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OTTOKAR LORENZ
(1832 - 1904)
Friedrich Christoph Schlosser
und über einige Aufgaben und
Prinzipien der Geschichtsschreibung

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"Was in Wahrheit den größten Unterschied zwischen diesen Geschichtsschreibern (Schlosser und Ranke) begründet, liegt weder im formalen Prinzip der Darstellung, noch in der Stellung der Aufgabe als solcher, noch in den höchsten Zielen der Wissenschaft, sondern in der Art und Weise der Lösung jenes Problems, welches man als die Wertbeurteilung in der Geschichte zu bezeichnen hat. Daß von dieser Wertbeurteilung der Dinge als einer Errungenschaft der neueren Geschichtsschreibung gegenüber der mittelalterlichen überhaupt nicht abgesehen werden darf, muß man als ein Axiom betrachten, welchem sich längst kein Schriftsteller mehr entziehen kann. Dasselbe liegt in der allgemeinen literarischen und philosophischen Entwicklung zu tief begründet, als daß jemand überhaupt historiographische Beachtung finden könnte, der sich prinzipiell gegen jede Beurteilung des Wertes der historischen Dinge erklärt."

III.Nach manchen Richtungen hin mußte schon der Geschichte des 18. Jahrhunderts Erwähnung geschehen. Die Berührungspunkte zwischen der universalhistorischen Übersicht und dem 18. Jahrhundert in Betreff der methodischen Darstellung der Literaturen der Völker sind so schlagend und eingreifend, daß sich eine getrennte Besprechung der hierbei in Frage kommenden Prinzipien nicht wohl geben läßt. Es ist jetzt ins Auge zu fassen, worin die eigentümliche Leistung SCHLOSSERs in der Geschichte des 18. Jahrhunderts gelegen hat, und welche Umstände es bewirkt haben, daß dieses Werk zu den gelesensten Geschichtsbüchern, und zwar zu jenen gehörte, aus welchen die Nation tatsächlich einen großen Teil ihrer politisch staatlichen Zustände der Zwanziger Jahre nicht ohne Einfluß auf den Gedanken SCHLOSSERs geblieben, die nächste Vergangenheit mit ausdrücklich eingestandenen politischen Lehrzwecken einer eingreifenden Darstellung zu unterziehen. Als er zuerst an diese Arbeit ging, war er ein Mann von 47 Jahren, als er das Werk endgültig und in der Form verfaßte, in welcher es eigentlich erst recht bekannt wurde, stand er im Alter von 57 bis 71 Jahren. Die Epoche, die er vorzuführen unternommen hatte, stand ihm ohne Zweifel geistig näher, als der Generation, zu deren ausdrücklicher Belehrung, ja Besserung und Umkehr die Vergangenheit als ein Spiegelbild vorgestellt werden sollte. Die Geschichte des 18. Jahrhunderts war eigentlich das einzige staatsgeschichtliche Werk, das SCHLOSSER überhaupt geschrieben hat, er verfaßte es in seinen späten Lebensjahren und er trat an diese Aufgabe der Geschichtsschreibung überhaupt unter dem Gesichtspunkt politischer Didaktik heran. Die Historiographie hatte aber auf dem Gebiet der Staatsgeschiche damals in Deutschland eben einen Schritt gemacht, welcher überhaupt als der bedeutendste und wichtigste erscheint, welcher seit PÜTTER zu verzeichnen war. (39) Was war natürlicher, als daß vom ersten Moment des Erscheinens der Geschichte des 18. Jahrhunderts ein fortwährender Vergleich zwischen RANKE und SCHLOSSER üblich geworden ist, und daß man neben der Gleichheit der Erscheinungsjahreszahlen der Bücher vergessen hat, daß dieser bereits ein sehr alter und jener ein ganz junger Mann war, als beide in eine gleichsam unwillkürliche Konkurrenz staatsgeschichtlicher Geschichtsschreibung geraten waren. Man konnte jedoch nicht leicht einen weniger passenden Vergleich machen, als zwischen SCHLOSSER und RANKE, welche von ganz verschiedenen Ausgangspunkten zu ihren staatsgeschichtlichen Arbeiten gekommen sind. Der Universalhistoriker SCHLOSSER hatte sich gleichsam nur von der Zeitströmung ein Interesse für die spezifisch politischen Dinge insbesondere der neueren Zeit abringen lassen. Seine Jugend war noch erfüllt von der Abneigung gegen die politische Historie, welche in der Behandlung von Haupt- und Staatsaktionen mit trefflichen pragmatischen Maximen ihre Aufgabe gesehen hat. PÜTTER, der der Hauptvertreter dieser Richtung genannt werden kann, war in Göttingen vom jungen SCHLOSSER kaum beachtet worden. Gerade umgekehrt war RANKE von der Staatshistorie ausgegangen und im Begriff sich von diesem festen Punkt aus zu universalhistorischen Tendenzen durchzuarbeiten, ein Versuch, der freilich nur in eingeschränktem Maß zur Ausführung gekommen ist, denn RANKE enschloß sich doch niemals seine gerne betonten universalhistorischen Gesichtspunkte im Chaos einer sogenannten Weltgeschichte untergehen zu lassen. RANKE war stets ein Staatshistoriker geblieben und keinem Versuch konnte es je gelingen, ihn aus der Reihe der rein politischen Schriftsteller und Staatsgeschichtsschreiber herauszuziehen (40). Betrachten wir aber die Methoden und die inneren Aufgaben, welche beide Mäner ihrer Geschichtsschreibung vergesetzt haben, so werden dieselben sich ebenso unvergleichbar finden, wie ihre Ausgangspunkte verschieden waren; und wenn wir vielleicht am Schluß auf die beliebte Parallele zurückkommen sollten, so wird es nur geschehen könnnen, um zu zeigen, daß zwischen den zufällig gleichschreibenden, altersungleichen Männern der Unterschied einer historiographische und philosophischen Entwicklungsepoche von mindestens 50 Jahren liegt.

Was dacht sich SCHLOSSER als Aufgabe der Staatsgeschichte? Er sprach sich bestimmt niemals über das Wesen derselben aus, auch in seiner Geschichte des 18. Jahrhunderts würde er uns den Unterschied von Staatsgeschichte und Universalhistorie, welchen wir als das einzig sichere Prinzip der Historiographie festhalten, nicht einmal recht zugestehen wollen. Auch hier, wo er seine Erzählung fast ausschließlich auf die hervorragendsten europäischen Völker beschränkt, spricht er mit großer Vorliebe von der Menschheit und ihrer Entwicklung und lebt in einer Art von universalhistorischem Traum, indem er über die rechtschaffendsten Intrigen des täglichen politischen Geschäftsverkehrs aus den höchsten weltgeschichtlichen Gesichtspunkten heraus eine Kritik der praktischen Vernunft auseinenanderfaltet. Er würde auch in Bezug auf sein 18. Jahrhundert trotz des offenbar politischen Hintergrundes des Werks, nie zugegeben haben, daß er in der Darstellung von Staatsgeschichte seine Aufgabe erfüllt sieht. Da er jedoch das Werk auch äußerlich von seiner Universalhistorie abgetrennt hat, so wird er sich hier umso eher gefallen lassen können, unter den Gesichtspunkten der Staatshistorie aufgefaßt zu werden, als wir unsererseits den Fragen, welche für seine universalhistorische Auffassung maßgebend sind, hinreichende Aufmerksamkeit geschenkt haben und dieselben daher in Bezug auf die Geschichte des 18. Jahrhunderts ganz bei Seite liegen lassen können.

