ra-2 Ernst TroeltschBernhard SchmeidlerHeinrich RickertWilhelm Windelband    
 
PAUL BARTH
Fragen der Geschichtswissenschaft
[2/4]
"Jede Vorstellung eines Einzelnen ist nur so weit historisch, als sie allgemeine Anerkennung findet und dadurch nicht bloß seine, sondern auch der anderen Handlungen bestimmt. Freilich streben alle Vorstellungen, alle Ideen danach, sich zu jener allgemeinen Anerkennung durchzusetzen; es gibt einen Kampf der Ideen ums Dasein, d. h. um Anerkennung, aber nur wenige siegen und nur diese erwerben den auszeichnenden Charakter, Geschichte zu machen, geschichtlich zu sein. Diejenigen Vorstellungen, die im Privatgebrauch bleiben, sind nicht geschichtlich, sie können ja vielleicht später dazu gelangen; solange sie aber nur in einem Einzelnen leben, gehören sie nicht in die Geschichte, sondern in die allgemeine Psychologie und zwar in denjenigen Teil, der die Möglichkeiten individueller Kombination der Seelenvorgänge untersucht. Und ebenso wie mit den Vorstellungen verhält es sich mit den Gefühlen und Willensakten."

"Die Verallgemeinerung ist ein Fahrrad des Erkennens, das auf rauhem, zackigem, mannigfach gestaltetem oder auf schlüpfrigem Boden leicht zu Unfällen führt."

I. Darstellende und begriffliche Geschichte

Und so weist alles darauf hin: Wer einmal einige allgemeine Wahrheiten erkannt und anerkannt hat, der wird auch weiter suchen und suchen müssen, der setzt damit die allgemein gültige Kausalität und die gesetzmäßige Entwicklung voraus, der ergibt sich - nach BELOWs Ausdruck - der "naturwissenschaftlichen Auffassung" der Geschichte.

Es ist eine sehr einleuchtende Wahrheit, an die BELOW (Seite 232) mit SIMMEL erinnert, daß es wegen der Komplexität aller geschichtlichen Erscheinungen keine einheitliche Formel für die gesamte geschichtliche Entwicklung geben kann. Nicht einmal COMTE hat das angenommen, obgleich bei ihm, der von den Naturwissenschaften herkam, dies erklärlich gewesen wäre. Der denkende Betrachter der Geschichte wird noch mehr zugeben, er wird sogar einräumen, daß man zunächst - eben wegen der Vielfältigkeit der überall mitwirkenden Ursachen - von eigentlich kausalen Gesetzen absehen, daß man aber die von JOHN STUART MILL (1) und allen Philosophen nach ihm sogenannten empirischen Gesetze oder noch besser empirischen Gleichförmigkeiten zu finden streben muß.

Wo aber sind diese Gleichförmigkeiten zu suchen? - Die an die Soziologie anknüpfenden Historiker haben mit Recht gefunden, daß der einzelne Mensch nur zum Teil individuell ist, daß die Elemente seines Bewußtseins zum anderen Teil in der herrschenden Weltanschauung, in der er lebt, begründet sind. So unterscheidet LACOMBE (2) am Menschen dreierlei:
    1. den allgemeinen Menschen, den Menschen als Naturwesen, d. h. alle diejenigen Merkmale, die Sache der allgemeinen Biologie (der Anthropologie und Psychologie) sind;

    2. den singulären Menschen, der bestimmte individuelle Merkmale trägt;

    3. den temporären oder historischen Menschen, der nicht nur allgemein menschliche, ewige, auch nicht nur singuläre, nur einmal vorhandene Züge aufweist, sondern solche, die den Menschen eines bestimmten Gebietes und einer bestimmten Epoche gemeinsam, die für ihren Zeitabschnitt typisch sind.
Und dieselbe Dreiheit der Merkmale unterscheidet er an jeder einzigen menschlichen Handlung und an jedem geschichtlichen Ereignis, das ja aus einer oder aus mehreren menschlichen Handlungen besteht.

Es ist nun offenbar, daß das Singuläre, bei jedem Verschiedene, beständig Wechselnde nicht auf einer beständigen Ursache, sondern auf einem beständig veränderlichen Zusammenwirken vieler Ursachen beruth, daß dieses Zusammenwirken so mannigfaltig wie die Individuen selbst ist und wegen der oben erwähnten Komplikation der psychischen Kausalität, von sehr wenigen genau bekannten Persönlichkeiten abgesehen, sich unserer Erkenntnis entzieht, daß aber dasjenige, was an Personen und an Ereignissen typisch ist, was sich an allen oder den meisten Personen eines Landes eine geschichtliche Periode hindurch wiederholt, auf einer alle betreffenden und zugleich dauernden und, weil so oft und in so vielen wirksam, nicht verborgen bleibenden Ursache beruth, nämlich auf einer bestimmten, allgemein verbreiteten Weltanschauung oder einer Einrichtung, die teils aus dieser Weltanschauung, teils aus den einen bestimmten Klasse oder einem ganzen Volk gemeinsamen Bedürfnissen hervorgegangen ist. - Solche Weltanschauungen und Einrichtungen sind, weil Ursachen so vieler Handlungen, auch besonders wichtig. Der denkende betrachter der Geschichte wird sie darum herausheben und in möglichst bestimmten Ausdrücken definieren. Wenn er bei anderen Völkern in gewissen Epochen ähnliche Einrichtungen und ähnliche Weltanschauungen findet, so wird er eine Gleichförmigkeit, d. h. ein empirisches Gesetz aufstellen können, daß in dieser und jener Periode der Geschichte eines Volkes sich dieser oder jener Inhalt der Religion und diese oder jene Einrichtung findet. Es ist dies, wie gesagt, zunächst nur ein empirisches Gesetz, eine Gleichförmigkeit, aber keineswegs wertlos, da es zur Vereinheitlichung des Wissens dient. Je größer die Zahl der Stufen des Völkerlebens ist, durch die hindurch sich die Gleichförmigkeit der Entwicklung nachweisen läßt, desto mehr dient sie der Vereinheitlichung des Wissens, desto mehr erlaubt sie auch Analogieschlüsse von der Entwicklung eines vorausgeeilten Volkes auf ein anderes, das langsamer gegangen ist, Analogieschlüsse, die desto richtiger sein werden, wenn sie neben den Gleichheiten auch die Verschiedenheiten der jedesmaligen Lagen in Rechnung stellen, desto mehr gibt die Gleichförmigkeit den "positiven Nutzen", den BELOW erwähnt und sehr betont.

