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OTTOKAR LORENZ
(1832 - 1904)
Friedrich Christoph Schlosser
und über einige Aufgaben und
Prinzipien der Geschichtsschreibung

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"Hebt Schlosser solchergestalt den Universalhistoriker weit über den realen Boden rein geschichtlicher Tatsachen hinaus, so wird es keine Verwunderung mehr erregen, daß er ohne Einführung des Gottesbegriffs diese große und schwere Materie der Menschheitsentwicklung nicht zu erklären vermag."

"Wer nur einigermaßen in der Ökonomie der universalhistorischen Darstellung, Gerechtigkeit walten lassen wollte, der müßte doch gestehen, daß die Menschheit jenseits des Indus und Ganges gar wenig berücksichtigt wird."

"In Wahrheit ist es fast ausschließlich der Staat, dem der Geschichtsschreiber seine Aufmerksamkeit zuwendet und den er mit Recht als das besondere Gebiet seiner Wissenschaft betrachtet. In der gesellschaftlichen Erscheinung des Staates findet der Historiker das sachlich begrenzte Forschungsprinzip, welches es ihm möglich macht, seine Aufgabe von der Aufgabe anderer Wissenschaften zu sondern."

"Es ist wirklich kläglich, welcher Mißbrauch mit dem Begriff Menschheit getrieben wurde, ohne daß sich nur das Bedürfnis geltend macht, die richtige Fahrstraße aufzufinden. Vorläufig aber wird es gut sein, sich zu sagen, daß weder der Historiker, noch der Philologe, noch der Naturforscher befähigt ist, eine Universalgeschichte zu schreiben, und daß der archimedische Punkt für diese Wissenschaft noch völlig unentdeckt ist."

II. Schon im Jahr 1815 veröffentlichte SCHLOSSER den ersten Band seiner "Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung", mit welchem er in die Reihe der sogenannten Universalhistoriker eintrat. Mit der Liebe zu diesem Werk, scheint er sich sehr lange getragen zu haben, und es wäre sehr schwer zu sagen, ob dieselbe mehr der Anregung ihren Ursprung verdankt, welche SCHLOSSER unmittelbar noch in Göttingen von SCHLÖZER und SPITTLER empfangen, oder jener Richtung auf das allgemein Menschliche, welche in der von ihm so sehr bevorzugten Philosophie und Literatur jener Zeit vorherrschte. Nur so viel wird man zugestehen müssen, daß jene älteren Universalhistoriker auf SCHLOSSER gar wenig Eindruck gemacht haben, und daß er nicht ohne Grund in seinen weltgeschichtlichen Darstellungen beständig wiederholte, es sei nicht seine Absicht das Bekannte, von anderen oftmals Erzählte, abermals vorzutragen. Daß er sich über sein Verhältnis zu JOHANNES von MÜLLER ungern oder gar nicht auszusprechen pflegte, erschwert es uns die Anknüpfungspunkte seiner welthistorischen Arbeiten sicherzustellen, aber daß ihm die sämtlichen vorhergegangenen Weltgeschichten nicht genügten, daß er nach einer größeren Vertiefung strebte, daß er die Ideen der Entwicklung ernster aufsuchen zu müssen meinte, kann keinen Augenblick verkannt werden (19).