Was SCHLOSSER anstrebte, bemerkte er in der Widmung seines Werkes durch den treffenden Hinweis auf DANTE. Lag es auch nahe, der Großherzogin STEPHANIE gegenüber an den gemeinsam verehrten Dichter zu erinnern, so ist es doch keine bloße Redensart, wenn er in DANTEs Werk ein ewiges Vorbild für den Geschichtsschreiber erblickt. Die Beschäftigung mit DANTEs Dichtung füllte bekanntlich alle Epochen von SCHLOSSERs Leben mit stets steigendem Interesse, welchem er in Schrift und Vortrag Ausdruck gegeben hat (41). Dürfte man das eigentümliche geistige Verwandtschaftsgefühl des Geschichtsschreiber mit dem alten Dichter nach dem, was jener selbst darüber geäußert hat, zergliedern, so lag es wohl darin, daß DANTE ein inneres, sittliches Bedürfnis SCHLOSSERs gleichsam in monumentaler Sicherheit und mit unbeugsamer Zuversicht erfüllte, indem er allem menschlichen Tun gegenüber die Waage des göttlichen Richters gegenübersetzte. Wenn SCHLOSSER von der Verwendbarkeit der Weltanschauung DANTEs für die Zwecke der Geschichte spricht, so kann er dabei notwendig nur daran gedacht haben, daß die Geschichtsschreibung jedem menschlichen Tun gegenüber ebenso unwillkürlich Stellung nehmen muß, wie der Dichter der "Göttlichen Komödie" gegenüber seinen poetisch-historischen Gestalten. Und wenn SCHLOSSER noch die frappante Bemerkung macht, daß bei "so bekannten Geschichten", wie denen des vorigen Jahrhunderts es weniger auf die Forschung "als vielmehr auf die Auswahl und Stellung der Tatsachen" ankommt, so zeigt sich auch hierin die Absicht den beurteilenden Standpunkt der Darstellung in den Vordergrund treten zu lassen. Das Weltgericht DANTEs, die Vorführung von Himmel, Hölle und Fegefeuer, als unmittelbarste Aufgabe der Geschichtsschreibung wollte SCHLOSSER nicht wie einen Akt subjektiver Entscheidung, sondern als den Ausdruck dessen erscheinen lassen, was lediglich durch die Auswahl und Stellung der Tatsachen von selbst sich bietet. Wollte man das, was auf diese Weise beabsichtigt war, in ein großes Wort zusammenfassen, so könnte man sagen, daß es die Wertbeurteilung ist, was der Geschichtsschreiber erreichen will.

Es mag später noch untersucht werden, wie SCHLOSSER diese Wertbeurteilung gehandhabt hat, welche Grundlagen sie hatte; vorher wollen wir nur zweier Entwürfe gedenken, welche sehr häufig gegen diese im 18. Jahrhundert hervortretende Beurteilung SCHLOSSERs erhoben wurden. Fürs Erstes meine man, daß der Geschichtsschreiber hierin absolut willkürlich verfährt - ja man verstieg sich, diese Willkürlichkeit des Urteils zu identifizieren mit dem allerdings auch etwas verschwommenen Begriff von subjektivistischer Geschichtsschreibung, - und fürs Zweite bemerkte man gegen SCHLOSSER, daß er vermöge seiner schwachen Studien in den Archiven des vorigen Jahrhunderts nicht berechtigt war, vorschnell zu urteilen und man setzte ihn in dieser Beziehung in einen Gegensatz gegen die gelobte sogenannte diplomatische Geschichtsschreibung, welche vorsichtig ist und daher Niemanden in das Purgatorio [Fegefeuer - wp] DANTEs sendet, bevor nicht alle Quellen der Rechtfertigung vollständig durchgeprüft worden sind (42).

Es sei gestattet, diese SCHLOSSERs Absichten gleichsam von vornherein verurteilenden Anklagen genauer zu besehen und auf ihr richtiges Maß zurückzuführen. Was nun zunächst die Frage der Erforschung anbelangt, so ist es allerdings richtig, daß SCHLOSSERs archivarisches Material mit dem verglichen, was man heute für nötig erachtet, um eine Sach spruchreif zu finden, äußerst dürftig war. Verkehrt wäre es aber, einen prinzipiellen, auf die methodische Absicht SCHLOSSERs zurückführenden Gegensatz deshalb zwischen ihm und der sogenannten diplomatischen Geschichtsforschung anszunehmen. Abgesehen davon, daß SCHLOSSER zweimal zum Zweck archivarischer Forschungen in Paris war, so hat er es auch in deutschen Landen an vielfachen Nachfragen nicht fehlen lassen, und deshalb, weil er nach Sachlage jener Zeit eben wenig Erfolg mit seinen archivarischen Studien hatte, einem hochgestellten Geist eine törichte Geringschätzung dieses Stoffes prinzipiell zu unterschieben, muß man für unerlaubt bezeichnen. Es gehört wahrlich erschreckend wenig Verstand dazu, um zu begreifen, daß es nützlich ist, dasjenige zu lesen, was irgendein Machthaber geschrieben, geäußert, vertraulich mitgeteilt hat, wenn man verstehen will, was er gewollt oder getan hat. In einer so einfachen Frage der historischen Kritik überhaupt einen Unterschied zwischen zweien das historische Handwerk jahraus jahrein betreibenden Männern im Prinzip vorauszusetzen, heißt in der Tat die Sache selbst sehr geringschätzen und es wäre kaum zu begreifen, daß man SCHLOSSER den Vorwurf gemacht hat, er hätte grundsätzlich die Kenntnisnahme geheimer Papiere verweigert, wenn nich in der Fülle der Lobrede GERVINUS selbst zu solchen Mißverständnissen Anlaß gegeben hätte (43). Die Mitteilung von Aktenstücken, Denkschriften, Gesandtschaftsrelationen war schon in SCHLOSSERs Jugendzeit nicht nur eine sehr beliebte, sondern auch eine begehrte Beschäftigung und das Interesse für die in den Archiven verborgenen Papiere war niemals im großen Publikum verbreiteter, als damals, wo die ängstliche Geheimhaltung der amtlichen Papiere als Regierungsgrundsatz gegolten hat. Welche Erfolge schon SCHLÖZER gerade dadurch erzielte, daß er der politischen Neugierde in einer Zeit der größten Geheimniskrämerei entgegen gekommen ist, ist bekannt, und recht in dieser Strömung des öffentlichen Geistes, welcher heißhungrig nach allen "geheimen" Papieren, Briefen, Memoiren spähte, war SCHLOSSER herangewachsen. Wenn ihm aber der Wert der Staatskanzleien und Akten nichts Unbekanntes war und sein konnte, so schließt dies allerdings nicht aus, daß er im einzelnen Fall der Kritik der Quellen, welche von der handelnden Diplomatie ausgegangen sind, eine viel untergeordnetere Glaubwürdigkeit beimessen konnte, als andere Forscher gleichzeitig oder später als er getan haben. Wie weit aber durch eine zu geringe Wertschätzung amtlicher Materialien SCHLOSSER in Irrtümer verfallen ist, läßt sich natürlich nur in jedem einzelnen Punkt besonders konstatieren, aus einem durchschlagenden Unterschied des Forschungsprinzips wir hierbei sicher nichts zu deduzieren sein. Nur so viel wird man vielleicht sagen können, daß SCHLOSSER mehr infolge seiner gleichsam oppositionellen Stimmung als infolge seiner kritischen Grundsätze ebenso sehr in Gefahr war, das geschriebene Wort des Staatsmannes und Diplomaten (das Aktenstück) zu unterschätzen, als es unsere heutige Geschichtsschreibung nicht selbst zu überschätzen pflegt.

Mit dieser Darlegung des wirklichen Sachverhalts in Betreff der Forschung SCHLOSSERs über die Geschichte des 18. Jahrhundert, sind wir nun bei der anderen Anklage angekommen, daß seine Maxime steter Beurteilung der geschichtlichen Ereignisse ein subjektives Moment in die Darstellung gebracht hat, welchem keine wissenschaftliche Berechtigung zuerkannt werden kann. Auch diesem Vorwurf liegt ohne Zweifel eine richtige Beobachtung zugrunde, aber die Formulierung, in welcher derselbe gewöhnlich hervortritt, gibt zu den schädlichsten Mißverständnissen Anlaß. Vor allem scheint es eine Mißbrauch von Worten, wenn an all das, was sich als Urteil in einer Darstellung geltend macht, als subjektiv, und dasjenige, was sich auf die einfache Mitteilung der sogenannten Tatsachen bezieht, als objektiv bezeichnet. In Wahrheit gibt es überhaupt keinen Bericht von Tatsachen der nicht subjektiv wäre, und ein Urteil ohne die Beziehung auf ein Objekt ist ein logischer Unsinn. Man sollte nicht erst an die bekannte Anekdote HUMEs erinnern müssen, um darüber klar zu sein, daß die Ungleichheit der Berichte über den Raufhandel der beiden Fuhrleute vor dem Fenster des englischen Philosophen eben nur zu erklären war, wenn man sich erinnert, daß keiner der Zeugen einen Bericht von der Sache anders, als auf dem Weg seiner Anschauung, seines Eindrucks, seines Urteils geben konnte. Und wenn die Meinungen der Berichterstatter gleich darüber auseinandergehen, welcher der Fuhrleute den Handel angefangen hat, so kam das doch daher, daß eben jeder ein anderes Urteil über den Anfang eines Raufhandels schon mitgebracht hat. Wenn es wahr wäre, daß HUME über die in dieser Anekdote gezeigte Erfahrung an der Möglichkeit der Geschichtsschreibung zu zweifeln begonnen hatte, so müßte man sich wundern, daß man diese fruchtlose Kunst noch bis auf den heutigen Tag eifrig fortsetzt, denn an der Qualität menschlicher Berichte über geschehene Ereignisse hat und wird sich nichts verändern. Wenn man aber trotzdem noch immerfort von objektiver und subjektiver Geschichtsschreibung, wie von einem Kanon der Wissenschaft spricht, nach welchem sich die Darstellung geschichtlicher Dinge unterscheidet, so beweist die zumindest, daß man in unserer historiographischen Terminologie nicht übermäßig wählerisch zu Werke geht. Soll man nicht unter subjektiver Geschichtsschreibung jenen tadelnswerten Vorgang verstehen, daß jemand ohen gehörige Information, leichtsinnig und grundlos Meinungen und Ansichten über Menschen und Ereignisse ausspricht, so muß wohl angenommen werden, daß hinter den von so vielen ernsthaften Leuten gebrauchten Ausdrücken irgendetwas anderes versteckt sein wird.

