Das Weltbild der Mundart [2/5]
Wir hatten als den Weg, der am ehesten zur Einsicht in das sprachliche Gestalten der Welt führen kann, den Vergleich der verschiedenen Formen, in denen "der Mensch die Sprache zustande brachte", erkannt. Tatsächlich finden sich überall, wo in echtem Sinne Sprachvergleichung betrieben wird, wo man also im Vergleich die Eigentümlichkeiten des Verglichenen festzustellen sucht, auch Beobachtungen, die uns voranhelfen. Allerdings sind diese selten auf den energetischen Aspekt, der uns hier beschäftigt, ausdrücklich abgestellt; die Frage nach der sprachlichen Erschließung und Gestaltung der Welt ist dafür in der Sprachforschung noch zu ungewohnt. Wir müssen hier manches erst in die richtige Blickrichtung hineinstellen, die eine entsprechende Auswertung ermöglicht. Das gilt bereits für die Notwendigkeit, bei vielem, was als Eigenart des "Verfahrens" einer Sprache vorgelegt wird, die Rolle der zugehörigen Sprachgemeinschaft stärker hervorzuheben. Als Beispiel dafür sei hier zunächst hingewiesen auf das, was man über die Seh- und Verfahrensweisen der Mundarten mehr am Rande, aber doch in beachtlicher Fülle beobachtet hat. Die Wahl der Mundarten mag zugleich denen eine Beruhigung sein, die aus der Notwendigkeit des Vergleichens die Folgerung ableiten, daß diese ganze Arbeit nun den Fachspezialisten vorbehalten sei. Die Möglichkeit fruchtbaren Vergleichens liegt oft viel näher, als wir glauben. Wir sind auch in der glücklichen Lage, daß die einschlägigen Beobachtungen der deutschen Mundartforschung übersichtlich zusammengefaßt sind. Bereits vom Ergebnis her, d.h. also von dem, was im "grammatischen" Befund sichtbar wird, drängt sich die Frage nach den gestaltenden Kräften auf: "Die Gestaltung des Weltbildes in seiner jeweiligen Eigenart vollzieht sich in den einzelnen Sprachen durch zwei besondere Vorgänge: Einmal treffen die Sprachen (auch die Mundarten) eine verschiedene Auswahl aus der Zahl der zu bezeichnenden Weltdinge. Die Sprachen von Seefahrern werden notwendigerweise einen anderen Wortschatz entwickeln als die von Hirten oder Ackerbauern, Stadtvolk wird einen anderen Wortschatz entfalten als Landvolk. Zum zweiten aber erfassen verschiedene Sprachen (und Mundarten), bedingt durch die Subjektivität ihrer Träger wie durch die umweltbezogene Eigenart des Erlebens, dieselben Dinge in verschiedener Weise". In dieser Weise heben sich bereits die einzelnen Mundarten gegeneinander ab; es zeigen sich aber auch größere Züge, in denen mundartliches Verfahren als solches von hochsprachlichem unterschieden erscheint. Zum ersten dieser Punkte sind kaum Beispiele im einzelnen nötig. Daß eine niedersächsische Küstenmundart auf Schritt und Tritt ein Eigengepräge aufweist gegenüber einer alemannischen Alpenmundart, ist die notwendige Folge der Verschiedenheit von Umwelt, Beruf, vorherrschenden Interessen, Ansatzpunkten von Bildern und Vergleichen usw. Und ebenso verständlich ist es, daß nicht nur See- und Schiffahrt und Fischfang hier, Berg und Alm- und Waldwirtschaft dort, sich als getrennte Welten gegenüberstehen, sondern daß auch die gemeinsamen Bereiche äußeren und inneren Lebens verschiedenen Atmosphären zugehören. So können bereits Nachbarmundarten selbst bei lautlicher Gemeinsamkeit tiefgreifende inhaltliche Unterschiede aufweisen, wenn etwa ein Bauerndorf der Eifel an ein Winzerdorf der Mosel grenzt oder im Grenzgebiet von Weide und Torf der Blick in verschiedene Richtung gelenkt wird. Für uns kommt es aber noch viel mehr darauf an, uns vom Beobachtungsmaterial an solche Stellen führen zu lassen, an denen dieselben Dinge in verschiedener Weise erfaßt sind. Dies sind zu gleich die Punkte, an denen die Mundart sich am häufigsten inhaltlich von der Hochsprache abhebt und dadurch Aufschlußwert für die Beurteilung des sprachlichen Verfahrens der Allgemeinheit gewinnt. Ein Punkt, an dem zahlreiche Beobachtungen dieser Art zusammentreffen, ist das , was man gern das Naive oder Primitive in der geistigen Haltung der Mundart nennt. Die sprachlichen Eigentümlichkeiten, auf die sich dieses Urteil stützt, werden auf zwei charakteristische Züge des gedanklichen Verfahrens zurückgeführt:
