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Laurent Verycken
F o r m e n   d e r  
W i r k l i c h k e i t


Bewußtsein
- I I -

1. Raum-Zeit
3. Logik
4. Sprache
5. Tatsachen
6. Moral
  7. Ordnung
  8. Recht
  9. Ökonomie
10. Anarchie
11. Religion
"Alle unsere Beschreibungen kreisen nur um den uns zur Verfügung stehenden Wortschatz."

Das Bewußtsein kann nicht als bloße 'Summe' von elementaren Empfindungen oder anderen letzten Bestandteilen gedacht werden. Eine rationale Analyse findet in den Tatsachen des Seelenlebens ihre Grenze. Die Seele muß als aus unzerlegbaren Einheiten bestehend gedacht werden. "Jeder Bewußtseinszustand ist eine Einheit und nicht im echten Sinne analysierbar." 10) Wir können einen lebenden Organismus nicht in eine Summe seiner wahrnehmbaren Teile auflösen. Als Menschen leiden wir immer als Ganzes. Wenn ein Teil unseres Körpers leidet, leidet alles andere mit ihm. Nicht unser Gehirn macht Erfahrungen, sondern  Ich,  als ein ganzer Mensch, mache Erfahrungen, nicht mein Zahn hat Schmerzen, sondern  Ich  habe Schmerzen. Das organische Leben läßt sich nicht aufteilen, es ist im Ganzen, nicht in den Teilen.

In der analytischen Funktionalisierung und Mechanisierung psychischer Begriffe geht immer der geistige Gehalt eines Menschen verloren. So, wie eine Empfindung nicht den einzelnen Atomen zukommt, sondern dem ganzen Menschen, ist jeder seelische Vorgang im Bezug auf die gesamte Persönlichkeit zu sehen. Gefühle sind Ausdruck individueller Ganzheiten. Es gibt keine objektiven Gefühle. Ein Gefühl  ansich  hätte keinen Wert. Das Seelenleben befindet sich in ständigem Fluß. Die Gefühlswelt kennt keine gleichbleibenden Eigenschaften. Beharrlichkeit existiert nur als Abstraktion. Eine Empfindung  ansich  ist eine völlige Absurdität.

Das Sinnliche ist eigentlich ein Ungedachtes und kann nicht durch eine gedachte Analyse, sondern nur wieder durch andere sinnliche Empfindungen kennengelernt werden. Empfindungen lassen sich nur empfinden und nicht denken. Die Unmöglichkeit ist prinzipiell. Empfindungen können nicht dingfest gemacht werden, weil das dingfest machen die Empfindung verändert. Beobachtung bedeutet einen Eingriff in das Beobachtete. Beobachtung verändert die Wirklichkeit. Wir können den Gang unseres Seelenlebens nicht beobachten, ohne ihn zu verändern. Die absichtliche Aufmerksamkeit ändert und verscheucht den unwillkürlichen und unbeobachteten seelischen Vorgang. Eine Trennung des Beobachters vom beobachteten System ist nicht möglich, weswegen ich, was meine Empfindungen betrifft, unmöglich zu einer objektiven Aussage kommen kann. Kein Beobachtungssystem kann sich selbst beim Beobachten wahrnehmen. Eine Abspaltung des Objekts (die Empfindung) vom Subjekt (dem Empfindenden) ist nicht möglich. Gedanklich laufen wir unseren Empfindungen immer hinterher, ohne sie zu erreichen. Durch den Akt des Denkens und der Benennung verändern sich auch unsere Empfindungen.

Die Sinnenwelt ist ein ewiges Werden und unsere Sinnesempfindungen sind nichts, woran Bestand behauptet werden kann. Sie  werden  immer nur,  sind  aber nie. Die  Empfindung  muß deshalb unbedingt von der  Wahrnehmung  unterschieden werden. Das Kennzeichen von Empfindungen ist ihre permanente Veränderlichkeit. Eine Empfindung ist ein  Prozess  und hat keine dauernden Eigenschaften. Die Empfindung ist immer etwas anderes, als die kategorischen Begriffe, mit denen wir sie bezeichnen. Im sprachlichen, bzw. logischen Ausdruck wir die spezifische Komplexität des Seelenlebens größtenteils verdeckt. Abstrakte Begriffe sind Verallemeinerungen, das heißt sie gelten immer gleichzeitig für eine ganze Gruppe ähnlicher Empfindungen. Wörter sind gewissermaßen Prototypen für Wirkliches. Solange eine Empfindung nicht in eine Kategorie eingereiht ist, bedeutet sie psychische Spannung. Erst in der Verdinglichung durch ein Wort löst sich diese Spannung.

