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OTTOKAR LORENZ
(1832 - 1904)
Friedrich Christoph Schlosser
und über einige Aufgaben und
Prinzipien der Geschichtsschreibung

[4/4]

"Schlosser überläßt in seinem 84. Jahr die Kritik seiner Zeit und seiner Zeitgenossen anderen Beurteilern, weil er eingesteht, daß er der Aufgabe, ein auf verschiedenen Seiten und nach verschiedenen Richtungen verdorbenes Geschlecht zu ermahnen und dadurch zu verbessern, nicht gewachsen ist. Heute wird es viele junge Historiker geben, die gar nicht begreifen, was der alte Mann ... sagen wollte: So sehr ist uns die Frage Schillers, wozu man Geschichte studiere, durch deren Beantwortung er ein ganzes Menschenalter hingerissen hat, völlig abhanden gekommen."

"Giesebrecht spricht fortwährend von der Geschichtswissenschaft, als ob das Gebiet derselben gar nicht fraglich wäre. Hat man sich nicht vielmehr die Frage zu beantworten: Was ist denn Geschichte? es kann doch nicht gemeint sein, daß Geschichte die Darstellung von allem Geschehenen ist und wenn sie nur Darstellung von einigem ist, was geschah, woran erkennt man denn, wo ihr Forschungsgebiet anfängt und aufhört?"

V. Indem wir uns dem Ende unserer Erörterungen nähern, möge es gestattet sein, die Entwicklung ins Auge zu fassen, welche die Geschichtsschreibung überhaupt genommen hat. Als SCHLOSSER sein Werk beendete, fand er sich bekanntlich wie in einer fremden Welt; der Beifall, der ihm sonst allgemeiner entgegenkam, hatte sich zum Teil anderen Richtungen zugewendet; er selbst legte, mit harten Worten über seine Zeit seinen historischen Griffel nieder:
    "Diese ganze Zeit und ihre Bildung ist in den letzten Jahren von uns abgewichen und wir von ihr, so daß wir gewissermaßen aufgehört haben Zeitgenossen der Begebenheiten zu sein, die rund um uns vorgehen."
Er hatte die richtige Empfindung, daß eine Welt lebt, welche seine Maßstäbe nicht mehr als die ihrigen annahm. (53) Der kantische Rigorismus hatte sich auch in der Geschichtsschreibung längst völlig überlebt. Nur achselzuckend vermochten die jüngeren Historiker eine moralische Schulmeisterei zu erblicken, welche den großen Apparat der Geschichtswissenschaft in Anspruch nahm, um das zu lehren, was man über Politik und Staatswesen aus dem Vernunft- und Naturrecht kürzer und einfacher erfahren konnte. Was die Ideen der Geschichte betraf, so war man durch eine Reihe von Systemen und Philosophien hindurchgetrieben worden, welche mehr Ermutigung, Enttäuschung und Gleichgültigkeit als wirkliche Resultate zurückgelassen hatten (54). Die Frage der Wertbeurteilung wurde zwar von keinem bedeutenderen Geschichtsschreiber bei der Ausübung seines historischen Berufes umgangen, aber zu einer klaren Lösung des Begriffs und der Aufgabe der Geschichtsschreibung ist es in dieser Beziehung auch heute durchaus nicht gekommen. Blicken wir ohne auf die Stadien der historiographischen Entwicklung Rücksicht zu nehmen, nur auf das was heute der Geschichtsschreiber gewöhnlich über die Wertbeurteilung zu denken pflegt, so schallt von allen Seiten der Ruf nach Sittlichkeit sofort entgegen. Eine gewisse Hochachtung sogenannter sittlicher Grundsätze wird gewöhnlich als ein Hauptmoment der Geschichtsschreibung verlangt. Soweit sich neuere Geschichtsforscher über Prinzipienfragen ausgesprochen haben, - es geschah aber selten - ermangelten sie fast nie an die Grundsätze der Sittlichkeit zu appellieren. Man wird sich vielleicht erinnern, daß der jetzt längst verstummte Streit gegen BUCKLE von deutschen Historikern hauptsächlich im Namen des Sittengesetzes geführt worden ist (55). Freilich von was für einer Sittlichkeit, von welchem sittlichen Maßstab der Historiker eigentlich Gebrauch machen soll, darüber herrschte bei der Besprechung dieser Frage gewöhnlich eine tiefe Dunkelheit. Sollen wir SCHLOSSERs Sittenprinzipien, d. h. den kategorischen Imperativ KANTs noch einmal zur Anwendung bringen, oder ist es darauf abgesehen die Geschichtsschreiber auf die vor KANT liegenden Vorstellungen, vielleicht gar auf die Grundsätze der christlichen Sittenlehre zurückzuweisen?

Es ist sicher merkwürdig, daß in einer Generation wie unsere heutige die einschneidensten Verwerfungsurteile gegen SCHLOSSERs rigoristisch moralisierenden Standpunkt so tiefgreifend auftreten konnten, daß man überhaupt jede wertbeurteilende Methode in der Geschichte angegriffen hat, und andererseits ein großes Geschrei darüber erhoben wurde, als BUCKLE erklärte, er könne von einem historischen Standpunkt den sittlichen Faktor in den Ereignissen nicht in Rechnung ziehen, weil derselbe überhaupt ein konstanter und daher nicht zu erklärender ist. (56)

Sicherlich bedurfte BUCKLEs Behauptung einer starken Korrektur, allein niemand fiel es ein, den eigentlichen und wahrhaften Meister der sittlichen Wertbeurteilung den alten SCHLOSSER gegen ihn ins Treffen zu führen; es wäre doch zu deutlich gewesen, daß sein Standpunkt nur von den allerwenigsten Gelehrten heute mehr geteilt werden kann. Wenn aber keiner die ethischen Maße ganz entbehren will (57), von welcher Ethik soll man denn heute eigentlich als Historiker sprechen? In der Tat wäre es schwer, diese Frage zu beantworten, wenn man sich nicht eines trefflichen Ausspruchs von TRENDELENBURG hier erinnern würde, der im Jahr 1856 schon bemerkte, daß das, was bis auf den heutigen Tag die allgemeinste Gültigkeit hat, nichts anderes ist, als die aristotelische Ethik, von der die Greifswalder Universität schon 1545 ganz richtig gesagt hat, daß es ffür diesen Teil der Philosophie nichts Besseres und Vollendeteres (praestantius et absolutius [überlegen und absolut - wp]) gibt. Wir wollen also gerne annehmen, daß in unseren neueren Historikern, wenn sie sich auf Werturteile einlassen, ein Stück ARISTOTELES lebendig ist, und daß mehr oder weniger bewußt, die eupraxia [do the right thing - wp] des alten Stagiriten an die Stelle von SCHLOSSERs Rigorismus getreten ist. Sollte aber darin der Fortschritt unserer heutigen Geschichtswissenschaft gelegen haben, daß wir von KANT auf den ARISTOTELES zurückgekommen sind und wäre dies der ganze Triumph, den wir über SCHLOSSERs Geschichtsschreibung davongetragen haben?