Ohne Zweifel kann man eine zusammenhängende Reihe von Begebenheiten so erzählen, daß man sich lediglich darauf beschränkt, die Reihe und Aufeinanderfolge derselben zu bestimmen und weiters das Hervorgehen der einen aus der anderen zu erklären. Auch bei der Übung dieser Tätigkeit gehen wir subjektiv zu Werke und kommen in keinem Moment aus unserer eigenen Haut heraus, dennoch aber wird die Darstellung sich damit begnügen können, ausschließlich solches zu enthalten, was als Begebenheit erscheint. Daneben aber wird man auch die Dinge so erzählen können, daß man hinzufügt, was man selbst als Zuschauer in jedem Augenblick von den handelnden Personen denkt. In gewissem Sinne kann diese Darstellungsweise die objektiv zutreffendere sein, da man durch die Mitteilung des eigenen Urteils zugleich die Handhabe bietet, die Beschreibung der Begebenheit zu korrigieren. In formaler Hinsicht wird allerdings die letztere Methode bei weitem subjektiver scheinen, aber auch nur scheinen, denn der Leser oder Hörer erfährt dabei nicht nur das, was nach dem Urteil des Erzählers die Handelnden getan und gedacht, sondern auch das, was der Erzähler mitempfunden hat. In der Darstellung erscheint der Darsteller gleichsam als mithandelnder oder mitdenkender und mifühlender Faktor: Sehr natürlich, daß man bei dieser Methode der Darstellung eine deutlichere Vorstellung vom erzählenden Subjekt erhält, als bei der ersteren, ohne daß jedoch deshalb der objektive Gehalt des Überlieferten im Mindesten ein anderer zu sein braucht. Wenn demnach die unglücklich gewählten Ausdrücke von subjektiver und objektiver Geschichtsschreibung überhaupt einen Sinn haben sollen, so können sie sich nur auf die formale Frage der Darstellung beziehen und werden eigentlich gar nichts über die sachliche Leistung und Darstellung, über die Frage der Richtigkeit des Erzählten besagen. Ein Zeuge, der in einer Gerichtsverhandlung den Hergang des Verbrechens in sehr lebhafter und deutlicher Weise schildet, dabei aber fortwährend die Schlechtigkeit des Verbrechens und die Abscheulichkeit des Lasters versichert, kann möglicherweise dem Richter viel wertvolle Aufschlüsse gegeben haben, als der andere, welcher sich bemüht hatte ohne jeden Beisatz einen Zusammenhang von Begebenheiten vorzutragen, in welchem alle Glieder haarscharft stimmen und dennoch in der Hauptsache die Möglichkeit des reinen Zufalls offen bleibt. Würde der Richter immer die letztere Darstellung als die objektiv richtigere ansehen, - so behielte niemand in der Welt mehr Recht, als der Advokat.

Ich sage es kurz: was man SCHLOSSERs subjektiver und RANKEs objektiver Geschichtsschreibung zu bemerken pflegte, erscheint mir als das nichtigste und unwesentlichste Moment der ganzen Frage und trifft in keinem Punkt auch nur entfernt die Tiefe dieser Gegensätze und das Geheimnis der Geschichtsschreibung. An der Oberfläche ratlos umherirrend, unterschätzt diese Charakteristik die große Kluft zwischen zwei Felsen, und vermag das Wesen von SCHLOSSERs Leistungen ebensowenig zu enthüllen als den gewaltigen Fortschritt zu bezeichnen, welchen die Historiographie in dem zwischen RANKE und SCHLOSSER liegenden Menschenalter gemacht hatte. Was in Wahrheit den größten Unterschied zwischen diesen Geschichtsschreibern begründet, liegt weder im formalen Prinzip der Darstellung, noch in der Stellung der Aufgabe als solcher, noch in den höchsten Zielen der Wissenschaft, sondern in der Art und Weise der Lösung jenes Problems, welches man als die Wertbeurteilung in der Geschichte zu bezeichnen hat. Daß von dieser Wertbeurteilung der Dinge als einer Errungenschaft der neueren Geschichtsschreibung gegenüber der mittelalterlichen überhaupt nicht abgesehen werden darf, muß man als ein Axiom betrachten, welchem sich längst kein Schriftsteller mehr entziehen kann. Dasselbe liegt in der allgemeinen literarischen und philosophischen Entwicklung, wie schon früher bemerkt wurde, zu tief begründet, als daß jemand überhaupt historiographische Beachtung finden könnte, der sich prinzipiell gegen jede Beurteilung des Wertes der historischen Dinge erklärt. Aber freilich fängt die Schwierigkeit für alle gleichmäßig eben da an, wo man im Prinzip einig ist, daß es in der Geschichte einen Wert der einzelnen Dinge geen, und daß diser zur Erkenntnis gebracht werden muß. Denn auf welchem Weg der Geschichtsforscher zum Maßstab dieses Wertes gelangt, in welcher Weise er den Wert des Einzelnen vom Allgemeinen abhängig zeigt, welche Grenzen dem Urteil des Einzelnen in dieser Beziehung gesteckt sind, aus welchen Momenten die Begründung der Wertbeurteilung von Erscheinungen, Personen, Handlungen - selbst von ganze Zeitaltern herzunehmen sein würde, dies sind Fragen von so ausgedehnter Schwierigkeit und Ungleichheit der Lösung, daß man es wohl begreift, wenn zwischen den bedeutendsten Geistern auf diesen Gebieten die schärfsten Gegensätze bestanden und umso sicherer bestehen werden, je bedeutender sie sind. Denn jenen Glücklichen, welche sich jahrelanger friedlicher Beschäftigung mit der Geschichte erfreut haben, denen aber niemals die Stunden schlugen, in welchen sie unruhig nach den Werten des ganzen geschichtlichen Lebens der Staaten und Menschen ausblickten, jenen zufriedenen Seelen - darüber sind ja alle Parteien einig - wird SCHLOSSER nicht zugezählt werden können.

Man unterschätzt ohne Zweifel die Kämpfe und inneren Erfahrungen, aus welchen SCHLOSSERs messerscharfe Beurteilungen hervorgegangen sind. Man hat zuweilen getadelt, daß er sich über manche Personen oder Sachen zu verschiedenen Zeiten verschieden ausgesprochen hat - sicherlich kann man darin nur einen Beweis erblicken, welche gewaltige Gärung den Urteilen des Mannes vorangegangen ist, und wie er immer bemüht war den wahren Wert der Dinge zu erkennen. Sich so als redlicher Forscher nach dem Festen und Dauernden zu bemühen! In der Tat darf man sich nicht wundern, daß der Geschichtsschreiber sich hierin mit DANTE vergleichbar findet; und wenn es sich auch zeigen sollte, daß wir heute in keinem Urteil mit SCHLOSSER einverstanden wären, so hätte man doch wahrlich das Streben nicht verlästern dürfen, daß er ein Werturteil gesucht hat und ohne dasselbe die ganze Aufgabe der Geschichtsschreibung für ein nichtiges und grausames Spiel gehalten hat. Gerade in der Energie und Festigkeit, mit welcher sich SCHLOSSER immer und immer wieder zur Urteilsschöpfung gedrängt sah, liegt das Merkmal seiner historiographischen Bedeutung. Wie er vom Schauspiel der Weltbegebenheiten in seinem ganzen und tiefsten Innern erfüllt und erschüttert war, fand er sich keinen Augenblick gleichgültig und teilnahmslos; indem er sich in das Ereignis, um es verstehen und darstellen zu können, hineinlebte, empfand er sich überall als mitwirkenden Geist.