Alles Sinnliche ist kontinuierlich. Das Kontinuierliche entzieht sich aber unserem rationalen Zugriff. Alles Beharrende ist zwar greifbar, aber nichtsinnlich. Abstraktionen sind gegenständlich, das heißt:  objektiv.  Ein Begriff erleichtert uns die praktisch verwertbare Interpretation unserer Empfindungen. Wir neigen deshalb immer dazu Ähnlichkeiten zu verallgemeinern und Unterschiede zu vernachlässigen. Im täglichen Umgang wäre eine zu große Differenzierung auch eher hinderlich. Wir müßten ja sonst für jede spezielle Empfindung eine eigene Bezeichnung haben.

Wir dürfen unsere Begriffe nie mit der Wirklichkeit verwechseln. Unser Intellekt ist es, der die konkrete Empfindung in die abstrakte Gleichheit eines Begriffs verwandelt. Jede festgestellte Gleichheit ist ein reines Gedankenprodukt aus denkökonomischen Gründen. Unser praktisches Verhalten drängt gern ins Allgemeine, d.h. in die Verallgemeinerbarkeit, um eine möglichst große Anzahl von Erscheinungen unter den gleichen Nenner zu bringen. Wenn wir uns aber unsere konkreten Empfindungen bewußt machen, so sind sie sehr individuell. Eine Empfindung ist nie eine Empfindung überhaupt. Eine gleiche Empfindung gibt es nicht, denn ob ich immer das Gleiche empfinde, oder gar nicht empfinde, macht keinen Unterschied. Eine Empfindung existiert auch nur solange, wie sie empfunden wird. In der Abstraktion der Wahrnehmung dagegen werden die Empfindungen sprachlich oder visuell im Gehirn konserviert. Unsere Begriffe entspringen deshalb unserem Verstand und nicht den Empfindungen. Keine Theorie erklärt eine sinnliche Empfindung. Die Empfindung ist ein  sinnlicher  Bewußtseinsprozess, die Wahrnehmung ein  logischer. 

In der Wahrnehmung wird die Empfindung sprachlich bezeichnet und damit klassifiziert und das Rohmaterial unserer Erfahrungen, von einer im Grunde chaotischen Vielfalt sinnlicher Reize, in sinnvolle Eindrücke verwandelt. Wir abstrahieren die konkrete Empfindung unter eine Kategorie, um sie gegenständlich und damit beschreibbar machen zu können. Die echte Empfindung ist aber nie mit der abstrakten Wahrnehmung identisch. Begriffe können in keiner Erkenntnis das Erste sein, sondern sie sind immer aus irgendeiner Empfindung abstrahiert. Was in der Verwandlung der Empfindung zur Wahrnehmung geschieht, ist eine Gleichsetzung von Ungleichartigem oder nur Ähnlichem. Diese Gleichsetzung ist aber ein logischer Fehler. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, die Sprache bezieht sich unmittelbar auf die Anschauung.  Wahrnehmung  und  Empfindung  sind im Prinzip inkommensurabel. In der Wahrnehmung wird nie etwas anderes, als Ähnlichkeit entdeckt. Ohne diese  Entdeckung  des Verstandes könnte sich die Empfindung nicht in eine Wahrnehmung verwandeln. Wir könnten überhaupt keine Begriffe anwenden, würden wir nicht  ähnliche  Empfindungen für  gleiche  Wahrnehmungen halten. Alles aber, was wir nicht unmittelbar empfinden, entspringt unserer Vorstellungskraft. "Wahrnehmen ist Wahrzunehmen-denken." 11)

Die erkenntnistheoretische Aufgabe ist es, Objektivität zu begründen. Geistiges von Sinnlichem zu unterscheiden, ist dabei das größte Problem. Das übliche Durcheinander von Logik und Empfindung resultiert aus der fehlenden Unterscheidung von  Empfindung  und  Wahrnehmung.  Zwischen Empfindung und der gedanklichen Verarbeitung, der Wahrnehmung, gibt es keine logische Beziehung. Die Wahrnehmung unterscheidet sich von der Empfindung dadurch, daß Allgemeinheit ihr Prinzip ist. Die unmittelbaren Erlebnisse sind nur  einmal  unmittelbar gegeben, sie sind einmalig. Eine Empfindung wird immer konkret erlebt; abstrakt ist nur die Bezeichnung. Es gibt nichts Sichtbares und Fühlbares überhaupt, genausowenig wie es Sehen oder Fühlen überhaupt gibt.

