cr-4KantHamannF. H. JacobiSpinozaHerderM. Mendelssohn    
 
F. A. SCHMID-NOERR
Friedrich Heinrich Jacobi
[2/5]

"Dieses, die Dinge selber reden lassen und ihren Offenbarungen zuhören, als den untrüglichsten Offenbarungen Gottes, schien ihm zuletzt das beste Mittel, um zu überzeugen, ohne zu grübeln. Gleichzeitig aber lag in diesem passiven Hinblicken und Hinhorchen auf die eigene Sprache der Dinge und Zeiten für  Jacobi der beständige Anreiz zu mystischer Beschaulichkeit, ganz in der Art des  Meisters Eckart. In dieser Stimmung war er dem befreundeten  Hamann eben recht, und dieser bestärkte ihn darin, aller Grübelei abzusagen. Der ursprünglichste Sinn war eben jener, den er gelegentlich mit einem etymologischen Wortspiel  Vernunft nannte: Der Sinn, mit dem ihm gegeben war, die Sprache Gottes in den Dingen und in den Geschehnissen zu  vernehmen."

Erster Teil
Leben und Persönlichkeit Jacobis

Zweites Kapitel
Die Persönlichkeit

Ich bedurfte einer Wahrheit, die nicht  mein Geschöpf, sondern deren Geschöpf  ich wäre. - Ich war nich gleichgültig in Absicht dessen, was zu meiner Erkenntnis kommen möchte, wenn es nur überall Erkenntnis wäre.

Heißt Nachdenken und Mitteilen dieser Art ein  persönliches, so ist allerdings meine Philosophie eine persönliche; aber dasselbe wird der Fall sein bei Allen, denen ihre Philosophie Religion ist.

[Vorbericht zum vierten Band der gesammelten Werke]



1. Die charakterologischen Elemente

Im Jahre 1797 schrieb FICHTE die bekannten Worte:
    "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist kein toter Hausrat, den man ablegen oder anlegen könnte, wie es uns beliebt, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat." (1)
Damals stand FICHTE seit ungefähr drei Jahren in einem nicht nur rein literarischen, sondern auch persönlich-brieflichen Gedankenaustausch mit FRIEDRICH HEINRICH JACOBI. Dieser selbe JACOBI aber hatte einst folgendes ausgesprochen:
    "Es gibt nur zwei voneinander wesentlich verschiedene Philosophien; ich will sie Platonismus und Spinozismus nennen. Zwischen diesen beiden Geistern kann man wählen, daß heißt man kann ergriffen werden vom einen oder vom anderen, so daß man ihm allein anhängen, ihn allein für den Geist der Wahrheit halten muß. Was hier entscheidet, ist des Menschen ganzes Gemüt." (2)
So gewiß jener Ausspruch FICHTEs dessen eigener Natur angemessen war, so nahe liegt doch auch der Gedanke, daß die Bestimmtheit der Selbsterkenntnis, die sich darin ausdrückt, am Vorbild JACOBIs erst zu ihrem vollen Bewußtsein erwachte. Aber der Geist JACOBIs verhielt sich unter dieser Charakterwahl einer Philosophie, wie immer, wesentlich passiv. Er bedurfte "einer Wahrheit, die nicht sein Geschöpf, sondern deren Geschöpf er war". Freilich, eine solche Wahlpassivität sollte nichts gemein haben mit Kritiklosigkeit. Im Gegenteil. Es war die Meinung JACOBIs, daß die Stärke der Persönlichkeit so sicher in sich selber ruht, daß ihre Wahl mit divinatorischer [göttlicher - wp] Sicherheit sich gewissermaßen von selbst vollzieht. Eine solche Persönlichkeit ist in all ihrem Aufnehmen und Selberschaffen durchaus unmittelbar und souverän, und doch ganz an die Offenbarungen ihres höheren Wesens hingegeben. Mit einem Wort: durchaus genial. Hier ist die Quelle aus der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts alle die Anschauungen und Begeisterungen fließen, die sich zu einer allgemeinen Reaktion gegen das Zeitalter der Aufklärung zusammenfanden. So stand JACOBI zum wenigsten in seinen Wirkungen mitten unter den führenden Geistern der Genieperiode. Wo daher FICHTEs am Pathos der kantischen Vernunftlehre erzogener Ernst den Menschen ihre Überzeugungen ins Gewissen schob, da konnte JACOBI, der Sohn eines noch unbefangenen Zeitalters, wie es das Jahrhundert an seiner Neige schon nicht mehr war, als Philosoph mit VOLTAIRE sagen: "Tous le goûts sont pour moi respectable." [Alle Geschmäcker sind mir respektabel. - wp] (3)

