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LEO WEISGERBER
Das Worten der Welt
[3/5]

Gestaltung der Welt
Das Weltbild der Mundart
Erschließung der Natur
Wirkungsformen der Sprache werden unbewußt und undurchschaut aufgenommen und täuschen eine Sicherheit der geistigen Begründung vor, die vielfach sprachkritischer Beleuchtung nicht standhält.

Jede Sprache ist primär eine Betätigungsform einer Menschengruppe; und wenn der Gedanke, daß sie als Schöpfung der Sprachgemeinschaft zu betrachten sei, auch später noch zu überprüfen sein wird (gibt es eine Sprachgemeinschaft vor der Sprache?), so ist für alle über bloße Feststellungen hinausgehende Erforschung von Sprachen der erste Schritt gegeben mit der Überlegung, daß eine Sprache sich überhaupt nur in dem ununterbrochenen Arbeiten einer Sprachgemeinschaft mit ihren Sprachmitteln fassen läßt.

Diese "Sprachmittel" erkannten wir am Beispiel der Mundarten als die Formen geistiger Erschließung des Lebensraumes, mit denen eine Menschengruppe die für sie beherrschenden Lebensaufgaben bewältigt. Vom Standpunkt der Sprachmittel als "Besitzes" einer Sprachgemeinschaft aus erhebt sich nun die Frage, wie die Auswertung dieses Besitzes gelingt und wie vor allem die Sprachinhalte, die "geistigen Gegenstände", die ihnen obliegende Rolle übernehmen können. Das führt auf die Tatsache, daß einer Sprache Geltung zukommt, daß wir sie also nicht so sehr als "Besitz" einer Menschengruppe, sondern mindestens als eine innerhalb einer Sprachgemeinschaft geltende Größe anzusehen haben. Mit diesem Gedanken der Geltung wird nun nach der Sprachgemeinschaft auch die Sprache selbst in die energetische Betrachtung einbezogen.

Gewiß erscheint die Feststellung, daß eine Sprache innerhalb einer Sprachgemeinschaft "gilt", eigentlich als eine Selbstverständlichkeit. Aber wenn unsere Gesamtaufgabe zum guten Teil darin besteht, den unbeachteten Selbstverständlichkeiten der Sprache zu ihrem Recht zu verhelfen, so stehen wir hier an einer besonders wichtigen Stelle dieses Bemühens.

Vielleicht konnte der Unterschied des Ausdrucks, daß eine Sprachgemeinschaft ein bestimmtes Wort besitze oder daß in einer Sprachgemeinschaft ein bestimmtes Wort gelte, hinter der Anschauung, daß eine Sprache über ein bestimmtes Wort verfüge, im ungeklärten bleiben, solange in lautbezogener Auffassung das Wort im wesentlichen als Lautform vor Augen stand. Gewiß hätten die Bedingungen der Geltung von Lautformen schon Anlaß zu fruchtbaren Überlegungen geben können, aber hier war die Überführung von statischer zu energetischer Betrachtung vielleicht nicht so dringlich. Wenn es aber auch Sprachinhalte gibt und auch diesen der Charakter des Geltens in einer Sprachgemeinschaft zukommt, dann wird die wissenschaftliche Klärung dieses Tatbestandes unaufschiebbar.

Unserem Plan gemäß, die grundsätzlichen Erörterungen nicht zum Ausgang zu nehmen, sondern vornehmlich der zusammenfassenden Interpretation von Befunden vorzubehalten, schauen wir uns zunächst um nach praktischen Ansätzen einer entsprechenden Sprachbetrachtung. Gewiß kann man nicht erwarten, daß unmittelbar griffbereite Ergebnisse vorliegen, und für das Deutsche speziell ist wenig namhaft zu machen, was unter dem Gesichtswinkel der Geltung von Sprachinhalten erarbeitet wäre. Aber auch hier hat die Methode des Vergleichs einen förderlichen Anstoß gegeben, der auch dem Deutschen zugute kommt. Wir geben daher eine Anzahl von Beispielen aus der Untersuchung, die unserer Fragestellung am nächsten kommt und zugleich den methodischen Stand am besten veranschaulicht, E. LEISIs Schrift "Der Wortinhalt. Seine Struktur im Deutschen und Englischen".