"Je weiter sich der Mensch vom Sinnlichen entfernt, desto mehr unterliegt er dem Irrtum, und die Sprache ist die wichtigste Trägerin desselben. Sobald die Worte als adäquate Bilder von Dingen genommen, oder mit wirklichen anschaulichen Dingen verwechselt werden, während sie doch nur willkürliche, mit Vorsicht zu gebrauchende Zeichen für gewissen Ideen sind, ist das Feld zahlloser Irrtümer erschlossen." 12)
Meistens werden wir uns der logisch unüberbrückbaren Kluft gar nicht bewußt, die das sinnliche Erlebnis von der Welt der Begriffe trennt. Was wir als einen Gegenstand wahrnehmen, ist in Wirklichkeit ein ziemlich kompliziertes Zusammentreffen von Vorgängen, die sich unmöglich in ihrer Vollständigkeit beschreiben oder auch nur wahrnehmen lassen.

Es ist lediglich unser Nervensystem, das unsere Sinneseindrücke derart verarbeitet, daß wir einen Gegenstand als  etwas  wahrnehmen. Aus der ungegenständlichen Empfindung werden gegenständliche Objekte. Wir abstrahieren aus einer Summe von Empfindungen und aus komplexen Bewußtseinszuständen einen Sammelbegriff, einen  Charakter,  ein  Wesen  der Dinge, bzw. das Ding selber. In der Abstraktion des Verstandes wird das Beharrliche angenommen und als positiv gegeben gesetzt. Die phänomenale Welt wird Kategorien unterworfen. Was gewöhnlich unter wissenschaftlicher Methode verstanden wird, ist eine Auffassung der Empfindungen, als wären sie fixe Dinge.

"Gegeben sind dem Bewußtsein (aber) nur Empfindungen; indem es ein Ding hinzudenkt, dem diese Empfindungen als Eigenschaften angehören sollen, begeht das Denken einen kolossalen Irrtum! Es hypostasiert [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]   die Empfindung, die doch nur ein Prozess ist, zu einer seienden Eigenschaft." 13)
Wir urteilen überall da, wo wir nicht rein empfinden. Unseren Wahrnehmungen kommt keine Wahrheit, sondern allenfalls Annahme zu. Der theoretischen Gleichheit steht immer eine faktische Ungleichheit gegenüber. Wir nehmen nie wahr, wie etwas  ist,  sondern empfinden und bezeichnen etwas, das sich in unseren Sinnen abspielt. Die Wahrnehmung ist bereits abstrakt und eine geistige Konstruktion, bzw. ein unbewußter Deutungsvorgang. Alle Wahrnehmung ist schon eine Interpretation der ursprünglichen Intuition.

Kategorien sind die Bedingung von Erfahrungen. In der Sprache repräsentieren wir unsere Erfahrung. Wir dürfen nur nicht glauben, ein Wort repräsentiere die Wirklichkeit ohne Rest. Es bleibt immer ein, meist nicht unbedeutender Faktor unberücksichtigt. In der Abstraktion der Wirklichkeit zum Begriff werden nur die jeweils allgemeinen Merkmale betrachtet, die für den individuellen Zweck eben gerade von Bedeutung sind. Was wir sprachlich ordnen, geschieht immer unter zweckdienlichen Gesichtspunkten. Erst die Bedeutung, die eine Abstraktion für uns hat, macht sie uns praktisch nützlich.

Die Sprache hat darum in erster Linie Ordnungsfunktion. Ohne Symbol oder Zeichen könnten wir überhaupt nichts wissen. Das Wort ist aber nicht die Wirklichkeit. Es ist nur in die Wirklichkeit zwischengeschaltet. Die Wörter stehen zwischen uns und der Wirklichkeit. Wo Veränderungen in der Wirklichkeit zu einer meßbaren Größe und damit wahrnehmbar geworden sind, sind sie auch schon Abstraktion und nicht mehr wirklich.

