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LEO WEISGERBER
Die sprachliche
Erschließung der Natur

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Gestaltung der Welt
Das Weltbild der Mundart
Das Worten der Welt
Unkraut gibt es nicht in der Natur, sondern erst im Urteil des Menschen.

Die Grundbedingungen des Verfahrens der menschlichen Sprachkraft gegenüber der physikalischen Welt sind dadurch gegeben, daß die Natur in der unermeßlichen Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen dem Menschen gegenübertritt und ihn zunächst rein sinnesmäßig überwältigt mit ununterbrochenen Einwirkungen auf sein Sehen und Hören, sein Tasten und Schmecken. Dem Menschen obliegt es, diesem Anruf der Wirklichkeit in "Besonnenheit" zu begegnen, seine geistigen Kräfte einzusetzen, um dem natürlichen Sein im bewußten Sein ein Gegenbild zu schaffen, das beiden beteiligten Größen, der Natur und dem Menschen, angemessen ist. Dieses Umschaffen der Natur in menschlich begriffene Natur wird nun allenthalben in einer Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur verlaufen: Anstöße der Natur, auf die der Mensch seiner Erfahrung, seinen Eindrücken, seinen Urteilen gemäß antwortet, Fragen des Menschen an die Natur, die je nach Blickrichtung und Horizont auch in ihren Antworten menschlich mitbestimmt sind.

Im ganzen wird man den Vorgang als eine menschliche Erschließung der Natur ansprechen können, wenngleich dieser Gedanke nicht im Sinne eines reinen Aufdeckens, einer bloßen Zusammenfassung oder unmittelbaren Nachahmung der Natur gefaßt werden darf: Sprachliches als einfaches Spiegelbild der Natur wird sich nirgends finden, der Abstand zwischen natürlichem Sein und bewußtem Sein wird sich immer bemerkbar machen, und vor allem wird der menschliche Zugriff auf das Sein die Bedingung bleiben, die für das geistige Weltbild maßgebend bleibt, und die nun in Zusammenfassung und Trennung, in Ordnung und Wertung, in Vorliebe und Vernachlässigung, in Vergrößerung und Verkleinerung, in Verstärken und Übersehen überall den menschlichen Einschlag sichtbar macht, der in der sprachlichen Prägung mitspielt. Und in der Wirklichkeit einer Muttersprache gewinnt dieser die geistige Macht, die ein solches Verfahren verbindlich macht für alle Sprachangehörigen und damit einen geschichtlichen Weg festlegt, zunächst die Natur in das Eigentum des Geistes umzuschaffen.

Was dem naiven Denken zunächst als bloßes sprachliches Nachbild zu den vorgegebenen Tatbeständen der Natur erscheint, das läßt also bei tieferer Betrachtung die mitgestaltende Kraft der menschlichen Sprache immer deutlicher erkennen und führt schließlich zu der Einsicht, daß hier im Zusammengreifen und Sondern, im Auffassen und Werten die "Dinge" der Außenwelt zu "Gegenständen" umgeprägt werden, die dem menschlichen Geist angemessen und faßbar sind. Gestaltende Kraft, das ist es, was der Sprache wesentlich eignet bereits den festen und ruhenden Erscheinungen der Natur selbst gegenüber, was in zunehmendem Maß spürbar wird überall, wo der Mensch sich mit dieser Natur auseinandersetzen, sich in ihr zurechtfinden muß, was unentbehrlich wird, sobald das Leben mit der Fülle seiner Formen und dem Wechsel seiner Gestalten auftaucht, und was schließlich entscheidend hervortritt, wo der Mensch sich selbst als natürliches Wesen betätigt, das aus den Möglichkeiten seiner Sinnesausrüstung heraus diese Natur anverwandelt und schließlich geistig bewältigt.

