ist nun die, daß er, sobald wir es wollen, zum Ausgangspunkt von Vorstellungen wird; wer bei einem Gedanken verweilt und sich die Frage vorlegt, was meinst du eigentlich damit), sieht aus ihm eine große Zahl von Vorstellungen mit mehr oder minder zwingender Eindeutigkeit hervorgehen. Zu warnen ist jedoch davor, daß man den Gedanken als etwas Potentielles im Gegensatz zum Aktuellen der Vorstellungen ansieht; derartige scholastische Begriffe können nur dazu dienen, die klare Sachlage zu verdunkeln. In Wahrheit ist der Gedanke genauso aktuell wie die Vorstellungen, er hat seine besondere Qualität, sein besonderes Dasein so gut wie diese. Ebensowenig darf er als Komplex von unbewußten oder unbemerkten Vorstellungen angesehen werden. Die Existenz unbewußter Vorstellungen ist höchst zweifelhaft, nicht eigentlich Gegenstand der Erfahrung, während der Gedanke so sicher unmittelbar erlebt wird wie nur irgendetwas; von unbemerkten Vorstellungen zu reden wäre man aber nur dann berechtigt, wenn man sich nachträglich auf irgendeine Weise davon überzeugen könnte, daß Vorstellungen vorhanden waren, was jedoch nicht der Fall ist. Zurückzuweisen ist auch die Auffassung, als wäre der Gedanke nichts weiter als das Gefühl, daß man, wenn man wollte, sich das gehörte Wort sinnlich veranschaulichen könnte. Wäre dem so, so wäre es unbegreiflich, daß man unsinnige Zusammenstellungen auch dann als solche erkennen kann, wenn das Zusammengestellte nur gedanklich aufgefaßt wird, wozu man sehr wohl imstande ist; daß eine grasgrüne Sonne Unsinn ist, weiß ich sehr wohl, auch ohne daß ich optische Bilder reproduzieren müßte. Wir müssen uns also damit begnügen, die Beziehung zwischen Gedanken und Vorstellungen als einzig dastehend anzuerkennen. Zur Kennzeichnung dieser Beziehung werde ich mich der Ausdrücke bedienen: der Gedanke ersetzt oder vertritt Vorstellungen oder er ist ihnen äquivalent. - Fragen wir nun genauer, was der Gedanke eigentlich ersetzt, so tritt uns wiederum eine höchst bemerkenswerte Tatsache entgegen: nicht nur Einzelvorstellungen, sondern ganze Vorstellungsreihen mit ihren inneren Beziehungen, die niemals gleichzeitig in Form von Vorstellungen dem Bewußtsein gegenwärtig sein können, werden von ihm vertreten. Es gibt dem Gedanken "Rot", aber auch "Unwetter", "neunte Symphonie" usw. Ich will in diesem Sinne zwischen Individual- und Kollektivgedanken unterscheiden. - Nur angedeutet sei hier, wie wichtig unsere Fähigkeit, mit Gedanken zu operieren, in biologischer Hinsicht ist; sie ersparen uns eine Fülle von Vorstellungstätigkeit, ohne daß dieses Weniger an Arbeit ein Hemmnis für den Fortgang des psychischen Geschehens wäre. Die Aufgabe, die nun der Forschung gegenüber dem einzelnen Gedanken erwächst, besteht in der Feststellung der Vorstellung, bzw. der Vorstellungsvorgänge, die er aufgrund von Willensakten veranlassen kann und die wir als ihm äquivalent bezeichnet haben, denn für sich allein genommen gibt er als ein qualitativ Einfaches zu weiteren Bemerkungen keinen Anlaß. Die Lösung dieser Aufgabe, die ich als Reduktion des Gedankens bezeichne, kann aber nach zwei entgegengesetzten Methoden erfolgen. Die erste, die ich die synthetische nenne, sucht die Entwicklung des Gedankens historisch zu verfolgen und so seines Inhaltes nachkonstruierend sich zu versichern. Zahlreiche Momente kommen für die Entwicklung des Gedankens in Betracht. Den ersten Anlaß zu seiner Entstehung