Alle objektive Beschreibung ist im Prinzip Bildersprache. Auch die  Empfindung  und das Denken sind selbst nur eine sprachliche Figur. Jedes dieser Bilder ist ein vielschichtiger Komplex der Kodierung und Abbildung. Unser Denken ist Interpretation in Bezug auf die Sinnesdaten. Bewußtsein ist nie identisch mit der bloßen Existenz eines Phänomens, sondern es bezeichnet auch immer eine Bedeutung desselben. Alle Bedeutungen bemessen sich nach unserem Interesse. "Bewußtsein heißt Dasein für mich." 14) Ohne Interesse ist deshalb keine Erkenntnis möglich. Alle Kategorien erhalten nur in Bezug auf unsere subjektive Sinnlichkeit eine Bedeutung. "Die Bedeutung ist die Seele des Worts," um mit MAUTHNER zu sprechen. Bedeutung ist aber immer etwas Subjektives und nichts Logisches.

Die begriffliche Auffassung der kontinuierlichen Erfahrungen ist eine  mechanische,  ist Teil eines Mechanismus. Jeder Mechanismus funktioniert in Bezug auf einen Zweck. Funktion, Mechanismus und Zweck bedingen sich gegenseitig. Zwecke sind aber Produkte menschlichen Denkens und Wollens und nichts in der Welt gegenständlich Vorhandenes. Jeder Zweck ist ideal. Wir haben immer einen Zweck oder Gesichtspunkt im Sinn, unter dem wir die Welt betrachten. In einer Wirklichkeit  ansich  wäre alles unterschiedslos. Unterschiede, als Bedingung unseres Bewußtseins, gibt es erst, wenn etwas sein  soll.  "Bewußtsein ist immer intentional. Es hat etwas im Sinn und ist auf Objekte gerichtet. Wir können niemals Bewußtsein als solches erreichen, nur Bewußtsein von etwas." 15) Was sein  soll,  ist von uns  gewollt. 

Etwas wollen heißt auch Widersprüche wecken zwischen der tatsächlichen und gewünschten Wirklichkeit. In allem Bewußtsein sind wir gespalten zwischen der Gegenwart der unmittelbaren Empfindung und unseren Vorstellungen über Vergangenheit oder Zukunft. Immer schwingen in der Beobachtung unbewußte Wünsche mit. Was wir konkret  wollen,  läßt sich deshalb aus dem Beobachtungsakt nicht heraushalten. Wir denken zwar mehr oder weniger logisch, aber wir entscheiden nicht durchgehend logisch, weil wir immer vor der Notwendigkeit stehen  unmittelbaren  Erfordernissen gerecht zu werden, die keinen Aufschub oder langwierige Überlegungen dulden.

Entscheidende Impulse gehen vom subjektiven Willen und weniger vom objektiven Verstand aus. Wir bezeichnen immer eine in der Wirklichkeit nicht vorhandene Unterscheidung der Sinneseindrücke nach der für uns spezifischen Bedeutung. Bedeutungen erhalten wir aber nicht von der Umwelt, sondern wir  übertragen  sie, meist ohne viel zu überlegen. Unser Erkenntnisapparat gewöhnt sich so an das Gesehene und Erlebte, daß fast automatisch die Empfindung mit dem Wort gleichgesetzt wird. Die Behauptung, daß unsere sprachlichen Gewohnheiten die Wahrnehmungen produzieren, ist in keinster Weise abwegig. Die Sprache beeinflußt unsere Wahrnehmungen.

Unsere Erfahrungen sind mit Regelmäßigkeiten durchsetzt, weil wir immer irgendwie gezwungen sind, für unsere Gefühle schon vorhandene Begriffe zu benützen. So kommt es dazu, daß wir  die  Dinge eher feststellen und empfinden, wofür uns gerade ein Begriff zur Hand ist. Wir sehen dann oft Dinge, nur weil der entsprechende Begriff für unser Gehirn so aufdringlich wirkt. Die ganze Wahrnehmung muß deshalb in einem hohen Maß als eine Funktion der sprachlichen Kategorien, die dem Empfindenden zur Verfügung stehen, betrachtet werden.