Soviel ist indessen gewiß, daß von der Entwicklung, oder den Resultaten der Philosophie JACOBIs zu reden unmöglich ist, ohne die Persönlichkeit des Mannes, in ihrer innigen Beziehung zu ihr, Schritt für Schritt im Auge zu behalten.

JACOBI teilte seine erste geistige Heimat in bedeutungsvoller Weise mit den größten und zugleich entgegengesetztesten Geistern seiner Zeit. Der Pietismus, der den jungen KANT und den jungen GOETHE erzog und der in einem gewissen, wenn auch ungleichen Grad HAMANN, dem "Magus" und HERDER ein Begleiter durchs Leben blieb, war ja auch die Pflanzstätte des jacobischen Geistes. Und mit allen diesen vier so verschieden gearteten Beherrschern der Zeitkultur wußte dieser entweder in herzlichster Freundschaft, auch im teilnehmenden Verkehr zu beharren. Lehrreich ist es, die Wege zu vergleichen, die aus den gemeinsamen Grenzen der Jugendzeit heraus die einen weit auseinander und die andern eng zusammen, wohl aber nur den einzigen JACOBI so führten, daß er beinahe allen gleichmäßig nahe blieb. Die Einsicht in die psychologische Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist grundlegend für das Verständnis seiner Persönlichkeit.

KANT war schon als Student unter der Beschäftigung mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Problemen, die seine spezifischen Verstandeskräfte schärften, dem Pietismus entwachsen und an DAVID HUMEs Scharfsinn erwachte sein kritischer Geist, der dann nur noch zuweilen an die Metaphysik, die Geliebte seiner jüngeren Jahre, sich mit einer halben Sehnsucht erinnerte. In KANT trug das theoretische Interesse vor allem den Sieg davon. Die methodische Exaktheit naturwissenschaftlichen Forschens und die vernunftkritische Abwägung aller Wahrheitswerte bestimmten hinfort ebenso den Gang, wie den Tenor seiner gesamten Unternehmungen. Alles Unbestimmte, bloß poetisch Empfundene oder gefühlsmäßig und mystisch Geahnte, wie es auch dem Pietismus eigen ist, trat vor dem Prinzip der systematischen Kritik in den Hintergrund.

So ziemlich entgegengesetzt gestaltete sich diese Entwicklung bei GOETHE. Ihn hatte im Jünglingsalter der dichterische Instinkt den pietistischen Kreisen nahegestellt. Ihre reiche Gefühls- und Gemütswelt berührte sich eng mit seinem künstlerischen  Gefühl Später überwog in ihm, sobald es darauf ankam, seinem feurigem Wissensdrang eine konkrete Nahrung zuzuführen, die zweite Hälfte der poetischen Begabung: das  Schauen.  Die gesunde Freude seiner Sinne führte ihn mit Notwendigkeit auf das Feld der Naturwissenschaft, und insoweit ist, von den Motiven abgesehen, sein Weg auch der KANTs gewesen. Von hier aus teilt sich dieser Weg aber auch äußerlich. Ein Kopf mit naturwissenschaftlichen Neigungen und zugleich philosophischen Bedürfnissen, aber ohne die sichere Kritik KANTs, mußte mit größter Wahrscheinlichkeit in die Richtung spinozistischen Denkens geraten. In dieser Geisteswelt fühlte sich dann auch GOETHE für sein ganzes, übriges Leben geborgen. Der Dichter bewahrte ihn vor Einseitigkeit und vor jeder Gefahr begrifflicher Trockenheit und bildete die Welt des SPINOZA, wo sie etwa an einiger lebloser Starrheit litt, mit Leichtigkeit in einen farbigen und harmonisch belebten Panteismus um. Seine Freude an einer überall nach denselben Gesetzen waltenden, geistigen Natur stellte ihn, soweit sich diese Harmonie namentlich in den "Stimmen der Völker" äußerte, friedlich neben HERDER.

