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EUGEN EHRLICH
Die juristische Logik

"Die Gerichte besaßen eine geringe Macht. Für die Durchführung der Befehle hatten sie kaum mehr als eine oder zwei Hilfspersonen. An Zwangsmitteln standen ihnen bloß Acht und Bann und die Friedloslegung zur Verfügung. Das Zustandebringen der widerspenstigen Partei, das Herbeischaffen der Beweise, die Vollstreckung des Urteils war daher in der Hauptsache den Parteien überlassen, und das alles war selbstverständlich umso schwieriger, je mächtiger der Gegner war. Die Großen, gegen deren Gewalttätigkeiten die Gerichte in erster Linie einschreiten sollten, konnten ihnen leicht trotzen und taten es oft genug. Die wichtigste Aufgabe der Gerichte war, durch ihr Urteil die Fehde zu vermeiden, und die gerechte Entscheidung war eine solche, deren Gerechtigkeit dem Mächtigeren der beiden Widersacher so sehr einleuchtete, daß er freiwillig von der Fehde abließ oder freiwillig die Buße auf sich nahm: denn zwingen konnte man ihn nur schwer dazu."

Vorrede

Den meisten Laien und vielen Juristen gilt es heute als eine Selbstverständlichkeit, daß die Aufgabe richterlicher Rechtsfindung im wesentlichen darin besteht, aus den Anordnungen der Gesetze logische die Entscheidung des einzelnen Falles abzuleiten. An dieser Selbstverständlichkeit ist so vieles, was gar nicht selbstverständlich ist, daß Erkenntnistheorie, Rechtsgeschichte, Logik, Psychologie und Soziologie sich zusammenschließen müssen, damit wir erfahren, woher dieser, die ganze moderne Jurisprudenz beherrschende Lehrsatz kommt, was er bedeutet, wie weit er reicht, wohin er führt. Das habe ich schon vor mehr als dreißig Jahren bemerkt, als ich den Vorwurf mit jugendlichem Ungestüm in meiner Schrift "Über Lücken im Recht" zuerst angefaßt hatte. Seither habe ich ihn nie aus den Augen gelassen, und stehe jetzt, als reifer Mann, vor der bangen Frage, ob ich ihm bereits einigermaßen gewachsen bin.

Es handelt sich darum, aus welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen der erwähnte Lehrsatz hervorgegangen ist, und in welche gesellschaftlichen Zusammenhänge er die Rechtsfindung hineingesteuert hat. Die vorliegende Schrift ist daher soweit eine Ergänzung meiner Grundlegung der Soziologie des Rechts. Wie es dort von allen anderen Erscheinungen des Rechtslebens ausgeführt worden ist, daß sie aus der Gesellschaft herauswachsen und gesellschaftliche Wirkungen erzeugen, so soll das hier für die Methoden des juristischen Denkens gezeigt werden.



Erster Teil
Die historischen Grundlagen
der juristischen Logik


I. Die Gebundenheit an den Rechtssatz
im Aktionenrecht

Mit der juristischen Logik hat es eine eigene Bewandtnis. Logisch zu sein ist gewiß kein Vorrecht der Jurisprudenz. Jedes wissenschaftliche Denken ist logisch: und es ist in der Tat nicht einzusehen, warum die Wissenschaft vom Recht mehr logisch sein sollte, als Kunstgeschichte oder Geologie. Ebenso soll auch das Handeln des Menschen logisch sein, denn wir suchen durch logisches Denken die richtigen Mittel zu finden für die Ziele, die wir anstreben. Daher müsen auch die Kunstlehren, die, wie etwa die Heilkunst oder die Baukunst, dem menschlichen Handeln die Regeln weisen, logisch sein: die Logik dieser Kunstlehren prüft, in welcher Weise die Mittel für bestimmte Zwecke aus den Naturgesetzen und Erfahrungstatsachen erschlossen werden können. Die Logik der praktischen Jurisprudenz, als einer Kunstlehre (im Gegensatz zur theoretischen Wissenschaft vom Recht), ist in ihrem Wesen dieselbe, wie die der anderen Kunstlehren; die Logik der Jurisprudenz ist daher eine bloß an den besonderen Zweck angepaßte Logik des praktischen Handelns des Juristen, und unterscheidet sich nicht grundsätzlich etwa von der Logik der Maschinenbaukunde. Diese Logik, zur Beruhigung ängstlicher Gemüter sei das jetzt schon bemerkt, würde keineswegs die Mißachtung des Gesetzes lehren, aber auch schwerlich zu dem Ergebnis gelanten, daß die Anwendung des Gesetzes die einzige Aufgabe der Rechtsprechung ist. Die Grundzüge einer Logik dieser Art, einer Erkenntnislehre der richterlichen Jurisprudenz, sind in den von der Jurisprudenz handelnden Abschnitten meiner Grundlegung der Soziologie des Rechts dargelegt worden; in einem Werk über die Theorie der richterlichen Rechtsfindung, das ich jetzt vorbereite, hoffe ich sie näher auszuführen. Da die Logik vom positiven Recht unabhängig ist, so müßte die Logik der Jurisprudenz in jedem Recht dieselbe sein.

Aber das, was gewöhnlich als juristische Logik bezeichnet wird, ist nicht die Anwendung der allgemeinen Logik auf die besonderen Zwecke der Jurisprudenz. Das zeigt sich schon darin, daß diese Logik nur in den Ländern des aufgenommenen römischen Rechts heimisch ist, und nicht unerheblich von der Logik abweicht, der die Römer in ihrer Jurisprudenz folgten und nach der jetzt noch in der Jurisprudenz in den Ländern des aufgenommenen römischen Rechts hat offenbar Ziele, die sonst der Jurisprudenz fremd sind. Die Logik der Jurisprudenz in den Ländern des aufgenommenen römischen Rechts und nur in diesen will ausschließlich oder zumindest ganz überwiegend ableitend (deduktiv) sein, sie will zeigen, wie der Jurist auf dem Weg der logischen Ableitung (Deduktion) im einzelnen Fall zur Entscheidungsnorm gelangt. Diese juristische Logik ist daher keine Logik der Jurisprudenz, sondern der juristischen Ableitung im Dienste der Jurisprudenz. Die logische Ableitung besteht in einem Schluß, in dem ein Urteil den Obersatz, ein zweites Urteil den Untersatz bildet. Die erste Aufgabe der juristischen Logik ist daher, den Obersatz zu bezeichnen, der im juristischen Schluß eingestellt werden soll. Dafür gibt es in den Ländern des aufgenommenen römischen Rechts feste Regeln: der Obersatz muß immer ein Rechtssatz sein, der Rechtssatz muß stets irgendwie auf den Staat zurückgeführt werden können und alle Rechtssätze des geltenden Rechts werden zu einer Einheit ausgestaltet, die den Richter so vollständig in den Dienst des idealen Urhebers des Ganzen, des den gesamten Staatswillen verkörpernden fiktiven "Gesetzgebers" stellen, daß jede richterliche Entscheidung ihrem Wesen nach als Entscheidung des Gesetzgebers zu gelten hätte.