Es ist allerdings richtig, daß die aristotelische Ethik so viel nichtssagender und leerer ist, als die kantische, daß die Anwendung derselben auf die Geschichte gewiß unschädlicher sein und weniger Anlaß geben mag von seiten des Darstellers Personen und Sachen fortwährend zu hofmeistern [schulmeistern - wp]. Am Ende ist es auch sehr erklärbar, daß die meisten Historiker, wenn sie im aristotelischen Begriff die Glückseligkeit als Haupmoment des ethischem Wollens gepriesen finden, sich rasch für die Anwendung eines so bequemen Maßstabes der Wertbeurteilung entscheiden. Sie aber die Glückseligkeit bei ARISTOTELES von der Tugend und die Tugend vom ethischen Wollen bedingt wird, so dreht sich auch in der Anwendung dieser Sittenlehre auf die Geschichte die ganze Wertbeurteilung nicht selten in einem verhängnisvollen Zirkel. Es ist hier nicht unsere Aufgabe in eine Kritik der aristotelischen Ethik einzugehen, und für unseren Teil vermögen wir uns bei den kritischen Ausführungen zu beruhigen, welche Männer, wie HARTENSTEIN über dieses Kapitel der alten Philosophie längst vorgebracht haben (58). Was die Anwendung davon auf die geschichtliche Wertbeurteilung anbelangt, so ist es aber klar, daß der Unterschied nicht sehr erheblich ist, ob man die Maßstäbe aus dieser oder jener Philosophie entnimmt.

Soll die Geschichtsschreibung nicht gänzlich auf jede Wertbeurteilung der Dinge verzichten, so besteht die Aufgabe ihrer Maßstäbe auf eigenem Grund und Boden aufzusuchen. Was man als eine erste Forderung der Historiographie mehr ahnt, als deutlich zu begreifen pflegt, liegt zumeist in der Zurückweisung jedes fremden Elements, durch welches Personen und Ereignisse aus ihrer eigenen Stellung und ihrem selbständigen Wesen herausgerissen werden. Will man den geschichtlichen Dingen wirklich gerecht werden, so muß man sich aller Voraussetzungen entschlagen, welche der Darstellung eine Zutat des Geschichtsschreibers verleihen. Was man gemeinhin als subjektive Äußerung des Erzählers empfindet oder tadelt, ist nichts als jenes Urteil, welches aus einer vorgefaßten Meinung von den wahren Werten des menschlichen Wollens und Handelns entstanden ist. Die Geschichte als auf sich beruhende eigenständige Wissenschaft gefaßt, muß ihre Werte selber finden, aus sich heraus gewinnen, wenn sie einerseits nicht mehr als Magd einer fremden Wissenschaft erscheinen und andererseits nicht auf den Charakter einer beurteilenden Kritik verzichten will. Daß diese Aufgabe im Vordergrund aller Forschung steht, wird vielleicht eher zugestanden werden, als die Wege betreten werden dürften, die einzig und allein zu diesem Ziel führen können. Denn hier ist der Punkt, wo unsere Forschung mit den bisherigen Methoden nicht auszureichen imstande ist. Daß das Geschäft des Kritikers über das Tatsächliche hinaus zu einer Feststellung der Werte, die für die zeitlichen Erscheinungen entscheidend sind, vorschreiten muß, ist heute noch kein Grundsatz, der sich der allgemeinen Zustimmung erfreut. Soll aber auf diesem Gebiet nicht das Unerreichbare angestrebt und das Wesentliche nicht verloren gehen, so ist in erster Linie eine Verständigung über jene Werte nötig, welche innerhalb des erfahrungsmäßigen Wissens der Geschichte gefunden werden können. Was man nun auch vom Begriff des Absoluten in der Philosophie denken mag, die Geschichtswissenschaft als solche kennt nur ein zeitliches und folglich auch nur ein relatives Maß der Dinge. Alle Wertbeurteilung der Geschichte kann daher nur relativ und aus zeitlichen Momenten fließen, und wer sich nicht selbst täuschen und den Dingen Gewalt antun will, muß ein für allemal in dieser Wissenschaft auf absolute Werte verzichten. Nun könnte es leicht erscheinen, als werde die Geschichte dadurch in ihrer Stellung und Bedeutung wesentlich herabgesetzt. Während sie bis jetzt sich zu den Wissenschaften gezählt hat, welche die absoluten Werte des Lebens aufzuzeigen meinen; soll sie nunmehr sich begnügen, danach zu urteilen, was einer bestimmten Epoche angehört, was von der zeitlichen Grenze unserer eigenen Anschauungen bedingt ist? Sieht man indessen näher zu, so wird man finden, daß die Wissenschaft nur durch das redliche Bemühen nach relativen Werten gewinnen kann. Denn während jene absoluten Werte, wie ich klar und vorzugsweise an SCHLOSSERs Beispiel gezeigt habe, überhaupt gar nicht aus der Geschichte genommen, sondern in dieselbe aus einer anderen wissenschaftlichen Gedankenreihe hineingetragen wurden, ersparte man sich bisher die exakte und methodische Erforschung jener Momente, welche als echte historische Werte, den Historiker befähigt haben ein allgemeingültiges Urteil über die einzelne Erscheinung zu fällen. Während man gewissermaßen aus den Wolken, aus DANTEs Paradies, aus KANT, aus ARISTOTELES die Maße genommen hat und sich dabei noch recht erhaben über das Mittelalter fühlte, welches bloß im Dienst der Theologen stand - und also den ARISTOTELES beim Hinterpförtchen einführte - während man ein absolutes Urteil in Anspruch nahm und ein Weltgericht extemporierte [improvisierte - wp], blieben die naheliegenden aus der Erfahrung zu gewinnenden praktischen Werte fast ganz ununtersucht, und manche, die recht tapfer mit den ewigen Moralgesetzen spielen, finden es bequemer ihre Ansicht über die nächstliegenden historischen Wertfragen, besonders wenn sich diese auf kirchliche, auf staatliche, auf religiöse und selbst auf literarische Dinge beziehen, im möglichstes Dunkel einzuhüllen. Und in der Tat, wer etwa die heutige Geschichte Frankreichs einst beschreiben will, dem wird es gewiß weit angenehmer sein, von einer göttlichen Höhe aus alle Parteien gleichwertig abzuurteilen, als den wahren Wert und Unwert ihrer Bestrebungen im Einzelnen nachzuweisen. Und wer dereinst über das, was man heute in Deutschland den Kulturkampf nennt, ein Urteil fällen will, der muß so oder so den Wert berechnet haben, welchen die unfehlbare Papstkirche historisch für die menschliche Gesellschaft haben konnte, sonst bleibt er uns ein Stümper, auch wenn er noch so sehr den unparteiischen Weltenrichter spielen will.