HERDER bewahrte sich in seinem theologischen Beruf unmittelbar, und mittelbar in seinem stets religiös gestimmten Dichten und Forschen, einen deutlichen Rest der pietistischen Denkweise. Seine auf wissenschaftlichem Gebiet vorwiegend historischen, völkerpsychologischen und soziologischen Interessen entwickelten sich im engsten Zusammenhang mit dem religiösen Bedürfnis nach einer Offenbarung der Gottheit im Dasein und Fortschreiten der Menschen und ihrer Kultur, und in ebenso naher Beziehung zu dem theoretisch-philosophischen Anspruch auf Erforschung des göttlichen Wesens. Insofern HERDER bei solchen Bestrebungen die menschliche Sprache als das älteste Denkmal der göttlichen Offenbarung auffaßt, und seine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand besonders lenkt, berührt er sich mit JOHANN GEORG HAMANN, dem "Magus des Nordens". Aber während HERDER aus einer Philosophie der Sprache zureichende Erkenntnisse für die Begründung einer rationalen Theologie gewinnen möchte, bedeutet umgekehrt für HAMANN die Sprachkritik ein Mittel zur Unschädlichmachung aller wissenschaftlichen Prätensionen [Anmaßungen - wp], vornehmlich zunächst auf religiösem Gebiet.

HAMANN treibt den Geist des Pietismus mit Hilfe sprachphilosophischer Überlegungen über sich selber hinaus und hinüber in den Bereich einer bewußten, sozusagen aus philosophischen Grundeinsichten verfochtenen, verstandesskeptischen und gefühlsgenialen Mystik. An dem Punkt aber, wo alle Mystik dazu neigt, sich mit echt pantheistischen Motiven zu verschwistern, tritt auch HAMANN in eine gewisse, bedingte Verwandtschaft mit GOETHE. Die rhapsodische, panegyrische [bruchstückhafte, lobrednerische - wp] und im Gefühl der All-Einheit von Gott und Mensch schwelgende Empfindung berührt sich nahe mit dem künstlerischen Bewußtsein der Harmonie der Welt. Und wie die persönliche Sprache HAMANNs zeitlebens eine unverkennbare Ähnlichkeit mit jener besitzt, die GOETHE in der Geniezeit und gelegentlich auch noch später manchmal handhabte, so erscheinen viele der dunklen Prophetensprüche des Magus wie groteske Paraphrasen [sinngemäße Übertragungen - wp] zu GOETHEschen Dichtungen.

So schließt sich der Kreis der inneren Beziehungen, die diese vier Männer verknüpfen und die, von einem gemeinsamen Lehrmeister entlassen, in den verschiedensten Wirkungen doch die Gesamtheit des zeitgenössischen Geisteslebens in Deutschland beherrschten. Wer den Weg mit allen seinen Übergängen noch einmal verfolgen wollte, den wir soeben von KANT zu GOETHE und HAMANN gegangen sind, der besäße zugleich die Entwicklungsgeschichte des jacobischen Geistes.

In der Tat ist FRIEDRICH HEINRICH JACOBI ein nahezu vollkommener Repräsentant all dieser vier verschiedenen Geistesrichtungen. Zweierlei müßte aus dieser Einsicht in diesen Sachverhalt deutlich hervorgehen: Einmal, daß nur auf diese Weise die Möglichkeit vorhanden war, sich mit vier so verschiedenen Menschen gleichzeitig auf der Grundlage gesinnungsverwantdter Freundschaft zu vertragen; und zum andern, daß ein so gearteter Mensch notwendig jener tiefgründigen und fruchtbaren Einseitigkeit entraten mußte, aus der in letzter Linie doch allein die wahrhaft universalen Werke des Geistes geschaffen werden: JACOBI war zu vielseitig, um allseitig sein zu können.