Zwar ist in LEISIs Schrift nicht von "sprachlicher Gestaltung der Welt" die Rede, sondern es sind zunächst sehr nüchterne Fragen, die gestellt werden: Warum gebraucht ein Engländer deutsche Wörter wie  Stuhl, Tisch, Philosoph  ohne weiteres richtig, scheut sich aber vor anderen wie  Zipfel, Brocken, stellen?  Offenbar erscheinen manche Wörter als leicht, andere als schwer oder gar nicht übersetzbar. Woher kommt das? Lassen sich die Gründe erkennen, Gesetze aufstellen? Sind solche Wörter in Gruppen zu vereinigen und auf eine generelle Formel zu bringen? Auch das Ziel ist einfach formuliert: eine beschreibende Semantik, "eine systematische Klassifikation der Wörter nach ihrem semantischen Typus", wobei notwendig die eigene deutsche Muttersprache hervortritt, während als aufschließendes Gegenstück das Englische mit zahlreichen Beispielen "schwieriger" Wörter zur Geltung kommt.

Unter geschickter Vermeidung mancher Schwierigkeiten (so wird der verfängliche Ausdruck  Bedeutung  durch  Wortinhalt  abgelöst und die Untersuchung dieser Wortinhalte wird nicht mit psychologischen, sondern mit soziologischen Denkweisen versucht) kommt LEISI zu einem eigenartigen Ansatzpunkt, der sich nun von einer ganz anderen Seite unserer Fragestellung zukehrt. Er vergleicht die Sprache mit dem Brauchtum, das Einzelwort mit einem bestimmten Brauch. Ein Brauch ist im Grunde ein in einer Gemeinschaft geltendes Verfahren, das ein bestimmtes Tun unter bestimmten Bedingungen gestattet oder erfordert, seine Grundlage ist als Verbindung eines Akttypus mit einem Bedingungstypus unfaßbar. ln dem als "Brauch" gefaßten Wort einer Sprache wäre nun der Akttypus die muttersprachliche Wortform; der Bedingungstypus ("die Bedingungen, die den Vollzug des Wortaktes bei der Benennung erlauben") begründet den Wortinhalt.

Wir nehmen diese etwas erschwerte Ableitung gern in Kauf, weil sie wichtige Gesichtspunkte enthält, vor allem den Wortinhalt als eine sprachliche Größe heraushebt und von dem "Sachgehalt" scharf trennt, und weil sie diesen Wortinhalt als Geltung bestimmter Bedingungen versteht. Die Beschreibung eines Wortinhaltes läuft also hinaus auf ein Bewußtmachen der Bedingungen, unter denen seine Geltung in einer Gemeinschaft steht. Diese Bedingungen sind sicher nicht losgelöst von den "Dingen der Welt" zu sehen; aber als "Bedingungen eines Brauches" sind sie von Menschen, und zwar von einer Sprachgemeinschaft, gesetzt. Und so ist LEISIs "ganze Klassifikation so angelegt, daß sie nicht auf sachliche, sondern auf sprachliche Kategorien hinzielt". Die sprachliche Verwandtschaft oder Klassenzugehörigkeit braucht mit der sachlichen durchaus nicht identisch zu sein (wenn also z.B.  Bewegung  als geltende Bedingung eine Rolle spielt, so wären Luft und Wind zwei verschiedenen Klassen zuzuweisen, während nichts dagegen spräche, unter dem Gesichtspunkt des nicht notwendig Bewegtseins Luft und Apfel in dieselbe Klasse einzuordnen).

Solche Untersuchung der Wortinhalte führt nun darauf, daß die Geltung eines Wortes "in sehr vielen Fällen gar nicht von der Beschaffenheit eines Dinges, sondern von ganz anderen Bedingungen abhängt, die der Mensch sozusagen konstruiert hat". Solche von Menschen gesetzten und hervorgehobenen Bedingungen sind nun der Ausgang der sprachlichen Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], von denen noch zu sprechen ist. Dadurch, daß die Wortinhalte innerhalb einer Sprachgemeinschaft gelten, ohne daß sie dem Einzelnen in ihren Bedingungen durchschaubar wären, können solche Bedingungen sogar in recht komplexen Formen sich als in den Sachen begründet vorstellen und zu der üblichen Verwechslung von sachlichem Aufbau und sprachlichem Inhalt führen. LEISIs Hauptanliegen ist es nun, solche Hypostasierungen aufzudecken, indem er die Bedingungen der Geltung der einzelnen Wortinhalte prüft. Und da er auf allgemeine Bedingungen, auf die Grundlagen ganzer Bedingungstypen aus ist, so rücken ihm nun Grundformen in den Vordergrund, unter denen eine Sprachgemeinschaft das Sein vor Augen stellt. Man sieht, wie nahe diese Beschreibung von Wortinhalten als Komplex der Bedingungen ihrer Geltung an die Frage nach dem Verfahren einer Sprachgemeinschaft bei der sprachlichen Gestaltung der Welt heranführt.