Am schwierigsten mag uns dieses Hineindenken in die Wirksamkeit des sprachlichen "Umschaffens" dort werden, wo wir die bleibenden Naturgrößen, die ruhenden und in der Spanne eines Menschenlebens sich kaum ändernden Erscheinungen des Weltalls und der Landschaftsformen, der Berge, Täler, Flüsse und Wälder vor Augen haben. Und doch hatte uns bereits früher ein Blick auf die Sternenwelt die Augen dafür geöffnet, wie stark schon hier menschliche Sicht am Werk ist. Nicht nur im Sinne des "irdischen Standpunkts", der die Voraussetzung dafür ist, wie die Himmelskörper sich der menschlichen Erfahrung darbieten, sondern auch im Sinne der besonderen menschlichen Gesichtspunkte, die sich in dem Herausgreifen und Zusammenordnen der Einzelgestalten, wie im Umgrenzen einzelner Sternbilder, dem Ausbau des Tierkreises, der Aufgliederung auch der weniger einprägsamen Teile des Himmelszeltes Geltung verschaffen. Und ein Blick über die verschiedenen Völker zeigt, wie sehr hier in dem Kreis des Auffallenden, der Richtung des Zusammenordnens, der Auswertung der Beobachtungen nicht nur menschliche Sicht, sondern auch mitgestaltende Kraft unter den Gesichtspunkten einzelner Menschengruppen am Werk ist. In energetischer Formulierung also: hinter jedem Sternbild stehen gewiß die in ihm beschlossenen Himmelskörper, aber ebenso notwendig ein geistiger Zugriff, in dem diese Himmelskörper sich erst als Sternbild konstituieren und nun als anverwandelte Naturerscheinung ihre Bedeutsamkeit für den Menschen gewinnen.

Mag man nun dieses Beispiel noch eher dem Fachbereich der Sternkunde zusprechen - obwohl es schwer ist, hier die Grenze zwischen Sprache und Sonderwissen genau zu bestimmen -, so kommen wir mit der sprachlichen Gestaltung der Landschaft in den Bereich unmittelbarer Ausschnitte aus dem sprachlichen Weltbild. Man kann hier anknüpfen an eine Betrachtungsweise, die GOETHE einmal im Hinblick auf die Bergwelt geäußert hat. Für ihn gliedert sich die ganze Gebirgsnatur in eine Anzahl immer wiederkehrender Grundformen; Kubus, Rhomboid, Pyramide, Keil sind derartige Grundformen, nach ihnen geht die Natur auch bei der Gestaltung der unorganischen Massen vor, "und alles, was nicht verwittert ist, zeigt solche Gestalten scharf und entschieden". Diesen geomorphologischen Grundformen schreibt GOETHE nun auch eine ordnende Bedeutung beim Wahrnehmen und Erkennen zu; "so kommt nach seiner Ansicht etwa der Zeichner, der sich in der reichen Formenfülle der stark verwitterten und abgetragenen Gebirgswelt kaum zurechtfindet, dadurch, daß er solch ein geometrisches Gitterwerk in die scheinbar ungegliederte Masse hineinlegt, ganz allein in die Fähigkeit, Felsenwände und Gipfel richtig und wahrhaft darzustellen; denn er vermag so das Unsichtbare durch das Sichtbare zu verdeutlichen und den allgemeinen Charakter im Kleinen wie im Ungeheuren durchzuführen. Indem sie die ähnlich geformten Gebilde jeder Größe in sich begreifen, erweisen sich diese Schemata als eigentliche Grundformen, als Gestalttypen, die aus der mannigfaltigen Bergnatur zugleich heraus und in sie hineingelesen werden können" (P. ZINSLI).