Nach WINDELBAND, (3) dem BELOW (Seite 239) beistimmt, sind es freilich "nur ein paar triviale Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigsten Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen lassen", was bei solchem Streben herauskommt. Aus dem Zusammenhang, in dem diese Worte stehen, geht hervor, daß WINDELBAND dabei an die "sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus", also an COMTE gedacht hat. Ich will hier nicht über den Wert dieser Geschichtsphilosophie richten, weil es, wie hoch oder wie niedrig dieser sei, nicht billig ist, die Soziologie, die bei COMTE mit der Geschichtsphilosophie identisch ist, endgültig nach ihren ersten Anfängen zu beurteilen. Hätte WINDELBAND an die allgemeinen Wahrheiten gedacht, die, durch COMTE angerecht, die späteren Soziologen von ihm bis zur Gegenwart nach sehr breiter Induktion teils gefunden haben, teils aus den Tatsachen hätten entnehmen können, z. B. an die extensiv und intensiv wachsende Autonomie der Persönlichkeit, wie sie in unserem ganzen Kulturkreis seit dem Erwachen der Persönlichkeit, d. h. seit dem Ende der Gentilverfassung, sich in der Rechtsgeschichte deutlich offenbart, (4) an den überall bei den geschichtlichen Völkern nachweisbaren oder erschließbaren Gang der Religion vom Geisterglauben durch den Animismus, den naturalistischen Polytheismus, die Gesetzesreligion bis zur Religion der Gesinnung, an die nachweisbare stetige Zunahme des Mitleids, die wahrscheinlich auch die Zunahme der Mitfreude einschließt, (5) an die steigende Vergeistigung und Verinnerlichung des künstlerischen Schaffens, wie sie sich trotz vielen vorübergehenden Rückfällen in der Kunstgeschichte darstellt und schon der HEGELschen Unterscheidung der symbolischen, der klassischen und der romantischen Kunst als Tatsachenkern zugrunde liegt, - wenn WINDELBAND alle diese Entwicklungstendenzen und so manches andere, was die nicht bloß in den Naturwissenschaften, etwa in der vergleichenden Anatomie, sondern auch in der Geschichte sehr mächtige vergleichende Methode gefunden hat, seiner Beachtung gewürdigt hätte, so wäre sein Urteil über die von der Soziologie ermöglichten Allgemeinheiten sicherlich anders ausgefallen. Wer die angeführten geschichtlichen Bewegungsrichtungen unbefangen betrachtet, wird ihre Auffindung nicht für trivial halten. Auch nicht für praktisch bedeutungslos. Sie ist nach beiden Seiten, nach der praktischen wie nach der theoretischen, mindestens ebenso wichtig, wie jene obenerwähnte "wissenschaftliche Entdeckung allerersten Ranges" von RANKE (über den Einfluß der auswärtigen Verhältnisse auf die inneren Vorgänge der Staaten), die nach BELOW "alle Entdeckungen der Nationalökonomen und Soziologen, von den modernen Geschichtsklitterern gar nicht zu reden, bei weitem hinter sich läßt" (Seite 240).

Und ärmlich dürfen ja die Allgemeinheiten nicht sein, denn sie sind es ja, von denen BELOW "positiven Nutzen" erwartet. Sie sind in der Tat diejenigen Ergebnisse der Geschichte, aus denen der Politiker seine Schlüsse auf die Zukunft ziehen kann. Solche Schlüsse sind, wie oben bemerkt, solange es sich um empirische Gesetze handelt, bloß Analogieschlüsse, aber auch solche sind für das Leben wertvoll.
    "Ich werde sterben", dieser Schluß ist z. B., wenn man die Erfahrung der Menschheit in Rechnung stellt, ein Induktionsschluß, beruhend auf der seit Jahrtausend gemachten Beobachtung, daß die Menschen gestorben sind. Dem Obersatz dieses Induktionsschlusses hat man sogar ganz allgemeine Form gegeben: "Alles Menschen sind sterblich", obgleich es nur ein empirisches, nicht ein Kausalgesetz ist. Denn die chemischen Ursachen der Sterblichkeit sind unbekannt. Wir haben für jenen Obersatz nur einen Erkenntnis-, nicht einen Realgrund. Für die Beobachtung des Einzelnen aber, wenn man unmittelbare Wahrnehmung verlangt, ist der Schluß "ich werde sterben" nur ein Analogieschluß. Denn aus unmittelbarer Wahrnehmung kennt jeder nur wenige Todesfälle. Was man aber aus nur wenigen Fällen schließt, ist ein Analogieschluß. Und so liegen überhaupt unserem privaten Tun und Lassen neben anderen Arten der Folgerung auch unzählige Analogieschlüsse zugrunde. Es sind also auch bloße Analogieschlüsse keineswegs zu verachten.
Aber freilich noch wertvoller als empirische Gesetze sind die Kausalgesetze. Sie geben eben die konstant wirkenden Ursachen, die hinter den Erscheinungen liegen, sie geben ihren Wirkungsmodus, einige wenige einfache Momente, aus deren Zusammenwirken die komplizierteren empirischen Gesetze abzuleiten sind. Und so wird auch die Geschichte nach den Ursachen ihrer empirisch festgestellten Gleichförmigkeiten suchen. Die Ursachen der menschlichen Handlungen aber sind die Zustände und die Vorgänge in den menschlichen Seelen. Und so muß die Geschichte, die nach Gesetzen sucht, notwendig die Psychologie zur Hilfswissenschaft nehmen.

Hier tritt uns nun die oft wiederholte Behauptung entgegen, auch so, wenn sie Zustände psychologisch erklären will, komme die Geschichte doch zu keinem "naturwissenschaftlichen Verfahren", denn sie kann die jetzt herrschende "naturwissenschaftlich begründete" Psychologie nicht brauchen, sie bedarf vielmehr einer besonderen "historischen" Psychologie.