gibt das häufige Auftreten der gleichen Vorstellungsverbindungen. Allmählich blaßt bei weiteren Wiederholungen die Farbe der Elemente ab, um schließlich ganz zu verschwinden, - ein Prozeß, der sich aus praktischen Gründen besonders rasch da vollzieht, wo sich zur Vorstellungsverbindung ein Wort gefunden hat, - und der Gedanke ist in seiner ersten Gestalt entstanden. Jetzt nimmt er neue Vorstellungen oder auch bereits vorhandene Gedanken in seinen Inhalt auf, er wird immer feiner und differenzierter, um mit der Summe des Erfahrungsmaterials, das das Leben darbietet, in Einklang zu bleiben. Diese Bereicherung geht zum Teil in bewußter Weise vor sich, wenn wir erkennen, daß wir eine Lücke auszufüllen, einen Irrtum zu berichtigen haben; wichtiger und tiefgreifender sind aber die unbemerkten Umgestaltungen, die er unter dem stetigen Einfluß der täglichen Erlebnisse erfährt. Die Wahrnehmung selbst der bekanntesten Gegenstände und Vorgänge bietet meist etwas Neues, das die Gedanken über diese Dinge modifiziert. Wer nun imstande wäre, die hier angedeutete Entwicklung in ihren Einzelheiten zu verfolgen, würde vollständige Gewißheit über den Inhalt des Gedankens erlangt haben. Aber schon der flüchtigste Blick zeigt uns, wie wenig wir in der Tat den Anforderungen dieser Methode gerecht werden können, da wir selbst in den günstigsten Fällen nicht mehr als die gröbsten Züge jener Entwicklung anzugeben imstande sind. Der direkte Weg der Selbstbesinnung auf die psychische Vergangenheit ist so gut wie wertlos, da es nicht möglich ist, sich auf einen früheren Standpunkt zurückzuschrauben, wie vielmehr die Erlebnisse der Vergangenheit im wesentlichen mit den Augen der Gegenwart ansehen. Man hat daher versucht, auf zwei indirekten Wegen Aufschluß über die Entwicklung des Gedankens zu gewinnen, wobei man weniger das geistige Werden des Individuums, als das der Rasse ins Auge faßte, was insoweit berechtigt ist, als dem Individuum seine Gedanken zum großen Teil durch beabsichtigte oder nichtbeabsichtigte Pädagogik überliefert werden. Entweder fragte man sich aufgrund der Kenntnisse der objektiven Wirklichkeit, welche Gegenstände und Erscheinungen unseren Vorfahren zuerst, welche später auffallen und wie sie auf sie wirken mußte, um auf diesem Weg ein Bild von der stufenweisen Entwicklung des Gedankens zu erlangen. Derartigen Erörterungen gegenüber, die nicht ganz unbeliebt sind, werde ich nie das Gefühl los, daß es sich doch nur um mehr oder weniger willkürliche Hypothesen handelt. Häufig werden dabei Annahmen als sicher hingestellt, von denen man nur sagen kann: möglich, daß es so war, vielleicht war es aber auch anders. - Das zweite indirekte Erkenntnismittel ist die etymologische Forschung. Da sich das Wort zu einer Zeit gebildet hat, wo der Gedanke meistens noch nicht zu der jetzt erreichten Entwicklungsstufe gelangt war, ist im Wort die frühere Phase des Gedankens gleichsam fossil geworden und der ungestörten Betrachtung zugänglich. Die hauptsächlichen Mängel dieser Methode liegen einmal darin, daß in der sprachlichen Bezeichnung selbst im günstigsten Fall nur sehr geringfügige Bruchstücke aus der Entwicklung des Gedankens zum Niederschlag gelangen, zweitens darin, daß selbst da, wo die etymologische Betrachtung uns zeigt, welche Vorstellungen einst im Gedanken enthalten waren, wir niemals gewiß sind, ob sie auch gegenwärtig in ihm enthalten sind. Das Vergessen, dieser mächtige