Den Ansatz zum konkreten Verfahren findet LEISI auf eine theoretisch etwas vereinfachte, praktisch aber durchaus erfolgreiche Weise. Er geht aus von den drei Hauptwortarten Substantiv, Adjektiv, Verb, und zwar in der Beschränkung auf Konkreta, d.h. solches Wortgut, dessen Bezeichnetes in die Welt der Lebewesen, Dinge und Sachen führt. Dabei eignet jeder dieser Wortarten eine bestimmte Form der Hypostasierung: das Substantiv stellt das Bezeichnete als Ding dar, das Adjektiv als Eigenschaft und das Verb als Tätigkeit. "So drängt uns also die Sprache mehr oder weniger, in  Reise, Hüfte, Familie, Woge  einen abgelösten, selbständigen Gegenstand zu erblicken, in  grün, leer, nahe  eine selbständige abgelöste Eigenschaft, in stehen, warten, beginnen  eine abgelöste selbständige Tätigkeit usw.". LEISIs Absicht ist nun, "zu prüfen, wieweit diese Hypostasierung der objektiven Wirklichkeit entspricht ..., also beim Substantiv zu fragen: Ist das Bezeichnete ein Ding; wenn nicht, was sonst? und diese Frage analog beim Verb und Adjektiv zu wiederholen".

Es ist nun hier nicht möglich, jede dieser Überlegungen auf ihre Berechtigung zu prüfen, und erst recht nicht, auf die Fülle des Materials, das LEISI vorlegt, einzugehen. Aber es muß an einer Anzahl von Beispielen erläutert werden, wie diese Auffassung der Wortinhalte als Hypostasierungen (in unserer Terminologie würden wir sagen "geistige Gegenstände") und die beabsichtigte Form der Beschreibung von Wortinhalten als Angabe der Bedingungen, unter denen ein Bezeichnetes uns sprachlich verfügbar gemacht ist (wir würden sagen: des Verfahrens, durch das Seiendes sprachlich erfaßt wird), praktisch durchgeführt wird.

In den einfachsten Formen der Überführung von "Bezeichnetem" (hier also = konkrete Dinge und Sachen) in Wortinhalt käme es bei den Substantiven darauf an, wieweit wir ihr Bezeichnetes tatsächlich als "Substanz", d. h. im natürlichen Sein ausreichend in sich Begründetes aufweisen können, oder wieweit wir es mit sprachlicher Erhebung von Teilbedingtem zur Substanz, also mit noch ausgesprocheneren Formen der Hypostasierung zu tun haben.

Unter Ausschaltung des Bereiches des Abstrakten wären die deutlichsten Formen der Hypostasierung solche Wörter, die Vorgänge, Eigenschaften, Relationen als "Dinge" vorstellen: also  Reise, Fahrt, Wetter, Blitz, Husten, Streit, Spiel, Kauf, Wurf  usw.,  Schlaf, Tod  (immer wieder zu Gottheiten hypostasiert),  Masern, Fieber  usw.,  Nähe, Ferne, Nachbarschaft  (durchweg abgeleitete Substantive). Aber auch soweit das Substantiv auf echte "Dinge" zielt, sind verschiedene Grade der Objektivität, der Sachangemessenheit festzustellen. Dabei ergeben sich als Hauptrichtungen des sprachlichen Verfahrens die Individuativa, die Kollektiva, die Partitiva und die Privativa. Individuativa sind die "objektivsten", sachnächsten Substantive, insofern sie etwas fassen, was im Bereich des Bezeichneten tatsächlich in individuellen (nicht mehr ohne Zerstörung oder Verletzung teilbaren) Erscheinungen besteht:  Mensch, Schlüssel, Apfel  usw. Bedingung ist dabei durchweg eine bestimmte Substanz und eine bestimmte Form (Buch, Messer).