Diese Ansicht ist mit dem Versuch einer Beweisführung von WILHELM DILTHEY (6) aufgestellt, von anderen als bloße Behauptung ausgesprochen worden. Aber was DILTHEY gegen die "erklärende" Psychologie einwendet, die bei ihm mit der "naturwissenschaftlichen" gleichbedeutend ist, das wird teils ohne weiteres von dieser anerkannt, (7) gibt also keinen Grund für eine neue Wissenschaft ab, teils ist es unzutreffend. Wenn DILTHEY durch die seiner "historischen" Psychologie gegebenen Beiwörter "beschreibend und zergliedernd" den komplexen Charakter jeder geschichtlichen Erscheinung bezeichnen will, der die in den Naturwissenschaften bisweilen mögliche Erklärung aus einem einzigen Prinzip nicht zuläßt, so wird die heutige "naturwissenschaftliche" Psychologie dies ohne weiteres zugeben. Was aber den von DILTHEY gegen sie gleichfalls behaupteten Gebrauch allzu vieler Hypothesen betrifft, so hat HERMANN EBBINGHAUS (8) diesen Vorwurf genügend entkräftet. Die gegenwärtige induktiv und so weit möglich, experimentell arbeitende Psychologie hat weniger Hypothesen, als die psychologischen System der Vergangenheit, deren einem ihre Gegner doch anhängen müssen.

Was man mit Recht historische Psychologie nennt, unterscheidet sich von der allgemeinen wissenschaftlichen Psychologie nicht anders, als die Meteorologie von der Physik. Es ist einfach eine Anwendung der allgemeinen Wissenschaft, um aus ihren Gesetzen komplexe Erscheinungen zu erklären. Wie es aber niemandem einfallen wird, aus einer Anwendung der Physik, der Meteorologie, eine besondere Art der Physik zu machen, so sollte auch niemand aus einer Anwendung der Psychologie eine besondere Art der Psychologie machen wollen.

Nicht, daß man ohne weiteres die physikalischen Gesetze auf die Erscheinungen des Wetters übertragen könnte. Auch hier bedarf es neuer Induktion, vielleicht neuer, im Laboratorium nicht vorkommender Untersuchungsarbeiten. Das DOVEsche Gesetz der Winddrehung ist nicht durch Deduktion aus bekannten physikalischen Gesetzen, sondern aus den beobachteten Tatsachen gefunden worden. Aber es ist, nachdem es als empirisches Gesetz gefunden war, nach den allgemeineren Gesetzen der Physik aus der Mechanik der Luftströmungen und der Erddrehung erklärt worden. Kein Meteorologe wird sich seine besondere "Physik" machen, sondern sich durch das Studium der allgemeinen Physik für sein besonderes Fach vorbereiten.

Und genau so verhält es sich mit der Anwendung der Psychologie auf die Geschichte. Der künftige wissenschaftliche Historiker wird Psychologie studieren und zwar die einzige, die es gibt, nicht eine vermeintliche "historische", von der immerfort gesprochen wird, aus der aber noch keiner ihrer Sachwalter eine etwa der wissenschaftliche Psychologie nicht bekannte oder nicht zugängliche Wahrheit gelehrt hat.

Der Psychologe wird natürlich - und das ist einer der den Anwälten der "historischen Psychologie" vorschwebenden Unterschiede, ihr logischer Beweggrund - nicht vergessen, daß die seelischen Vorgänge einen anderen Charakter annehmen, wenn sie nicht mehr individuell, sondern einer Menge, vielleicht einer bestimmt abgegrenzten Menge, einem Volk oder einer Staatsgemeinde innerhalbe eines Volkes oder einem anderen größeren Kreis gemeinsam sind. EUGÉNE de ROBERTY (9) hat, um die Annahme eines besonderen sozialen "Psychismus" im Gegensatz zum seelischen Einzelleben zu stützen, darauf aufmerksam gemacht, daß ein Wassertropfen ein anderes physikalisches Verhalten aufweist als eine Wassermasse; er hätte mit noch größerem Recht darauf hinweisen können, daß Wasser in feinen Röhren, sogenannten Kapillarröhren, sogar bis zu einem gewissen Grad von der Schwerkraft unabhängig ist und Eigenschaften zeigt, die es in weiteren Röhren durchaus nicht hat. Aber die auffällige Tatsache der Kapillar-Attraktion begründet durchaus keine besondere Art der Physik, sondern sie wird schließlich den allgemein anerkannten physikalischen Begriffen und Gesetzen untergeordnet.

Ebenso zeigen seelische Prozesse und Zustände, die der Menge gemeinsam sind, andere Erscheinungen als diejenigen, die auf den Einzelnen beschränkt sind. Sind es Vorstellungen über objektive oder sittliche Verhältnisse, so haben sie eben dadurch, daß sie vielen gemeinsam sind, schon eine größere Überzeugungskraft, die der Vorstellung eines Individuums fehlt. Führen die gemeinsamen Vorstellungen zu Handlungen, so haben diese Handlungen eine viel stärkere Suggestionskraft, weil sie öfter wiederholt werden, als die eines Einzelnen; sie werden, solange nicht die allmählich gegen den Reiz sich geltend machende Ermüdung und Abstumpfung wirkt, viel kräftiger zur Nachahmung anregen, als was nur von  einem  geschieht. Sie sind darum die Handlungen, die Macht gewinnen, die das Leben des Volkes ausmachen und gestalten, die "historischen" Handlungen. Und jede Vorstellung eines Einzelnen ist nur so weit historisch, als sie allgemeine Anerkennung findet und dadurch nicht bloß seine, sondern auch der anderen Handlungen bestimmt. Freilich streben alle Vorstellungen, alle Ideen danach, sich zu jener allgemeinen Anerkennung durchzusetzen; es gibt einen Kampf der Ideen ums Dasein, d. h. um Anerkennung, aber nur wenige siegen und nur diese erwerben den auszeichnenden Charakter, Geschichte zu machen, geschichtlich zu sein. Diejenigen Vorstellungen, die im Privatgebrauch bleiben, sind nicht geschichtlich, sie können ja vielleicht später dazu gelangen; solange sie aber nur in einem Einzelnen leben, gehören sie nicht in die Geschichte, sondern in die allgemeine Psychologie und zwar in denjenigen Teil, der die Möglichkeiten individueller Kombination der Seelenvorgänge untersucht. Und ebenso wie mit den Vorstellungen verhält es sich mit den Gefühlen und Willensakten.