Die Auffindung der relativen Werte kann allein der Geschichtsschreibung, wie sie heute besteht, einen größeren wissenschaftlichen Boden und eine fortschreitende Zukunft sichern. Wenn man fürchtet, daß die relativen Werte als Maßstab der Beurteilung des Einzelnen Willkür und Parteien in das objektive Verfahren der Wissenschaft zu bringen vermöchten, so wäre erst zu beweisen, daß es früher anders war und daß etwa KANT, SCHLOSSER oder SCHILLER mit ihrem absoluten Maß zu einer allgemeinen Zustimmung gelangt wären. Allerdings wird die Forschung nach den Werten erst dann der Willkür und Laune des Einzelnen mit Nachdruck entgegentreten können, wenn diese Forschung systematisch und methodisch und nach logischen Gesetzen geordnet als ein gesicherter Zweig der Wissenschaft dasteht. (59) So gut man aber heute meistens annimmt, daß in einer Frage der Quellenkritik, der Feststellung einer einzelnen Tatsache vermöge allgemein geübter Methoden [bernheim-histmeth] auch allgemeine Übereinstimmungen des Urteils erzielt werden können, ebenso muß es möglich sein, zu einem hohen Grad von gleichen Überzeugungen über die historischen Werte und über die Maße der Beurteilung der einzelnen Ereignisse zu gelangen. Wenn es der Wirtschaftslehre und Statistik gelingen kann, den materiellen Wert des Lebens und der Gesellschaft mit einer fast von niemand angezweifelten Sicherheit zu bestimmen, so muß es auch eine Methode geben, um die geistigen Werte zu definieren (60). Der Historiker lehnt sich ohnehin zu einem guten Teil an die Bestimmung der materiellen Werte an, wenn er Staatsgeschichts schreibt. Das Gebiet der idealen Werte erschließt sich ihm zwar schwerer und unter heftigeren inneren und äußeren Kämpfen, aber in der methodischen Eröffnung desselben liegt seine Aufgabe, liegt die Probe seiner Kraft. Vermag er hier nicht einzudringen, so ist jedes neue Wissen von geschehenen Dingen, jede neue Kenntnisnahme von Tatsachen der Vergangenheit ein neuer Beweis der Unbrauchbarkeit der Geschichte und eine beschwerliche, lästige und unnötige Zumutung an den lebendigen Menschen und das nachkommende Geschlecht.

Soll die Angriffnahme der Forschung nach den Werten des geschichtlichen Lebens von Erfolg begleitet sein, so wird freilich Methode und Unterricht in dieser Wissenschaft mancher durchgreifenden Veränderung unterzogen werden müssen.

Und diesem mehr gefühlten als erkannten Umstand ist es ohne Zweifel zuzuschreiben, daß SCHLOSSER vielleicht mehr als billig war, getadelt und rascher als erwartet wurde, vergessen worden ist. Hier ist auch der Punkt, wo die heutige Geschichtswissenschaft gleichsam instinktiv und mit vollem Recht am weitesten von SCHLOSSERs Idealen abgegangen ist. Was er mit KANT und HERDER als Aufgabe der Menschheits- und Universalgeschichte betrachtet hat, fristet heute nur noch ein elendes Dasein in den Lehrbüchern, mit welchen die Jugend der Mittelschulen in Deutschland grausam gequält zu werden pflegt. In den Kreisen der Gelehrten hat die Menschheitsgeschichte längst ausgerungen und sucht vergebens nach einem Anwalt, der ihre Vertretung vermöge seiner wirklichen Kenntnis von der Sache übernehmen könnte. In diesem Punkt ist folglich die Entwicklung der Historiographie vollständig von SCHLOSSER abgewichen, niemand erhebt mehr den Anspruch, ein Universalhistoriker zu sein.

Freilich ist diese Einsicht meist mehr eine persönliche als eine sachliche. Wenn aber die Überzeugungen noch nicht dahin gelangt sind, daß es überhaupt eine Menschheitsgeschichte wissenschaftlich nicht zu geben vermag, so beweist doch die entsetzliche Sterilität, die auf diesem Gebiet herrscht, daß die Zeit der universalhistorischen Bestrebungen vorüber ist. Kaum daß die neu erstehenden Weltgeschichten sich auch nur nach einem Prinzip bemüht hätten, nach welchem der Gegenstand dargestellt werden will. Was heute geleistet wird, ist ein Abklatsch des Systems, welches SCHLOSSER verfolgt hat, und was man als Inhalt der Universalgeschichte mühselig fortschleppt, wird meistens mit KANTs versprechenden Worten angekündigt, und heute so wenig befolgt, als SCHLOSSER es vermochte.
    "Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen, als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zweck auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann."
So sagte KANT in der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", so liest man es noch heute in den Büchern, aus welchen der junge Mensch von vornherein eine unhistorische Anschauung der Dinge erhält. Mag man den Plan der Natur als Chiliasmus [Erwartung eines tausenjährigen Friedensreiches - wp] oder als Gotteswerk auffassen (61), wer mit diesem Rest einer theologisch-philosophischen Auffassung in die Geschichte eingeführt worden ist, wird immer große Mühe haben, um endlich voraussetzungslos an die Erforschung der empirischen, realen und zeitlichen Werte der Geschichte zu kommen.