Es ist nun kennzeichnend, wie solche Anschauungen fortgeführt werden in der umfassendsten Darstellung der sprachlichen Erschließung der Bergwelt, die wir besitzen, in P. ZINSLIs Werk über "Grund und Grat. Die Bergwelt im Spiegel der schweizerdeutschen Alpenmundarten". Das Buch ist viel mehr als sonstige Darstellungen, die die Sprache als "Spiegel" anderer Erscheinungen sehen. Denn es geht folgerichtig von der Auffassung der Sprache als einer Energeia aus, und über den Gedanken von LEIBNIZ von den Sprachen als "lebendigen Spiegeln des Universums" hinaus stellt er die HUMBOLDTsche Ansicht von der Sprache, die dem Menschen die Wirklichkeit erhellt und gestaltet, in den Mittelpunkt. Und in diesem Sinn wird das, was GOETHE als durchgehendes Gesetz der Natur sich in den gleichen Grundgestalten ausprägen sah, als mindestens in der Sprache wirksam aufgewiesen: "Ein solches Begreifen der Wirklichkeit, das gleiche Gestalt im Winzigen und im Überragenden wiedererkennt, erscheint in der Sprache schon angelegt, ja durch sie bereits vorweggenommen; schon in ihr nämlich werden große und kleine Gebilde der Landschaft aufeinander bezogen und in einem Wort als gleichartig bestimmt." So wird es denn möglich, das in den Sprachbegriffen niedergelegte Bergbild in seiner Ordnung von einer kleinen Zahl gestaltender Begriffe zu überblicken und in dem Aufzeigen der Einzelheiten der Feldgliederung die sprachliche Fassung des Formenreichtums der Bergwelt durchsichtig zu machen. Wir verfolgen dieses Verfahren in seinen Hauptgedanken, soweit wie möglich in P. ZINSLIs eigener Sehweise und Fassung, und gewinnen damit nicht nur ein eindrucksvolles Bild von dem Umformen der Natur in der sprachlichen Gestaltung, sondern auch von dem Abstand, der sich in diesem Punkt zwischen der deutschen Hochsprache und dem mundartlichen Weltbild zeigt.

Der Wort- und Begriffsschatz, mit dem die schweizerdeutschen Alpenmundarten den Formenreichtum der Bergwelt begreifen, aufteilen und gliedern, läßt sich auf neun Grundtypen oder in neun Felder verteilen. Die sprachliche Fassung der Erhebungen verläuft unter den Grundformen der Pyramide (Spitz, Turm usw.), des Kugelabschnitts (Bühl, Nollen), des liegenden Prismas (Grat, Schneide). Daneben stehen die Vertiefungen, gegliedert nach den Grundformen des horizontalachsigen Hohlraums (Balm, Höhle), des vertikal-achsigen Hohlraums (Grube, Loch) und der Hohlkehle (Tobel, Kluft). Schließlich die Flächen mit den Typen der horizontalen Ebene (Boden), der lotrechten Ebene (Wand) und der schiefen Ebene (Halde). Das Entscheidende dabei ist, zu sehen, wie sich, je eindringlicher wir die Einzelheiten verfolgen, um so nachdrücklicher die sprachliche Umformung heraushebt, durch die hindurch sich dem Bergbewohner seine alpine Umwelt zur lebendigen Wirklichkeit gestaltet. Selbst wenn man nicht zum Vergleich greift, um die Eigenart dieser ihren Trägern als selbstverständlich und natürlich erscheinenden, aber schon vom Hochdeutschen aus als eigengeprägte Erkenntnisweise sich abhebenden Gliederung herauszuarbeiten, so läßt sich doch das schöpferische Bilden, die Eigenart der Sinngebung, die Besonderheit der Ansätze und Haltepunkte, die Abstufung der Anschaulichkeit und der Werturteile überall verspüren. Es ist offenbar, wie eben nicht ein bloßes Wiederholen und Nachbilden, sondern ein schöpferisches Umformen aus geistiger Kraft das schließliche Ergebnis im sprachlichen Weltbild gestaltet.