Es gibt aber Individuativa, die nur die Form (Würfel, Ring) oder nur die Substanz (ein Glas) zur Bedingung haben; und zwischen beiden auch Prägungen, "wo sowohl die Form als auch die Substanz nicht genau festgelegt, aber wiederum auch nicht völlig frei ist":  Klumpen, Klotz, Ballen  u.ä. Hier gibt es tatsächlich sehr interessante Individuationen, deren Eigenart noch dadurch unterstrichen wird, daß solche Wörter meist von Sprache zu Sprache verschiedenen Inhalt haben, also gemäß verschiedenen Blickrichtungen ausgeprägt sind. Von daher stammen viele schwer übersetzbare Wörter (vgl. etwa dt.  Klumpen,  engl.  lump:  die Bedingung der Form dürfte für beide Wörter gleich sein; die Bedingung des Stoffes aber trifft nur zum Teil überein: gemeinsam ist beiden der Bezug auf  Lehm, Teig, Eisen, Blei  u.ä.; das dt. Klumpen erfaßt aber auch Gold und Butter, wo im Engl.  nugget  und  clot  gelten, während das engl.  lump  auch für Kohle und Zucker zutrifft, wo wir im Dt. Brocken und Stück sagen).

Das Beachten dieses Zusammenspiels der Bedingungen von Substanz und Form eröffnet gerade im Vergleich eine Fülle von Einblicken in das sprachliche Verfahren. Die Wörter, um die es sich dabei handelt (etwa noch  Blatt, Brocken, Ballen, Stange, Stab)  sind durchweg so wichtig, daß hier die Gründe für die Übersetzungsschwierigkeiten (Scheibe, Zapfen im Engl.?) besonders aufschlußreich werden. Das Setzen sprachlicher Kollektiva ist an sich schon das Ergebnis stärkerer menschlicher Verarbeitung. In der Unterscheidung von Gruppenkollektiven  (Familie, Herde, Dorf, Wald:  das Bezeichnete muß eine Mehrzahl von Individuen umfassen) und Genuskollektiven ( Wild, Geflügel, Polizei;  sie stehen für alle Individuen der Klasse, können daher auch nicht in den Plural treten), wozu dann noch die Massenwörter ( Sand, Eisen, Wasser, Nebel) treten, kommen wiederum Verfahrensweisen geistiger Gestaltung zum Vorschein, die durchaus nicht selbstverständlich und allgemeingültig sind und die deshalb sowohl beim Übersetzen ( Brei  im Engl.) wie beim Satzbau (Numerus des Verbs) ihre eigenen Probleme bieten.

Der Rest der konkreten Substantive, die nicht für Individuen stehen, verteilt sich auf Partitiva (ein sachlich unselbständiger Teil wird sprachlich verselbständigt:  Wange, Gipfel, Rand,  auch  Berg, Falte, Zipfel, Ende, Teil, Scherbe, Schnitte  u. ä., wobei wiederum die Gründe für die Übersetzungsschwierigkeiten in dem verschiedenen Verfahren der Sprachgemeinschaften liegen, etwa  Rand  im Engl.,  chip  im Dt.) und Privativa (Abwesenheit von Substanz:  Loch, Schlitz, Tunnel, Kerbe, Lücke  u.ä., mit besonders interessanten Formen der Hypostasierung).

In entsprechender Weise gilt es, die adjektivische und die verbale Gestaltungsform des konkreten Seins aufzuhellen. Bei der Annahme, daß "das Adjektiv das Gemeinte als Eigenschaft hypostasiert", wäre also zu fragen: "Sind die Bedingungen für den Gebrauch (die Geltung) des Adjektivs tatsächlich immer Eigenschaften? Wenn nicht, was sonst?" Wiederum ergeben sich unerwartete Einblicke: statische Eigenschaften stehen neben dynamischen ( weiß, schnell ); eine Beziehung zu etwas anderem ist entscheidend ( nahe, selten, leer).  Die Unterscheidung nach Aktualität und Potentialität kann eine Rolle spielen (engl.  ill  und  invalid,  während dt.  krank  für beides gilt). Besonders aufschlußreich sind die objektgebundenen Adjektive ( blond  nur vom Haar;  bejahrt  nur von Menschen; besonders wichtig in einem so häufigen Wort wie schlecht: dt.  schlecht  gilt nur von Dingen, von denen es auch gute gibt, sonst gilt  schlimm,  während das engl.  bad  diese Unterscheidung nicht kennt.