Unter Rechtssatz ist eine in Worte gefaßte, für den Richter verbindliche Rechtsnorm zu verstehen. Die Eigentümlichkeit der drei Grundvoraussetzungen der juristischen Logik der Länder des aufgenommenen römischen Rechts besteht also darin, daß sie nur die auf den staatlichen Willen zurückgeführten, zu einer idealen Einheit verknüpften Rechtssätze als für den Richter maßgebend anerkennt. Dagegen wird durch sie das Wesen des Rechtsschutzes keineswegs berührt. Der Zweck des Rechtsschutzes ist hier derselbe wie anderwärts: er soll dem Menschen die Verfügung über andere Menschen und über sonstige Gegenstände sichern, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse braucht. Es handelt sich also beim Rechtsschutz auch hier stets um die Bestimmung von Stücken der uns umgebenden Natur für menschliche Bedürfnisse, zwar, wie besonders das öffentliche Recht und Familienrecht zeigt, nicht immer um wirtschaftliche Güter, immer aber um Güter in einem gesellschaftlichen Sinn. Die rechtliche Bestimmung von Gütern für menschliche Bedürfnisse wird in der neuen deutschen Rechtswissenschaft mit dem Ausdruck  Interesse  bezeichnet, für das privatrechtlich geschützte Interesse ist in den Ländern des aufgenommenen römischen Rechts der Ausdruck subjektives Recht gebräuchlich, für das strafrechtlich geschützte Interesse hat sich in letzter Zeit der Ausdruck  Rechtsgut  eingebürgert. Soll der Rechtsschutz durch einen Rechtssatz begründet werden, dann muß der Rechtssatz das Interesse angeben, das geschützt wird; außerdem wird im Rechtssatz in der Regel auch die Art und der Umfang des Schutzes angeordnet. Die Angabe des Interesses, dem Schutz gewährt wird, geschieht zuweilen dadurch, daß das geschützte Interesse bloß seiner Art nach im Rechtssatz beschrieben wird (Eigentum, Pfandrecht, Dienstbarkeiten, Ehe, Vaterschaft, Vormundschaft), oft aber bezeichnen die Rechtssätze genauer den Rechtsgrund: die Bedingungen, unter denen der Anspruch auf den Rechtsschutz entsteht (Vertrag, letztwillige Anordnung, eine unerlaubte schädigende Handlung). Die erste Art der Rechtssätze überwiegt in den Ländern des aufgenommenen Rechts im Sachen- und Familienrecht, die zweite im Strafrecht und im Forderungsrecht. Doch finden sich Rechtssätze der zweiten Art auch im Sachenrecht (actio Publiciana), Rechtssätze der ersten Art im Forderungsrecht: so kommt die römische  conditio  jedem Interesse an einer Geldsumme oder einer Sache zu  (certa pecunia  oder  certa res)  ohne Rücksicht auf den Rechtsgrund.

Die soeben erwähnten drei Grundvoraussetzungen der juristischen Logik sind weder urwüchsig noch, wie bereits gesagt worden ist, jedem Recht eigentümlich. In der rechtlichen Urzeit, da Gerichte und Verfahren eben im Entstehen sind, steht die richterliche Entscheidung nicht in einer notwendigen Abhängigkeit von einem Rechtssatz. Man verlangt vom Richter nur eine gerechte Entscheidung: er mag sie einem Rechtssatz entnehmen, wenn einer vorhanden ist, sonst hat er sie selbst frei zu erfinden. So blieb es in Rom noch lange nachher, bis in die byzantinische Zeit, so ist es jetzt noch im anglo-amerikanische und skandinavischen Rechtsgebiet. Auch der Gedanke, daß die Entscheidungsnorm oder der Rechtssatz vom Staat kommt, liegt dem Menschen, selbst auf recht hoher Entwicklungsstufe, fern. In den Anfängen der Jurisprudenz wird sie auf eine göttliche Eingebung zurückgeführt. Daher sind die sogenannten Gesetzgebunden des Orients, ebenso wie die Gesetze LYKURGs und NUMAs nur Zusammenfassungen eines angeblich von einer Gottheit verkündeten Gewohnheitsrechts. Das islamitische Recht hat bis in die Gegenwart diese Ausprügung behalten. In Rom zur Zeit des Freistaats, im deutschen Mittelalter, in Frankreich, zumindest in den  pays de droit coutumier [Gewohnheitsrecht - wp], erscheinen die Rechtssätze als die juristische Weisheit der Altvordern, und das skandinavische Recht beruth jetzt noch wesentlich auf Überlieferung. In der Blütezeit der römischen Jurisprudenz gelten die Rechtssätze sowie die einzelnen Entscheidungsnormen als Werk der Juristen, und in diesem Sinne wird vom POMPONIUS das  ius civile  bestimmt als ein  ius compositum a prudentibus [kluge Kombination des Rechts - wp], und nach BOETHIUS, der aus einer alten Quelle schöpfte, sind es:  probatae civium iudiciis creditaeque sententiae [genehmigt und akzeptier durch das Urteil der Bürger - wp]. Im anglo-amerikanischen Rechtsgebiet wird das  common law [Gewohnheitsrecht - wp] als ein vom Richter gemachtes Recht betrachtet (judge-made law); die  equity (Billigkeit - wp] ist aus der königlichen Kanzlei hervorgegangen. Die Grundvoraussetzungen der juristischen Logik der Länder des aufgenommenen römischen Rechts sind daher erst im Laufe der Zeiten in sie hineingekommen und nur aus der Geschichte zu erklären: ihre Logik liegt in der Dialektik der geschichtlichen Entwicklung. Aber sie tragen ihre ganze Geschichte in die heutige Jurisprudenz hinein und machen sie so zu einem Stück der lebendigen Gegenwart. Unser ganzes Denken und Fühlen ist so historisch bedingt, daß wir das, was historisch gegeben ist, für etwas logisch Notwendiges halten: wollen wir also wissen, wieviel Logik der Jurisprudenz in der heutigen juristischen Logik steckt, so müssen wir feststellen, wieviel an ihr von den dahingegangenen Geschlechtern übernommen, wieviel aus den Bedürfnissen unserer eigenen Zeit hervorgegangen ist. Die nachfolgende Untersuchung, die die Grundvoraussetzungen der juristischen Logik bis in den ältesten römischen Rechtsgang verfolgt, soll daher nicht der Rechtsgeschichte, sondern der Erkenntnis der heutigen Jurisprudenz dienen.