Aber die Tatsache, daß es eine besondere, ausgezeichnete Art von Vorstellungen und Gefühlen gibt, die  geschichtlichen,  begründet keine besondere Psychologie. Es läßt sich ja der besondere Charakter der geschichtlichen Vorstellungen und Gefühle durchaus mit den Mitteln der am Individuum beobachteten wissenschaftlichen Psychologie analysieren und begreifen. Die Begriffe der Suggestion, der Abhängigkeit der Empfindung und des Gefühls einer Dauer (10), die Begriffe der Übung, der Ermüdung und Abstumpfung, alle diese und andere genügen, um eine geschichtliche Bewegung zu erklären, wie die im kleinen Laboratorium gewonnenen Ergebnisse genügen, um die große Naturerscheinung eines Gewitters zu begreifen.

Wer einmal psychologisch gründlich gearbeitet hat, der hat damit auch eine Vorbildung für die Erkenntnis großer geschichtlicher Erscheinungen gewonnen. Und umgekehrt, wer geschichtliche Erscheinungen beobachtet hat, der wird gewisse Gleichförmigkeiten, empirische Gesetze zu finden, deren letzte Erklärung ihm nur die Psychologie gibt. Betrachten wir ein Beispiel des letzten Falls.

Jedem denkenden Historiker ist gewiß oft genug die Tatsache aufgefallen, daß zum Teil die Erscheinungen des äußeren Lebens, die Politik und die Wirtschaft, noch mehr aber, sogar fast ausnahmslos diejenigen des inneren Lebens, der Philosophie, der Künste, der Wissenschaft, auch der Religion - innerhalb eines bestimmten Kulturkreises - in ihrer Abfolge sich in Kontrasten bewegen, daß eine Richtung herrscht, eine ihr entgegengesetzte auftritt, zuerst unbeachtet bleibt, aber gerade durch ihren Gegensatz bei einigen desto stärkeren Eindruck macht, bis sie allmählich alle gewinnt und sich gegenüber der alten Richtung durchsetzt, um ihrerseits zu herrschen. Das ist zunächst ein empirisches Gesetz, eine bloße Gleichförmigkeit. Indem aber WILHELM WUNDT die wirkende Ursache, die auch in der individuellen Psychologie wirkende "Kontrastverstärkung" aufwies (11), war er berechtigt, dieses "Gesetz der historischen Kontraste" als ein kausales zu betrachten und es den anderen beiden von ihm formulierten historischen Gesetzen, dem der historischen Resultanten und dem der historischen Relationen, an die Seite zu stellen. Nebenbei bemerkt, - diese "historischen Gesetze" WUNDTs sind so allgemein, so sehr psychologisch zugleich, weil sie eben kausale, nicht empirische Gesetze sein wollen und darum, wie oben erwähnt, auf die konstante Ursache aller Geschichte, auf die menschliche Seele zurückgehen müssen.

Man kann ja nun das Gesetz (oder Prinzip) der Kontrastverstärkung alltäglich an seiner eigenen Seele erfahren. Eine niedrige Temperatur, in die wir plötzlich eintreten, wird sehr lebhaft gefühlt, wenn wir aus einer höheren kommen, während sie nach einiger Übergangszeit ganz indifferent ist. Jede Süßigkeit wirkt umso mehr, je bitterer der vorher gekostete Gegenstand war. Aber noch intimer, noch viel anschaulicher wird derjenige das Gesetz der Kontrastverstärkung kennen lernen, der es im Laboratorium studiert. Er wird die eigentümliche Wirkung des Kontrastes alltäglich auf allen Sinnesgebieten, bei den Farben, von denen die kontrastierenden sich gegenseitig abheben, bei den Tönen, sowohl wenn es sich um Schallstärken als auch wenn es sich um die Beurteilung der Tonhöhe handelt, beim Geschmack, beim Geruch, beim Tastsinn, beim Zeitsinn und ebenso wie bei den Empfindungen auch bei den Gefühlen erfahren und von der Wichtigkeit des Kontrastes ein noch viel lebendigeres Bild als der bloße Gelegenheitspsychologe erlangen.