Wenn ich nicht irre, steht die Historiographie heute im Stadium eines vollständigen Übergangsprozesses. Die universal-historische Richtung ist unhaltbar, die staatsgeschichtliche leidet an einem Mangel zuverlässig erkannter Werte und sicherer Urteile, von der chronistisch-antiquarischen zieht sich der gebildete Mensch mehr und mehr zurück und schaudert vor dem Abgrund eines den Geist ertötenden, unermeßlich nichtigen Wissens. Daß wir diesen notwendigen Prozeß in der Historiographie durchmachen müssen, um zu einer der Gesellschaft und der Nation überhaupt wertvollen historischen Wissenschaft zu kommen, ist gewiß, und die Anfänge dazu sind von einer Reihe hervorragender Männer und Schrifsteller in Deutschland praktisch gemacht, nur die Methoden und Prinzipien sind nicht zu jener vollen Klarheit und Sicherheit herausgearbeitet, welche das nachkommende Geschlecht vor Irrtum und Abwegen zu sichern vermöchte. Bei der Beurteilung SCHLOSSERs und der meisten seine Zeitgenossen sollte aber die Geschichte der Historiographie sich fortwährend erinnern, daß wir in prinzipiellen Fragen auch heute noch nur zu sehr in Irrtümern des vorigen Jahrhunderts stecken und daß wir jedenfalls auch in der praktischen Kunst der Geschichtsschreibung zunächst nur um wenige Stufen den alten Kantianer übertreffen.

IV. Es mag aber zum Schluß passend erscheinen, die Hauptsätze zusammenzufassen, welche sich aus der Betrachtung einer literaturgeschichtlich eingreifenden Erscheinung, wie derjenigen SCHLOSSERs, für die Prinzipien und Aufgaben der Geschichtsschreibung überhaupt ergeben haben.

Beschränkung und Vertiefung sind die Forderungen, welche sich gegenüber der älteren durch die philosophische Bewegung des vorigen Jahrhunderts beeinflußten Geschichtsforschung für unsere heutigen wissenschaftlichen Aufgaben ergeben. Wenn es sich gezeigt hat, daß der in die Geschichtswissenschaft von außen her eingeführt Begriff der Menschheitsentwicklung sowohl nach seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung, wie auch seinem Inhalt nach ein von einer einzelnen Wissenschaft, von einem einzelnen Zweig der Forschung schlechterdings nicht zu erfassendes Objekt sein kann, so ergibt sich hieraus mit Notwendigkeit, daß die Versuche einer Weltgeschichte im bisherigen Verstand des Wortes an der Unzulänglichkeit der bloß historischen Methoden der Forschung immer scheitern werden. Die menschheitliche Entwicklung, welche Gegenstand der Weltgeschichte sein soll, könnte der Natur des Gegenstandes nach nur dann vollständig erkannt werden, wenn all jene Methoden bei der Erforschung derselben zur Anwendung kämen, die dem Begriff der Welt und der Menschheit in seinem ganzen Umfang entsprechen. Da aber diese Methoden alle Gebiete des menschlichen Wissens umspannen müßten, weil sich in der Geschichte der Menschheit alle Tätigkeit der Menschen mit allen Kräften der Natur in einem kausalen Zusammenhang befinden, wenn es überhaupt eine Wissenschaft der Geschichte im Sinne von allem Geschehenen geben sollte, so folgt weiter, daß für die bloße historische Forschung ein großer Teil der sich darbietenden Tatsachen immer unerreichbar sein wird. Soll also die historische Wissenschaft als ein in sich ruhendes Gebiet der allgemeinen Erkenntnis eine bestimmte abgegrenzte Stelle einnehmen und demgemäß innerhalb des ganzen Gebietes von dem, was der Mensch überhaupt weiß und erforscht, auch eine erfüllbare Aufgabe besitzen, so bleibt sie darauf angewiesen, sich auf jene Wirkungen zu beschränken, deren Ursachen auf ihrem Weg, vermöge ihrer Methoden der Forschung gefunden werden können. Sie kann also auch nicht hoffen, sofern sie auf dem Weg ihrer Erfahrung vorgeht, und es unterläßt, in andere Wissenschaften überzugreifen, eine Erklärung jener Erscheinungen zu finden, welche für den Bestand der Welt und der darauf wohnenden Menschheit in irgendeinem gegebenen Zeitpunkt maßgebend wären.

Wenn aber das Forschungsgebiet der eigentlichen Geschichte nicht alle Äußerungen und Wirkungen des Welt- und Menschenlebens umspannt, sondern nur auf gewisse Erscheinungen beschränkt sein kann, so wird man schon am dem analytischen Weg der Ausschließung all dessen, was nur durch mathematische, naturwissenschaftliche, philologische und andere Methoden verstanden werden kann, zu einer einer richtigeren Vorstellung von dem, was die eigentlich historische Untersuchung zu leisten hätte, gelangen. Es ist aber klar, daß die einzelnen Wissensgebiete nicht bloß negativ begrenzt werden dürfen, sondern daß auch die positiven Momente ihres Inhalts festzustellen sind.

Welche Erscheinungen nun der Historiker zu erklären unternimmt, geht aus den ihm zu Gebote stehenden Erkenntnisquellen hervor. Im Allgemeinsten handelt es sich dabei um Wirkungen, welche von Menschen und in einer Zeit ausgegangen sind, in welcher sie selbst für eine absichtliche Überlieferung ihrer Handlungen gesorgt haben, aber da auch nicht alle überlieferten Handlungen in Betracht kommen, sondern nur solche, welche für den gesellschaftlichen Charakter des Menschen entscheidend sind, so darf man sagen, daß die Aufgabe der Geschichte in erster Linie auf den Staat gerichtet und das Gebiet ihrer Tätigkeit wird durch das staatliche Moment gegen die anderen Wissenschaften hin abgegrenzt.