Eine sehr strenge Gebundenheit an den Rechtssatz findet sich sowohl im römischen als auch im englischen Legisaktionenverfahren. Nach einem Bericht von GAIUS waren die Legisaktionen wörtlich den Gesetzen angepaßt und unabänderlich wie die Gesetze  (ipsius legis verbis accommodatae et ideo immutabiles perinde ac leges observantur.)  Daher wurde eine Klage wegen gestohlener Rebstöcke abgewiesen, denn die XII Tafeln hätten nur wegen gestohlener Bäume eine Klage gewährt. Der Kläger mußte vor Gericht in einer ihm vorgeschriebenen Spruchformel den Rechtssatz wörtlich anführen, auf den er die Klage gründete; für die Spruchformeln gab es Vorlagen, die im pontifikalen Archiv aufbewahrt, später von GNAEUS FLAVIUS mißbräuchlich veröffentlich worden sind. JHERING sagt, die Legisaktionen seien eine Form gewesen, das Gesetz (genauer: den Rechtssatz) zu zitieren. Ebenso durfte in England im 14. Jahrhundert die königliche Kanzlei dem Kläger einen  writ die Ladung des Beklagten vor das Gericht, nur herausgeben, wenn sich dafür eine passende Vorlage in der amtlichen Sammlung der  writs  vorfand. Im  writ  war das Interesse des Klägers, zuweilen auch der Rechtsgrund der Klage angegeben: es konnte also nur für ein Interesse, unter Umständen sogar nur aus einem Rechtsgrund geklagt werden, der in eine amtliche Vorlage des  writ  bereits aufgenommen war. Da eine Vorlage, an die der Kläger soweit gebunden ist, daß eine Abweichung davon über das Schicksal des Rechtstreits entscheidet, offenbar nichts anderes ist als ein Rechtssatz, so darf behauptet werden, daß auch im englischen Legisaktionenverfahren die Klage durch einen Rechtssatz begründet sein mußte. In Rom und in England war daher ein Rechtssatz Voraussetzung der Klage: in Rom hatte der Prätor, in England die Kanzlei, die beide in dieser Beziehung eine richterliche Aufgabe erfüllten, dafür zu sorgen, daß kein Verfahren ohne Rechtssatz eingeleitet wird. Überdies sollte in Rom eine Klage, die sich nicht auf einen Rechtssatz gründete, auch vom geschworenen Richter zurückgewiesen werden; in England konnte der Richter einen  writ,  der mit der Vorlage nicht übereinstimmte, für nichtig erklären, womit die Klage hinfällig wurde. Der Rechtssatz, der für die Klage erforderlich ist, mußte in Rom dem Gericht vom Kläger in der Spruchformel, in England von der Kanzlei im  writ  in durchaus kunstgerechter Weise bezeichnet werden. Wie das geschehen sollte, ergab sich für jeden einzelnen Rechtssatz aus der Vorlage: es sind daher soviele Vorlagen vorhanden, wie Rechtssätze, von denen der Rechtsschutz abhängt. Jede Vorlage schreibt zugleich den Parteien ihr Benehmen vor Gericht, dem Richter sein Verhalten vor; sie bestimmt das Verfahren in der Sache, für die der dort angeführte Rechtssatz den Rechtsschutz gewährt. Es gibt daher soviele Rechtsmittel, Arten und Unterarten des Verfahrens, wie Vorlagen. Hat der Kläger keinen Rechtssatz für sich, so findet er keine Vorlage und es fehlt ihm infolgedessen auch das Rechtsmittel. Wollte er sich damit helfen, daß er nach einer anderen Vorlage klagt, so müßte der Richter erkennen, daß das Rechtsmittel, nach der in der Spruchformel oder im  writ  angegebenen Rechtssatz für seinen Fall nicht paßt; würde er in Rom die Spruchformel nach den Bedürfnissen des Falles ändern, so dürfte der Prätor die  actio  nicht zulassen und es könnte auch der geschworene Richter, wie wir aus GAIUS wissen, der Klage nicht stattgeben, da der Rechtssatz unrichtig angeführt wurde; in England würde er von der Kanzlei keinen  writ  erlangen. Ebenso wäre die Klage unstatthaft, wenn der Kläger sich in der Vorlage vergriffen hätte: auch hier müßte der Richter erklären, der in der Spruchformel oder im  writ  angegebene Rechtssatz komme im vorliegenden Fall dem Kläger nicht zustatten. In ähnlicher Weise war auch der Beklagte gezwungen, sich auf einen Rechtssatz zu berufen, wenn er bei seiner Verteidigung über das Bestreiten des Klagegrundes hinausging: wir sind jedoch darüber nur für England genauer unterrichtet. Allerdings wurde der Beklagte in der Regel weniger strenger behandelt als der Kläger. Im Legisaktionenverfahren stützt sich daher jeder Angriff und meist auch die Verteidigung auf einen Rechtssatz; damit ist mittelbar, gewissermaßen als Kehrseite dieses Grundsatzes, ein verneinender Rechtssatz ausgesprochen, daß der Richter den Angriff und die Verteidigung zurückzuweisen hat, die nicht auf einen Rechtssatz zurückgehen.