Solange die Vergangenheit überhaupt zum Gegenstand von Darstellungen gemacht worden ist, gingen im Grunde genommen, stets zwei Richtungen nebeneinander durch die Literaturen aller uns näher stehenden Völker. Die eine suchte ihren Schwerpunkt mehr in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den staatlichen Momenten der nächststehenden Völker oder in der nationalen Überlieferung, wo Nation und Staat sich irgendwie haben identifizieren lassen, die andere Tendenz dagegen war universell, ging auf die Erkenntnis dessen, was der beschränkte Gesichtskreis der Menschheit und Welt nannte und suchte die bekannten Ereignisse dieser Welt und dieser Menschheit unter einheitlicheren Gesichtspunkten zu fassen. Die sogenannte römische Weltmonarchie, die Selbsttäuschung des Christentums als einer eingebildeten Weltreligion und die humanitären Ideen des vorigen Jahrhunderts mußten die letztere - die universelle Richtung in der Geschichtsschreibung - jeweils zu neuer Blüte und Förderung bringen und brachten bekanntlich die mannigfaltigsten Systeme der geschichtlichen Entwicklung der stofflichen Einteilung und der historischen Auffassung zutage. Unter dem Druck theologischer Weltweisheit waren die Weltmonarchien dekretiert und demgemäß die Weltchroniken entstanden. Die theologische Fakultät beherrschte die Weltgeschichte mit jener siegesgewissen Beschränktheit, welche Jahrhunderte lang nicht einmal die Ahnung aufkommen ließ, wie groß die Welt und wie unbekannt den Menschen die Weltgeschichte war. Allein die philosophische Fakultät - um bei kantischer Terminologie zu bleiben - begann ihren Streit, und die dauernde Überwindung des mittelalterlichen Begriffs der Weltgeschichte gelang, wie hinlänglich bekannt ist, in Göttingen. Daß aber die beiden großen Lehrmeister, vor deren Kanon in Bezug auf Einteilung und Ausdehnung des weltgeschichtlichen Stoffes noch unsere heutige kritische Jugend sich ehrerbietig verbeugen muß, im Grunde doch nur ein sehr äußerliches Werk vollbrachten und die in der philosophischen Fakultät aufgekommenen Zweifel und Fragen in keiner Weise befriedigend und vollständig lösten, war auch die Meinung SCHLOSSERs, und was ihm so gut wie der ganzen jüngeren Generation gegenüber den alten Göttingers mißfiel, läßt sich vielleicht am Besten in den Satz zusammenfassen, den WILHELM von HUMBOLDT ausgesprochen hat: "Der Geschichtsschreiber umfaßt alle Fäden irdischen Wirkens und alle Gepräge überirdischer Ideen". Vielleicht wird ein genauerer Vergleich der weltgeschichtlichen Darstellungen SCHLOSSERs mit denen SCHLÖZERs zu noch bestimmteren Ergebnissen führen.

Betrachten wir zunächst die Einwirkung SCHLÖZERs auf den Gang der Geschichtsschreibung, so dürfte man gestehen, daß er beinahe alle Gesichtspunkte angedeutet hat, welche als Aufgaben universalhistorischer Darstellungen nach ihren äußeren Merkmalen bis auf den heutigen Tag gelten (20). Wir halten es in dieser Beziehung für richtig, daß er ein Begründer der neuen deutschen Geschichtsschreibung genannt wurde, doch ist eine Einschränkung dieses Titels nötig. Die Richtung, welche als Staatsgeschichte neben der universalhistorischen auch in Deutschland vorhanden war und in Göttingen vorzugsweise in PÜTTER eine Vertretung gefunden hat, hatte durch SCHLÖZER wenig oder keine neuen Gesichtspunkte erhalten. Was man zu seinem Lob in Bezug auf die historische Kritik sagen wollte, entbehrt durchaus der Begründung, denn was auf diesem Gebiet seit MASCOW - von LEIBNIZ gar nicht zu reden - gleichsam kanonisch feststand, müßte als viel epochemachender gelten, wie das, was SCHLÖZER in dieser Beziehung hinzufügte. Begründend war also SCHLÖZER durchaus nur in Betreff der äußeren Einteilung des weltgeschichtlichen Stoffes. Eine noch größere Erweiterung des Horizonts im Hinblick auf eine räumliche Ausdehnung des Begriffs wird bei keinem späteren Schriftsteller bis jetzt aufzufinden sein. Auch JOHANNES von MÜLLER und SCHLOSSER folgen dem von SCHLÖZER aufgestellten Schema in Anbetracht der räumlichen Vorstellungen von Weltgeschichte ziemlich treu (21) Aber sie hatten das Bedürfnis auch für die zeitlichen Momente des Begriffs der Weltgeschichte zu einem einheitlichen Gedanken vorzudringen, und die Schicksale der sogenannten gesamten Menschheit in ihrem Nacheinander unter eine höhere Idee zu bringen (22). Diese höhere Idee konnte selbstverständlich nicht aus der überwundenen theologischen Fakultät, sie konnte wieder nur - um bei KANTs Sprachgebrauch zu bleiben - aus der philosophischen Fakultät entstammen. Und hiermit sind wir dann wieder bei jenen Quellen von SCHLOSSERs Geschichtsschreibung angelangt, welche ihm aus den ganz allgemeinen Vorstellungen und Prinzipien der Literatur seiner Zeit geflossen sind, und welche - wie wir seinen Tadlern gerne zugestehen - eigentlich nicht historischer, sondern philosophischer Natur sind. (23)