IV. Daß in der Fähigkeit des Historikers, die Ereignisse fernerer und näherer Vergangenheiten innerlich mitzuerleben, die einzige sichere Gewähr dafür liegt, daß er sie allseitig zu beschreiben vermag, und daß hierin zugleich das Merkmal und die Beschaffenheit des wahrhaft historischen Geistes zu erblicken ist, wird wohl von niemand geleugnet werden können; aber ebenso sicher ist es, daß in dieser höchsten und erforderlichsten Eigenschaft des Historikers zugleich die Lebendigkeit und Stärke der Reproduktion des Geschehenen im Geiste des Historikers von der Anteilnahme unzertrennlich ist, so gibt es doch eine scharfgezogene Grenze für die letztere, welche in der subjektiven Operation einer Erzählung und Darstellung nur durch die äußerste Selbstbeobachtung, Beschränkung und Entsagung erreichbar ist. Das gewonnene Resultat der lebendigen Anschauung der Vergangenheit, welches nur durch Mitempfindung möglich war, kann erst dadurch wieder rein zur Darstellung gelangen, daß man sich des eigenen Anteils so viel wie möglich wieder entschlägt. Aber diese letzte Anstrengung ist oft den begabtesten und stärksten Geistern am schwierigsten erreichbar gewesen, während andere Talente sich darin als stark erweisen, daß sie die Fähigkeit der größtmöglichen Selbstentäußerung in vorzüglichem Grad im letzten Stadium der historischen Reproduktion besitzen. Wir wollen diesen inneren Vorgängen der Geschichtsdarstellung nicht weiter nachgehen und nicht im Einzelnen ausmalen, wie sich die eigentümlichen Begabungen der größten Meister eben in der stärkeren oder geringeren Kraftanwendung ihres Geistes während der einzelnen Stadien ihrer langen innerlichen Arbeit bei der Reproduktion des Geschehenen zeigen; nur in Bezug auf jene, welche gerade den letzterwähnten Vorzug in hohem Maß besitzen, möchte noch bemerkt werden, daß derselbe selbst mit den Eigentümlichkeiten des Stils aufs Innigste verwandt ist, und ohne Zweifel mit einem besonders ausgeprägten Vermögen plastischer Gestaltung zusammenhängt, von welchem später noch gesprochen werden soll.

Die Ungleichheit, welche zwischen den Historikern und ihren Fähigkeiten im Einzelnen besteht, findet sich aus den erwähnten Gründen auch zwischen den historiographischen Perioden im Großen. Der Mensch des 18. Jahrhunderts, eine in ihrer Totalität überehaupt noch kaum gewürdigte Erscheinung, bietet der Geschichtsforschung die mannigfachsten Rätsel und es mag sich später zeigen, warum es für SCHLOSSER besonders schwierig sein mochte, den Geist desselben zu erfassen, von dem er selbst ein wesentliches Stück war. In der Geschichtsschreibung im Allgemeinen wird man bemerken, daß jene Darstellungen, in welchen die Anteilnahme des Historikers an den Ereignissen den kräftigsten und durchschlagendsten Ausdruck zu nehmen pflegt - die Memoiren - im 18. Jahrhundert bei weitem am meisten in der Blüte gestanden sind. Auch jene, welche nicht die Form der Memoiren wählten erzählten Dinge näherer Vergangenheit mit der vollen Teilnahme, welche wirklich oder scheinbar Miterlebtes zu bewirken pflegt. Die brillante Erzählung, der sichere Standpunkt, die klare Stellung zum Erzählten, das allzeit bereite Urteil kennzeichnen die meisten Autoren des letzten Jahrhunderts. Zeigen diese Merkmale nun gleich auf den ersten Blick die Verwandtschaft mit SCHLOSSERs spätbegonnenen und noch später vollendeten Werken, so wird es nicht schwer sein, auch die sachlichen Anknüpfungspunkte nochmals aufzudecken, welche speziell zwischen dem philosophischen Geist der Zeit und dem staatsgeschichtlich politischen Hauptwerk SCHLOSSERs bestehen. Macht ihn die Art seiner inneren Arbeit geeignet, in einer formellen Beziehung neben die Memoirenliteratur des 18. Jahrhunderts gestellt zu werden, so weisen die Urteile, Anschauungen, Standpunkte des Geschichtsschreibers auf ein festes System, welches man schon vermöge der gereizten Ausfälle SCHLOSSERs gegen die spätere Philosophie und Politik unserer heutigen Zeit sicherlich nicht in unserem Jahrhundert suchen dürfte.

Trachten wir uns kurz zu vergegenwärtigen, welche Momente das Geschichtswerk des 18. Jahrhunderts bezeichnen. Wir sprechen dabei nicht von jenen Dingen, die wir zum Teil schon früher charakterisiert haben. Wenn er es als seinen Hauptzweck ansieht, "den Zusammenhang der politischen Begebenheiten mit dem häuslichen und bürgerlichen Leben und seinen Erscheinungen nachzuweisen", und wenn er "die ganze Gestaltung des Äußeren der zivilisierten Gesellschaft, den Gang der inneren Bildung, die Hauptveränderungen des Teils der Literatur, welcher nicht ausschließlich die Gelehrten allein angeht, zu entwickeln beabsichtigt", so sind dies Gesichtspunkte, die sich nach allem, was wir übber seine universalhistorischen Ideen gesagt haben, gleichsam von selbst auch bei der Geschichte des 18. Jahrhunderts erwarten ließen. Die größere Fülle der Ereignisse, die ihm für die neuere Geschichtsepoche zu Gebote standen, erleichterte ihm gewissermaßen den Versuch, die Ereignisse des Staatslebens in ihre psychologischen Voraussetzungen aufzulösen und die Ideen des wirklichen Geschehens aus dem, was man kurzweg den "öffentlichen Geist" zu nennen pflegt, zu entwickeln. Daß gerade in dieser Beziehung einzelne Schilderungen, wie der Abschnitt über die Pariser geistreichen Kreise, einen packenden Eindruck niemals verfehlen werden, wäre wahrlich überflüssig, im Besonderen zu zeigen. Was jedoch das Werk über das 18. Jahrhundert gegenüber allen anderen bezeichnet, ist das bestimmte Hervortreten mit einem politischen Standpunkt - der Hinzutritt der politischen staatlichen Gesichtspunkte zur Wertbeurteilung der Ereignisse. Wenn man es kurz bezeichnen wollte, so dürfte man sagen, daß der kategorische Imperativ, welcher als steter Wertmesser und Regulator die geschichtliche Erscheinung in allen Zeiten und Ländergeschichten begleitet hatte, bei der Geschichte des 18. Jahrhunderts einen spezifisch politischen Charakter angenommen hatte und daß das allgemein menschlich gehaltene und gestaltete Sittenprinzip, welches uns bei den universalhistorischen Arbeiten SCHLOSSERs schon früher entgegen getreten ist, nunmehr mit einer spezielleren politischen Überzeugung durchsetzt erscheint.