Faktor jeder inneren Entwicklung, bleibt hier ohne Berücksichtigung. So kann man z. B. aus dem Wort Wirklichkeit schließen, daß man früher einmal dasjenige als wirklich ansah, was auf andere Dinge oder das Subjekt wirkte, ob aber im gegenwärtigen Fürwirklichhalten dieser Sinn enthalten ist, bleibt dabei ganz ungewiß. Damit kennzeichnet sich der Wert auch dieser Methode für die Reduktion von Gedanken als ziemlich geringfügig; nicht mehr können wir ihr zugestehen, als daß sie in Verbindung mit der vorher genannten bisweilen einen Fingerzeig geben kann, in welcher Richtung das Resultat zu suchen ist. Die zweite Hauptmethode, die ich als analytische bezeichne, besteht darin, daß man durch Selbstbesinnen den Gedanken so lange auseinanderlegt, bis man zu deutlich angebbaren, vorzeigbaren Vorstellungen gelangt. Diese Methode erscheint gegenüber der synthetischen als die sicherere, bietet jedoch in ihrer Anwendung gleichfalls große Schwierigkeiten. Es ist nämlich nicht so, daß es der bloßen Absicht einer Reduktion bedarf, um sogleich die Vorstellungsfülle aus dem Gedanken hervorgehen zu lassen, vielmehr erfordert die Reduktion eine besondere geistige Anspannung, deren Erfolg stets zweifelhaft ist. Wer nicht gewohnt ist zu reflektieren, dessen Gedanken sind zum Teil so sehr erstarrt, daß es nicht möglich ist, sie in Vorstellungen umzusetzen. Um unsere Gedanken als lebendiges Besitztum zu erhalten, müssen wir sie bisweilen bis zu ihren sinnlichen Quellen verfolgen, entweder mehr unwillkürlich mittels der Phantasie oder mehr willkürlich auf dem mühevolleren Weg der Reflektion. (5) Aber wer bürgt dafür, daß auch bei "nachdenklichen" Naturen die geistige Energie ausreicht, um den ganzen Inhalt des Gedankes ans Licht zu befördern! Damit hängt es zusammen, daß wir bei mehrmaligen Reduktionsversuchen nicht immer zu gleichen Resultaten gelangen. Je nach der momentanen geistigen Verfassung sind wir geneigt, die äquivalenten Vorstellungen mehr in der einen oder in der anderen Richtung zu suchen. Noch weniger können wir die Gleichheit des Resultats bei verschiedenen Individuen erwarten. Hier kommt nicht nur die Verschiedenheit in der Fähigkeit der Reflektion, sondern auch die der Lebenserfahrung in Betracht. Man frage einen Philosophen und eine Scheuerfrau, was Schmutz ist und die Antwort wird recht verschieden ausfallen. All diese Unsicherheiten können wohl auf ein gewisses Maß herabgedrückt werden, indem wir zu verschiedenen Zeiten an die Reduktionsaufgabe herantreten und uns jedesmal einer möglichst großen Unabhängigkeit von den früheren Resultaten befleissigen und indem wir unsere Resultate mit den von anderen Individuen gewonnenen vergleichen, ganz aufzuheben aber sind sie nicht und bis zu einem gewisssen Grad wird die Psychologie auf diesem Gebiet immer Selbstbekenntnis bleiben. Das Gefühl dieses Sachverhalts ist auch eines der Motive für die Aufstellung von Begriffen gewesen. Beim Begriff schwindet die Unsicherheit, in ihm sind bestimmte Momente des Gedankens mit Absicht hervorgehoben, alle anderen aus ihm ausgeschlossen. Das Gesagte soll klar machen, was die Lösung unseres Problems eigentlich bezweckt: wir wollen die Vorstellungsvorgänge kennen lernen, die dem Gedanken, daß etwas wirklich ist, äquivalent sind und es soll ferner rechtfertigen, daß wir uns ausschließlich der analytischen Methode bedienen werden, es soll endlich noch deutlicher als die früheren Abschnitt