JACOBI entwickelte sich in Genf in kurzer Zeit und in relativ hohem Maße ganz ähnlich wie KANT. Die schwärmerischen Neigungen des Jünglings schlugen um in einen lebhaften Trieb nach Wissen und nach dem Verständnis abstrakter Probleme. Und sein einmal erwachtes, spezifisch theoretisches und selbst kritisches Interesse schlummerte auch in der Folge nie mehr ein. Er teilte mit KANT das Bedürfnis nach kritisch erprobten Einsichten und Grundsätzen, und stellte sich damit auf eine entscheidende Weise näher neben KANT, als es GOETHE je gelingen wollte. Aber sobald er nun Genf verlassen hatte, blieb er auch auf diesem eben gewonnenen Standpunkt seiner Entwicklung stehen, wohl deshalb, weil in dieser Hinsicht bei ihm nichts weiter zu entwickeln war. So blieb er gegenüber KANT, in höherem Grad als SCHELLING gegenber, stets die niedere Monade, wie KUNO FISCHER treffend gesagt hat. Dafür lernte er nach seiner Heimkehr GOETHE kennen und die begeisterte Freundschaft, die ihn mit dem Dichter verband, löste in ihm mit einem Mal all die Kräfte, die ihn in kurzer Zeit zu dem gefeierten Verfasser der beiden Romane  Allwill  und  Woldemar  machten. Die Schwärmerei seiner Jugend, die in Genf vor dem Trieb nach methodischer Erkenntnis zurückgetreten war, flammte jetzt wieder auf in der Form eines leidlichen, mit Phantasie begabten, poetischen Talents. Ein schöner Schwung der Sprache und eine große Wärme der Empfindung tat das übrige, um diese im Grunde nur mittelmäßige künstlerische Kraft zur Höhe ihrer Leistungen emporzutreiben. JACOBI began sich mit leichter Eitelkeit als Dichter zu fühlen, und da er im Innern wirklich Poet genug war, um die goldene Harmonie der Welt, wie er sie mit GOETHEs Augen sah, von Herzen zu erleben und mitzuempfinden, so behielt er sich auch von diesem Geist der Kunst genug zurück, um dauernd in seinem Freund den höheren und doch vertrauten Genossen einer gemeinsamen Welt zu verehren. Es blieb ihm hinfort eigentümlich, daß er sich überall dort, wo er sich seiner Grenzen gegenüber KANT und seiner Kritik bewußt wurde, seiner GOETHE-Verwandtschaft erinnerte, und im dichterischen Flug sich höher hob, als er sonst sich zu erheben vermocht hätte. Aber auch hier war seine Entwicklung, seiner Gabe entsprechend, bald am Ende. Ihre Verbindung mit den drei in Genf entdeckten, spekulativen Neigungen und seine nach der Rückkehr erworbenen gesellschaftlichen Formen erzeugte früh jenes Bild, das durch GOETHEs markante Zeichnung festgehalten, der Nachwelt überliefert wurde:
    "Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein schöner Mann von schlankem Wuchs, feinen, vornehmen Wesens, der als Gesandter ganz an seinem Platz gewesen wäre. Zum Poeten und Philosophen fehlte ihm etwas, um beides zu sein." (4)
Man darf nicht vergessen, daß dieses Bild mit GOETHEs Augen gesehen ist. Es ist treffend, ohne gerecht zu sein; denn zu den eigentlichsten Leistungen JACOBIs, die weder auf kritischem, noch auf poetischem Feld lagen, hatte GOETHEs Verständnis so gut wie keinen Zutritt.