Diese hier in aller Kürze vorgeführten Ergebnisse E. LEISIs sind für uns aus mehreren Gründen recht wichtig. Einmal bringen sie rein sachlich mit ihren Hunderten von Beispielen eine willkommene Bereicherung an Beobachtungen, die - so nahe sie oft liegen - selten festgehalten wurden. Das Verhältnis des Wortes zum Seienden ist einerseits zu "selbstverständlich", anderseits zu mannigfaltig, als daß es in der Sprachwissenschaft zur Geltung gekommen wäre. Man mag nun die Gesichtspunkte, unter denen LEISI seinen Stoff durchgeht, kritisch betrachten, aber sie bilden auf jeden Fall mit ihren Klassifikationen den Ansatz zu einer Ordnung von Beobachtungen, die als solche bereits förderlich und ausbaufähig ist (auch im Hinblick auf die zurückgestellten nicht-konkreten Bereiche). Sodann aber führen sie bei aller Selbständigkeit der Fragestellung mit innerer Folgerichtigkeit auf die Stelle hin, die uns hier entscheidend ist: wer nach den "Bedingungen der Anwendbarkeit von Wörtern" fragt, stößt notwendig auf die Erkenntnis der sozialen Geltung; und dieses Gelten in einer Gemeinschaft setzt wirksame Gesichtspunkte und maßgebende Normen voraus. Und damit ist die Frage im Spiel, wer diese Normen setzt und wer ihre Einhaltung durchsetzt.

Hier beschäftigt uns das Prinzip, nach dem verfahren wird. Zu jedem Wort wird als wichtigste Inhaltsbestimmung die Gebrauchsnorm gesucht. Das sieht also z.B. für  plötzlich  so aus: "Was muß vorliegen, damit man  plötzlich  gebrauchen kann? Die Verwendungsweisen und die mit diesen verbundenen Inhalte zeigen, daß verschiedene Bedingungen erfüllt sein müssen. Der Eintritt eines Tatbestandes muß sich so schnell vollziehen, daß wir den Vorgang als momentan auffassen, es muß auch eine gewisse Intensität da sein. Die Bedingung, die den Gebrauch zuläßt, fordert aber auch eine gewisse Wirkung, und dies setzt in der Regel jemanden außerhalb des Tatbestandes also eine Umgebung voraus. Aus diesem Komplex hebt sich als dominierende Norm für den Gebrauch von  plötzlich  heraus: der Tatbestand muß so eintreffen, daß man darauf nicht vorbereitet ist. Dies setzt Abwesenheit der Kontinuität zwischen Tatbeständen voraus. Sie bildet die wichtigste Gebrauchsnorm, denn nur wenn man auf das Folgende nicht vorbereitet ist, kann etwas  plötzlich  geschehen". Dieser Gedanke, den Inhalt eines Wortes als Gebrauchsnorm zu fassen, ist durchaus ansprechend. Er verleitet allerdings dazu, die zu erfüllenden Bedingungen in die Außenwelt zu verlegen.

Die beiden bisher verfolgten Wege, aus der Isolierung der Grammatik herauszukommen, haben zweifellos Verbindungen nach zwei Seiten gebracht: mit dem Einbeziehen der Sprachgemeinschaften das grundsätzliche Wiederherstellen des zerrissenen Zusammenhangs zwischen der Sprachgemeinschaft und ihrer Sprache (Muttersprache); mit dem Gedanken der Geltungsnorrn die Bereiche, aus denen die Sprache schöpft und in denen sie wirksam wird. Beiden ist gemeinsam, daß sie die Sprache erkennen lassen als einen Vollzug: ein von der Sprachgemeinschaft getragenes Geschehen, gesteuert durch geltende Normen. Aber mit diesen Einsichten erheben sich unmittelbar neue Fragen. Zunächst ist sicher die Sprachgemeinschaft die Trägerin des sprachlichen Geschehens. Aber wie konstituiert sie sich selbst? Ist sie irgendwie "vor" der Sprache bereits als solche begründet oder wird sie nicht selbst erst in dem Schaffen der Sprache zur Sprachgemeinschaft?