So weit darf man vielleicht hoffen, durch die Reihe der Schlüsse eine allgemeine Übereinstimmung erzwingen zu können, und im Allgemeinen dürfte der staatsgeschichtliche Charakter unserer Wissenschaft nicht abgeleugnet werden. Es reicht aber nicht aus, eine Einschränkung auf das staatliche Moment überhaupt zu machen, wenn man nicht vermöge der weiten Ausdehnbarkeit des Begriffs vom Staat wieder in die Reihe von Vorstellungen zurückverfallen will, welche eben ausgeschlossen worden ist. Denn wer den Staatsbegriff [19jhd/eoetvoes1ideen] in vager Allgemeinheit fassen wollte, müßte notwendig wieder mit dem ersten Menschenpaar beginnen und käme in einem schönen Zirkel wiederbei der Geschichte der Menschheit an, die wir soeben als kein besonderes Forschungsziel einer einzelnen Wissenschaft erkannt haben. Man wird demnach auch bei der Beschränkung unserer Aufgaben auf den Staat nicht abzusehen vermögen von den individuellen Erscheinungen, deren Geschichte zu erforschen ist. Es gibt ohne Zweifel eine Geschichte von Japan, wie von Abyssinien und Haiti und sicher ist es nur eine stille Voraussetzung, wenn wir bei dem Wort Geschichte zuerst an uns, an unseren Staat oder an jene Gruppe von Existenzen denken, welche uns und unserem Staat verwandt sind und uns wenig darum bekümmern, daß es große Staaten gibt, die eine ansich ebenbürtige Geschichtswissenschaft besitzen mögen.

Daß die Forschung eine nähere und entferntere Verwandtschaft staatlicher Geschichten schon seit langer Zeit erkannt und nachgewiesen hat, und daß demnach auch die Geschichtsschreibung stets bald einen allgemeineren, bald einen spezielleren Charakter angenommen hat und mit Recht auf eine weitere Verallgemeinerung dringt, steht sicher nicht im Widerspruch mit diesen Sätzen, sondern ergänzt dieselben in erwünschter Art, denn wie der Nachweis größerer oder geringerer Verwandtschaft von Völkern als ein Resultat der Forschung sich ergeben hat, lag auch die engere und weitere Betrachtung ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse im nächsten Bereich der Geschichtsdarstellung. Wenn RANKE die völlige Gemeinsamkeit der staatlichen Erscheinungen in den romanischen und germanischen Völkern der modernen Zeiten als ein großes Resultat festhalten konnte, so braucht man nicht zu zweifeln, daß die Erfahrungswissenschaft noch manch andere Beziehungen zwischen Völkern und Staaten erkunden mag, von welchen heute noch keine klare Einsicht vorliegt. Nur dürfen die angestrebten Resultate, auch wenn sie noch so sehr wahrscheinlich scheinen würden, nicht als Prinzip für eine einheitliche Auffassung verschiedener Geschichten vorausgesetzt werden, wenn man den Weg erfahrungsmäßiger Betrachtung nicht abermals verlassen will.

Die Begrenzung der Wissenschaft in Raum und Zeit auf das staatsgeschichtliche Gebiet menschlicher Handlungen und Wirkungen könnte jedoch kaum als ein erheblicher Gewinn betrachtet werden, wenn derselben nicht eine wesentlich Vertiefung der Untersuchung im Hinblick der Berurteilung und der Erforschung bestimmter Werte der Erscheinungen zur Seite treten würde. Sollte unsere Wissenschaft auf die Entdeckung von Wert und Unwert, indem sie sich als Erfahrungswissenschaft gestaltet, ein für allemal verzichten, so könnte es eine große Frage sein, ob es nicht nützlicher gewesen wäre, bei den philosophischen Voraussetzungen zu bleiben und den Roman im Sinne KANTs oder im Sinne von zwei Staaten OTTOs von FREISING oder des einen Staates AUGUSTUS' mit ungeschwächten Kräften fortzusetzen. Ich sage, es könnte zweifelhaft werden, ob nicht der größte Teil der Menschen für das Danaergeschenk [Danaer = Griechen; Geschenk = riesiges Holzpferd - wp] einer Geschichte danken würde, welche die Jllusion zerstört hat, um nichts zu wissen, als von Stößen, Drangsalen und pergamentöser Lüge, womit sich unsere Vorderen so gut wie wir gequält haben.

Hier haben wir eine wahre und eingreifende Gefahr zu erkennen gemeint, wenn unsere historiographische Entwicklung das letzte Maß, wie es noch SCHLOSSER aus teleologischer Voraussetzung einer stark auf das Moralische gerichteten Philosophie entnommen hat, über Bord geworfen haben sollte und nichts mehr übrig wäre, als der heilige Bronnen des Pergaments.

Was über die Wertbeurteilung, welche die heutige Wissenschaft anstreben wird, noch zu sagen wäre, ist in wenige Sätze zusammenzufassen. Daß man den Maßstab für das Ereignis aus der Erfahrung selbst gewinnen kann, wird auch von jenen zumindest teilweise zugestanden, welche sich in Wahrheit anderer Wertmesser als der geschichtlichen bedienen, und Niemand gesteht es von vornherein zu, daß er eine Beurteilung in die Geschichte einführt, die außerhalb des Gegenstandes selbst liegt. Schon die geläufigen Gemeinplätze der Unparteilichkeit verbieten und haben es immer verboten, die Annahme eines fremden Maßes und Gewichts in der Geschichte zuzugestehen. Auch die Moralisten lebten hierin in einer sehr begreiflichen Täuschung. Für uns aber ergibt die Geschichte der Historiographie den vorherrschenden Beweis der Unentbehrlichkeit des Urteils über Personen und Sachen. Die Aufgabe, welche sich für die weitere Entwicklung der Geschichtsschreibung herausstellt, ist die wie die Forschung auf ihrem eigenen Weg zu solchen Urteilen gelangen kann, wobei sich nur die Schwierigkeit erhebt, daß jedes Urteil der Natur der Sache nach eine allgemeine Gültigkeit in Anspruch zu nehmen scheint, während es doch deutlich ist, daß alle Geschichtserfahrung zeitliche und daher vergängliche Wert darstellt.