Der Rechtssatz verschafft also dem Kläger das Rechtsmittel. Mit diesem Rechtssatz ist aber immer noch ein zweiter Rechtssatz gegeben, der die Art des Rechtsschutzes (Buße, Strafe, Schadensersatz, Rechtsgewährung) und den Umfang des Rechtsschutzes (etwa die Höhe der Strafe, die Bemessung des Schadensersatzes) vorschreibt, die mit dem Rechtsmittel erlangt werden können. Durch diesen zweiten Rechtssatz ist der Inhalt des Urteils, womit dem Klagebegehren stattgegeben wird, einigermaßen auch materielle bestimmt. Wer mit der  rei vindicatio [Eigentumsklage - wp] klagt, kann nur die Anerkennung des  eius esse ex jure Quiritum  erreichen, bringt er aufgrund der  lex Silia  oder  lex Calpurnia  die  legis actio per condictionem  ein, so kann ihm bloß eine Sache oder ein Geldbetrag zuerkannt werden, macht er aufgrund der  lex Aquilia  den Schadenersatz gelten, so kann das Urteil auf nichts anderes als den nach der  lex Aquilia  berechneten Wert der beschädigten Sache lauten. Ebenso haben die englischen Aktionen immer einen fest umgrenzten Gegenstand. Im Legisaktionenverfahren ist also das materielle Recht organisch mit dem formellen verbunden: ein Rechtssatz gibt das Rechtsmittel an, und ein Rechtsmittel bedeutet immer formell ein Verfahren und zugleich ein materielles Recht. Daraus ergibt sich eine sehr strenge Gebundenheit an den Rechtssatz: der Richter kann das Interesse des Klägers und bis zu einem gewissen Grad auch des Beklagten, nur dann, nur in der Art, nur soweit schützen, als es ein Rechtssatz anordnet. In den Spruchformeln des Legisaktionenverfahrens war wohl das Interesse, dem das Rechtsmittel diente, angegeben, dagegen der Rechtsgrund zuweilen gar nicht, oft nur mit allgemeinen Worten bezeichnet. Die meisten Legisaktionen konnten daher nur zum Schutz eines bestimmten Interesses, aber aus sehr verschiedenen Rechtsgründen angestellt werden: die Spruchformel der  rei vindicatio  oder der verschiedenen Dienstbarkeiten war dieselbe, ob das Eigentum oder die Dienstbarkeit durch ein Rechtsgeschäft unter Lebenden, durch Vertrag oder durch Vermächtnis erworben wurde; war aber auch der Rechtsgrund, wie bei Deliktsklagen, genauer umschrieben, so ergaben sich noch immer Zweifel im einzelnen. Überdies konnte noch Streit entstehen über den Erwerb des geltendgemachten Rechts und über Rechtsverlust, Nebenansprüche (Früchte, Zuwachs, Zinsen, Schadensersatz) über Einreden des Beklagten, soweit sie im Legisaktionenverfahren vorkamen. Im Legisaktionenverfahren ist daher immer zunächst darüber zu erkennen, ob dem Kläger die angebrachte  actio  zusteht: das ist in Rom vor allem Sache des Prätors, in England der Kanzlei, in zweiter Linie des eigentlichen Richters, der an den Spruch des Prätors oder der Kanzlei nicht gebunden war. Wird aber diese Frage bejaht, dann hat der Richter doch noch eine Reihe anderer Fragen zu entscheiden. Er konnte noch immer die Klage zurückweisen, denn damit, daß dem Kläger die  rei vindicatio  gebührt, war nicht gesagt, daß er das Eigentum, das er geltend macht, erworben hat, daß er es nachträglich verloren hat, daß die Einreden des Beklagten, soweit solche im Legisaktionenverfahren zulässig waren, unbegründet sind. Gab der Richter der Klage statt, so mußte er den Umfang des klägerischen Anspruchs und der Nebenansprüche feststellen. Das richterliche Erkenntnis [Urteil - wp] war daher, wenn er dem Kläger das Rechtsmittel zuerkannte, immer zwiespältig: es war zusammengesetzt aus einer Entscheidung über die Zuständigkeit des Rechtsmittels und einer Entscheidung über das materielle Recht des Klägers. Für die erste Entscheidung gab es immer einen Rechtssatz; dagegen waren die zahllosen sonstigen Rechtsfragen, die in einem Rechtsstreit vorkommen konnten, über Rechtserwerb, Rechtsverwirkung, über den Umfang des Anspruchs, die Einreden des Beklagten, selbstverständlich zu keiner Zeit durch Rechtssätze erschöpfend vorgesehen, und soweit es an einem Rechtssatz fehlte, wurde darüber vom Richter aufgrund einer freien Interessenabwägung abgeurteilt. Wir finden in den römischen Quellen, bei den Aktionen, die aus dem Legisaktionenverfahren im Formularverfahren übernommen worden sind, etwa bei der  rei vindicatio, actio familiae herciscundae, actio noxalis,  bei der  querela inofficiosi testamenti,  die noch in der klassischen Zeit im Legisaktionenverfahren verhandelt worden ist, zahlreiche Angaben, die zumindest mittelbar auch über den Rechtsgang in der Legisaktionenzeit Aufschluß geben: sie zeigen, daß der richterlichen Interessenabwägung stets ein großer Raum übrig blieb. Dasselbe ergibt sich aus der ausführlicheren Darstellung der englischen Legisaktionen bei BLACKSTONE. Wie überall, so verdichten sich auch im Legisaktionenverfahren die frei gefundenen richterlichen Entscheidungen im Laufe der Zeit zu einem in Rechtssätzen festgelegten Juristenrecht. Aber die Rechtssätze dieses Juristenrechts gelten regelmäßig zum größten Teil immer für das Rechtsmittel, für das sie entstanden sind: man konnte sich in Rom auf die  actiones in rem  und  in personam,  die  actiones poenales,  in England auf die Assisen oder auf alle Arten des  trespass.  Diese enge Beziehung des Rechtsmittels zu seinen Rechtssätzen gehört ebenfalls zu den besonders auffallenden Kennzeichen des Legisaktionenverfahrens. Nur wenige Rechtssätze, zumal des Status- und Familienrechts, haben bereits eine allgemeine Bedeutung bei allen Rechtsmitteln. Die Rechtssätze des Legisaktionenverfahrens, die ganz überwiegend aus dem Juristenrecht hervorgegangen sind, entstehen und wirken daher größtenteils nur im Rahmen der einzelnen Rechtsmittel; jedes Rechtsmittel ist nicht nur mit einem eigenen Verfahren, sondern auch mit eigenem materiellen Recht versehen.