Alle unsere Beschreibungen kreisen nur um den uns zur Verfügung stehenden Wortschatz. "Die Erfahrung besetzt diejenigen Punkte, die durch das sozial bestimmte Kategoriensystem freigegeben wird." 16) Die Kategorien werden schließlich zu den Bedingungen der gewöhnlichen Erfahrung. Wir neigen immer dazu, Dinge zu beobachten, deren Namen wir ohne weiteres kennen und alles andere zu übersehen. Das logische, an Kategorien haftende Denken, erschwert deshalb das Denken der Veränderung. Jeder Begriff legt unser Denken irgendwie fest. Wir  sehen  mit unseren Kategorien. Begriffe üben bisweilen eine fast schon hypnotische Wirkung aus. Wir dürfen uns aber von den Abstraktionen nicht narren lassen. Zuerst kommt die Empfindung und dann die Bezeichnung.

"Nicht also, weil es ein Gesehenes ist, wird es gesehen, sondern im Gegenteil, weil es gesehen wird, ist es ein Gesehenes; nicht weil es ein Geführtes ist, wird es geführt, sondern weil es geführt wird, ist es ein Geführtes; und nicht weil es ein Getragenes ist, wird es getragen, sondern weil es getragen wird, ist es ein Getragenes." 17)
Das Objekt setzt überall das Subjekt voraus. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, als Grundlage allen Denkens, ist aber nur ein Produkt der Sprache. Subjekt und Objekt sind  Denkformen  und die Sprache der große Übergangspunkt von der Subjektivität zur Objektivität. "...Objektivität und Subjektivität - ansich ein und dasselbe - werden nur dadurch verschieden, daß die selbsttätige Handlung der Reflexion sie einander entgegensetzt..." 18) Es gibt weder Objekt noch Subjekt ansich, sondern eins gibt das andere. Ohne  Ich  gibt es keine Dinge und ohne Dinge gibt es keine Person. Damit sich der Verstand überhaupt erst zu Bewußtsein kommen kann, muß er sich selbst vom Gegenstand des Denkens trennen. Wir denken deshalb immer  über  etwas nach. Es gibt kein Denken  ansich. 

Gerade im Begriff des Dings, d.h. des Gegenstandes der Überlegung, der als eine Einheit aus dem unendlichen Zusammenhang des Seins herausgehoben wird, liegt der subjektive Faktor, weil die Kriterien, die die Auswahl bestimmen, letztlich nicht objektiv sein können. Es gibt kein Denken, das nicht auch von einem Gefühl begleitet wird, ebensowenig gibt es ein Gefühl, bei dem nicht auch gedacht wird. Reines Denken und reine Empfindung sind logische Ideale. Im konkreten Erleben sind Empfindung und Denken nie klar voneinander getrennt. Es ist auch unmöglich, den Gegenstand und das Geistesprodukt klar auseinander zu halten. Rationalität und Gefühl sind immer mehr oder weniger miteinander vermischt. Die Schwierigkeit denken und fühlen zu unterscheiden kann deshalb oft dazu führen, daß wir glauben etwas zu fühlen, nur weil wir so denken. Die Macht der Einbildung nährt sich aus dieser Fähigkeit. Wo die Möglichkeiten der Logik überschätzt werden und naive Menschen die Wirkungsweise von Sprache und Rationalität nicht durchschauen, werden die Empfindungen gedacht. Entfremdete Menschen sind deprimiert, weil sie aufgrund ihrer logischen Schlüsse deprimiert sein müssen.  Bewußtsein  wäre da, wenn sich jemand des jeweiligen konkreten Verhältnisses zwischen Denken und Empfinden bewußt wäre. Die Symbolsysteme sind immer nur ein oberflächliches Muster tieferer Bewußtseinsprozesse.

Das seelische Geschehen ist nie adäquat logisch repräsentierbar und auch nicht objektiv meßbar. Wie jemand wirklich etwas empfindet, weiß, wenn überhaupt, nur derjenige selber. Jeder Begriff ist, als bloßes Wort, eigentlich ohne konkrete Bedeutung. Das Leben, in seiner konkreten Bedeutun für den einzelnen Menschen, kann in keine Allgemeinheit übergeführt werden. Ein  objektiver  Mensch hat keine Persönlichkeit. Mit der Logik sollten wir deshalb nur denken, nicht fühlen und empfinden. Jede Empfindung geht schließlich am Denken zugrunde. Die totale Verdinglichung einer Empfindung durch den Verstand kommt einer Vernichtung gleich.