JACOBI hatte als unmittelbares Erbteil aus seiner pietistischen Herkunft zugleich den Mittelpunkt und das Ziel all seiner wissenschaftlichen und persönlichen Bemühungen übrigbehalten: Das Bedürfnis nach einer sicheren Begründung des religiösen Gefühls, des sittlichen Lebens und der Gotteserkenntnis. Alle seine Bemühungen bezogen sich, ursprünglich und instinktiv mit einer durchaus rationalistischen Absicht, auf diesen Gegenstand. Das Stück kantischen Erbes, das er früh genug antrat, öffnete ihm jedoch die Augen über die Unzulänglichkeit aller rationalistischen Spekulation auf theoretischem und praktischem Gebiet. Da ihm aber die kantische Problemlösung bei der unmittelbaren Wärme seiner Natur keineswegs genügen konnte, so sah er sich eifrig nach einem konkreten Gegenstand um, an dem sein poetisch beflügelter und religiös inspirierter Geist gewissermaßen sinnfällig ablesen konnte, was seinem innersten Bedürfnis entsprach. Auf diesem Weg kam ihm HERDER auf das Glücklichste entgegen. Mit Freuden griff er dessen poetisch umrankte Geschichtsphilosophie auf und suchte mit Eifer in den Kulturdenkmälern vergangener oder ferner Völker die Spuren der göttlichen Offenbarung. Was vom Nationalismus des kaum vergangenen Zeitalters noch in ihm stecken mochte, das streifte er unter dem Einfluß dieser geschichts- und sprachphilosophischen Studien vollends ab und die Resultate HERDERs bestärkten ihn in der Hoffnung, der Forderung seines Herzens nach einem persönlichen, geoffenbarten Gott eine hinlänglich feste, "kulturwissenschaftliche " Begründung geben zu können. Zugleich bestärkte HERDER als praktischer Theologe sein nie ganz erloschenes Interesse an der sichtbaren Kirche, die ihm ebensosehr ein sittliches, wie ein religiöses Symbol war, und für die er nur bei KANT ein ihm trotzdem nicht sympathisches Verständnis fand.

Denn HAMANN wollte von der Kirche wenig oder gar nichts wissen, in getreuer Konsequenz seiner mystischen Weltanschauung. Dafür erhielt am Ende und in anderer Beziehung das spekulative Denken JACOBIs vom Propheten HAMANN mit seiner mystischen Sprachkritik die letzten Weihen.

Denn schließlich konnte auch die Denkrichtung HERDERs mit all ihrem gewaltigen kulturhistorischen Material dem Manne nicht genügen, der nach der letzten Verknüpfung des persönlichen Lebens mit der persönlichen Gottheit suchte, und dem weder HAMANNs mystische Selbstenteignung, noch HERDERs akademische Humanität dazu den wahren Weg zu zeigen schien, zumal diese zuletzt in einen einigermaßen aufklärerisch gefärbten, offenbaren Deismus auslief. Das eine Salzkorn kritischen Geistes in dem durchaus auf das Positive gerichteten Denken und Wollen JACOBIs genügte aber, um ihm die Unmöglichkeit eines rationalen Übergangs, einer "Emanation" [Erscheinen - wp] der Welt aus der Gottheit, ein für alle Mal zugleich klar zu machen und ihn zu zwingen, sich zu dem "salto mortale" zu entschließen, dessen er sich, nachdem er ihm zu seinem vollen Glück gelungen schien, in der Folge so gerne rühmte. Dieser  salto morale,  bei dem er sich freute, wie er alle Mal "wieder fest und gesund auf die Füße zu stehen kam" (5), setzte ihn, nach geschehenem Flug durch die Luft, freilich doch an den Grenzen des Reiches der Mystik auf die Erde nieder, und HAMANN war der Beherrscher dieses Landes, der ihm die Hand zum Willkommensgruß reichte. Es konnte auf diese Weise nicht ausbleiben, daß HAMANN bei gelegentlicher Betrachtung der geleisteten Arbeit zu dem gemeinsam belachten Urteil kam: "Der Anfang historisch, die Mitte metaphysisch, und das Ende wenigstens poetisch." (6) Aber nur so fand der religiöse Positivismus JACOBIs seine endliche Beruhigung und das Lieblingswort HAMANNs war dann auch das seine:
    Wie mag der Schöpfer nicht in seiner Allmacht lachen,
    Wenn sich das Nichts zu Was, und ihn zu Nichts will machen.