Daß die Forschung auf erfahrungsmäßigem Weg zur Erkenntnis absoluter Werte menschlicher Dinge jemals gelangen könnte, ist nicht denkbar und sie muß sich daher begnügen, die relativen Maßstäbe aufzufinden, mittels welcher eine Tatsache an der anderen, ein Ergebnis am anderen, eine Ursache an der anderen abgemessen werden kann. Daß eine solche Schätzung aus der bloßen Betrachtung der äußeren Erscheinungen nicht hervorgehen kann, ist ebenso gewiß, als es unmöglich ist, aus den Rauchwolken eines Schornsteins die Pferdekräfte zu ermessen, die in jener Maschine tätig sind. Es wird eine Reihe feinerer und tieferer Untersuchungen nötig sein, als die sind, welche gemeinhin den nackten Tatbestand zu sichern streben, wenn man von den Erscheinungen zu den treibenden Motiven vorschreiten und diese Motive abschätzen will. Doch war es nicht meine Aufgabe, die Grundsätze einer allseitig genügenden Methodologie aufzustellen. Sicher würden durch die strengere Erfüllung dieser Aufgaben unter den Händen des historischen Forschers selbst die Methoden sich vervollkommnen, die zum Ziel führen. Es sind nicht etwa neue Wege, die noch unbetreten wären; die hervorragendsten neuesten Geschichtsschreiber arbeiten bewuß und unbewußt an dieser neuen Einschätzung des historisch überlieferten Stoffes. Die Pforte zu einer neuen über die philosophierende Geschichtsschreibung hinaus fortschreitenden Bahn ist längst eröffnet, sie braucht nicht eingestoßen zu werden, aber woran es mangelt, ist zuweilen die Einsicht in die prinzipiellen Fragen und die klare Orientierung über die wahren Aufgaben, die noch zu erfüllen sind. Indem man hier mehr als diese Wissenschaft überhaupt zu bieten vermag, erwartet, dort bei weitem weniger als sie sollte, leistet, mag es einer ungeheuren Rührigkeit und einem gewaltigen, rastlosen Fleiß gegenüber, welche in den Vorhallen und auf den Vorstufen des Tempels herrschen, wohl zuweilen passend sein, einen orientierenden Blick auf den ganzen Bau zu werfen, um sich zu versichern, ob nicht vom Grundriß abgewichen worden ist.
LITERATUR Ottokar Lorenz, Friedrich Christoph Schlosser und über einige Aufgaben und Prinzipien der Geschichtsschreibung, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 88, Heft 2, Jahrgang November 1877
    Anmerkungen
    53) Wozu noch zu bemerken ist, daß er gleichsam selbst das Eingeständnis machte, er habe Geschichte zu dem Zweck geschrieben, um ein verdorbenes Geschlecht zu ermahnen und dadurch zu verbessern! "Wir überlassen übrigens in unserem 84. Jahr die Kritik unserer Zeit und unserer Zeitgenossen anderen Beurteilern, weil wir eingestehen, daß wir der Aufgabe, ein auf verschiedenen Seiten und nach verschiedenen Richtungen verdorbenes Geschlecht zu ermahnen und dadurch zu verbessern, nicht gewachsen sind". Heute wird es viele junge Historiker geben, die gar nicht begreifen, was der alte Mann mit diesem Wort in einem Geschichtsbuch sagen wollte: So sehr ist uns die Frage Schillers, wozu man Geschichte studiere, durch deren Beantwortung er ein ganzes Menschenalter hingerissen hat, völlig abhanden gekommen.
    54) Als Hegels Philosophie der Geschichte erschienen war, wunderte sich Alexander von Humboldt, daß der Philosoph fabelt, das europäische Rindfleisch sei besser als das amerikanische, an Varnhagen 1. Juli 1837. Um Weniges später wollte kein Historiker mehr davon wissen, daß die Völker, ein jedes etwas repräsentieren müssen, "damit enthüllt wird", "was der Philosoph verheißt", wie auch Alexander von Humboldt gleich anfänglich bemerkte. Ob man von diesen Erscheinungen die volle Loslösung der Geschichtswissenschaft von der Spekulation datieren will, muß dem Geschichtsschreiber der Historiographie zu entscheiden überlassen bleiben. Darin werden alle einverstanden sein, daß die letzte Phase unserer historiographischen Entwicklung auf sich selbst gestellt, in eigener und eigenständiger Methode ihre wissenschaftlichen Aufgaben faßt und löst. Darüber ist, so viel wir sehen, kein Streit, welches aber sind die Aufgaben?
    55) Es ist nicht entfernt meine Absicht, in die Prüfung der Ansichten des wunderlichsten Geschichtsphilosophen Englands einzutreten, der das Verdienst hatte, die Historiker Deutschlands einigermaßen aufgerüttelt zu haben. Ich erwähne ihn hier nur insofern, als Droysen in einem Protest gegen dessen Ansichten (historische Zeitschrift IX, Seite 1-22, allerdings etwas kurz geschürzt) die Bedeutung des sittlichen Verständnisses (?) der Geschichte sehr entschieden betonte. Leider sprach sich aber Droysen über das, was Ethik sein soll, nicht aus, und ich gestehe meinerseits, es durchaus nicht von selbst zu wissen. Droysen sagt: "Die ethische, die geschichtliche Welt verstehen zu wollen, heißt vor allem erkennen, daß sie weder nur doketisch [dem Anschein nach - wp], noch nur Stoffwechsel ist". Auch des weiteren stellt er ethisch und geschichtlich zusammen, er scheint also alles Geschichtliche für ethisch und umgekehrt zu halten. Wenn aber der Satz wahr ist, daß Alles, was sich ereignet, d. h. geschichtlich ist, auch ethisch ist, so folgt, daß entweder alles Geschehende dem Sittengesetzt entspricht oder Alles demselben widerspricht, womit ich dann keinen Maßstab gewonnen habe, sondern nur eine Umschreibung derselben Sache. Falls aber einiges Geschehende dem Ethos gemäß ist, anderes nicht, so muß ich doch notwendig wissen, was ethisch ist, und dann ist nicht alles Geschichtliche ethisch, sondern nur einiges. Im letzteren Fall scheint Droysen etwas verschwiegen zu haben oder selbst nicht zu wissen, was eben das punctum quaestionis [der fragliche Punkt - wp] wäre. Im Übrigen bemerke ich noch, daß die Willensfrage, welche bekanntlich eine alte ist, mit der Frage der Beurteilung gar nicht in einem notwendigen Zusammenhang steht, sondern für die Geschichte gewiß erst in zweiter und dritter Linie in Betracht kommt. Denn es kann Jemand in einer geschichtlichen Handlung großen Wert finden, wenn er die Freiheit des Willens leugnet, ebensogut wie der, welcher ein vollständiger Indeterminist ist. - Auf dieses interne Gebiet der Philosophie, oder, um bei Kant zu bleiben, auf die Metaphysik der Sittenlehre überzugehen, ist für den Historiker jedenfalls vollkommen überflüssig, und es ist bedenklich, wenn er diese Frage auf vier Seiten erledigen will.