Wenn es wahr ist, daß in der rechtlichen Urzeit, in den Anfängen der ständigen Gerichte und des Verfahrens, überall die freie richterliche Rechtsfindung herrscht, so hat sie scheinbar in Rom und in England, und wohl auch noch an anderen Stellen (in Island) mit dem Legisaktionenverfahren sehr früh in ihr gerades Gegenteil umgeschlagen. In Wirklichkeit jedoch wird im Legisaktionenverfahren das Verfahren der rechtlichen Urzeit nicht abgebrochen, sondern folgerichtig weitergebildet. Die Freiheit der Rechtsfindung in der ältesten Zeit beruhte eben ausschließlich darauf, daß es zunächst gar keine und auch später nur sehr wenige Rechtssätze gegeben hat. Richter und Parteien sind auf dieser Stufe noch genötigt, jede Aufgabe, die an sie herantritt, selbst zu lösen, weil es weder genügend materielle noch formale Rechtssätze gibt, die ihnen den Weg weisen. Wir sind immer leicht geneigt zu glauben, daß die Gesellschaft zu jeder Zeit die Rechtssätze aufzubringen vermag, die sie braucht: wir übersehen dabei, daß die Publizianische Klage und die Stellvertretung ebenso einmal erfunden werden mußte, wie die Lokomotive. Die Erfindung der Rechtssätze bewegt sich, wie alle anderen Erfindungen, in den gegebenen Möglickeiten: das Verfahren konnte nur für die Sachen entstehen, die vor den Richter gebracht wurden, und nur in Gemäßheit der Gerichtsverfassung, der Hilfsmitte der Gerichte, sowie der gesellschaftlichen Zusammenhänge, die vorhanden waren. Die Tätigkeit der Gerichte war aber in der ältesten Zeit vor allem deswegen sehr beschränkt, weil bei der Bevölkerung keine große Geneigtheit herrschte, die Gerichte aufzusuchen. Das Gericht war lange noch nicht dazu da, um jedem in seinen Rechten Gekränkten hilfreich beizustehen. In der der rechtlichen Urzeit vorausgehenden rechtlichen Vorzeit, wie wir sie etwa in HOMER kennenlernen, da ständige Gerichte überhaupt noch fehlten, trug jeder wehrhafte Mann - und nur dieser fiel gesellschaftlich ins Gewicht -, sein Recht auf der Spitze des Schwertes für sich und die Seinen, für alle, die sich in seinen Schutz begaben und ihn dafür in seinen Fehden zu unterstützen bereit waren. Damit sind Gefühlswertungen entstanden, die noch lange fortwirkten und bei Beleidigungen und Verletzungen klingen sie, wie die Raufhändel in den unteren Schichten, der Zwang zum Zweikampf in den oberen auf dem europäischen Festland beweisen, sogar bis in die Gegenwart nach: Das Gericht wurde, auch nachdem es in der rechtlichen Urzeit zur ständigen Einrichtung geworden war, in der Regel nur vom Schwachen angerufen, und es war ein wenig ehrenvolles Zeichen der Schwäche, vor Gericht zu gehen. Überdies tagte das Gericht nur in längeren Abständen, oft an einem von den Parteien und Zeugen weit entfernten, auf schlechten Wegen mühsam erreichbaren Ort. Abgesehen vom Königsgericht, das nur in den Sachen, die den Staat oder den König unmittelbar betrafen oder den König besonders interessierten, und auch da nur, wenn der König und seine Richter zur Stelle waren, eingriff, besaßen die Gerichte eine geringe Macht. Für die Durchführung der Befehle hatten sie kaum mehr als eine oder zwei Hilfspersonen. An Zwangsmitteln standen ihnen bloß Acht und Bann und die Friedloslegung zur Verfügung. Das Zustandebringen der widerspenstigen Partei, das Herbeischaffen der Beweise, die Vollstreckung des Urteils war daher in der Hauptsache den Parteien überlassen, und das alles war selbstverständlich umso schwieriger, je mächtiger der Gegner war. Die Großen, gegen deren Gewalttätigkeiten die Gerichte in erster Linie einschreiten sollten, konnten ihnen leicht trotzen und taten es oft genug. Die wichtigste Aufgabe der Gerichte war, durch ihr Urteil die Fehde zu vermeiden, und die gerechte Entscheidung war eine solche, deren Gerechtigkeit dem Mächtigeren der beiden Widersacher so sehr einleuchtete, daß er freiwillig von der Fehde abließ - nach einer solchen Entscheidung suchen die Richter in der Gerichtsszene auf dem Schild des  Achilles - oder freiwillig die Buße auf sich nahm: denn zwingen konnte man ihn nur schwer dazu.

Aus dieser gesellschaftlichen Verfassung und aus dieser geistigen Enge ergab sich das, was man als die älteste Zuständigkeit der Gerichte, das älteste Verfahren und die älteste Rechtsfindung bezeichnen könnte: die Zuständigkeit war eine Beschränkung auf das, wobei das Dazwischentreten des Gerichts von Nutzen sein konnte, das Verfahren ein Herumtasten nach Auskünften in schwieriger Lage, die Rechtsfindung ein Suchen nach der Entscheidung, deren Angemessenheit auch der Streitbare zugeben muß. Der "weise Richter", eine typische Erscheinung der rechtlichen Urzeit, ist, wem dabei der beste Einfall kommt: das setzt viel Erfahrung, Menschenkenntnis und intuitive Einsicht in die vorhandenen gesellschaftlichen Zusammenhänge voraus. Im Laufe der Jahrhunderte aber erstarken die Gerichte und die Fehde wird allmählich verhaßt; auch der Mächtige sieht den Vorteil ein, den Streit vor Gericht beizulegen und sich nicht den Fährlichkeiten der Fehde auszusetzen; Handel breitet sich aus, der Verkehr wird dichter, die gesellschaftlichen Beziehungen inniger, infolgedessen entstehen immer häufiger Rechtsstreitigkeiten, die nicht durch Gewalttätigkeiten, sondern durch friedlichen Güteraustausch veranlaßt sind, bei denen es nicht mehr üblich ist, zu den Waffen zu greifen, und das Verfahren paßt sich den neuen Bedürfnissen an. Immer aber ist es nur ein kleiner Kreis von Sachen, die man vor Gericht zu bringen pflegt und das Verfahren schwankt nach der Beschaffenheit des Gegenstandes und der Besonderheit des Falls. Es kommt auch vor, daß das Gericht sich weigert, auf eine Sache einzugehen, sei es, weil es sich nicht die Fähigkeit zutraut, eine gerechte Entscheidung zu finden, sei es weil es die gesellschaftlichen Widerstände fürchte. Wir sehen es in der Gerichtsszene auf dem Schild des  Achilles,  wie der Angehörige des Getöteten die ihm gebotene Buße ablehnt und auf der Blutrache besteht: in einem solchen Fall erscheint es dem Gericht geraten, das zwecklose Urteil abzulehnen, noch mehr aber, den Argwohn und die Rache des Mächtigen nicht herauszufordern, die den Richtern, wie wir aus vielen Beispielen wissen, sehr gefährlich werden können.