Man bezeichnete SCHLOSSERs Standpunkt unzählige Male als einen moralisierenden, allein die Eigentümlichkeit seiner Beurteilungen ist damit nicht erschöpft (44). Was seine Kritik besonders in der Geschichte des 18. Jahrhunderts auszeichnet, ist die vollständige Identifizierung der Forderungen von Politik und Moral. Diese fast naiv erscheinende Abmessung und Anpassung jeglicher politischen Handlung, jedes die Staats- und Rechtsverhältnisse betreffenden Ereignisses auf die Maßstäbe dessen, was er das Sittengesetz nennt, diese vollständige Ausschließung aller in sich beruhenden politischen Erwägungen dürfte man doch im Ernst nicht als einen Ausfluß einer bloß schulmeisterlichen Stimmung erachten, welche durch Jahrzehnte angestrengter Arbeit sich immer mehr verrannt und verbittert haben muß. Er war ein Feind aller sogenannten Staatspraxis, welche mit den als vernünftig erkannten Prinzipien des gesellschaftlichen Lebens in Widerspruch stand (45). Niemand wurde heftiger getadelt, als solche Personen, welche, wie KANT es gefaßt hat, dem "Gemeinspruch" huldigten: "Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis". (46) Nicht die Freude am Tadel, wie man ihm wohl fälschlich vorgeworfen hat, sondern die tiefgehende Überzeugung, daß es ein sicheres, sittliches Maß auch in der Politik für jeden Handelnden gibt, war es, was einzig und allein den Mut zu verleihen vermochte, so nachhaltige und unbeugsame Kritik zu üben. Sehen wir nun aber näher zu, so ist diese Identifizierung von Politik und Moral durchaus kein Gedanke, welcher ursprünglich aus SCHLOSSERs historischen Studien erwachsen oder ihm besonders eigentümlich wäre. Mehrere Generationen waren davon völlig erfüllt und nährten den Glaubenssatz, daß zwischen Moral und Politik kein Widerspruch sein kann. Daß diese weit verbreitete Anschauung schulmäßig auf KANTs Lehren zurückgegangen ist, mochte man in weiteren Kreisen vergessen haben und auch SCHLOSSER war zu sehr ein Feind alles schulmäßigen Autoritätsglaubens, als daß er sich irgendeiner Rechtfertigung auf den großen Philosophen zu berufen für nötig gefunden hätte; aber der Einfluß der kantischen Anschauungen wird wohl nicht zu verkennen sein, wenn wir den Anhang der Abhandlung "Zum ewigen Frieden" lesen (47):
    "Die Moral ist schon an sich selbst eine Praxis in objektiver Bedeutung als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen, und es ist eine offenbare Ungereimheit, nachdem man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, daß man es doch nicht könne. Denn alsdann fällt dieser Begriff von selbst weg (ultra posse nemo obligatur [Eine moralische oder rechtliche Verpflichtung zu einer Leistung, die unmöglich ist, kann nicht bestehen. - wp]); folglich kann es keinen Streit der Politik, als ausübender Rechtslehre mit der Moral, als einer solchen aber theoretischen (folglich keinen Streit der Praxis mit der Theorie) geben; man müßte denn unter der letzteren eine allgemeine Klugheitslehre, d. h. eine Theorie der Maximen verstehen, zu seinen auf Vorteil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen, d. h. leugnen, daß es überhaupt eine Moral gibt."
Und wenn KANT weiter sagt:
    "Ich kann mir nun zwar einen moralischen Politiker, d. h. einen, der die Prinzipien der Staatsklugheit so nimmt, daß sie mit der Moral zusammen bestehen können, aber nicht einen politischen Moralisten denken, der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vorteil des Staatsmannes zuträglich findet", -
so wird man wohl deutlich den Standpunkt bezeichnet finden, den SCHLOSSER in seinem ganzen Werk mit starrster Konsequen aufrecht hält. Es kann uns zwar nicht darauf ankommen, den ganzen politischen Katechismus zu erschöpfen, nach welchem man fast mit mathematischer Sicherheit jegliches Urteil SCHLOSSERs in seinem 18. Jahrhundert zu konstruieren vermöchte, aber wie vieles davon geradezu und ausdrücklich vom großen Philosophen ausgesprochen wurde, möchte doch eine kurze Erörterung verdienen: Wenn KANT als die sophistischen Maximen jenes Politikers, welcher die Moral leugnet, hinstellt:
    1. Fac et excusa [Ergreife die günstige Gelegenheit! - wp]
    2. si fecisti nega [Leugne, was Du selbst verbrochen hast! - wp]
    3. divide et impera [Teile und herrsche! - wp] (48),
so wird man so ziemlich die größten Verbrechen genannt haben, welche jedesmal dem vernichtendsten Urteil in einem Geschichtswerk SCHLOSSERs anheimfallen. Nicht leicht gerät SCHLOSSER in glühenderen Zorn als wenn er die Fallen und Hintertüren der Diplomaten geißelt, welche, indem sie den Frieden verhandeln, schon den Anlaß zum nächsten Krieg vorbereiten: der erste Präliminärartikel zum ewigen Frieden unter den Staaten lautet bei KANT (49):
    "Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigeren Krieg gemacht wurde."
Wer hat nicht öfters über SCHLOSSERs Grimm gelächelt, wenn er von dem Länder- und Seelenschacher des vorigen Jahrhunderts handelt. Zweiter Artikel des ewigen Friedens:
    "Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem anderen Staat durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können."
Wenn KANT ferner die Staatsschulden zum Zweck äußerer Staatshändel verpönt, und wenn der fünfte Artikel des ewigen Friedens lautet:
    "Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staates gewalttätig einmischen",
so wird man sich nur einigermaßen in SCHLOSSERs Büchern umgesehen zu haben brauchen, um sofort in den angeführten Sätzen die wahrhaften Lieblingsmaximen unseres Geschichtsschreiber wiederzuerkennen. Unter "den Grundzügen" der Geschichte des 18. Jahrhunderts hat WEBER einmal die "demokratische Färbung" als vorzugsweise charakteristisch mit vielen Beispielen nachzweisen versucht (50). SCHLOSSER selbst hätte sich sicherlich nicht gern als Demokraten bezeichnet gesehen, und man kann auch wohl nicht anders sagen, dals daß es einem tieferen Geist gegenüber unfein erscheint, mit einem so vieldeutigen und zum Teil anrüchigen Begriff die ganze Grundlage einer sorgfältig durchgearbeiteten Wertbeurteilung geschichtlicher Dinge charakterisieren zu wollen. Sollten wirklich neun Bände nötig gewesen sein, um in unserer Zeit etwas demokratische Luft zu verbreiten? Würde man sich ernsthafter den großen, geistigen Zusammenhang der Wissenschaften vergegenwärtigen und sich nicht begnügen mit einigen Schlagworten zu charakterisieren, sondern die Ideen, von welchen die Geschichtsschreibung beeinflußt ist, war in den benachbarten Gebieten und Literaturen aufzusuchen, so hätte man ebenfalls in KANTs Werken ein bezeichnendes Kapitel für das bemerken können, was man mit dem unsicheren Begriff der "demokratischen Färbung" ausdrückt; denn in welchem Sinn und Umfang SCHLOSSER die "Gleichheit" verstanden hat, findet man nirgends besser erklärt, als in der Abhandlung über das Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht. Wenn ich aus derselben einige Hauptsätze hervorhebe, so möchte ich nur den Standpunkt angedeutet haben, den auch SCHLOSSER ungefähr einnimmt; von einer förmlichen Benutzung und bewußten Übertragung und Anwendung kantischer Sätze in die Darstellung der Geschichte des 18. Jahrhunderts kann natürlich keine Rede sein. Den sogenannten vernünftigen Staat aber und die moralische Staatskunst findet man hier wie dort "auf folgende Prinzipien a priori" gegründet:
    1. die Freiheit jedes Gliedes der Sozietät, als Menschen;
    2. die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan;
    3. die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens als
        Bürger usw. (51)
Hiermit glaube ich die Maßstäbe und Grundlagen der SCHLOSSERschen Wertbeurteilung in der Geschichte des 18. Jahrhunderts bloßgelegt zu haben. Es mag gestattet sein, es nochmals zu wiederholen, daß es sich dabei nicht um eine rechthaberische Anpreisung des kantischen Einflusses im Einzelnen, sondern um die Feststellung der allgemeinen geistigen Strömung handelt, unter welcher SCHLOSSERs ganze Tätigkeit zu erklären ist. Daß er für seine Person auf einem festen Gefüge von Überzeugungen und Gedanken stand, ist allgemein zugestanden worden, daß aber seine Geschichtsschreibung in der Tat nichts als der Ausdruck einer ausgeprägten philosophischen Epoche der deutschen Literatur war, scheint bisher etwas zu wenig beachtet worden zu sein, obwohl die Geschichte aller Wissenschaften den immensen Einfluß KANTs auf die verschiedenen Gebiete und Disziplinen nachweist und die gleiche Erscheinung in der Geschichte als solcher daher weder auffallend und unerwartet, noch besonders überraschend sein könnte.

Erinnert man sich nun an die in der Einleitung und Widmung von SCHLOSSER erregte Hoffnung, daß er als ein anderer DANTE unter den Leichen des 18. Jahrhunderts wandeln wird, so muß man sagen, daß sein Standpunkt zwar vermöge des gemeinsamen Rigorismus, Ähnlichkeit mit demjenigen DANTEs hatte, daß es aber doch eine durch jene sogenannte demokratische Zeitfärbung sehr verschiedene Weltanschauung war, die SCHLOSSER vertreten hat und von welcher DANTEs Paradies vollkommen unbeeinflußt war. Wenn man aber näher zusieht, so entpuppt sich das feierlich verkündete Weltgericht DANTEs als der schulmäßige kantische Kritizismus, von welchem der deutsche Bürger und Gelehrte eine lange Epoche hindurch vollkommen erfüllt war, und welcher denselben innerlich befriedigte, mochte er ihm in Form einer rationalistisch angesäuselten Predigt, mochte er ihm in den systematischen Darstellungen der Rechts- und Staatslehre, oder im strengen Gewand des geschichtlichen Richters erscheinen.