Und so wird der experimentelle Psychologe im Mikrokosmos seiner Werkstatt ausgerüstet für das Verständnis des Makrokosmus der Geschichte. Denn das Gesetz der Kontrastverstärkung spielt in diesem eine große Rolle. Es erklärt uns allerlei Abweichungen von der zu erwartenden, weil schließlich allein dauerhaften, richtigen Mitte, wie sie in der Geschichte infolge der Ablenkung des sachlichen Denkens durch das Gefühl regelmäßig vorkommen, sich in der Wissenschaft in Zukunft vielleicht vermindern, im Leben aber (trotz SPENCERs Ideal eines Gleichgewichtszustandes) ihren Schauplatz nur von der äußeren Welt mehr in die innere verlegen werden.
    In der griechischen Philosophie z. B. ist der Kynismus allein aus dem psychologischen Gegensatz gegen den Eudämonismus des SOKRATES und PLATO und den Hedonismus der Kyrenaiker zu erklären. Und zwar war es eben mehr die psychologische Wirkung, die der Begriff der Bedürfnislosigkeit hervorrief, als die äußere Lage, was viele zum Kynismus trieb. Die Kyniker sind keineswegs alle arm, sondern manche sehr wohlhabend. (12) Noch wichtiger aber ist das Prinzip der verstärkenden Kontrastwirkung für die Erklärung der intensivsten geistigen Bewegung, die es bisher gegeben hat, der Ausbreitung des Christentums. Der tiefe Eindruck, den es auf die Menschen der römischen Kaiserzeit machte, ist nur zu aus dem vollen Gegensatz zu verstehen, in den es zu ihrer Weltanschauung trat. Dem orthodoxen Judentum gegenüber setzte es eine Bewegung fort, die schon lange bestand, die dem Gesetz und dem Opfer die Tugend und zwar besonders die Gerechtigkeit entgegenstellte. Die Lehre der Evangelien und des PAULUS betont dem Gesetz gegenüber die Gesinnung. Noch mehr aber als zum Judentum tritt sie zum Römertum in Widerspruch. Gegen das "regere imperio populos" [Herrschaft über das Volk - wp] und "debellare superbos" [die Hochmütigen niederschlagen - wp], das VIRGIL als Mission der Römer preist, heißt es: "Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen". Gegen den Kaiser CALIGULA, der sich JUPITER LATIARIS nannte und die anderen Cäsaren, die nach ihrem Tod göttlich verehrt wurden: "Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes heißen." Gegen den Materialismus und die Genußsucht des Römertums, gegen sein "rem augere" [Sachen mehren - wp]: "Sammelt euch Schätze, die weder Motten noch Rost fressen," und Empfehlung der Askese (MATTHÄUS 19,12). Gegen die Verachtung des Armen, der nach römischer Anschauung immer ruchlos sein muß, nie z. B. die Wahrheit schwur (13): "Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme." Vgl. auch 1. Kor. 1, 28: "Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt." Gegen die hellenische Hochschätzung des Forschens und Wissens (ARISTOTELES: e theoria to edioton kai ariston [Die theoretische Betrachtung ist das Angenehmste und Beste - wp]): "Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache" (1. Kor. 1, 27) Vgl. auch 1. Kor. 3,19. Auch gegen die Geringschätzung der Kinder, wie sie sich in der von AUGUSTUS vergeblich bekämpften römischen Neigung zur Ehelosigkeit offenbart, nicht minder in der unbeschränkten patria potestas [Macht des Familienoberhauptes - wp], die dem Vater erlaubt, das Kind auszusetzen, zu töten oder dreimal zu verkaufen, die Hochschätzung der Kinder, wie sie in MATTHÄUS 19,14 bzw. MARKUS 10, 14-16 und LUKAS 18, 16 und 17 ausgesprochen wird. Gegen die römische Todesfurcht, wie sie uns z. B. bei HORAZ entgegentritt: "Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg!" Gegen den römischen Kultus der Gewalt, die auch vor der religiösen Überzeugung der Unterworfenen nicht Halt machte, der Glaube an die Macht der Ideen, Abneigung sogar gegen diejenige Gewalt, die nicht das Gute, sondern das Schlechte unterdrücken will: "Widerstrebet nicht dem Übel!" "Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er zu Schanden mache, was stark ist" (1. Kor. 1, 27). So also eine völlige "Umwertung aller Werte", wie NIETZSCHE mit Recht sagt, aber zugleich durch den Widerspruch eindrucksvoll. Wenn man die verstärkende Kontrastwirkung nicht in Rechnung zieht, so steht man vor der Geschichte der ersten christlichen Jahrhunderte wie vor einem Rätsel.
Und so wie hier das Prinzip der verstärkenden Kontrastwirkung, so wird die wissenschaftliche Geschichte auch andere psychologische Gesetze, z. B. das Gesetz der schöpferischen Synthese und das des Wachstums der psychischen Energie (14) heranziehen, um die durch Induktion gefundenen, bloß empirischen Gesetze in kausale zu verwandeln. Es gibt also neben der darstellenden noch eine zweite Geschichtsschreibung, die nicht das Einzelne, Vorübergehende, sondern das Allgemeine, Zuständliche im Auge hat, seine Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten im Wechsel der Zeiten und der Völker bestimmt und möglichst kausal zu verknüpfen sucht. Wie die darstellende Geschichte der Kunst, so ist diese zweite in ihrer erkenntnistheoretischen Struktur der beschreibenden und erklärenden Wissenschaft gleich. Indessen wäre es zu ihrer Kennzeichnung ungenügend, diese zweite Art beschreibend und erklärend zu nennen. Denn die darstellende Geschichte beschreibt und erklärt auch, nämlich die einzelnen Ereignisse und die geschichtlichen Taten. Auch "wissenschaftliche Geschichte" ist kein empfehlenswerter Name, da er auf die darstellende den Schein werfen könnte, daß sie unwissenschaftlich sei. So ist es am besten, sie "begriffliche Geschichte" zu nennen. In dem Beiwort "begrifflich" liegt beides: daß sie auf das Allgemeine, nicht auf das Einzelne ausgeht und daß sie nach Möglichkeit eine Verbindung unter den Begriffen, ein System zu geben sucht. Da es sich bei ihr immer um die Formen der Gesellschaft und die verschiedenen Seiten des sozialen Lebens handeln wird, so wäre es sachlich noch treffender, sie "soziologische Geschichte" zu nennen. Indessen der erkenntnistheoretische Gegensatz zu der anderen Art, der doch wichtig ist, wird durch das Beiwort "begrifflich" besser bezeichnet.

Diese begriffliche Geschichte ist es, die LAMPRECHT in seinen programmatischen Schriften immer im Auge hat. Er stellt sie (Seite 48f) als Wissenschaft schlechthin der anderen Art der Geschichte, als der Kunst gegenüber. Sein Programm ist zweifellos so berechtigt, wie das menschliche Denken überhaupt. Mit Recht gründet er es auf die Natur des Urteils. Denn wenn wir auch Einzelurteile fällen, von wissenschaftlichem Wert sind nur die allgemeinen, so daß es einen Logiker gibt, KRISTIAN KROMAN (15), der die Einzelurteil aus der Wissenschaft überhaupt ausschließt.

Nur eine Ergänzung ist zu LAMPRECHTs Ausführungen nötig. Er unterscheidet nicht genügend zwischen empirischen und kausalen Gesetzen. Dieser Unterschied schwebt ihm nur unbestimmt vor, wenn er meint (Seite 19), daß "vom schlechthin Individuellen eine unendliche kontinuierliche Stufenfolge hinaufführt zum erfahrungsmäßig ausnahmslos Generellen". Die empirischen Gesetze bilden eben für die Erkenntnis die Mittelglieder zwischen den Einzeltatsachen und den Kausalgesetzen. Mit dieser Unterscheidung der empirischen und der kausalen Gesetze erledigt sich auch die Frage der Differenz zwischen "Entwicklung und gesetzmäßiger Entwicklung", die LAMPRECHT (Seite 26f) berührt. Beruth eine Entwicklung auf einem empirischen Gesetz, ist sie bloß ein bei mehreren Völkern nachgewiesenes Nacheinander, dann ist sie weniger gewiß als eine solche, die auf ein psychologisch kausales Gesetz zurückgeführt ist. Nur die letztere ist eine gesetzmäßige im strengsten Sinne.

Wie LAMPRECHT in der "Deutschen Geschichte" sein Programm ausgeführt hat, ist hier nicht die Frage und müßte außer Betracht bleiben, selbst wenn es nicht über meine Zuständigkeit hinausginge. In der Konstruktion seines Ideals der Geschichtsschreibung ist er einheitlicher und folgerichtiger als BELOW. Auch BELOW wäre folgerichtig und unanfechtbar, wenn er das Wesen der Kausalität schärfer erfaßt und an der darstellenden Geschichte mit bewußter Beschränkung festgehalten hätte. Indem er aber durch die "allgemeinen Wahrheiten" von "sehr positivem Nutzen" der anderen Richtung Zugeständnisse mach, gerät er ins Schwanken. Dieses Schwanken zeigt, daß man die darstellende Geschichte als sein Ideal anerkennen, der begrifflichen aber doch nicht entbehren kann.