Die richterliche Entscheidung, sie mag sich auf das Verfahren oder die Sache selbst beziehen, ist schon in der rechtlichen Urzeit für die Zukunft vorbildlich. Das ist zunächst darin begründet, daß sie als Eingebung der Gottheit oder der höheren Weisheit des Richters gilt; aber sie spart dem Richter, der in der Folge über eine ähnliche Sache entscheiden soll, auch die schwere Erfinderarbeit und zeigt den Parteien, wie sie sich vor Gericht zu benehmen und was sie zu erwarten haben. So entstehen aufgrund der einmal gefällten Entscheidung die ersten Rechtssätze. Durch sie werden die Entscheidungsnormen stetiger und das Verfahren gewinnt bei aller Anpassung an die Eigentümlichkeit des einzelnen Falles einigermaßen feste Umrisse: Die Zuständigkeit des Gerichts wird umgrenzt, die Sachen, über die das Gericht einmal erkannt hat, gehören von nun an vor Gericht, in Sachen, über die es nicht erkennen wollte, wird auch in Zukunft die Klage abgewiesen. Die Rechtssätze werden von Personen, die sich damit befassen, gewöhnlich von den Priestern, den Trägern des geistigen Lebens in der rechtlichen Urzeit [post], im Gedächtnis behalten, später auch aufgezeichnet und geordnet: in dieser Weise bildet sich der juristische Beruf und das älteste Juristenrecht. Die vorhandenen Aufzeichnungen von Rechtssätzen werden schon früh zusammengefaßt, oft im staatlichen Auftrag, gewöhnlich mit zweckmäßigen Änderungen. Die ältesten, sogenannten Gesetzgebungen in Griechenland, die  leges regiae  und die zwölf Tafeln in Rom, die germanischen Volksrechte, sind in Wirklichkeit Rechtsbücher, Zusammenfassungen des Juristenrechts.

In der ältesten Zeit wird der Rechtssatz in und mit der Entscheidung des Rechtsfalls überliefert, in der er ausgesprochen worden ist: soll er in einem andern Fall angewendet werden, so muß man ihn zuvor aus der Entscheidung herausschälen. Die ältesten Rechtsaufzeichnungen und Rechtsbücher sind ihrem Wesen nach Sammlungen von Entscheidungen, ein wenig geordnet und miteinander in Übereinstimmung gebracht: wenn darin für ein beschädigtes Auge, einen Arm oder ein Bein, für einen gestohlenen Ochsen, eine Ziege oder ein Huhn die Buße besonders vorgeschrieben wird, so bedeutet das, daß man bloß über die ergangenen Urteilssprüche zusammenfassend berichtet, ohne irgendwie darüber hinauszugehen. Der Rechtssatz in der Urform ist daher noch ganz in die Entscheidung des Rechtfalls eingehüllt: die Urform weicht später vor anderen Form zurück, verschwindet aber nie vollständig. Noch in den römischen Werken über das  ius civile  werden die Rechtssätze regelmäßig und mit den Entscheidungen vorgetragen, die Responsen- und Quästionenwerke geben sich äußerlich nur als Spruchsammlungen, die kaiserlichen Konstitutionen enthalten bis KONSTANTIN überwiegend Entscheidungen einzelner Fälle. Erst in den Editkskommentaren herrschte der vom Rechtsfall abgelöste Rechtssatz vor, wie er in den Gesetzen, den  leges, senatusconsulta  und im prätorischen Edikt vorkommt. Das englische  common law besteht bis auf den heutigen Tag fast ausschließlich aus Rechtssätzen in der Urform, die in gerichtlichen Entscheidungen enthalten sind. Dasselbe gilt vom ganzen deutschen Recht des Mittelalters. Auf die Entwicklung des gemeinen Rechts haben die gerichtlichen Entscheidungen und juristischen Gutachten als Rechtssätze in der Urform einen ungeheuren Einfluß geübt, und deren Bedeutung für die Gegenwart wird gewiß niemand unterschätzen, wer das Ansehen, das die Entscheidungen der Obersten Gerichtshöfe überall genießen, nach Gebühr beachtet.

Der verneinende Rechtssatz des Legisaktionenverfahrens, von dem uns GAIUS und die englischen Quellen berichten, der den Richter anweist, die Entscheidung zu verweigern, wenn kein Rechtssatz dem Kläger in Rechtsmittel gewährt, bedeutet ein Erstarren des Rechtszustandes der rechtlichen Urzeit. Die Zuständigkeit des Gerichts, die sich bis dahin bloß daraus ergab, daß die Parteien nur in bestimmten Sachen das Gericht anzurufen pflegten, wird nun im hergebrachten Umfang durch das Juristenrecht umschrieben, das Verfahren, das vorher nur in einer Reihe von technischen Auskünften durch Rechtssätze des Juristenrechts festgelegt. So wird die Lösung einer technischen Aufgabe in der durch die Umstände gegebene Beschränkung zur festen Rechtsnorm, und damit zieht der Formalismus ins Rechtsleben eine, der wohl im Legisaktionenverfahren besonders üppig wuchert, aber keine Besonderheit dieses Verfahrens ist, denn er ensteht auch dort, wo es nie Legisaktionen gegeben hat. Die römischen und englischen Berichte, die allerdings aus viel späterer Zeit stammen, führen den Formalismus ihrer Legisaktionen auf das Zunftinteresse der Juristen zurück. Zweifellos ist für die Zunft die Normalisierung ihrer Technik von größtem Belang und sie kommt daher zu allen Zeiten zünftiger Betätigung vor. Denn die immer zahlreicher werdenden Normen, die stets nur vom Zunftmeister erlernt werden können, gestatten es, alle die wirksam fernzuhalten, die dazu keine Gelegenheit haben, und machen es der Mittelmäßigkeit, die in den Zünften, wie sonst überall, überwiegt, möglich, sich durch deren ängstliche Befolgung zur Geltung zu bringen und die gefährliche selbständige Begabung zu knebeln; dem Außenstehenden fremd und größtenteils unbegreiflich, umgeben sie die zünftige Übung mit der Weihe des Geheimnisvollen, verschaffen ihr den Schein hoher Wichtigkeit und mehren den wirtschaftlichen Ertrag. Daher werden jetzt noch dem zünftigen Handwerkerlehrling die Handgriffe als Normen eingeprägt, an die er sich unverbrüchlich zu halten hat. Und schließlich wirkt auch die eigentümliche Freude mit, die wir in der beruflichen Tätigkeit, ebenso wie im Spiel und im Sport, daran haben, unsere Geschicklichkeit innerhalb beengender Normen spielen zu lassen, und der besondere Reiz, schöpferische Kraft in die Grenzen strenger Normen zu bannen, auf dem in der Poesie, Musik und in der bildenden Kunst zumindest zum Teil die Wirkung des Reimes, des Rhythmus, der Harmonie der Farben, der Linien, der Töne und der Worte beruth. Das alles hatte zweifellos an der Ausbildung des Formalismus im römischen und englischen Legisaktionenverfahren einen großen Anteil.