Hören wir, was SCHLOSSER selbst von den Aufgaben der Weltgeschichte sagt. Er sprach sich darüber am eingehendsten in der Umarbeitung des ersten Bandes der Weltgeschichte in einer zusammenhängenden Erzählung aus, welche er unter den Titel "Universalhistorische Übersicht der Geschichte der alten Welt und ihrer Kultur" herausgegeben hat. Bemerkenswert ist hier vor allem, daß er die Universalhistorie geradezu in einen Gegensatz gegen die Weltgeschichte stellt und damit eine Forderung für die erstere aufstellt, von welcher bei SCHLÖZER keinerlei Ahnung sein konnte, und welche, so viel ich sehe, zum ersten Mal im Streit zwischen SCHLÖZER und HERDER zutage gekommen war (24). SCHLOSSER seinerseits sagt:
    "Wir setzen den Ausdruck Universalhistorie, dem der Weltgeschichte hier gewissermaßen entgegen, denn wir verstehen unter dem ersteren die Geschichte der Menschheit als ein zusammenhängendes Ganzes betrachtet, unter dem letzteren aber die Geschichte der einzelnen Völker nach der Zeitfolge geordnet. Zu erforschen, was n jeder Zeit geschehen ist, die Ursache warum und die Art wie es geschehen ist, der Nachwelt aufzubewahren, oder aus der Masse des Aufbewahrten das seinem Urteil nach für seine Zeit Brauchbare zusammenzustellen, ist das Geschäft dessen, der die politische Geschichte schreibt und seine eigenen Gedanken so wenig wie möglich einzumischen, sein höchstes Gesetz. Wer aber die Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen zeigen, einen Gedanken durch seine ganze Erhählung durchführen will, der muß seine eigene Meinung aussprechen, er muß darauf verzichten aus Urkunden, Nachrichten, Denkmalen, dasjenige enthüllen zu können, was seiner Natur nach nur erraten und nicht bewiesen werden kann."
Hebt SCHLOSSER solchergestalt den Universalhistoriker weit über den realen Boden rein geschichtlicher Tatsachen hinaus, so wird es keine Verwunderung mehr erregen, daß er ohne Einführung des Gottesbegriffs diese große und schwere Materie der Menschheitsentwicklung nicht zu erklären vermag. Ganz abgesehen davon, daß nun vielen der an die Spitze gestellte Gottesbegriff nicht eben von übermäßiger Klarheit erscheinen dürfte, so zeigt sich in dem Versuch die Menschheitsgeschichte bis auf ihre Wurzeln zurückzuführen zugleich eine Aufgabe, welche schon an und für sich und aus äußeren Gründen der Forschung von einem Mann kaum zu erfüllen sein dürfte. Man sieht, daß SCHLOSSER die Forderungen SCHLÖZERs erheblich verschärft hat; dieser setzt der Geschichtswissenschaft eine Grenze in der Überlieferung - was nicht überliefert ist, sagt er, gehört nicht zur Weltgeschichte, - jener meint, den Menschheitsbegriff allerdings etwas konsequenter festhaltend, daß die Geschichte der Menschen an die Kenntnis des Menschen anknüpft, an die Geschichte des Weltsystems, der Planeten und der Natur der Erde. "Dies fühlten", fügte SCHLOSSER bezeichnend für seinen Standpunkt hinzu, "sowohl Herder (25) als auch Buffon". Und in der Tat mit gutem und bewunderungswürdigem Mut baut unser Universalhistoriker gleich selbst die Oberfläche unserer Erde vor unseren Augen auf, behandelt die Abstammung des Menschen, seine Affenverwandtschaft, seine Verbreitung über die Erde, seine Arten und Rassenspaltung und alles Übrige, was heute in mehreren großen Zweigen der Wissenschaft als eine Domäne der Naturforschung betrachtet wird und eines ganzen Mannes Lebensarbeit gemeiniglich für sich selbst in Anspruch nimmt. Philosophie und Literatur des vorigen Jahrhunderts lebten noch in der naiven Zuversicht, daß es mit der Zuhilfenahme BUFFONs möglich sein soll, über Fragen dieser Art zu einem selbständigen Urteil zu gelangen. SÖMMERING genoß zu SCHLOSSERs Zeiten vielleicht mit Recht ein solches Ansehen, daß ein Universalhistoriker hoffen durfte anhand dieses Gelehrten sich mit den Naturwissenschaften auf einen halbwegs freundschaftlichen Fuß zu stellen. Der Frage der Abstammung der Menschen und ihrer Verwandtschaft mit den Affen waren weder KANT noch HERDER aus dem Weg gegangen. SCHLOSSER hoffte mit Hilfe des heute vermutlich beiseite gelegten Buches des Holländers DOORNIK (1808) sich leidlich über diese Dinge orientieren, und Einiges bemerken zu können, was damals ein gutes Zeugnis von der Ausbreitung seiner Lektüre und Gelehrsamkeit abgeben mochte. Was hat sich HERDER auf dem Gebiet der Naturwissenschaften zugetraut, um seine "Ideen zur Geschichte der Menschheit" zu entwickeln (26); mußte es nicht als ein abenteuerliches Unternehmen erscheinen, Hypothesen auf Hypothesen zu häufen und dies nachher als Geschichte der Menschheit auszugeben? Damals aber nahm KANT keinen Anstoß an den naturwissenschaftlichen Hypothesen des großen theologischen Literaten, er polemisierte vielmehr gegen den Teil von HERDERs Ausführungen, er auf unsichere Erfahrungen ein metaphysisches Gebäude errichten wollte (27).