Eine persönliche Erfahrung läßt sich auch durch die umfänglichste Logik nicht ersetzen. Der Drang, die Gegebenheiten des Bewußtseins zu objektivieren bedeutet lediglich eine ständig zunehmende Ausweitung begrifflicher Konstruktionen. Die Form des Begriffs ist die Form des Gesetzes, der Allgemeinheit, der Objektivität. Logisch ist alles, was ansich gelten soll, und alles, was unabhängig von jeder Erfahrung wahr sein soll. Psychische Zustände dagegen sind weitgehend ungeregelt und widersprüchlich. Mit rationaler Logik allein sind die tieferen Gründe des Geschehens nicht zu erklären, dazu braucht es die Psycho-Logik, bzw. die Psychologie. Reine Logik verträgt sich nicht mit menschlichem Vertrauen.

Im normalen Alltagsleben befangen praktizieren wir im Grunde den allseits bewähren Irrtum, der uns nur deshalb nicht bewußt wird, weil er so allgemein verbreitet ist. Unsere allergewöhnlichste Sicht der Realität und alle aus dieser resultierenden, ach so imposanten Schlüssen, bedürfen jedoch einer gründlichen Revision: Was wir erleben, sind keine Dingeigenschaften, sondern Ähnlichkeiten und Gegensätze, die unser neuro-sensorischer Apparat dann zu  etwas  verarbeitet. Alle Eigenschaften entstehen erst in Bezug auf unser Bewußtsein. Ein Ding mit seiner Eigenschaft zu identifizieren, ist ein direkter logischer Fehler. Dinge besitzen ihre Eigenschaften nur entsprechend den menschlichen Zwecken, die wir verfolgen. Eigenschaften, die wir den Dingen zulegen, sind nach Sinn und Zweck verteilt. Die Dinge selbst haben keine Eigenschaften. Die zwecklose Wirklichkeitswelt ist eigenschaftslos. Eigenschaften sind Qualitäten, die unser sprachlicher Verstand den Dingen zuschreibt. Die Eigenschaften der Dinge sind mehr der Struktur der Sprache eigen, als den Dingen selbst. "Die Sprache versichert durch die Syntax von Subjekt und Prädikat ständig, daß die  Dinge  irgendwie Qualitäten und Attribute  haben."  19)

Wenn wir aber unser Denken für die Wirklichkeit halten, schreiben wir der Welt Eigenschaften der Sprache zu. Es ist jedesmal wie eine Verkehrung unseres Wissens, wenn wir unsere Auslegung für die Wirklichkeit selbst halten. Alle Kategorien haben nur durch unsere Sinnlichkeit eine bestimmte Bedeutung. Das bloße Wort ist sinnlos. Durch die Anschauung ist unserem Bewußtsein ein Gegenstand irgendwie gegeben, erst durch die Kategorie wird er von unserem Verstand gedacht. Die Kategorisierung geschieht zwar nach unserem jeweiligen Interesse, aber wir erkennen unser Interesse nicht immer in dem Sinne, wie wir die Wirklichkeit zu erkennen glauben. Wir  erkennen  die Dinge niemals als zweckmäßig, sondern unterwerfen sie nur einer entsprechenden Beurteilung, unserem subjektivem Wollen gemäß. Es gibt aber kein objektives Interesse, das uns als unfehlbarer Maßstab dienen könnte.

LITERATUR - Laurent Verycken, Formen der Wirklichkeit - Auf den Spuren der Abstraktion, Penzberg, 1994
    Anmerkungen
    10) MORITZ SCHLICK in RUDOLF CARNAP, Der logische Aufbau der Welt, Frankfurt/Berlin/Wien 1979, Seite 92
    11) MAURICE MERLEAU-PONTY, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, Seite 60
    12) F.A. LANGE, Geschichte des Materialismus, Ffm 1974, Band I, Seite 283
    13) HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-ob, Berlin 1911, Seite 303
    14) VIKTOR KRAFT, Weltbegriff und Erkenntnisbegriff, Leipzig 1912, Seite 220
    15) P.L. BERGER / Th. LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Ffm 1989, Seite 23
    16) FRANZ BORKENAU, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1973, Seite 71
    17) SOKRATES in D. BIRNBACHER / N. HOERSTER (Hrsg), Texte zur Ethik, München 1978, Seite 161
    18) WILHELM von HUMBOLDT, Schriften zur Sprache, Stuttgart 1973, Seite 9
    19) GREGORY BATESON, Geist und Natur, Ffm 1987, Seite 81