Daß das Rechnen mit einem sprachlichen Umschaffen, einer sprachlichen Gestaltung der Welt Wellen wirft, die fast keines der tieferen Menschheitsprobleme unberührt lassen, bedarf keiner langen Begründung. Und daß damit auch die philosophische Ergründung dieser Probleme mit einbezogen wird, ist ebenso selbstverständlich. Dabei sind die sich ergebenden Wechselbeziehungen teils positiv, teils negativ. Es ist nur zu verständlich, daß die Fragen, die wir aufwerfen und im Grunde an die Philosophie richten müssen, viel zahlreicher sind als die Antworten, die wir von dorther beziehen können. Wären die Probleme der Sprache philosophisch in dem Umfang geklärt, in dem wir es für unsere Untersuchungen benötigten, so könnten wir manche Erörterungen sparen. Aber es gehört mit zu der eigenartigen Wirklichkeit der Sprache, daß sie die besonderen Probleme, die sie dem philosophischen Denken stellt, nur allzuhäufig selbst überdeckt. Der Sprachrealismus, das Hinnehmen sprachlicher Vorbedingungen als vorgegeben, womöglich allgemeingültig, macht sich auch in der philosophischen Arbeit an zahllosen Stellen bemerkbar: Wirkungsformen der Sprache werden unbewußt und undurchschaut aufgenommen und täuschen eine Sicherheit der geistigen Begründung vor, die vielfach sprachkritischer Beleuchtung nicht standhält.

Die sinnliche Anverwandlung der Natur. Wenn wir das HUMBOLDT-Wort vom Umschaffen der Welt in das Eigentum des Geistes betont aufnehmen, so vor allem deshalb, weil daraus am stärksten die Überzeugung spricht, daß die Sprache etwas mit dem Zugang des Menschen zur Welt zu tun hat. Wie steht es denn mit diesem menschlichen Zugang zur Welt? Wir alle wissen, daß der Mensch die natürliche Welt, in der er lebt, nicht einfach in sich hineinholen kann, so wie sie ist, sondern daß er sich einen menschlichen Weg dazu bahnen muß. In diesem Sinne ist die Welt für den Menschen nicht eine reine Gegebenheit, sondern sie ist etwas zu Erringendes, Gegenstand einer Aufgabe, bei der der Mensch alle seine Kräfte einsetzen muß. Diese Kräfte sind, der Natur des Menschen entsprechend, körperlich-seelisch-geistige Möglichkeiten, die in innigster Verflechtung miteinander stehen. Die körperliche Seite glauben wir soweit zu durchschauen, daß wir sagen können, daß die sinnliche Ausrüstung des Menschen eine wesentliche Bedingung des menschlichen Zuganges zur Welt ist.

Von unserer natürlichen Umwelt gewinnt nur das bewußtes Sein für uns, was unsere Sinne davon aufnehmen können. Dieses sinnliche Aufnehmen ist aber nun nicht rein rezeptiv, sondern es ist in mehrfacher Weise produktiv. Es ist ein Auf-fassen vor allem in der Weise, daß die Sinne dem Menschen bestimmte Ausschnitte des Naturgeschehens zugänglich machen und daß sie diese Ausschnitte zugleich "vermenschlichen", Naturgeschehen in menschliches Sinneserleben verwandeln. Was draußen physikalischer oder chemischer Vorgang ist, das wird drinnen zum Sinnesreiz, zur Sinnesempfindung: bestimmte Schwingungen werden zu menschlichen Farbempfindungen, bestimmte Wellen zu menschlichen Tonempfindungen. Dabei spielt sich eine Verwandlung ab, von der wir nur das Ergebnis auf der menschlichen Seite beurteilen können, während uns die eigentliche Natur dessen, was uns hier als Farbe, als Ton begegnet, verborgen bleibt. Diese "Vermenschlichung" hat außerdem deutliche Grenzen: bereits im Umfang dessen, was unsere bestehenden Sinnesorgane leisten (obere und untere Grenzen), wie auch in dem Ausschnitt dessen, was uns überhaupt sinnlich zugänglich ist (Elektrizität?).