    56) Ganz vortrefflich handelte Usinger über Buckle, "Historische Zeitschrift", Bd. 19, Seite 24f, der, indem er die wichtige Anregung des Werkes anerkennt, das Beste und Treffendste mit wenigen Worten gegen dasselbe eingewendet hat: "Damit ist ein Grundfehler von Buckle berührt, der, wie in seiner Anschauung, so in seiner Forschung begründet ist. Es ist ein oft begangener Fehler, seine Ansicht steht fest, bevor er die Untersuchung beginnt, so daß seine Forschung sich darauf beschränkt, Material für die Bestätigung einer Ansicht zu gewinnen, die sich bei ihm aus Lebensanschauungen und Studien auf zum Teil weit entlegenen Gebieten gebildet hat." Ob nun aber der positive Teil von Usingers Erörterungen genügen könnte, soll hier nicht untersucht werden, da es uns nicht auf die dort erörterten Fragen ankommt.
    57) Es ist ja Vieles und Vortrefflilches über die mannigfaltigsten Punkte der Historik geschrieben worden. Gewiß liest Niemand ohne die dankbarste Belehrung Giesebrechts Charakteristik der heutigen Geschichtsschreibung, (Historische Zeitschrift, Bd. 1. Ebenso sind die beiden Vorträge von Sybels (Vorträge und Aufsätze, Berlin 1874) "Über die Gesetze des historischen Wissens" und "Drei Bonner Historiker" für die Prinzipienfragen von allergrößter Relevanz. Doch ist es merkwürdig, daß in allen diesen trefflichen Abhandlungen gewisse Begriffe vorausgesetzt werden, welche eben erst erläutert werden sollten. So spricht Giesebrecht fortwährend von der Geschichtswissenschaft, als ob das Gebiet derselben gar nicht fraglich wäre. Hat man sich nicht vielmehr die Frage zu beantworten: Was ist denn Geschichte? es kann doch nicht gemeint sein, daß Geschichte die Darstellung von allem Geschehenen ist und wenn sie nur Darstellung von einigem ist, was geschah, woran erkennt man denn, wo ihr Forschungsgebiet anfängt und aufhört. Ebenso können auch die angeführten schönen Essays von Sybels nicht ohne die geheime Voraussetzung bestehen, daß über gewisse Begriffe eine Einigung vorhanden ist, welche aber in Wahrheit fehlt. Dies zeigt sich insbesondere in dem, was von Sybel aus Anlaß Niebuhrs sagt. Wo er mit trefflichen Worten Niebuhrs sittliche Energie lobt, heißt es etwas allgemeiner schon früher: "Die Quellenkritik, gerade wenn sie gewissenhaft und methodisch gehandhabt wird, kann ihrer Natur nach nur den Bestand der einzelnen Tatsache ermittlen: dann erst erscheint aber die eigentliche Aufgabe des Historikers, aus dem äußeren Bestand auf den inneren Gehalt dieser Fakta zu schließen, ihren geistigen Zusammenhang festzustellen und so zu ihrer sittlichen Würdigung zu gelangen." Goldene Worte, nur ein kleiner Satzteil ist zu erklären vergessen: "zu ihrer sittlichen Würdigung zu gelangen". Aber woher nehme ich denn die Sittlichkeit? Etwa aus der Bibel? - das kann Sybel nicht gemeint haben. Bei diesem kategorischen Imperativ würden ihm, dem Kenner des 18. Jahrhunderts, Schlossers Irrgänge sofort eingefallen sein. Hier stehen wir also vor der großen Lücke in den Gesetzen des historischen Wissens. Wir verlangen sittliche Würdigung und drehen uns aalglatt herum, wenn wir sagen wollen, was denn eigentlich das für ein Ding ist, diese sittliche Würdigung.
    58) Die schon 1859 erschienene Abhandlung Hartensteins "Über den wissenschaftlichen Wert der Ethik des Aristoteles", Historisch-philosophische Abhandlungen, Nr. VII, Leipzig 1870, Seite 240. Merkwürdig genug, daß der Mann, welcher gewiß das Vernichtendste über dasjenige gesagt hat, was nach Trendelenburg auch noch für die Gegenwart gültig wäre, doch, soviel ich weiß, der erste, ernsthaft darauf aufmerksam gemacht hat, daß Aristoteles selbst weit entfernt war, seiner Ethik jene kanonische Bedeutung beizulegen, welche - sagen wir es kurz - der Scholastizismus ihr bis heute gerne erhalten möchte (vgl. Seite 245). Interessant war mir schon beim Erscheinen von Hartensteins Abhandlung eine unbewußte Übereinstimmung zwischen Hartenstein und Bonitz in Bezug auf einen kleinen Punkt ihrer Beweisführungen. In den unvergeßlichen Vorlesungen des Letzteren erinnere ich mich vor mehr als 25 Jahren schon die überraschende und mir damals höchst erstaunlich klingende Bemerkung am Ende seiner Kritik des aristotelischen Begriffs gehört zu haben, daß die Sache genauso wäre, wie wenn Goethe die Erfahrung als das definieren läßt, was ein Erfahrender erfahrend usw. Nachher las ich mit Vergnügen, was Hartenstein Seite 280 bemerkt: "Der Zirkel, in welchem sich die aristotelische Ethik bewegt, erinnert fast unwillkürlich an die Art, wie Behrisch in Goethes »Dichtung und Wahrheit« die Erfahrung definiert". Da tatsächlich weder der eine noch der andere von diesen beiden Gelehrten die Bemerkung des anderen vorher gekannt hatte, wo wird man es wohl einem Historiker, der geschäftsmäßig auf die Übereinstimmung der Quellen halten muß, wohl nicht verdenken, daß er sich von den sogenannten sittlichen Urteilen unserer Geschichtsschreiber nie sehr einschüchtern lassen konnte, da er sich dabei imer an Goethes Behrisch erinnern muß.