2. Die Gesamtpersönlichkeit

JACOBIs persönliches Bild ergibt sich auf diese Weise zwanglos aus einer fast logischen Mischung der hervorstechendsten Charaktermerkmale seiner größten, ihm nahestehenden Zeitgenossen. Eine gewisse, weiche Schmiegsamkeit und Fähigkeit der Anpassung bleibt hierfür die natürliche Voraussetzung. JACOBI selber hat diese Eigentümlmichkeit seiner Natur wohl gekannt.
    "Eine Meinung, Denkungsart, Gewohnheit in die andere zu übersetzen" und "den Sinn zu wittern und aus den verschiedensten Redensarten den Verstand, den sie gemein hatten, herauszuwinden" (7),
das war seine besondere Virtuosität, an der er "bis an sein Lebensende fort zu lernen hatte". (8) Eine solche Denkweise machte ihn "duldsam ohne Mühe". (9) Sie kennzeichnet seine typische Stellung zwischen den philosophischen und den religiösen Gegensätzen und Ausgleichsbestrebungen seiner Zeit. JACOBI war auch darin, als ein Prophet der Genieperiode, ein Vorläufer der Romantik. Das an der begrifflichen Unfruchtbarrkeit des Aufklärungszeitalters erwachte historische Verständnis trug dazu bei, auf diesem Gebiet das Gewordene leidenschaftslos betrachten zu lernen und es in den ersten Versuchen einer spekulativen Geschichtsphilosophie zu verarbeiten. Andererseits ließ der philosophisch-universell bestimmte Charakter seines religiösen Willens, der sich bewußt "genial" und mit einer starken Persönlichkeitsbetonung dem Urgrund des religiösen Erlebens selber entgegenwarf, die Unterscheidungen der dogmatischen Form so weit hinter sich, wie es die zur Mystik neigende, religiöse Verinnerlichung und Welterfassung seit den Tagen des heiligen AUGUSTINUS immer getan hat und in den besten Geistern der Romantik wieder tat. Die besonderen Merkmale statuarischer Gebundenheit verflüchtigen sich in dem auf einer persönlich-religiösen Verabsolutierung des Lebens gestimmten Denken so sehr, daß die befangene Ansicht in solchen Fällen stets, entweder dort eine Hinneigung zum Katholizismus zu argwöhnen, oder hier eine verdächtige Ketzerei zu wittern, geneigt ist. Darin ist es JACOBI nicht anders gegangen, wie dem MEISTER ECKART vor ihm und dem NOVALIS nach ihm; trotzdem er mit dem Recht der bewußten Persönlichkeit seinen Gegnern verkündete, "daß er seiner billigen Denkungsart ungeachtet, doch keineswegs tolerant ist, und durchaus nicht dafür will angesehen sein". Denn ein Mann, der eine solche Toleranz von sich behauptet, der "sagt damit entweder: er sei vollkommen gleichgültig gegen alle Wahrheit, ... oder er redet Unsinn." (10)

Der Begriff der "voraussetzungenslosen Wissenschaft", der schon in jenen Tagen, wenn auch in nicht genau dem gleichen Sinn wie heute, als ein auszeichnendes Merkmal der "geometrischen" Methode hervorgehoben zu werden pflegte, war ihm aus kritischer Einsicht verhaßt, und er bekannte oft:
    "Ich war nicht gleichgültig in Absicht dessen, was zu meiner Erkenntnis kommen möchte, wenn es nur überall Erkenntnis wäre." (11) Und: "Ganz uninteressiert in Absicht des Objekts, muß nicht das Subjekt alles, und wie die Unparteilichkeit an jener Seite vollkommen, so die Parteilichkeit an dieser unendlich werden?" (12)
JACOBI stand in seinen Voraussetzungen fest. Sie wurzelten in seinem Charakter, seinen Gaben und in seiner Erziehung. Sein ganzes Wesen war auf religiöses Erkennen gerichtet, und sein größtes Verdienst wurde es, dessen inhaltliche Unmöglichkeit kritisch nachgewiesen und zugleich die wahren Grundlagen aller Religionsphilosophie, sowie ihre Unabhängigkeit von theoretischen Erkenntniswörtern aufgedecht zu haben. Das tat der kantische Geist in ihm. Mit GOETHE versenkte er sich gern in das anschauliche Sein der Dinge und Menschen und holte sich daraus den sicheren Blick für die innigen Zusammenhänge von Geist und Natur, die ihn vielfach von Einseitigkeiten abhielten, wie sie FICHTE nach der einen, SCHELLING nach der anderen Richtung ausbildeten und nicht selten an seinem Vorbild berichtigt haben. So stand er in mancher Hinsicht tatsächlich über den Parteien und besaß die Ruhe, von der er an HERDER schreiben konnte:
    "Ich möchte Ihnen sagen können, mein lieber  Herder, wie die stille und standhafte Ergebung in das eigentliche Sein der Dinge ... den Mittelpunkt meiner Philosophie und die Seele meines Charakters ausmacht." (13)
Dieses, die Dinge selber reden lassen und ihren Offenbarungen zuhören, als den untrüglichsten Offenbarungen Gottes, schien ihm zuletzt das beste Mittel, um zu überzeugen, ohne zu grübeln. "Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen zu stellen", erschien ihm als der Zweck seiner Philosophie. (14)