Aber die zünftigen, wirtschaftlichen und geistigen Interessen der Juristen hätten schwerlich genügt, um das Legisaktionenverfahren zum Durchbruch zu bringen, wenn dieses nicht wichtigen gesellschaftlichen Interessen, besonders den Ansprüchen des Feudalismus entgegengekommen wäre, der die römische Gesellschaft während des Freistaats, wie jetzt immer besser erkannt wird, durchsetzte, und die englische im 14. Jahrhundert vollständig beherrschte. Dem Feudalherrn sind die Gerichte nach vielen Richtungen unbequem. Er kann sie zuweilen ganz gut gebrauchen, wenn er es mit seinesgleichen zu tun hat, doch gegen den Geringen verschafft er sich am liebsten aus eigener Kraft das, was er für sein Recht hält. Ganz ungereimt erscheint es ihm aber, daß er sein eigenes Handeln vor Gericht verantworten sollte. Feudale Bestrebungen drücken dem römischen Rechtsgang bis in eine recht späte Zeit den Stempel auf. Schon JHERING hatte bemerkt, daß das römische Gericht bei den vielen Geldhinterlegungen, Kautionen, Bürgschaften, die es forderte, eigentlich nur dem Wohlhabenden zugänglich war. Das tritt noch im späten prätorischen Besitzstörungsverfahren scharf hervor, das für die römische Oligarchie wegen der Besitzverhältnisse am  ager publicus [staatlicher Grundbesitz - wp] von besonders großem Belang war: gerade dieses war ein sehr kostspieliges, ein "gefährliches" Verfahren. Das Rechtsmittel des Reichen gegen den kleinen Mann war die außergerichtliche  manus iniectio [Handanlegen - wp]: sie bestand darin, daß der "Kläger" sich dessen, den er als Sklaven oder als Schuldner ansprach, an einem öffentlichen Ort bemächtigte und ihn in seinen Gewahrsam abführen ließ. Nur wenn sich des Angegriffenen ein angesehener, "ansässiger" Schutzherr, ein  vindex,  ein  adsertor libertatis,  annahm, kam die Sache vor den Prätor. Daß sich ein armer Teufel dasselbe gegen einen Claudier oder Cornelier erlauben konnte - daß er es durfte, darauf kommt es nicht an -, ist gewiß nicht ohne weiteres anzunehmen. Aus der Vorschrift der zwölf Tafeln, daß für den Proletarier jedemann als  vindex  eintreten kann, und aus der Bestimmung, daß der  adsertor libertatis  das niedrigste  sacramentum  zu erlegen hat, ergibt sich nur, daß es nicht immer so war. So wie hier wird die  manus iniectio,  zumal in der  legis actio per manus iniectionem  von PUCHTA und JHERING aufgefaßt; die heutigen Rechtshistoriker deuten die Quellen anders, weil sie, ohne Einblick in die gesellschaftlichen Zusammenhänge, sie wie eine moderne Zivilprozeßordnung lesen. Ein römischer Großer hat auf der Höhe seines Machtbewußtseins das Eingreifen der Gerichte in sein Verhältnis zu einem Angehörigen der unteren Klassen ungefähr ebenso als unberufene Einmischung in seine Privatangelegenheiten empfunden, wie etwa ein moderner Fabrikherr das Fabriksinspektorat; bewußt wird er übrigens ebenso selten wie dieser ein Unrecht verübt haben. Jede Seite der römischen Historiker zeugt davon, daß die Verbesserungen des Verfahrens während des Freistaats ein Stück Sozialpolitik waren, die stets von demokratischen Politiker in einem harten Kampf gegen die Herrschenden durchgesetzt werden mußte. Im Mittelalter ging es noch viel formloser zu. Der Mann, der keinen Schutzherrn hatte, war oft gleichsam vogelfrei, abgesehen von dem, der in der Stadt seine Zuflucht fand, denn die Stadt hatte entweder selbst die Macht, ihre Freiheit zu wahren, oder sie wurde von mächtigen Schutzherrn beschirmt. Nur so ist es zu erklären, daß im späteren Mittelalter fast die ganze freie Bevölkerung des flachen Landes teils in die Hörigkeit herabgedrückt wurde, teils in ein lehnrechtliches Schutzverhältnis geraten ist. Während aber auf dem Festland, mit Ausnahme Italiens, die Gerichte diesen Verhältnissen ziemlich machtlos waren, haben sich in England, unterstützt von den starken Königen, der Geringen kräftig angenommen; ihnen ist es zu verdanken, daß dort die Sklaverei sehr bald ganz verschwunden ist und die Hörigkeit erheblich gemildert wurde. Der Adel hat sich dagegen zeitweilig entschieden gewehrt, selbst in der  Magna Charta  findet sich eine Verwahrung gegen das Umsichgreifen der königlichen Gerichtsbarkeit. Der verneinende Rechtssatz des Legisaktionenverfahrens, der eine grundsätzliche Schranke der gerichtlichen Tätigkeit aufrichtet, geht also wohl auch hier auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zurück.