Es wäre durchaus denkbar, daß eine andere sinnliche Ausrüstung die Natur in anderer Weise für den Menschen umwandelte, andere Ausschnitte zugänglich, sie in anderer Weise empfindbar machte. Grundsätzlich müssen wir diese sinnliche Verwandlung der natürlichen Welt als durchaus subjektiv-vermenschlichend ansehen (auch wenn wir damit rechnen können, daß sie wohl insoweit objektiv begründet ist, daß sie die für den Menschen "richtige" Ausrüstung darstellt).

Mit dieser Erkenntnis der Bedingungen unseres sinnlichen Zuganges zur Wirklichkeit haben wir uns abgefunden. Wir machen kaum den Versuch, uns auszumalen, wie unser Leben sich ändern würde, wenn wir unter anderen sinnlichen Bedingungen ständen. Unsere sinnliche Ausrüstung ist ein fester, für uns kaum abänderlicher Rahmen, und wir stellen unser menschliches Leben ein auf die Ausschnitte und Verwandlungsformen, die unsere Sinne uns als Grundlage für unser Aufnehmen der Natur verfügbar machen.

Der sprachliche Zugang zum "Sein". Wie steht es nun mit unserem seelischgeistigen Zugang zur Welt? Darüber könnte gültig wohl nur jemand etwas aussagen, der  über  der menschlichen Sphäre stünde. Wir selbst sind so unmittelbar in diese Atmosphäre eingebettet, daß wir uns ihrer gar nicht bewußt werden können. Aber begreiflicherweise möchte das menschliche Denken gerade darüber etwas ausmachen; zahllose Lösungsversuche schwanken zwischen naivem Vertrauen und radikalem Skeptizismus. Das tägliche Leben verfährt weithin so, als ob zwischen dem Sein und dem Bewußtsein überhaupt keine Schranken bestünden. Die Philosophie hat genug Gründe, anderer Meinung zu sein; auch seelisch-geistig ist der Mensch ein Mensch, und wir können nichts anderes erwarten, als daß er sich auch hier den Zugang zur "Welt" mit menschlichen Kräften bahnen muß.

Das besagt aber, daß wir auch hier mit Beschränkungen, mit Bedingungen, mit Verwandlungen rechnen müssen, mit all dem, was darauf hinführt, eine Welt des "Seins" zu einer Welt menschlichen Bewußt-Seins umzuformen. Ohne daß wir hier unzulässige Übertragungen vornehmen möchten, können wir eine gewisse Parallele zu den Bedingungen der sinnlichen Erschließung der Welt als Arbeitshypothese annehmen. Ein vollkommener seelisch-geistiger Zugang zum Sein ist dem Menschen offenbar nicht gegeben, er würde sonst aufhören, ein Mensch zu sein. Um so dringlicher ist der Gedanke: was können wir dann ausmachen über die Reichweite der Kräfte, die Richtung der Gestaltung, die Tragweite der Ergebnisse, auf die der Mensch sich bei der geistigen Bewältigung der Welt stützen kann?

Hier setzt nun der Gedanke von der sprachlichen Gestaltung der Welt ein. Zweifellos ist die Sprachfähigkeit eine seelisch-geistige Kraft, über die der Mensch verfügt. Sie gehört so notwendig vor allem zu seiner geistigen Ausrüstung, daß man oft genug gesagt hat, der Mensch sei Mensch durch die Sprache, nämlich kraft seiner Sprachfähigkeit. Wir brauchen das gar nicht in dieser Ausschließlichkeit zu behaupten. Aber das eine ist sicher: dort wo wir Aufschluß über die geistigen Grundbedingungen des Menschenlebens suchen, stoßen wir immer wieder auf die Auswirkungen seiner Sprachfähigkeit. Und was die Sprachforschung in immer deutlicheren Umrissen erkennt, ist nichts anderes als die Tatsache, daß die menschliche Sprache im Grunde eine Kraft ist, durch die sich der Mensch einen geistigen Zugang zur Welt bahnt. Und dieser Zugang kann nicht verstanden werden als einfaches "Aufnehmen" der Wirklichkeit, sondern nur als geistiger Aufbau der Welt im Rahmen menschlicher Möglichkeiten, im Grunde also als Verwandlung von Sein in menschliches Bewußtsein, als sprachliche Erschließung und Gestaltung der Welt. 
LITERATUR - Leo Weisgerber, Die sprachliche Gestaltung der Welt, Düsseldorf 1973