Es mag heute nicht mehr angebracht erscheinen, SCHLOSSER nach dem zu beurteilen, was er als Begriff der Universalhistorie aufstellte, so viel ist aber gewiß, daß wir die Fäden seines Denkens greifen können, und daß sein ganzer Standpunkt aus einer Literatur erklärt werden muß, welche der Zeit nach in seine erste Jugendepoche fällt. Wenn wir aber heute nach einem Jahrhundert die bei weitem größte Zahl der Fachgenossen den Stab über SCHLOSSERs Geschichtsschreibung brechen sehen, so ist die Frage berechtigt, ob wir eigentlich über den Standpunkt des vorigen Jahrhunderts in Bezug auf das, was unter Universalgeschichte zu verstehen ist, wesentlich hinausgekommen sind. Man braucht nur ein Dutzend Lehrbücher der Weltgeschichte unserer Tage, Revue passieren zu lassen, um sich zu überzeugen, daß allen ohne Ausnahme die übliche Definition des Begriffs der Universalgeschichte gedankenlos anhaftet, wie sie von SCHLÖZER auf die Bahn gebracht, von KANT und HERDER erweitert und im Sinne des letzteren von SCHLOSSER wesentlich verschärft worden ist. Alle diese Geschichtsschreiber, aus denen Jugend und Alter meistenteils ihre historische Bildung ziehen, versichern uns, daß sie die Menschheit und ihre Entwicklung zum Gegenstand der Darstellung und Mitteilung gemacht hätten, alle wissen in irgendeiner oder der anderen Form von den Plänen zu erzählen, welche Gott mit der Menschheit vorhatte und die sich in deren Geschichte verwirklichen. (28) Die meisten stehen heute noch auf demselben inhaltsleeren Standpunkt, auf welchem HERDER es als ein großes Resultat betrachtet hat, wenn er behaupten konnte: "Das Werk der Vorsehung geht nach allgemeinen großen Gesetzen in seinem ewigen Gang fort." (29)