Andere Beispiele auffallender Worthäufigkeit lassen sich aber nicht auf Gefühlstöne zurückführen. Vielmehr zeigt es sich, daß die Mundarten weithin nicht im gleichen Maße an der Tendenz der Zusammenfassung und des Abstrahierens teilhaben wie die Hochsprache. Angesichts der hypostasierenden [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Wirkungen der Sprache können demnach Unterschiede in dieser Hinsicht recht aufschlußreich sein. Wenn von vielen Mundarten berichtet wird, daß sie 40, 60, 100 Ausdrücke besitzen in Bereichen wie essen, reden, geben, dann äußert sich darin zum Teil die gefühlsmäßige Beurteilung, zum Teil aber auch das Auseinanderhalten von tatsächlichen Unterschieden, über die die Hochsprache leichter hinwegsieht. Es leuchtet ein, daß man unter den Verben des Gehens durchaus mit Recht die Fülle der Bewegungsformen mit einbeziehen kann und muß, das stolze, das plumpe, das rasche, das träge, das zierliche, das unbeholfene und wie die ja auch der Hochsprache nicht unbekannten Variationen alle heißen. Aber über solche Beachtung von Einzelheiten des Vollzugs hinaus kann sich auch vom Träger und vom Gegenstand eines Tuns aus ein Anlaß zur Besonderung ergeben. Normalerweise essen und trinken die Menschen (und wenn sie sich dabei auffallend benehmen, wird ihnen das mit futtern und verschlingen , mit schlürfen und nippen angekreidet). Aber darüber braucht es durch aus nicht sicher zu sein, wem das essen überhaupt zusteht, ob der Mensch es in allen seinen Lebensaltern tut, ob er es mit anderen Lebewesen, mit einzelnen (oder allen) Tieren teilt usw. Es kann aber auch wieder offen sein, ob das essen alle Nahrungsmittel umfaßt (von manchen fernerstehenden Sprachen wird berichtet, daß sie kein Wort für essen allgemein haben, wohl aber eine Fülle von Spezialausdrücken, möglicherweise so viele, wie es Nahrungsmittel gibt). Auf manches Derartige machen uns die Mundarten überraschend aufmerksam. Ein so unverfängliches Wort wie pflücken wird fragwürdig, wenn ostfränkische Mundarten es vermissen lassen und dafür in inhaltlicher Aufteilung brocken für das Pflücken des Obstes, Zupfen für das Pflücken der Blumen aufweisen. Wo liegt das bessere Recht? Längst hat JOS. MÜLLER auf vieles Derartige hingewiesen: daß viele Eifeler Mundarten keine Körbe kennen, wohl aber die Fülle von Mand, Räss, Bratsch, Benn, Kalbass deutlich auseinanderhalten; daß rheinische Einzelmundarten im Bereiche des weinens mit sehr prägnanten Ausdrücken arbeiten: grongeln, ningksen, krischen, grautschen, bautschen, bälken, bölken, böken usw. Es kann oft sein, daß etwas, was von der einen Seite hinreichend "gleich" erscheint, von der anderen doch wieder zu verschieden aussieht: sicher ist jedes Werkzeug im guten Recht, wenn der Hammer seinen Stiel, die Axt ihre Hälft oder ihren Helm, die Sense ihren Wurf hat; dem steht ein entsprechendes Recht des Stieles zur Seite, bei dem man aber doch im Zweifel sein kann, ob es ein Vorteil oder ein Nachteil ist, wenn er in der Hochsprache die ersteren ganz verdrängt. In diesen Bereich treten also mit dem Verfahren konkret - abstrakt eine Fülle von Beobachtungen auf, bei denen die Mundarten Fragen an die Hochsprachen stellen, die die Art des geistigen Zugriffes auf die Dinge, des Umschaffens der Welt in das Eigentum des Geistes betreffen. Wer die Feststellungen der Mundartforschung aufmerksam durchgeht, wird auf manche weitere Frage gestoßen, auch wenn sie noch nicht in unserem Sinne gestellt ist. Wieweit teilen die Mundarten den "Pessimismus der Volkssprache", auf den manche Beobachtungen hinweisen? "Das Negative vermehrt den Wortvorrat nachhaltiger als das Positive. Das Volk lobt nicht gern; beliebter ist Tadel und Kritik. Schmerz, Zorn, Wut und Spott wirken sich im Wortschatz aus und führen zur Wahl immer neuer Wendungen. Üppig entfaltet ist in der Mundart daher der Wortschatz für die Begriffe schimpfen, streiten, stehlen, lügen, betrügen, lachen, weinen, verrückt sein, betrunken sein, sterben, töten. |