Dieser Zweck zog ihn in den Interessenkreis HERDERs, und sein Humanitätsideal, das für seine religionsphilosophische Überzeugung bedeutungsvoll war, erwuchs daraus. Gleichzeitig aber lag in diesem passiven Hinblicken und Hinhorchen auf die eigene Sprache der Dinge und Zeiten für JACOBI der beständige Anreiz zu mystischer Beschaulichkeit, ganz in der Art des MEISTERs ECKART. In dieser Stimmung war er dem befreundeten HAMANN eben recht, und dieser bestärkte ihn darin, aller Grübelei abzusagen. Und mit voller Bereitwilligkeit antwortete ihm JACOBI:
    "Niemand kann Grübelei mehr als ich verachten; aber davon unterscheide ich die freie Anstrengungen des innersten, ursprünglichsten Sinnes." (15)
gelegentlich mit einem etymologischen Wortspiel "Vernunft" nannte: Der Sinn, mit dem ihm gegeben war, die Sprache Gottes in den Dingen und in den Geschehnissen zu "vernehmen". (16) So endete ihm mit innerer Notwendigkeit zumeist jede weiter ausgedehnte, spekulative Betrachtung in rein stimmungsmäßigen Gefühlsgewißheiten; aber es war dann auch jedesmal wieder der theoretische Trieb, der ihn aufs Neue zur Kritik anspornte. Auf diese Weise war das Resultat freilich nicht einheitlich. JACOBI war sich dessen durchaus bewußt. Er für seine Person war dem höchsten und unmittelbarsten Wahrheitswert gegenüber, der sich nach seiner Ansicht in der religiösen Gewißheit verkörperte, stets gebunden durch den Anspruch der philosophischen Kritik, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. So sehr er die reine Hingabe an den religiösen Gegenstand als die einzige Beruhigung empfand, deren die postulierende Vernunft gegenüber dem endlich wahrnehmenden Verstand fähig ist, so blieb ihm dennoch die ersehnte Höhe des unreflektierten, religiösen Lebens versagt. Seine Philosophie war ihm seine Religion (17). Dabei mußte er sich wider Willen bescheiden, und sein theoretisch bedingtes Wesen, das ihm unter den Zeitgenossen den Ruf eines tiefgründigen Philosophen erwarb, fühlte mit unbefriedigter Sehnsucht die Überlegenheit, die in religiösen, also in den für ihn höchsten Dingen, die Kindergläubigkeit des MATTHIAS CLAUDIUS besaß:
    "Sein Christentum ist so alt wie die Welt. Ihm selbst aber ist sein Glaube nicht bloß höchste und tiefste Philosophie, sondern etwas darüber noch hinaus, wie ich es mir auch wohl wünschen könnte, aber nicht zu verschaffen weiß." (18)
Dieser letzte Zwiespalt in der Natur JACOBIs fand keinen Ausgleich. Vielleicht befähigte ihn aber gerade dieser zur Lösung der ihm eigentümlichen Aufgabe: Religiöse Gewißheit kritisch zu rechtfertigen und zu begründen. Nicht mit Unrecht hat ihn unter diesem Gesichtspunkt ein zeitgenössischer Kritiker mit PLATON verglichen (19), mit dem ihm auch der Wille gemeinsam war, die Resultate der Spekulation unmittelbar ins Leben zu tragen, zugleich mit der Überzeugung, daß diese Übertragung möglich und notwendig ist. Der religiös gestimmten Philosophie der Griechen stand er jedenfalls näher, als irgendein anderer Denker des kritischen Zeitalters, KANT eingschlossen, - wenn es gegenüber der neukritischen Platon-Auffassung gesagt werden darf -: nicht zuletzt auch in der charakteristischen Begründung der Erkenntnistheorie und der Sittenlehre durch eine religiöse und geschichtsphilosophische Metaphysik.