In erster Linie fällt vom hochdeutschen Standpunkt die Reichhaltigkeit auf, mit der sich die Formenwelt des Gebirges dem Alpenbewohner in seinem Wortgut erschließt. Man mag es etwa an der Grundform der Hohlkehle ersehen, die nicht mit den in den Wörtern Rinne, Tal, Paß gegebenen Anschauungsformen auskommt, sondern schon im Bereich des Spaltes neben den Sprung im Erdboden die Brätsche(n) des Felsrisses stellt, während der Bruch das Aufbrechen der Erdkruste kennzeichnet, wie es besonders am Rand starker Töbel sich zeigt. Ein Schrofen ist eine enge, tiefe Spalte im felsigen Grund, die dem Boden entlangläuft wie die Gletscherspalte auf der Eisfläche. Nicht nur eine sommerliche Erdritze, sondern auch eine lange, tiefe Felskluft kann mit Schrund gefaßt sein, während die Schrannen vielfach auf Spalten im Eis beschränkt sind. Während Chlamm im Schweizerdeutschen nur eine kleine Enge meint, ist die Lamm eine vom Wasser ausgehöhlte und durchströmte Felskluft. Und so findet sich noch vieles zusammen, um die verschiedenen Formen in ihrer Besonderheit hervortreten zu lassen, nicht als Überfluß von "Synonymen", sondern als notwendiger und lebenswichtiger Hinweis auf das vom Bewohner der Bergwelt zu Beachtende.

Aber es ist nicht nur die natürliche Mannigfaltigkeit der Formen, die hinter diesem Wortgut steht. Zugleich setzt sich immer auch die Eigenart der Sehweise des Alpenbewohners durch, und die ist durchaus bestimmt durch seine Lebensbedingungen. Von uns aus gesehen ist das Wesentliche und Eindrucksvollste der Bergwelt gegeben in den ragenden Gipfeln, den höchsten Erhebungen, die sich beherrschend über den Tälern auftürmen. Im Weltbild der Bergmundart kommen diese Gebilde erst an recht später Stelle. Den Beweis dafür liefert die bekannte Tatsache, daß bis weit in das vorige Jahrhundert hinein "viele der höchsten Gipfel noch namenlos waren". Erst "der im 19. Jahrhundert erstarkte Alpinismus hat in wenigen Dezennien durch eine Flut von Neubenennungen nachgeholt, was der bodenständige Alpenbewohner seit uralters unterlassen oder nur in spärlichen Ansätzen unternommen hat". Offenbar spielen diese in der Natur am ausgeprägtesten vorgezeichneten Gebilde im Erfassen der Umwelt durch den Siedler nur eine sekundäre Rolle. Man versteht das gut, wenn man sich vorstellt, wie der bäuerliche Alpenbewohner "vom engen Kreis seiner Wohnstätte aus mit Pflug, Axt, Jagdgewehr und Hirtenstab fortschreitend die umliegende Bergnatur eroberte und sie zugleich durch Worte und Namen erschloß". Es sind verschiedene Augen, mit denen Bergbewohner und Hochtourist die Bergwelt anschauen, und dem entspricht die sprachliche Auffassung: öde Berggebiete, menschenfeindliche Höhen wehren Schritt und Gedanken des Siedlers ebenso von sich ab, wie sie Phantasie und Entdeckerfreude des Bergsteigers anlocken.

Diese Verschiedenheit der Grundhaltung macht sich nicht nur in dem Umfang bemerkbar, indem die Bergwelt in die sprachlich erschließende Namengebung einbezogen wird, sondern auch in der Sehweise, in der das Beachtete begriffen wird. Nehmen wir das Sprachgut, mit dem die den Einheimischen wichtigen Erhebungen gefaßt werden, so sehen wir das Aufbauen auf den alltäglichen Anliegen, das Fortschreiten vom Nächstliegenden aus in die fremde dahinterliegende Welt, das Werten mit den Maßstäben des um die Sicherheit seines Daseins und den Ertrag seiner Arbeit bangenden Menschen. Sehr eindrucksvoll weist P. ZINSLI darauf hin, wie in den alten Bergnamen "die ursprüngliche Richtung des sprachlichen Bestimmens von der tiefer gelegenen Siedlung in die abgelegene Höhe" führt, wie in der sprachlichen Erschließung ein "immer neu ansetzender Weg von unten hinauf" sichtbar wird. "Manchmal stuft sich der Berghang geradezu in den übereinander aufgeschichteten Namen, die von einem Grundwort abgeleitet sind. Zum Hof Turrä gehört die Schafalm Turräbär mit dem Turräbärgtobel; über dem Turräbärgli er erhebt sich der Turräbärgnollä, ein runder Vorsprung und darüber gipfelt sich noch der Turräbärgspitz auf.