Vielmehr sind beide Arten der Geschichte, sowohl die darstellende wie die begriffliche, gleich notwendig. Sie ergänzen sich genau so wie  Anschaung und Denken.  Und wie nach KANT Anschauungen ohne Begriffe blind, Begriffe ohne Anschauungen leer sind, so ergeben erst beide Arten zusammen die Erkenntnis der Vergangenheit. Das Verhältnis ist nicht gleich, aber ähnliche, wie das zwischen den beschreibenden und den erklärenden Naturwissenschaften. Der beschreibende Naturforscher richtet sich, wie der darstellende Historiker, zunächst auf die Tatsachen und möchte nichts als ihr reiner Spiegel oder, wenn notwendig, ihr Mikroskop mit achromatischer Linse [Kombination aus zwei Linsen - wp] sein. Aber dazu wäre nur ein Gott imstande; der Mensch muß mit Begriffen an die Dinge herangehen, nach denen er einzelne Merkmale als wichtigere vor der Fülle der anderen, als der weniger wichtigen, bevorzugt. Wer etwa die Pflanzen beschreiben will, der muß gewisse bei allen in abgestufter Mannigfaltigkeit vorkommende Merkmale zugrunde legen und nach ihnen eine Systematik aufstellen, mit der er die unbegrenzte Menge der Erscheinungen bewältigt, wie z. B. LINNÉ die Zahl und die Form der Staubgefäße und die Gestalt des Stempels zu Grundlagen seiner Systematik gewählt hat. Diese Auswahl jedoch der wesentlichen Merkmale kann nicht geschehen ohne Rücksicht auf ihren physiologischen Wert, bedeutet also eine Anleihe bei einer erklärenden Naturwissenschaft, der Pflanzenphysiologie. Und umgekehrt wird natürlich diese den Ergebnissen der beschreibenden Wissenschaft volle Beachtung schenken, da sie ihr Material liefern und Fragen stellen.

So sind beide Arten der Geschichte jedem Forscher unentbehrlich. Ein Rangstreit zwischen ihnen wäre ebenso verkehrt und ebenso überflüssig, wie etwa ein Rangstreit zwischen Kunst und Wissenschaft. Freilich der Philosophie als dem Streben nach allgemeiner, darum begrifflicher Erkenntnis, wir die begriffliche Geschichte näher sein als die darstellende. In diesem Sinne schrieb ich in einem der Philosophie (!) der Geschichte gewidmeten Buch: "LAMPRECHTs Ansicht hat so sehr die Kraft der Wahrheit für sich, daß ihre Gegner sich kaum noch zu verteidigen vermögen, dagegen Annäherungen an sie sich unwillkürlich aufdrängen." Unter den Gegner meinte ich diejenigen, die nur die darstellende Geschichte anerkennen wollen. Daß diese unwillkürlich bei Gelegenheit in die andere Art übergehen, hat BELOW selbst in seiner Abhandlung, vielleicht wider Willen, bewiesen.

BELOW meint (Seite 245): "Eine wahre Verflachung der historischen Betrachtung bewirkt die naturwissenschaftliche Auffassung". Die naturwissenschaftliche, die mit dem naturwissenschaftlichen Kausalbegriff arbeitet, ganz gewiß, da er hier unberechtigt ist, wie oben erwiesen wurde. Und selbst die wissenschaftliche Auffassung, deren Notwendigkeit ich zu erhärten suchte, kann zur Verflachung führen. Die Verallgemeinerung ist ein Velociped [Fahrrad - wp] des Erkennens, das auf rauhem, zackigem, mannigfach gestaltetem oder auf schlüpfrigem Boden leicht zu Unfällen führt. Aber genau ebenso kann die Auffassung, die BELOW verteidigt, zur Verflachung führen, zu gedankenloser und nutzloser Anhäufung von Einzelheiten.

Überhaupt, die begriffliche Art der Geschichte "naturwissenschaftlich" zu nennen, ist falsch. Ihre Methoden sind allerdings naturwissenschaftlich, wie diejenigen jeder Wissenschaft. Aber ihre Begriffe sind nicht naturwissenschaftlich, wenigstens bei keinem Forscher, der sich an die moderne Psychologie hält. Diese weiß wohl, daß für die Welt des Geistes, der sich in der Geschichte offenbar, vor allem nicht derselbe Begriff der Kausalität gilt, den die Naturwissenschaft teils als gültig nachgewiesen hat, teil, wo es noch nicht gelungen ist, doch - bei aller Anerkennung der Ungleichheit der Qualität der Vorgänge für die Anschauung - als gültig nachzuweisen strebt, nämlich den, der die quantitative Gleichheit von Ursache und Wirkung einschließt, daß auch andere Begriffe der Naturwissenschaft nur für die untermenschliche Welt gelten, z. B. der Kampf ums Dasein mit rein physischen Mitteln, Fortschritt durch natürliche Zuchtwahl allein, Allmacht der physischen Umgebung usw. Wenn man also nicht etwa jede Wissenschaft überhaupt Naturwissenschaft nennen will, so hat es keinen Sinn, die begriffliche Geschichte so zu nennen. (16) Sie hat ja ein anderes Stoffgebiet, als die Naturwissenschaft und das macht die Selbständigkeit der Geschichte aus, für die BELOW fürchtet, nicht die Methode, die ihr mit anderen Wissenschaften gemeinsam sein muß. Ein Muster der begrifflichen Geschichte hat HYPOLYTE TAINE in seinen "Origines de la France contemporaine" gegeben. Nichts beleuchtet den Gegensatz beider Arten der Geschichtsschreibung besser, als sein Verhältnis zu CARLYLE. Dieser gibt beides, die alte Regierung wie die Revolution, in Einzelbildern: Krankheit und Tod LUDWIGs XV., Aufsteigen der Motgolfiére, die Petition in Hieroglyphen vom Jahre 1775 usw. TAINE hingegen gibt eine begriffliche Darstellung der Zustände, der Sitten, der Art der Regierung, der Lebensansichten mit Statistik und Psychologie, Eigennamen und Einzelfälle aber nur zur gelegentlichen Veranschaulichung des Allgemeinen. Daß TAINE eine "Verflachung der historischen Betrachtung" bewirkt habe, kann ich durchaus nicht finden. Wer es behauptet, der nenne erst einen Geschichtsschreiber, der das ancien régime so vor Augen führt, wie TAINE. TOQUEVILLE hat nur Vorarbeiten geliefert.