GAIUS' Bericht über das Legisaktionenverfahren ist jedoch nicht nur recht flüchtig, was leicht begreiflich ist, da es ja zu seiner Zeit nahezu unpraktisch war, sondern auch höchst einseitig. In einer entwickelten Gesellschaft gibt es immer eine unübersehbare Menge von Strömungen, die teils neben-, teils gegeneinander laufen, zuweilen ineinanderfließen und wieder auseinandergehen. Unmöglich kann sie alle der Blick des Forschers verfolgen und das Bild, das wir uns davon machen, ist stets nur ein armseliger Auszug aus der Wirklichkeit. GAIUS faßt nur die eine unter den Strömungen ins Auge, die auf die Hemmung der Gerichte gerichtet war. Aber außer ihr waren noch andere vorhanden, die einer Erweiterung des Wirkungskreises der Gerichte zustrebten. Der Druck der unteren Klassen, wenn er auch überwiegend auf die Gesetzgebung wirkte, war gewiß auch auf die Juristen von Einfluß, die das Legisaktionenverfahren eigentlich geschaffen haben; und überdies hatten die herrschenden Klassen, mit denen die Juristen in fortwährender Fühlung standen, selbst nach vielen Richtungen ein dringendes Bedürfnis nach gerichtlichen Eingriffen. Wir dürfen daher weder die Annahme von GAIUS, die Legisaktionen seien alle durch  leges  aufgekommen, durchwegs für wahr halten, noch auch seine Wort  immutabiles perinde ac leges [unabänderlich wie die Gesetze - wp] allzu genau nehmen. Sie passen, soweit wir das jetzt beurteilen können, ohnehin nur für die  leges actio sacramento [Legisaktion durch Eid - wp]; über die anderen  legis actiones  sind wir zwar nicht unterrichtet, aber die  condictio  des Formularverfahrens läßt immerhin Rückschlüsse auf die  legis actio per condictionem  aus der sie sich entwickelt hatte, zu. Daraus ergibt sich, daß die  lex Silia  und  lex Calpurnia,  durch die die  legis actio per condictionem  eingeführt worden ist, nur ganz allgemein einem Interesse (certa pecunia oder certa res) den Rechtsschutz zugedacht haben, ohne Rücksicht auf den Rechtsgrund. Das  ipsius legis verbis accomodatae  bedeutet also nur, daß in ihren Spruchformeln eine Sache oder eine Geldsumme ohne Rechtsgrund als Gegenstand des Rechtsstreits bezeichnet war, während in den Formeln der  legis actio sacramento  jedenfalls das Interesse viel genauer (Eigentum, Dienstbarkeit, Pfandrecht), oft auch der Rechtsgrund, im Anschluß an die  lex  angegeben war. Da das alles bei der  legis actio per condictionem  fehlte, so war sie wohl nur deswegen eine  legis actio,  weil sie durch die genannten  leges  angeordnet war.

Immerhin zeigt der ganze Aufbau der  legis actio sacramento,  die doch jedenfalls die wichtigste war, daß in ihren Spruchformeln tatsächlich immer ein Rechtssatz angeführt worden ist, und der Bericht von GAIUS muß gerade für sie deswegen genau sein, weil sie zu seiner Zeit noch im Gebrauch war; der Rechtssatz wird also stets als einem Gesetz entnommen gegolten haben. Daraus folgt aber nicht, daß er wirklich immer aus einem Gesetz stammte. Es handelte sich vor allem um die zwölf Tafeln und diese waren, das wird man LAMBERT unbedingt zugeben müssen, kein Gesetzbuch, sondern ein Rechtsbuch, eine, vielleicht im obrigkeitlichen Auftrag vorgenommene, Zusammenfassung alten Juristenrechts. Und da dürfen wir die Grundsätzen der modernen Quellenkritik nicht ins 3. oder 4. Jahrhunder vor  Christo  verlegen. Wie oft man im Mittelalter neue Rechtssätze in alte Rechts- und Gesetzbücher einschmuggelte ist allgemein bekannt, und etwas Ähnliches wird auch im älteren Rom vorgekommen sein, zumal es von den zwölf Tafeln, wie LAMBERT bewiesen hat, eine beglaubigte Überlieferung nie gegeben hat; daß man sich nicht scheute an ihnen zu ändern, ergibt sich schon aus ihrem Latein, das spätestens aus dem 3. Jahrhundert stammt und aus den nicht unerheblichen Abweichungen in solchen Rechtssätzen, die auf uns mehrmals gekommen sind. Es wird also gewiß nicht selten von den Juristen zuerst eine Vorlage hergestellt und erst nachträglich aus ihr der Rechtssatz in die zwölf Tafeln aufgenommen worden sein: wo dabei der fromme Betrug aufhörte und die Selbsttäuschung begann, wird man beim Mangel des historischen Gewissens sogar im 2. oder 1. Jahrhundert in Rom, ebensowenig gewußt haben wie bei den Kirchenrechtsquellen des älteren Mittelalters. Ich habe diese Ansicht schon in meinen Beiträgen zur Theorie der Rechtsquellen [ehrlich] vertreten und halte sie jetzt noch aufrecht. Die Juristen haben aber auch oft einem alten Rechtssatz eine neue Deutung gegeben und daraufhin eine neue Vorlage verfaßt oder den Rechtssatz in einer bereits vorhandenen Vorlage so ausgelegt, daß sie für neue Zwecke verwendbar wurde. Wahrscheinlich sind alle diese Wege oft genug betreten worden. Ob die  pontifices [sakrale Beamte - wp] ihren Vorrat an Vorlagen ständig vermehrten, wissen wir nicht, aber wir haben eine bestimmte Nachricht, daß nach der Veröffentlichung des pontifikalen Archivs eine Sammlung von Aktionen erschienen ist, die neue Vorlagen enthielt. Andererseits wird uns berichtet, daß das  ius civile  sich anfänglich als  interpretatio  der zwölf Tafeln gab, obwohl es von ihnen inhaltlich unabhängig war. Man konnte daher die Spruchformeln, in denen das Gesetz angeführt wurde, so lassen, wie sie waren, und das  ius civile  als angebliche  interpretatio  in der Verhandlung zur Geltung bringen.

Obwohl in Rom die Juristen unentgeltlich tätig waren, hatten sie doch überwiegend die Stellung eines Rechtsanwalts: ihre Aufgabe war, der Partei, die sich an sie wandte, wenn sie ihre Sache für eine gute hielten, zu helfen. Die Juristen nahmen an den Spruchformeln die Änderungen vor, die notwendig waren, um sie für den Fall geeignet zu machen, verfaßten neue  actiones  und stellten die Rechtsgutachen (responsa) aus, von denen die Partei vor dem, ebenfalls von Juristen beratenen, Prätor und dem Richter Gebrauch machte. Der Anstoß zu jeder Ausgestaltung des Rechts ging daher in Rom von den Juristen aus. Drang die Neuerung beim Prätor durch, entschied der Geschworene in ihrem Sinne, hatte sie die Kritik des Forum, die  disputatio fori,  von der uns POMPONIUS berichtet, glücklich bestanden, so setzten etwaige Versuche ein, sie in die zwölf Tafeln hineinzubringen, oder sie wurde als ganz selbständiges, von den zwölf Tafeln unabhängiges, Stück des  ius civile  zum Rechtssatz erhoben und dann hieß es:  hoc iure utimur [ein Gesetz der Praxis - wp].
LITERATUR Eugen Ehrlich, Die juristische Logik, Tübingen 1918