Aber auch seinem äußerem Umfang nach ist der Begriff der sogenannten Menschheitsgeschichte seit SCHLOSSER kaum mehr einer ernsthaften Revision unterzogen worden. Wenn man davon absieht, daß einige moderne Universalhistoriker das Kapitel der urweltlichen Zeit um einige Pfahlbauhistorien erweiterten, so fängt die Weltgeschichte fast noch überall, wie in SCHLOSSERs Werken mit Äthopien an und wandert auf einer sehr verschiedenen Stufenleiter von Bevorzugung und Zurücksetzung der Völker nach den wohlbekannten naheliegenden Ländern, um endliich in den modernen Kulturstätten eine vertraute und heimatliche Basis lang ausgedehnter Erzählungen zu finden. An eine dürftige schematische Ethnographie der über den weitaus größten Teil der Erde verbreiteten Menschheit schließt sich die staatsgeschichtliche Erörterung unserer europäischen Vergangenheit mit dem Anspruch eines für die Menschheit allein und ausschließlich maßgebenden Wertes in behaglichster Breite an. Unsere Weltgeschichte steht noch immer wie zur Zei des EUSEBIUS auf einem rein subjektiven Standpunkt und nimmt den Begriff der objektiven Menschheit dafür in Anspruch. Man wagt heute zwar nicht mehr, wie SCHLOSSER, da er zu Indien gelangt, die naive Bemerkung: "Wir können uns begnügen über die eigentliche Geschichte hinwegzuschlüpfen", aber wer nur einigermaßen in der Ökonomie der universalhistorischen Darstellung, Gerechtigkeit lassen wollte, der müßte doch gestehen, daß die Menschheit jenseits des Indus und Ganges gar wenig berücksichtigt wird. Vom Standpunkt der menschheitlichen Entwicklung wird man gewiß nicht länger leugnen können, daß die der Zahl nach größere Hälfte der Menschen, welche den Kulturentwicklungen des Buddhismus folgte, entschieden das gleiche Recht historischer Beachtung finden müßte, wie die geringere Zahl der Völker, die dem Christentum angehört, und doch existiert bis auf diesen Tag noch keine einzige Weltgeschichte, welche auch nur ein tiefergehendes Interesse, eine ernsthaftere Einsicht in die welthistorische und philosophische Bedeutung der großen welterobernden Religion des östlichen Asiens vermitteln würde. (30) Wenn SCHLÖZER behauptet, daß die Weltgschichte "ihre Neugierde so gut am Huangho und Nil, wie am Tiber und Weichsel weidet", so ist dies ein schöner Satz, der gleichwohl weder von SCHLOSSER noch vor irgendeinem seiner universalhistorischen Nachfolger zur Wahrheit gemacht worden ist. Nach wie vor ist all das was die Weltgeschichte für die Vergangenheit der Menschheit zu leisten verspricht, nicht viel mehr als Phrase, und muß mit jeder neuen Entdeckung, welche auf dem Gebiet der Sprachwissenschaften, auf dem Gebiet der Geographie und Ethnographie gemacht wird, in immer größerem Maßstab leere Phrase bleiben. Eine die Menschheit erschöpfende Universalgeschichte ist für jeden einzelnen ein frommer Wunsch seiner Erkenntnis, eine Befriedigung in großem Sinn wird hierin ein Sterblicher so wenig zu erlangen fähig sein, als jemandem gelingen mag, den gesamten Umfang alles menschlichen Wissens und aller menschlichen Erfahrung in sich zu vereinigen und aufzunehmen. Denkt man noch außerem daran, die Menschheit im ganzen Umfang ihrer Tätigkeit, im ganzen Umfang ihres Könnens, Wissens, Schaffens zu erfassen und den Forderungen gerecht zu werden, welche sich aus dem Kausalzusammenhang der Ereignisse im Hinblick auf die Kulturentwicklung ergeben, so wäre zur Darstellung der Universalgeschichte ein Wissen nötig, welches alle einzelnen Wissenschaften in sich begreift, und es gäbe dann überhaupt nur eine Wissenschaft, die Wissenschaft von dem was die Menschheit überhaupt erlebt, erforscht, erfahren und geleistet hat. So sehr man nun auch ein solches Wissen als ein Ziel des Strebens betrachten möchte, so leuchtet doch ein, daß damit ein Prinzip nicht gewonnen wäre, welches die Wissenschaft der Geschichte als solche zu begrenzen fähig wäre und einen Unterschied zwischen den Aufgaben der Geschichte und denjenigen anderer Wissenschaften konstituieren könnte. Wie man also auch den Begriff der Weltgeschichte zeitlich und räumlich fassen würde, so müßte doch schon, um seine Grenzen gegenüber anderen Wissenschaften zu erkennen, ein Moment herangezogen werden, welches die Aufgabe spezieller und in Absicht auf eine besondere Erkenntnis menschlicher Verhältnisse und Zustände kennzeichnet. Bei der praktischen Übung und Anwendung ist dann auch wirklich der Geschichtsschreiber gemeiniglich nicht im Zweifel, welchen Erscheinungen des Lebens er seine vorzüglichste Aufmerksamkeit zuzuwenden hat; ohne ein Bedenken findet er in den gesellschaftlichen oder politischen Momenten die Merkmale für die entsprechende Begrenzung seiner Forschungen und Darstellungen.