Wäre nun aber der ethische Standpunkt KANTs für die Geschichte ein- für allemal geeignet, so müßte derselbe umso mehr gegenüber den Ereignissen und Personen des 18. Jahrhunderts ganz vorzugsweise die Probe halten, da er ja selbst in die Zeit und zu der Zeit gehört, die er messen und beurteilen will. Und da der Maßstab der Werte, welche von SCHLOSSER angelegt wurde, nicht aus einer fremden Epoche, nicht aus einem fernen Zeitalter hergenommen, sondern ein solcher ist, der gleichsam mitten aus der geistigen und sittlichen Welt des 18. Jahrhunderts selbst hervorgewachsen war, so müßte, wenn es nur darauf ankäme, keine Anachronismen [Einordnung in einen falschen zeitlichen Kontext - wp] in den geschichtlichen Werturteilen zu begehen, der kantische Rigorismus für die Geschichte des 18. Jahrhunderts ein wahres Arcanum [heimlicher Schatz - wp] historischer Gerechtigkeit dargeboten haben (52).

Leider wird sich aber heute niemand mehr finden, welcher von SCHLOSSERs Geschichte des 18. Jahrhunderts nicht gerade das Gegenteil behaupten würde. Einer außerordentlichen Menge von Personen ist auch nicht entfernt jene Würdigung zuteil geworden, welche sie verdienen und daß das ganze Zeitalter mit seinen sorgfältig gepflegten Staatsgeheimnissen, lange vorbereiteten Plänen und verschlungenen politischen Pfaden im Ganzen richtig gezeichnet wäre, wird ebensowenig behauptet werden können. Selbst die individuellen Gestalten, der Mensch als solcher, der Schriftsteller, der Staatsmann werden - man wird dies zugestehen - von SCHLOSSER mit wenig Verständnis für die persönlichen Eigentümlichkeiten und überall gewissermaßen nur nach der Schablone ihres Standes behandelt. Während der Mensch des vorigen Jahrhunderts ein in der Tat sehr verschnörkeltes Wesen war, gleich dem Stil seiner Bauten und den Formen seiner Kleidertrachten, erscheint er in SCHLOSSERs Geschichtswerk fast überall nur in der gleichmäßigen Uniform eines Diplomaten oder Soldaten, nicht selten auch da in karikierter Gestalt. Die hastig zufahrende Art, jeden sofort unter das allgemeine Maß zu beugen, läßt den Geschichtsschreiber selten zur nötigen Ruhe gelangen, um feinere Nuancen des Seelenlebens glücklich zu charakterisieren. Unter dem Eindruck eines Moralgesetzes, welches vermöge seiner weiten Dehnbarkeit und seines formalistischen Charakters überall und jederzeit und bis in die kleinsten Nebenumstände hinein anwendbar ist und sich geltend machen darf, kann keine freie historische Darstellung gedeihen, kein Ereignis vermag sich vor den Blicken des Lesers zu entwickeln. Bevor noch die Handlung eines Menschen in ihrer historischen Verzweigung nach allen Seiten hin beobachtet und dargelegt wurde, wird sie bereits vom Schicksal des gleichsam im Hintergrund lauernden Rigorismus erfaßt und sittlich vernichtet.

So ist die Geschichte des 18. Jahrhunderts nirgends zur Vollendung eines wirklich eingreifenden Gemäldes gekommen, überall bricht das Urteil plötzlich und mächtig herein, und wenn die Geschichte des 18. Jahrhunderts schon stofflich die Schwierigkeit bietet, daß am Ende der Epoche die französische Revolution viele Keime dessen zerstört hat, was auf dem Weg innerer Gesetzgebung und legaler Entwicklung angebahnt war, so wirkten SCHLOSSERs Darstellung gewissermaßen subjektive und objektive Momente wetteifernd zusammen, um jeden ruhigen Eindruck unmöglich zu machen. Wer erinnert sich hierbei nicht gewisser ewig wiederkehrender Phrasen: "Ohne Scheu und Schamm" werden nach SCHLOSSER Verträge gebrochen, regieren die Maitressen der Fürsten, ohne Scheu und Scham wird das Aussaugungssystem eines Grafen BRÜHL oder des Juden SÜSS in Anwendung gebracht, und wenn vollends KATHARINA II. geschildert wird, so ist der moralischen Verdammung kein Ende. Selbst der Stil SCHLOSSERs benimmt seiner Darstellung die Anschaulichkeit, obwohl GERVINUS, der eine ähnliche Art zu schreiben hatte, auch hierin ein Muster der Historik erblicken wollte. HEINRICH LAUBE hat einmal im Hinblick auf die das Theater betreffenden Urteile von GERVINUS, die Bemerkung gemacht, daß ihm, wie den meisten Gelehrten, die plastische Phantasie fehlt und man kann in der Tat, sowohl über SCHLOSSER wie über GERVINUS nichts Treffenderes in Bezug auf ihre Schreibart sagen. LAUBE sieht ganz richtig in diesem Mangel an plastischem Geist die Ursache eines unruhigen Stils, wie wenn sich die Gedanken in einer dunklen Kammer drängen, schieben, stoßen und nirgends zur Ruhe kommen können. Auch steht damit im innigsten Zusammenhang, daß der Schriftsteller selbst keine rechte Empfindung davon erlangt, wenn er dem objektiven Gehalt eines Ereignisses in der Erzählung nicht genug getan und das eigene Urteil nicht an der Stelle angebracht hat, wo es wirkungsvoller und doch weniger störend wäre. Wer die historiographischen Geheimnisse einigermaßen belauscht hat, der wird wissen, daß jemand, welcher die Kuns der plastischen Darstellung besitzt, oft nur eine ganz unscheinbar kleine Lichtöffnung braucht, um eine ganze Situation in die grellste Beleuchtung des historischen Urteils zu setzen, und während manche geneigt sein werden, in diesen Dingen die Merkmale der sogenannten objektiven Geschichtsschreibung zu sehen, sind es nichts als Wirkungen eines plastisch angelegten Kopfes, welche sich im Stil wie in der Darstellungsweise äußern. Es wäre leicht die Namen unter den alten und neuen Geschichtsschreibern zusammenzustellen, welche in hervorragendem Maß die von LAUBE so trefflich geschilderten Eigenschaften des Geistes besitzen, durch welche in der Tat eine gewisse Verwandtschaft zwischen einem Theaterdirektor und einem Geschichtsschreiber bestehen muß.

Wenn nun aber trotz der ungünstigen Verhältnisse, unter welchen alle Wertbeurteilung der Dinge in SCHLOSSERs Geschichtsschreibung erscheint, getrübt durch Mängel, welche wir hauptsächlich auf die Darstellungskunst und den Stil beziehen mußten, der Eindruck des Werkes doch ein gewaltiger war und im Großen und Ganzen auch heute noch sein wird, so muß man zu der Einsicht gelangen, daß gerade dieser feste markige Standpunkt, der so vielfach von der Kritik verlästert worden ist, seine Wirkung hat. Das, was SCHLOSSER das dantische Element seiner Geschichtsschreibung genannt wissen wollte, ist es, was das Wohlgefallen an seinen Büchern hervorgerufen hat; daß er mit unerbittlicher Konsequenz über den Häuptern der Mächtigen, wie der Schwachen die Zuchtrute des Rechts und des unveräußerlichen Sittengebots zu schwingen verstanden hat, trug ihm die Bewunderung seiner Leser ein. Man täusche sich nicht darüber, es gewährte eine trostvolle Genugtuung zu sehen, wie auch der Geschichtsschreiber die Pfade der Unterwelt zu betreten wagte, in die Hölle verstieß, und ohne Sorge um Gunst oder Ungunst Könige und Kaiser verdammte. Und mußte es andererseits nicht auch wieder einen erhebenden Eindruck machen, wenn man die auserwählten Geister des Jahrhunderts, denen die Zukunft der Welt gehörte, in paradiesische Höhen gehoben sah, Dichter und Philosophen, die Sprecher der Menschheit, welche dem politischen Leben der Völker voranschreiten, öfters unbemerkt, nicht selten verketzert, immer aber in jene lichten Höhen gestellt, wo der Geschichtsschreiber bereits das Donnergebrause der Menschenrechte vernimmt, während die Politiker und Diplomaten noch um die Erbfolgefragen der Könige streiten.