zeigen, daß wir uns keineswegs verpflichtet fühlen, nach einem "einheitlichen" Begriff zu suchen, daß wir uns vielmehr darauf gefaßt machen, ein mannigfaltiges Geschehen vorzufinden. Als erste Stufe der Gedankenreduktion können wir das Urteil ansehen: A gilt als wirklich. Dieses Urteil drückt mehr aus als den bloßen W-Vorgang. Es ist die sprachliche Begleiterscheinung nicht des Gedankens, sondern des Bewußtseins, daß hier ein Gedanke vorliegt. Man kann - und in den meisten Fällen verfährt man so - zahllose Dinge für wirklich halten, ohne zur Fällung des Urteils zu gelangen. Doch enthält das Urteil noch keine materielle Reduktion des Gedankens, es ist die bloß formale Anerkennung eines besonderen psychischen Geschehens und damit ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer materiellen Reduktion. Wir brauchen uns demgemäß beim Urteil nicht länger aufzuhalten, sondern gehen sogleich zur eigentlichen Reduktion über. Meist wird die Lehre von den Existenzialsätzen innerhalb der Lehre von den Urteilen abgehandelt. Nur im Rahmen und auf dem Boden der Urteilstheorie soll das Verständnis der Existenzialsätze möglich sein. So sagt z. B. JERUSALEM (6): Existenzialsätze setzen eine starke Geläufigkeit der Urteilsfunktion ... voraus." Demgegenüber muß ich für unser Problem durchaus selbständige Bedeutung in Anspruch nehmen. Treffend ist die Bemerkung von DYROFF (7): "Nicht heißt etwas existierend, wenn das anerkennende Urteil wahr, sondern umgekehrt ist das anerkennende Urteil wahr, wenn das in ihm anerkannte Etwas existiert." Ich glaube sogar den Spieß umkehren und behaupten zu dürfen, daß es wünschenswert ist, erst den W-Vorgang, dann das Urteilsproblem zu behandeln. Im allgemeinen wird man derjenigen Klasse von Vorgängen die Priorität in der Behandlung einräumen, über deren Umfang (im logischen Sinne) am wenigsten Zweifel obwalten. Nun wird wohl niemals jemand in Zweifel sein, wann er etwas für wirklich hält, weit eher ob ein Urteilsphänomen vorliegt. Um dem Laien klar zu machen, was die Logik unter "urteilen" versteht, bedarf es erst einiger Bemühung und ich glaube, daß auch Fachleute mit diesem Terminus nicht immer dasselbe meinen. Anders kann ich mir die große Verschiedenheit der Ansichten, die hierüber in den letzten Jahren ausgesprochen wurden, nicht erklären. Ist es die Formung eines chaotischen Vorstellungsmaterials, ist es die Zusammenfügung zweier Vorstellungen, ist es die Anerkennung einer Vorstellung oder die Begleitung eines inneren Vorganges mit Sprachleuten oder die Interpretation des Naturgeschehens mittels des aus innerer Erfahrung gewonnenen Kraftbegriffs? Die große Divergenz der Behauptungen legt die Annahme nahe, daß schon über den Sinn der Aufgabe nicht volles Einverständnis herrscht.
1) Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, Seite 452 vor den Anmerkungen. 2) ADOLF DYROFF, Über den Existenzialbegriff, Freiburg 1902, Seite 73 unten. 3) Zum Beispiel DYROFF: Über den Existenzialbegriff, Freiburg 1902, Seite 26, wo er HUME den Vorwurf macht, daß "Vorstellung und Begriff bei ihm nicht genügend unterschieden" sind. 4) Man vergleiche zum folgenden die Abhandlung von MAX DESSOIR "Anschauung und Beschreibung" im Archiv für Philosohie, Abteilung 2, 1904, Bd. 10, Seite 33f 5) Genaueres hierüber findet man bei LOCKE (Essay IV, 5. § 4.) 6) WILHELM JERUSALEM, Die Urteilsfunktion, 1895 7) ADOLF DYROFF, Der Existenzialbegriff, 1902, Seite 15 |