In Wahrheit ist es fast ausschließlich der Staat, dem der Geschichtsschreiber seine Aufmerksamkeit zuwendet und den er mit Recht als das besondere Gebiet seiner Wissenschaft betrachtet. In der gesellschaftlichen Erscheinung des Staates findet der Historiker das sachlich begrenzte Forschungsprinzip, welches es ihm möglich macht, seine Aufgabe von der Aufgabe anderer Wissenschaften zu sondern. In der Wirklichkeit wird sich auch kein Historiker darüber beunruhigen, daß er neben anderen Äußerungen der menschlichen Entwicklung von der höchsten geistigen Leistung der Menschheit, von der Geschichte der Sprache, gemeiniglich nichts oder sehr wenig erzählt, in Wirklichkeit war, ist und bleibt der Historiker eben ein Erzähler von dem, was die Menschheit in ihrem staatlichen Leben oder noch richtiger, was in einer ganz bestimmten Anzahl von gesellschaftlich höher entwickelten Staaten auf der jeweils bekannten Erde vor sich gegangen ist. In der Theorie aber, in der Wissenschaftslehre der Geschichte will man diese wirkliche Leistung nicht bescheiden zugestehen, man verspricht mehr, man wird aus lauter Wissenschaftseifer höchst unwissenschaftlich und kann sich von einem veralteten, ursprünglich der Bibel entnommenen, vom Christentum verschärften Irrtum über den Begriff der Menschheit doch nicht losmachen. Was also SCHLÖZER theoretisch begründete, was von KANT, SCHILLER, HERDER, SCHLOSSER als universalgeschichtliche Aufgabe verstanden und entwickelt wurde, ist heute in der praktischen Werkstatt der geschichtlichen Arbeit meist mit Recht über Bord geworfen worden und wird kaum mehr auferstehen. Widerspruchsvoll in sich selbst sind unsere heutigen sogenannten Weltgeschichten nichts anderes als ein Konglomerat von sehr verschiedenen Wissenschaften, indem sie zu einem Teil eine Länder- und Völkerkunde, zum anderen die Staatsgeschichte willkürlich ausgewählter Völker in einer ungleichmäßigen und von der zufälligen Kenntnis des Individuums diktierten Weise aneinderreihen (31).