So ist es also im Grunde das Bild der sprachlichen Auseinandersetzung von Bergbewohnern und Bergwelt, das sich in solchen Beobachtungen entfaltet; und wer in all diesem sprachlichen Geschehen achtet auf das bewußte Hereinholen, das geistige Anverwandeln der Natur, das in jedem einzelnen Worte steckt, der wird den Lebensprozeß sehen, der auch in P. ZINSLIs kurzer Darstellung über "Berglandschaft - Berglersprache" immer spürbar ist: die geistige Bewältigung eines das Leben in nachhaltigster Weise beeinflussenden Raumes, wobei die gedankliche Erschließung der Bergwelt selbst nicht die geringste Aufgabe ist.

Wir haben absichtlich einen so festgegründeten Bereich wie die Bergwelt an den Anfang gestellt. Es ist tatsächlich schon ein unerschöpfliches Gebiet von Beobachtungen, das uns im Aufdecken der sprachlichen Erschließung von deutlich und fest vorgegebenen Formen der unbelebten Natur zugänglich ist und das uns die Wirkungsweise der sprachlichen Umwandlung in Bereichen erkennen läßt, wo der "objektive" Gehalt des Gegenstandes deutlich vorgezeichnet erscheint.. bereits hier nicht ein einfaches Abbilden und Wiederholen auch nicht ein "objektives" Zusammenfassen und Sondern; vielmehr ein Aufbauen von bleibenden und wiederkehrenden "Erscheinungen", die, aus der Natur herausgelesen und doch zugleich in sie hineingesehen, an allen Enden durch die Wirksamkeit menschlicher Geisteskraft mitgeprägt sind.

Eine unerschöpfliche Aufgabe für die ordnende, begreifende, geistig gestaltende Tätigkeit des sprachlichen Zugreifens ist der Bereich des Lebendigen mit seiner ungeheuren Formenfülle, dem ewigen Wechsel des Werdens und Vergehens, den in allen Veränderungen wiederkehrenden Grundzügen ihrer Gattungen und Arten. Hier ist denn auch das Einsetzen der sprachlichen Welterschließung so deutlich, daß es nur kurzer Hinweise bedarf, um uns in unseren eigenen geläufigen Anschauungen das Mitspielen sprachlicher Bedingungen bewußt zu machen. Wir können dabei für das Beobachtungsmaterial anknüpfen an frühere Überlegungen über die Pflanzenwelt, wobei es sich nun darum handelt, die damals festgestellten "geistigen Gegenstände" als einen Prozeß sprachlicher Gestaltung, als geistige Verwandlung zu verstehen.

Manches Rohmaterial läßt sich jetzt den Darstellungen von H. CARL entnehmen. Wir müssen damit rechnen, auf verschiedene Formen des sprachlichen Zugriffs zu stoßen. An Sprachmitteln wie Gemüse oder Unkraut hatten wir uns verdeutlicht, daß für manche der uns geläufigsten und wichtigsten Wörter aus den Feldern des Pflanzlichen eine Begründung im "Objektiven", in den Eigengesetzen der Pflanzenwelt, unmöglich ist. Die Frage, "wo" es Unkraut gibt, führte uns zu der eindeutigen Antwort, daß es Unkraut nicht in der Natur, sondern erst im Urteil des Menschen geben kann. In der Natur wächst jedes Kraut nach seinem eigenen Gesetz; es findet sich nicht einmal der Ansatz zu dem Gedanken von Unkraut, und die Botanik ist nicht in der Lage, aus dem wissenschaftlichen Eindringen in den Aufbau der Pflanzenwelt irgendein objektives Merkmal für ein Unkraut aufzuweisen. Vielmehr muß der Mensch mit seinem sprachlichen Zugriff hinzukommen. Der Mensch macht seine Erfahrungen mit diesen Gebilden, er stellt sie sich vor Augen, er zieht sie in seine Überlegungen ein, so wie sie sich seinen Notwendigkeiten und Zwecken darbieten; er stempelt sie zu Unkraut, Obst, Gemüse, und wir können mit vollem Recht von einer geistigen Verwandlung der lebendigen Natur reden.