Kaum einem bedeutenden Geschichtsschreiber ist jemals die begriffliche Geschichte, die wie jedes System von Begriffen Notwendig zu einer Geschichtsphilosophie führt, fremd gewesen. Jeder ist mit einer geschichtsphilosophischen Anschauung an die Erscheinungen herangetreten und hat - oft mehr instinktiv als bewußt - das ausgewählt, was im Lichte seiner Anschauung bedeutend war. Ja, wie oben bemerkt, eine reine Beschreibung ohne zugrunde liegendes Begriffssystem ist unmöglich. Die Anwälte der begrifflichen Geschichte - zu denen, weil sie allein nicht bloße  Kenntnisse,  sondern  Erkenntnisse  gibt, die Philosophen notwendigerweise immer gehören müssen, ohne die Unentbehrlichkeit der darstellenden leugnen zu wollen - wünschen schließlich nur, daß das, was bisher mehr unbewußt geschehen ist, künftig mit mehr Bewußtsein, mit mehr philosophischer Besinnung geschehe. Und wie die philosophische Besinnung, nach langer Verachtung der Philosophie, durch HELMHOLTZ wieder zu Ehren gebracht, der deutschen Naturwissenschaft nichts geschadet hat, so wird sie auch sicherlich der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung keineswegs zum Schaden gereichen.
    Die instinktive Rücksicht auf die Forderungen der begrifflichen Geschichte, die die bisherige Geschichtsschreibung genommen hat, habe ich auch in meinem oben angeführten Buch genügend anerkannt. Es heißt dort Seite 217: "Der Einzelne als solcher ist nicht Gegenstand der Geschichte, sondern der Naturgeschichte. Tatsächlich hat die bisherige Geschichtsschreibung das auch instinktiv erkannt. Denn ein Individuum, das weder typisch noch führend war, ist ihr nie ein würdiger Gegenstand gewesen." Wenn BELOW (a. a. O. Seite 223 in der Anmerkung) mir zum Vorwurf gemacht hat, daß ich MAX LEHMANNs Ansichten von der Bedeutung des Einzelnen nach dem in der Zeitschrift für Kulturgeschichte, 1894, erschienenen Referate wiedergebe, so kann ich diesen Vorwurf durchaus nicht als berechtigt anerkennen. Woher soll ich denn wissen, daß MAX LEHMANN jenes Referat nicht anerkennt? Wenn es falsch ist, so hatte er doch vom Jahre 1894, wo es erschien, bis zum Jahre 1897, wo ich es benutzt habe, Zeit, es zu berichtigen. Das ist aber sogar bis zum Sommer 1898 nicht geschehen, obgleich LAMPRECHT in der "Zukunft" vom 7. November 1896 und zum zweitenmal in der vom 5. März 1898 es in die öffentliche Diskussion gezogen hatte. Denn auch Below sagt von jenem Referat bloß (Seite 221): "Ob zuverlässig ist, muß dahingestellt bleiben". Was würde wohl BELOW einem Kritiker antworten, der ihm mit dergleichen Vorhaltungen käme? Außerdem ist LEHMANN nicht der einzige "Individualist", es kommen noch diejenigen hinzu, die von BOURDEAU angeführt werden. Wenn ferner BELOW in meinem Buch SAVIGNY, überhaupt die historische Rechtsschule, die romantische Schule, von den neueren MERKEL, SCHMOLLER, EDUARD MEYER, HINNEBERG; BUCHHOLZ vermißt, auch SYBEL und DROYSEN nicht gewürdigt findet, so erlaube ich mir, ihn auf mein Vorwort hinzuweisen, in dem es heißt: "In der Geschichtsphilosophie, die gemäß ihrer bisherigen Trennung von der Soziologie meist einseitige Ansichten der Geschichte hervorgebracht hat, habe ich nur die letzten Theorien, die heute noch lebendig sind, zusammengestellt". Also SAVIGNY und die historische Rechtsschule, selbst wenn sie eine eigene tiefere Geschichtsphilosophie darstellten, was nicht der Fall ist, zu behandeln, war gar nicht meine Aufgabe. Denn ich wollte mich ja auch die Gegenwart beschränken. Woraus erschließt also BELOW meine Unkenntnis SAVIGNYs? Ebensowenig war es meine Aufgabe, die anderen genannten Autoren alle durchzugehen, da sie keine ausgeführte  einseitige  Geschichtsphilosophie, wie sie allein in mein Thema fiel, vertreten. Daß sie hier und da eine geschichtsphilosophische Bemerkung machen, mag sein; der Vollständigkeit wegen werde ich, wenn ich die Frage der individualistischen oder kollektivistischen Aufgabe der Geschichte noch einmal bespreche, auch ihre etwaigen Beiträge dazu heranziehen. Daß ich etwas Wesentliches übersehen habe, bestreite ich. Der Streit SCHÄFERs und GOTHEINs z. B., der die wesentlichste Divergenz der deutschen Geschichtsschreiber darstellt, ist genau berichtet. DROYSEN will in seiner "Historik" gar keine Geschichtsphilosophie, sondern eine "Methodologie" geben. RANKEs Ideen werden nicht bloß nach "LAMPRECHTs Rezept" dargestellt, sondern ebensosehr nach dem von O. LORENZ, was BELOW übersehen zu haben scheint. LORENZ ist dreimal zitiert. Übrigens habe ich einen Unterschied in den beiden Darstellungen nicht entdecken können. Es scheint also, als ob auch LORENZ bei RANKE über die "Ideen" nicht das gefunden habe, was nach BELOW seine wahre Meinung ist. Und so werde ich allerdings künftig bei RANKE selbst Belehrung suchen.