Darf man nach dem Gesagten zu einem Endurteil über SCHLOSSERs universalhistorische Auffassung schreiten, so wird vor allem zugestanden werden müssen, daß er auch hier ganz und gar in der Literatur und Philosophie seiner Zeit steckte, daß er in der Richtung HERDERs den alten Geschichtsbegriff SCHLÖZERs zu verbessern glaubte, daß er hierbei die nüchternen Warnungen KANTs vor HERDERs theologisierenden Spekulationen wenig beachtet hat, und daß er zur mutigen Ausführung eines universalhistorischen Systems fortgeschritten ist, welches bis auf den heutigen Tag immer fortwirkt und dessen Irrtümer wenigstens in der Theorie der Geschichte noch heute nicht überwunden sind, sondern auch von denen nachgebetet zu werden pflegen, welche sich in ihrer Wissenschaft sonst turmhoch über SCHLOSSER erhaben glauben. Indem wir aber unsererseits den universalhistorischen Begriff SCHLOSSERs für völlig verfehlt und unhaltbar ansehen durften, wollten wir uns keineswegs der Aufgabe für enthoben betrachten, die Geschichtsschreibung des Universalhistorikers in den Richtungen, wo er sich auf der Bahn der Staatsgeschichte bewegt, noch einer näheren Betrachtung zu unterziehen.

Staatsgeschichte beginnt in SCHLOSSERs Werken eigentlich erst bei den Persern. Er blieb auch hierin ein Vorbild der meisten nach ihm kommenden Universalhistoriker. Was über die semitischen Völker in unseren weltgeschichtlichen Darstellungen bis auf den heutigen Tag geliefert wird, ist vorwiegend ein literarisch-kulturgeschichtliches Raisonnement [Argumentation - wp], dessen Wissenswürdigkeit sicher nicht in Zweifel gezogen werden will, welches jedoch nur eine sehr ungenügende Vorstellung vom Staatsleben jener Völker geben kann. Ganz anders gestaltet sich die Darstellung SCHLOSSERs und seiner Nachfolger gemeiniglich von den Persern ab, an deren Geschichte Griechenland und Rom sich anschließt und von deren Auftreten sich Kraft und Aufmerksamkeit des Historikers auf die staatlichen Vorgänge bis in ihre kleinsten Umstände erstrecken. Es hat Tausende von Feldherren auch vor DARIUS gegeben, doch wehe, wenn wir einen von jenen, die zwischen Persern und Griechen Schlachten geschlagen haben, in der Weltgeschichte nicht erfahren würden! Man mißverstehe mich nicht; was ich bemerken will, ist nur dies, daß tatsächlich die Darstellungen der Weltgeschichte 500 Jahre vor Christus einen absolut verschiedenen Charakter annehmen, und daß das staatsgeschichtliche Moment nun in gleichem Maß vorherrscht, als es vorher vernachlässigt erschien.