Was man auch sagen mag, die scharfe, gewaltige Wertbeurteilung ist es allein und ganz ausschließlich, welche SCHLOSSERs Geschichtswerk Leser, Bewunderer verschafft hat, ja sagen wir es nur offen, worin das wirkliche und unvergängliche Verdienst des Mannes ruht. Das nie und nimmer zurückzudrängende Bedürfnis der Wertbeurteilung geschichtlicher Dinge hat SCHLOSSER wohl im Übermaß und allzu hastig befriedigen wollen, dennoch aber sicherte es ihm den Erfolg. Sollte die neuere Kritik sich wirklich einbilden, daß sie den Standpunkt der Wertbeurteilung entbehren könnte, so wird sie nur zu bald die Erfahrung machen müssen, daß jeder gebildete Mensch das geistlos trockene Brot, welches eine sogenannte exakte Geschichtsschreibung in Form von Urkunden und Jahrbüchern darbietet, ungenossen beiseite liegen läßt und lieber gar keine historische Kenntnis, als einen bloßen Brei von Tatsachen annehmen wird. Der Platz, welcher SCHLOSSER in der Geschichte der Historiographie dauernd gebührt, ist der, daß er für die wirkliche Aufgabe des Geschichtsschreibers eine konkrete Empfindung geschaffen hat, die man vergeblich bemüht sein wird, noch einmal hinwegzuräsonnieren.