Überhaupt ist JACOBIs Gesamtbedeutung für die Geschichte der Philosophie im Ganzen von der Mehrzahl seiner Zeitgenossen besser erkannt worden, als von der späteren Geschichtsschreibung, die ihr Urteil nicht ohne Schaden an SCHELLINGs "Denkmal der Schrift Jacobis von den göttlichen Dingen" orientiert hat. Dieses "Denkmal" hat FRIES sofort nach seinem Erscheinen, als ein "von Herrn Schelling sich selbst gestiftetes Denkmal" bezeichnet; nämlich als ein solches für "die plumpe Grobheit, deren Wirkungen sich alle diejenigen aussetzen, welche selbstdenkend sich nicht den Orakelsprüchen der Naturphilosophen unterwerfen." (20) Ist dies nicht fein, so ist doch auch nicht zu leugnen, daß sich SCHELLINGs Polemik, so hier, wie immer, durch einen höchst unsympathischen Ton persönlicher Gehässigkeit auszeichnet, den JACOBI unter keinen Umständen herausgefordert hatte. (21) Ganz im Gegensatz zu der Medisanz SCHELLINGs, wurde HEGEL der Philosophie JACOBIs, die ja in vieler Hinsicht der seinen um Haaresbreite nahe kam, gerecht, wenn er schrieb:
    "Jacobi hat in der Geschichte der deutschen Philosophie, und da außer Deutschland die Philosophie ganz verkommen und ausgegangen ist, in der Geschichte der Philosophie überhaupt eine bleibende Epoche gemacht." (22)
Er bezeichnet es als
    "das gemeinsame Werk  Jacobis und  Kants, der vormaligen Metaphysik nicht so sehr ihrem Inhalt nach, als ihrer Weise der Erkenntnis, ein Ende gemacht und damit die Notwendigkeit einer völlig veränderten Ansicht des Logischen begründet zu haben." (23)
LITERATUR: Friedrich Alfred Schmid-Noerr, Friedrich Heinrich Jacobi, Heidelberg 1908
    Anmerkungen
    1) FICHTE, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, im Philosophischen Journal, Bd. 5, 1797 (in Fichtes Gesammelte Werke, Bd. I, Seite 434).
    2) JACOBIs Gesammelte Wewrke, Bd. VI, Seite 239.
    3) Gesammelte Werke, Bd. VI, Seite 238f.
    4) GOETHE, Gespräche mit Eckermann (am 11. April 1827).
    5) Vgl. JACOBIs "Briefwechsel", Bd. II, hg. von ROTH, Leipzig 1827: Jacobi an J. Neeb, Seite 466; vgl. auch Gesammelte Werke, Bd. IV, Seite 59.
    6) Hamann an Jacobi am 20. November 1785 (Sämtliche Werke IV, Seite 3)
    7) Sämtliche Werke I, Seite 287.
    8) Sämtliche Werke I, Seite 287.
    9) Sämtliche Werke III, Seite 45.
    10) Sämtliche Werke III, Seite 313f
    11) Sämtliche Werke IV, Vorrede zu den Werken, Seite XIV.
    12) Werke IV, Vorrede, a. a. O., Seite XIV.
    13) JACOBI an HERDER, 22. November 1783 (Werke III, Seite 482)
    14) Werke IV, Vorrede, Seite XLI
    15) JACOBI an HAMANN, 11. Januar 1785 (Werke I, Seite 403)
    16) Deshalb fährt er auch in jenem Brief fort: "... und will man dies Grübelei nennen, so habe ich sogar den Verdacht gegen Hamann, daß er ein gewaltiger Grübler dieser Art ist."
    17) Werke II, Seite XVII
    18) JACOBI an HEINSE, 20. Oktober 1780 (Werke I, Seite 339)
    19) Vgl. die "Allgemeine Literaturzeitung", Jahrgang 1812, Nr. 42, Seite 330f.
    20) ebd. Nr. 56, Seite 441f.
    21) Vgl. dazu u. a. KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie, Jubiläumsausgabe, Bd. III, Seite 714. Warum ich mich dem dort gefällten Urteil nicht anschließen kann, das sollen die folgenden Kapitel berühren.
    22) HEGELs Rezension der Werke JACOBIs erschien in den Heidelberger Jahrbüchern, Jahrgang X, Heft 1, Seite 26f.
    23) HEGELs Rezension, a. a. O.