Bei näherem Zusehen erweist sich diese gedankliche Umformung als noch viel weiter reichend und vor allem auch noch viel deutlicher an die Sprache gebunden. Insbesondere wird beim weiteren Durchdenken der Beispiele noch klarer, "wie" es diese Sprachmittel gibt, nämlich als umformende sprachliche "Wirklichkeit" als geistige Zugriffe.

Die an den Gebilden pflanzlichen und tierischen Lebens vollzogene Gedankenarbeit geht weit über die unmittelbaren Gesichtspunkte des Nutzens und der Verwendbarkeit hinaus. Wir können wohl für alle Sprachmittel, die im Hinblick auf Pflanzen- und Tierwelt ausgebildet sind, sagen, daß sie über das bloße Nachzeichnen oder das reine Aufspüren der inneren Gesetzlichkeiten hinausweisen. Ganz offensichtlich ist das neben den wertenden Gemüse, Getreide, Obst, Unkraut bei den ordnenden Kraut, Blume, Beere. Schon die Wörterbücher, die an das Weltbild der Sprache gar nicht denken, lassen in ihren Bestimmungsversuchen die menschliche Zutat ganz deutlich werden. Schon früher wurde H. PAULs Bedeutungsangabe von Kraut angeführt: "Pflanzen, insofern bei ihnen das Blattwerk die Hauptsache ist. Dabei sind Bäume und Sträucher ausgeschlossen, gewöhnlich auch Gras und Getreide und Blumengewächse, sobald die Blume als das Wesentliche gedacht ist."

Deutlicher als in diesem Gedachtsein, dem "als Hauptsache" Gesehenen, dem Ausschließen, kann der in der Sprache zur Welt hinzutretende Mensch fast nicht gekennzeichnet werden. Und daß die sprachliche Schicht der Ort des Wirklichwerdens solcher Gesichtspunkte ist, lehrt jede Vergleichung. Es ist durchaus ein Tatbestand sprachlicher Welterschließung, den KARL VOSSLER im Auge hat mit seinen Worten: "Unsere vorherrschenden Interessen kann man schon an unserem Wortschatz ablesen. In den Tropen gibt es Negersprachen, die fünfzig bis sechzig Namen für verschiedene Palmenarten besitzen, aber kein umfassendes Wort für die Palme. Diese Neger ernähren sich von Palmfrüchten und haben sehr genaue vegetatische Interessen, aber kein botanisches. Die Gauchos in Argentinien besaßen etwa zweihundert Ausdrücke für Pferdefarben und nur vier Pflanzennamen: pasto, paja, cardos, yuyos; pasto hieß alles, was das Vieh frißt, paja jede Art Streu, cardo alles holzartige Gewächs, yuyos das ganze übrige Pflanzenreich, Lilien und Rosen, Kraut und Kohl.

So richtet das jeweilige Interesse wie ein gezieltes Schießgewehr sich auf bestimmte Sachen und findet im Wortschatz seine Treffer. "Man muß das noch etwas sachgemäßer interpretieren: das Sein und die menschlichen Interessen treffen sich in den sprachlichen Prägungen. Ein so ganz auf die Notwendigkeiten der Viehzucht abgestelltes Bild von der Pflanzenwelt wird "wirklich" in diesen Sprachmitteln und macht dieses Bild verbindlich für diesen Lebenskreis. Ob dabei nun das Werten oder das Ordnen im Vordergrund steht, die Subjektivität des sprachlichen Verfahrens zeigt sich bei beidem gleich stark. Eine besondere Note kommt auch in solche Wörter noch hinein, wenn sie sprachlich gewissermaßen eine Gebrauchsanweisung enthalten. Wenn das eigentliche Schweizer Wort für Unkraut als Jät auftritt so ist die Aufforderung zum jäten unüberhörbar.
LITERATUR - Leo Weisgerber, Die sprachliche Gestaltung der Welt, Düsseldorf 1973