Wenn wir nun aber SCHLOSSER die volle Gerechtigkeit in Bezug auf seinen Standpunkt einer strengen Wertbeurteilung widerfahren lassen, sagen wir damit etwa, daß seine Wertbeurteilung die richtige war? widerspricht diese Meinung dem anderen früher gezeigten Resultat meiner Betrachtung, daß die Geschichte des 18. Jahrhunderts unter den Maßstäben SCHLOSSERs vielfach verzerrt und verrenkt wurde? Sind es seine Maßstäbe, die man etwa kanonisieren muß, weil wir einsehen, daß eine Geschichtsschreibung ohne Maßstäbe überhaupt besser dem Strom der Vergessenheit angehört?
LITERATUR Ottokar Lorenz, Friedrich Christoph Schlosser und über einige Aufgaben und Prinzipien der Geschichtsschreibung, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 88, Heft 2, Jahrgang November 1877
    Anmerkungen
    39) Es ist vielleicht nicht überflüssig zu erinnern, daß Rankes "Geschichte der romanisch-germanischen Völker" 1824 erschienen ist. Man wird die Wandlungen der Historiographie von Pütter bis auf Ranke nicht zu unterschätzen brauchen. Wenn man dennoch im Erscheinen der Geschichte der romanisch-germanischen Völker eine Epoche der Geschichtsschreibung erblickt, so braucht man nur die Vorrede zur Geschichte der romanisch-germanischen Völker zu lesen, um dies gerechtfertigt zu finden. So wunderbar in ihrer Einfachheit und geraden Absichtlichkeit ist das, was Ranke hier von den Aufgaben seiner Geschichtsschreibung spricht, daß man wohl sagen kann, mit gleicher Entschiedenheit, Klarheit und Festigkeit des Programms hat noch niemals ein Geschichtsschreiber von jenem Standpunkt Besitz ergriffen, den er im Wesentlichen unverrückt und unverändert nunmehr durch fünfzig Jahre festgehalten hat. Diese phänomenale Erscheinung in der Historiographie gewinnt noch an Bedeutung, wenn man bedenkt, daß durch das Eingreifen der Romantik die Gesichtspunkte für die Geschichtsschreibung in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts nicht gerade an Klarheit gewonnen hatten.
    40) Die von Ranke in der Einleitung zu den romanisch-germanischen Völkern hervorgehobenen Gesichtspunkte sind wesentlich negativ und richten sich in erster Linie gegen den Begriff der allgemeinen Christenheit und die Idee der Einheit Europas. "Die Absicht des Historikers", sagt er, "bleibt, indem sie das Fremde, nur wo es sein muß, als ein Untergeordnetes und im Vorübergehen berührt, in der Nähe bei den stammverwandten Nationen, entweder rein germanischer oder germanisch-romanischer Abkunft, deren Geschichte der Kern aller neueren Geschichte ist". Ebenso entschieden hat Ranke bereits im Jahr 1824 die Aufgabe bezeichnet, welcher er immer treu geblieben ist: "Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen ist. In der vollen Tiefe seines Anspruchs wie in der Beschränkung und Begrenzung seiner Absicht kann eigentlich dieser Satz als das bezeichnendste Merkmal aller Ranke'schen Geschichtsschreibung gelten, obwohl man oder vielleicht weil man derselben durchaus nicht für so bescheiden ansehen muß, als er auf den ersten Blick zu sein scheint.
    41) Aus Schlossers Abhandlung über Dantes "Divina comedia" (Archiv für Geschichte und Literatur I., II., IV.) kann selbstverständlich hier nur das hervorgehoben werden, was zu den prinzipiellen Fragen der Geschichtsschreibung in einiger Beziehung steht. Doch sind die Briefe über die ersten sechs Gesänge des Paradieses, Band I und II, vornehmlich eine Untersuchung über die kosmischen Vorstellungen Dantes und haben wenig mit seiner Stellung zur Geschichte zu tun. Dagegen ging Schlosser im IV. Band des Archivs aus Anlaß der Schriften von Rosetti und Witte auf die staatlichen Ansichten Dantes ein; bezeichnend für Schlossers eigene Stellung zur Geschichtswissenschaft ist, was er Seite 20f von Dante sagt: Auf den Grund seines wissenschaftlichen Systems baute er sein politisch-moralisches Gebäude und nahm dabei Himmel und Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, Engel und Teufel, Gott und Satan zu Hilfe. Er brachte alles vorher Erwähnte mit seiner Vorstellung vom Wesen des Menschen in Verbindung. Seine große Seele umfaßte das Weltall ... Er stieg vom Laster zur Strafe herab und von der Tugend zur Belohznung hinauf. Selbst in Beziehung auf seine lasterhaften Freunde, die er in die Hölle versetzte, und auf seine tugendhaften Feinde, denen er eine Stelle im Paradies gegeben hat, war er unparteiisch.' Man hat ihn mit Recht oft als den Philosophen unter den Dichtern bezeichnet, er erscheint aber noch in einer würdigeren Rollen als wahrer und rechtschaffener Mann. ... "Er zeigte sich, um uns seiner eigenen Worte zu bedienen, als furchtloser Freund der Wahrheit, entfernte von sich jegliche Lüge und ahmte den Wind nach, der die höchsten Gipfel am heftigsten schüttelt." Auch jenen Versen hatte Schlosser eine Art von divinatorischer Bedeutung für sich selbst gegeben: "Verfolge deinen Weg und lasse reden die Leute. Steht fest wie der Turm steht, der niemals die Spitze beugt, wenn ihn die Winde umstürmen."
    42) Den Ausdruck "diplomatische Geschichtsschreibung" gebrauche ich nur der Kürze wegen, für verständlich und deutlich vermag man ihn gewiß nicht anzusehen. Was über diesen Gegenstand im Allgemeinen zu sagen ist, hat Gervinus in der Vorrede zur Geschichte des 19. Jahrhunderts musterhaft geäußert, wobei es ihm auch gewiß nicht darauf angekommen ist, die Nachforschung in den Archiven der handelnden Menschen irgendwie zu verkleinern. Bei aller Hochschätzung der Ausdauer und des Fleißes, welche in der letzteren Richtung geherrscht haben, seit Ranke den kanonischen Satz der modernen Geschichtsschreibung ausgesprochen hat, daß Memoiren, Tagebücher, Briefe, Gesandtschaftsberichte die Grundlage der Geschichtskenntnis bilden, und gezeigt hat, daß alle Überlieferungen von Geschichtsschreibern - selbst wenn sie von einem Guicciardini vermittelt wären, dem kritischen Messer unbarmherzig anheimfallen, darf man zweierlei nicht vergessen: 1. daß Ranke selbst eines seiner herrlichsten Bücher geschrieben hat, ohne auch nur im Besitz eines einzigen geheimen diplomatischen Aktenstückes über den Gegenstand zu sein, und 2. daß ma über die Methodik der Benutzung und Verwertung des amtlichen Aktenstückes in dem ganzen halben Jahrhundert erstaunlicher Regsamkeit und großartiger Publikationen auch nicht zu den geringsten feststehenden und anerkannten Grundsätzen der Kritik gelangt ist, ja das meiste in dieser Beziehung unter der Herrschaft des Zufalls der Auffindung oder Entdeckung steht. Weil nun der Zufall freilich nichts "Subjektives" ist, scheint man sich einzubilden, daß die sogenannte diplomatische Geschreibung "objektiv" ist.
    43) Sehr viel unvorsichtiger, als in seinen eigenen Büchern sprach sich Gervinus im Nekrolog Schlossers besonders Seite 24 über dieses Verhältnis Schlossers zur "diplomatischen und archivarischen Geschichtsschreibung" aus. Ich kenne zumindest keine einzige Stelle in Schlossers Werken, aus der zu ersehen wäre, daß er die archivarische Forschung geringeschätzt hätte. Die jetzt vorliegenden Briefe an Frau Schmidt lassen sogar das gerade Gegenteil ersehen.
    44) In diesem Punkt kann man wohl sagen, daß Gervinus, wenn er Schlosser als den Urtypus des rein historischen Geistes im Nekrolog dargestellt hat, von den Gegenschriften, insbesondere im Aufsatz der historischen Zeitschrift (a. a. O., Bd. VIII) vollständig und mit Grund widerlegt wurde. Gervinus scheint von den philosophischen Grundlagen Kants nichts gewußt, dieselben nicht erkannt und nicht aufgesucht zu haben. Gervinus selbst, dessen schwache Seite die Geschichte der Philosophie und diese selbst stets gewesen ist, hatte keine Ahnung mehr davon, wie die nächst vor ihm stehende Generation von der Aufklärungsliteratur im Allgemeinen und von Kant im Speziellen geradezu imprägniert [unempfindlich gemacht gegen Feuchtigkeit, Verwitterung oder Verunreinigung - wp] war. Weil davon nicht viel geredet wurde - eben weil es den älteren Männern selbstverständlich war - glaubte Gervinus nicht an den Zusammenhang seines Meisters mit der Philosophie, obwohl dieser selbst erzählt, wie eifrig und lange er sich mit dieser Sache beschäftigt hat.
    45) Bekanntlich war Schlosser ein eifriger Gegner von Hobbes, dessen Lehre in der gleich zu erwähnenden Abhandlung von Kant in einer für die Beurteilung Schlossers so bezeichnenden Weise widerlegt wird, daß man den ganzen betreffenden Abschnitt hier wiederholen müßte. Kant nennt den Satz, daß das Staatsoberhaupt durch Vertrag dem Volk zu nichts verbunden sei und dem Bürger nicht Unrecht tun kann, erschrecklich. Aber auch die oft hervorgehobene scharfe Verurteilung jener, welche sich dem Staatsoberhaupt mit Gewalt widersetzen, worüber man sich bei Schlossers demokratischen Prinzipien so oft verwundert hat, ist ganz kantisch. Will man die geistigen Differenzpunkte zwischen Schlosser und Ranke bis in die tiefsten Gedanken verfolgen, so muß man "Englische Geschichte", Buch 15, Kapitel 12 lesen; aus der Stellung zu Hobbes wird man dann die wirklichen Gegensätze des historischen Urteils beider fließen sehen.
    46) Kant, Werke Bd. VI, Seite 305.
    47) Kant, Werke, Bd. VI, Seite 437 (Über die Mißhelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden). "Das Recht muß nicht der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden", heißt es ebd. Seite 311 in dem Aufsatz gegen Benjamin Constant (Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen) und Seite 446: es gibt objektiv gar keinen Streit der Moral mit der Politik usw.
    48) Man muß nur die Stelle (a. a. O., Bd. VI, Seite 440) lesen, wo Kant gegen die "Praktiken" der Politiker redet, welche in allen Sätteln gerecht sind, welche ebenso recht aus dem Vollen der Zustände des 18. Jahrhunderts geschrieben ist, um die Verwandtschaft dieser Kritik mit derjenigen Schlossers zu empfinden. Was die von Kant bezeichneten sophistischen Maximen anbelangt, so ist freilich richtig, daß man, um den Abscheu Schlossers egen dieselben zu erklären, nicht notwendig auf Kant verweisen müßte. Wenn man aber Kants Erklärungen dieser Grundsätze liest (ebd. Seite 442), so wird man auch wohl sagen können, es sind bewußt oder unbewußt dieselben politisch-moralischen Ansichten, welche Schlosser in der geschichtlichen Beurteilung ausschließlich vertritt.
    49) Kant, Werke, Bd. VI (Hartenstein-Ausgabe) Seite 408f. Man darf wohl auch an den Seite 419 vorkommenden Satz erinnern: "Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in ein und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens ..." (usw.)
    50) Die Stellen, welche Schlossers demokratische Gesinnung beweisen sollen, stellt Weber a. a. O., Seite 331 zusammen; er scheint aber dann doch empfunden zu haben, daß sich der Meister ebenso häufig gegen die Demokratie erhebt und sammelt auch die entgegengesetzten Stellen, indem er sagt: "Schlosser ist weniger aus demokratischen Grundsätzen Sachwalter des Volkes, als aus einem echt menschlichen Mitgefühl mit dem Schwachen und Bedrückten." Staunenswert ist, daß sich auch Gervinus mit der demokratischen Gesinnung Schlossers nicht recht zu helfen wußte: "Seine demokratische Gesinnung ruhte vielmehr auf den edelsten menschlichen Grundlagen, auf denen sie überhaupt gedacht werden kann". (!) (Nekrolog, Seite 39) Ich denke, seine demokratische Gesinnung ruhte vielmehr in Immanuel Kant: "Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie im eigentlichen Verstand des Wortes notwendig ein Despotismus, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da Alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mitstimmt), folglich Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist". Doch wir müssen es fast für nutzlos halten, aus Kant einzelne Sätze solcher Art herauszureißen; der Kenner dieses Philosophen und der Kenner dieses Geschichtsschreiber kann - ich bin mir dessen gewiß - die Verwandtschaft ihrer Ansichten keinen Augenblick leugnen, sobald einmal der gleichsam das Rätsel lösende Hinweis gemacht ist.
    51) Kant, Werke Bd. VI, Seite 322, wo auch für die Freiheit die so oft wiederholte kantische Formel zu finden ist, daß Jeder davon so viel zu seiner Glückseligkeit genießt, als er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zweck nachzustreben usw. nicht Abbruch tut. Dasselbe gilt vom Begriff der Gleichheit, und vom Unterschied des imperium non paternale sed patioticum [Eine Regierung soll nicht väterlich, sondern patriotisch sein. - wp] - alles Grundsätze, wovon die beurteilende Nutzanwendung fortwährend bei Schlosser zu finden ist.
    52) Für diejenigen selbst seiner eifrigsten Verehrer, welche mit den Gemeinworten des Demokratismus und Liberalismus Schlossers Geschichtsschreibung charakterisieren zu können meinten, bildete das erst im Archiv für Geschichte und Literatur, Bd. 5 und 6 dann selbständig erschienene Werk über Napoleon immer eine Art von Rätsel. Wenn Schlosser selbst bemerkt, daß sein Buch über Napoleon im Gegensatz zum moralischen Standpunkt der Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts die Begebenheiten mehr von der politischen Seite betrachten soll, so schien hierin allerdings eine gewisse Abweichung von seinem sonst Politik und Moral identifizierenden Beurteilungsweise zu liegen, allein es scheint auch nur so. Das Werk über Napoleon ist im Grunde eine Leistung, welche sich auf dem Gebiet der kritischen Feststellung des Tatsächlichen bewegt, wobei die Einflußnahme solcher Personen, welche Napoleon nahe gestanden hatten, unverkennbar ist. Daß dieses persönliche Zeugnis für Schlosser den höchsten moralischen Wert zu gleicher Zeit hatte, das ist es was man gewöhnlich außer Acht läßt. Im Übrigen hat nie Jemand leugnen können, daß die zum Teil treffliche Kritik französischer und deutscher Schriftsteller über Napoleon eine solche war, welche bleibenden Wert hat. Es liegt aber außerhalb meiner hier anzustellenden Betrachtungen, diese kritische Geschichtsstudie näher zu besprechen. Nebenbei bemerkt, zeichnet sich das Buch über Napoleon durch einen glatten Stil und manche trefflich gerundete Darstellung aus, worin man Schlosser kaum wiederzuerkennen meint.