    59) Daß Letzteres durchaus fehlt, wird nicht bestritten werden können und ich möchte ein leises Eingeständnis davon in den Worten Sybels erblicken, wenn er von Niebuhr sagt: "Eine andere Konsequenz seines höchsten Grundsatzes ist der jetzigen deutschen Geschichtswissenschaft vielleicht etwas weniger gegenwärtig geworden oder geblieben". Das was Herr von Sybel mit Thiers als die erforderliche Einsicht in die Dinge bezeichnet, würde ohne Zweifel bei näherer Ausführung uns mit von Sybel auf dem fast gleichen Boden der Anschauung finden; wie wir denn kaum hinzuzufügen brauchen, daß ja spezielle, auf Werte gerichtete Untersuchungen wirklich mit dieser ausdrücklichen Tendenz von Sybel unternommen worden sind. Denn man kann über die Resultate der Untersuchung, wie sich von selbst versteht, mit Herrn von Sybel streiten, aber seine bekannte Abhandlung über einige neuere Darstellungen der Kaisergeschichte war eine Untersuchung nach dem faktischen historischen Wert zum Zweck der Wertbeurteilung und daher eine eminente Leistung auf dem Gebiet, von welchem wir sprechen. Hierauf schritt bekanntlich Ficker zu einer methodisch gleich hochstehenden Untersuchung über den allgemeinen Wert des Kaisertums und die Kontroverse der beiden gelehrten Männer bleibt in der angedeuteten Richtung der Wertuntersuchung eines der bedeutendsten und epochemachendsten Ereignisse der modernen Historiographie. Leider sind nachher die in einem höchst interessanten historiographisch unbedingt wichtigsten gelehrten Streit der Neuzeit aufgetauchten Fragen fast gänzlich fallen gelassen worden, als wenn sie gleichsam gar nicht zur Sache gehört hätten, oder wie wenn man dergleichen Dinge eben nur pour la bonne bouche [bis zuletzt - wp] geschrieben hätte. In den ungemein zahlreichen Untersuchungen, welche seit 20 Jahren die Geschichte der Kaiserzeit erfahren, ist oft kaum die Existenz einer solchen fundamentalen Kontroverse zu bemerken. Man hätte vielmehr erwarten können, daß nun die im Großen aufgestellten Fragen im Einzelnen in gleicher Richtung verfolgt werden würden, zumals als besonders Ficker aufgrund seiner großen Detailkenntnis dieser Dinge die Stellen wohl bezeichnet hatte, von welchen aus die Erörterung über den allgemeinen Wert des deutschen Kaisertums weiter geführt werden konnte. Allein eine methodische Pflege solcher Dinge hat keinen Bestand gewonnen, wie aus noch manchen anderen Beispielen, die ja zu Gebote ständen, gezeigt werden könnte. Warum diese Fragen aber so vernachlässigt zu werden pflegen? - mag einmal an einem anderen Ort und bei vielleicht gelegenerer Zeit besprochen werden.
    60) Daß eine Entwicklung und Verbesserung der Methoden zum Zweck der Wertbeurteilungen erst eintreten muß, ist klar, und sie kann erst eintreten, wenn die Aufmerksamkeit auf diese Dinge systematisch gelenkt ist. Daß das letztere weniger der Fall ist, als es sein könnte, wenn alle Jene, welche eine ganz richtige und deutliche Ahnung von diesem dringendsten Bedürfnis der deutschen Wissenschaft besitzen, mit der Sprache herausgehen wollten, nehme ich als sicher an.
    61) Es gehört übrigens zu den seltsamsten Erscheinungen, daß Kant in seinem neunten Satz des Aufsatzes "Zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" im Grunde selbst all das zurücknimmt, was er vorher aufgebaut hat. Die im neunten Satz verborgenen Klauseln werden gewöhnlich von denen nicht bemerkt, welche den achten Satz aus einer dritten oder vierten Quelle abgeleitet haben. Schon bei Karl Tomaschek, "Schiller in seinem Verhältnisse zur Wissenschaft" heißt es deshalb Seite 123: "Mit großer Vorsicht fügte Kant am Schluß seiner Abhandlung hinzu, daß er mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori enthält, die Bearbeitung der eigentlichen, bloß empirisch abgefaßten Historie nicht verdrängen wollte: es sei nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf, der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte, noch aus einem anderen Standpunkt versuchen könnte." Noch energischer hat neuerdings Zimmermann gegenüber von Comte auf diese Seite der Ausführungen Kants im neunten Satz aufmerksam gemacht (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 1877, Seite 31-97). Kant und die positive Philosophie (vgl. Seite 92), wo Zimmermann sehr gut hervorhebt, daß Kant sich sogar nicht scheute, von seiner Voraussetzung, daß in der Geschichte eine Naturabsicht der Vervollkommnung hervortritt, den Ausdruck zu gebrauchen, daß es möglicherweise ein Roman ist, was auf diese Art zustande gebracht werden würde. Wie wenig übrigens der Empirismus es verstanden hat, in Allem, was sich auf jene Fragen bezieht, die die Menschheitsentwicklung betreffen, auf eigenen Füßen sich fortzuhelfen, ist sowohl für die positive Philosophie, wie für die exakte Geschichtsschreibung gleich sicher nachzuweisen. Zimmermann hat das Erstere gezeigt, es wäre nicht schwer an den verschiedensten Weltgeschichten zu zeigen, daß außer der kantischen Definition am Anfang des Buches von der Erfüllung der Naturabsicht oder des Vervollkommnungsplanes der Menschheit im Buch selbst gewöhnlich nicht viel zu bemerken ist.