    Wenn übrigens BELOW fragt: "Wie kann nur ein Philosoph bei LAMPRECHT in die Schule gehen?" so ist das eine arge petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp]. Denn woher weiß den BELOW, daß ich bei LAMPRECHT in die Schule gegangen bin? Meine Ansicht über die Aufgaben der Geschichte habe ich schon im Herbst 1893 vorgetragen, ehe ich mit LAMPRECHT ein Wort gesprochen und etwas anderes als sein "Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter" gelesen hatte. Ich bin also genau ebenso bei LAMPRECHT in die Schule gegangen, wie BELOW selbst, der dieses Werk ebenfalls studiert hat und sich teilweise anerkennend darüber ausspricht. LAMPRECHT ist in demselben Maße mein Mentor gewesen, wie seiner und wie ich BELOW selbst (in Bezug auf seine von LAMPRECHT abweichende Ansicht über die Frage der Entstehung der Landesherrschaft) künftig gerne zum Mentor nehmen, d. h. zur Belehrung über jene Frage berücksichtigen werde. Meine Übereinstimmung mit LAMPRECHT über die Aufgabe der begrifflichen Geschichte ist durchaus das Ergebnis meines eigenen Nachdenkens und der logischen Notwendigkeit des von LAMPRECHT konstruierten Ideals der Geschichtsschreibung. In manchen Einzelfragen, z. B. in der Auffassung des Begriffes "Kultur", weiche ich von ihm ab. Ebensowenig habe ich mich seiner Annahme eines strengen Parallelismus der Veränderungen der geistigen und der materiellen Kultur, den er anscheinend für allgemein hält, irgendwo angeschlossen.

    Wenn endlich BELOW (Seite 228) sagt: "Die Art wie BARTH die individualistische Geschichtsauffassung bekämpft, wird ihm und LAMPRECHT wenig Anhänger gewinnen. Interessant ist es, daß er sich veranlaßt sieht, mehr für als gegen die Bedeutung der Persönlichkeit im geschichtlichen Verlauf zu sprechen", so klingt dies, als ob in meinen Ausführungen ein Widerspruch enthalten wäre, und ich, unachtsam genug, gar nicht merkte, daß ich mich selbst erwürge. Indessen meine Auffassung ist durchaus ohne Widerspruch. Aufgabe der geschichtlichen Wissenschaft sind die Taten, Leiden und Ideen der Massen. Wie viel aber davon der "große Mann" verursacht, das ist die Frage. LAMPRECHT, wie TAINE und andere, nahm bloß seine graduelle Verschiedenheit von den anderen an; ich suchte zu erweiesn, daß diese notwendig auch zur qualitativen Verschiedenheit führe. Damit ist noch nicht gesagt, daß die großen Männer als Einzelne Gegenstand der Geschichte werden. Denn die Aufgaben werden ihnen vom Leben der Massen, der Gesellschaft gestellt, sie können, wie E. MEYER bei BELOW (Seite 221) sagt, nur "erfassen, was in den gegebenen Verhältnissen erreichbar ist." Also um die Ausgangspunkte ihres Wirkens zu erkennen, muß man jedenfalls die allgemeinen Zustände ins Auge fassen. Mithin ordnet sich das Wirken selbst des Größten in den ganzen geschichtlichen Verlauf ein und die Reihe, die er vorfindet, die Ergebnisse der Arbeit von hunderten von Generationen, ist jedenfalls länger, als das Stück, das er, mag er noch so genial sein, in der kurzen Zeit seines Lebens hinzufügen kann. - Also von einem Widerspruch ist gar keine Rede. Indessen muß ich anerkennen, daß BELOW meine Bemerkungen, die sich auf das Verhältnis des "großen Mannes" zu seiner Umgebung beziehen, gelesen hat, während LUDWIG STEIN (17) sie nicht gelesen hat und infolgedessen schreibt: "Die Rolle der ästhetischen Anschauung, auf welche PAUL BARTH das geschichtliche Individuum beschränken möchte, wird seiner Bedeutung nicht im entferntesten gerecht". Wenn man ihn wörtlich versteht, so habe ich behauptet, daß das Individuum nichts weiter zu tun habe, als ästhetisch anzuschauen, die Weltgeschichte also ein mit Liebhabern angefüllter Kunstsalon sei. Aber das ist nur falsches Deutsch von STEIN. Er meint offenbar, nur für die ästhetische Betrachtung habe nach meiner Ansicht der Einzelmensch, auch der "große Mann", eine Bedeutung. Das habe ich nirgends gesagt, auch nicht Seite 6, die er anführt. STEIN lese gefälligst Seite 2 und Seite 217f. Dann wird sich etwas anderes ergeben.


LITERATUR - Paul Barth, Fragen der Geschichtswissenschaft, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) JOHN STUART MILL, Logik III, 5. Kap., § 8 und Kap. 22
    2) LACOMBE, L'histoire comme science, Paris 1894
    3) WILHELM WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft, Rektoratsrede, Straßburg 1894, Seite 21
    4) Vgl. H. S. MAINE, Ancient Law, am Ende des 5. Kapitels. Auch meine Abhandlung: Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Seite 82f
    5) Vgl. meine Abhandlung: Die Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Seite 96 - 99.
    6) Vgl. WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Seite 40f. Auch in einer Abhandlung in den "Berichten der Berliner Akademie der Wissenschaften 1894, II, Seite 1313f: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie.
    7) Vgl. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. IX, Seite 180 - 184
    8) HERMANN EBBINGHAUS, a. a. O, Seite 201f
    9) EUGÉNE de ROBERTY, L'idée de l'évolution et l'hypothése du psychisme social in der  Revue philosophique,  Vol. 46, 1898, Nr. 7, Seite 1 - 18.
    10) Vgl. WILHELM WUNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie I, Leipzig 1893, Seite 576 und OSWALD KÜLPE, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1893, Seite 236
    11) WUNDT, Logik II, 2. Auflage, Seite 282f und 413f
    12) Vgl. EDUARD ZELLER, Die Philosophie der Griechen II, 4. Auflage, Leipzig 1889, Seite 317
    13) Vgl. JUVENALIS, Satirae III, Seite 144f
    14) Vgl. WILHELM WUNDT, Logik II, Seite 267f und 276f
    15) GEORG BELOW, Lehrbuch der historischen Methode, 2. Auflage, Leipzig 1894, Seite 100f
    16) Vgl. über die schließliche Identität wissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methoden (nicht Begriffe!) auch FRANZ BRENTANO, Die Zukunft der Philosophie, Wien 1893, Seite 24f
    17) LUDWIG STEIN, Wesen und Aufgabe der Soziologie, Berlin 1898, Seite 22