Unsicherheit über die Aufgabe der Geschichte zeigt sich aber auch in SCHLOSSERs staatsgeschichtlichen Ausführungen. Er fühlt sich nirgends sicher, ob er auch wirklich genug tut, wenn er den staatsgeschichtlichen Entwicklungen folgt, er greift daher überall, wo er nur irgend kann, in andere Gebiete über und ein aus einem allgemeinen Erkenntnisprinzip hervorgehendes Ebenmaß der Darstellung zeigt sich nicht. Er verändert daher häufig die Form. In der Darstellung der Kreuzzüge (vgl. Weltgeschichte III, 2) findet er es besser von der "nackten bloß andeutenden und zusammenhängenden Form so weit abzugehen, als der Zweck des Werkes und seine Grundsätze nur immer erlauben möchten". In der Anzeige von REINGANUMs "Übersicht der Geschichte des Mittelalters versicherte er, daß man die Einzelheiten bei einer weltgeschichtlichen Darstellung fast gänzlich entbehren kann. In der alten Geschichte behandelte er selbst bei den Griechen und Römern fast jede Periode in sehr verschiedener Ausführlichkeit. Detailliert ist eigentlich überall nur die Literaturgeschichte in Betracht gezogen worden. Bei all dieser Ungleichheit der Behandlung seines Stoffes hat SCHLOSSER indessen dennoch nach einer Seite hin eine nie genug hochzuschätzende Einwirkung geübt. Er hat die so lange herrschende Genügsamkeit in der Darstellung staatsgeschichtlicher Vorgänge definitiv und für immer beseitigt, und er erweiterte zugleich die staatsgeschichtliche Darstellung in einer bis auf seine Zeit unbekannten Weise. Niemand hatte vor ihm und vielleicht auch nach ihm, in den sogenannten weltgeschichtlichen Darstellungen den Byzantinern eine gleiche Aufmerksamkeit geschenkt, auch die Araber und Normannen sind eigentlich erst von SCHLOSSER nach Gebühr gewürdigt worden. In diesen Richtungen darf man ohne weiteres mit GERVINUS die wichtigste Einflußnahme SCHLOSSERs auf alle spätere Geschichtsschreibung erkennen. Denn die Gefahr, welche in der strengen Festhaltung des staatsgeschichtlichen Standpunktes für den Geschichtsforscher immer lag und liegen wird, ist ohne Zweifel darin zu suchen, daß er leicht in ein allzu äußerliches Wesen gerät und die Erscheinungen, welche in Form der Staatsaktion vor sich gehen, allzuwenig tief und ohne jede Ahnung einer inneren Notwendigkeit erfaßt (32). Wie es in dieser Beziehung als ein Gebot der Geschichtsschreibung erschienen ist, einen wesentlichen Schritt über SCHLÖZER und selbst über JOHANNES von MÜLLER noch hinaus zu machen, so wird es auch noch unserer Zeit ein stetes Bedürfnis bleiben, immer wieder und mit aller Energie jene Begründung des äußeren Zusammenhangs der Ereignisse zu fordern, welche nur aus dem Zurückgehen auf die in der staatlichen Gesellschaft herrschenden Ideen und geistigen Bestrebungen gewonnen werden kann. In diesem Punkt aber ein sehr großes Beispiel gegeben zu haben, wird immer das Verdienst SCHLOSSERs, sowohl in seiner universalgeschichtlichen Übersicht der alten Welt, wie auch in seiner Geschichte des 18. Jahrhunderts bleiben, von welcher noch nachher eingehender zu sprechen sein wird.

Es mag sein, daß der geistige Bestand der politischen Welt von SCHLOSSER und seinen Anhängern, manchmal etwas zu einseitig aus den Literaturverhältnissen der Nationen hergeleitet werden will, und daß den rein doktrinären Richtungen der Zeit ein zu großer Einfluuß auf die praktisch tätige Welt im Staat zugeschrieben wird, aber sicherlich würde von einem Verständnis der in einer Zeit wirksamen Ideen überhaupt nicht geredet werden können, wenn man die Literatur eines Volkes nicht gleichzeitig in eine beständige Berücksichtigung nähme. Über diesen Punkt wenigstens kann man sagen, daß unter allen Geschichtsschreibern unserer heutigen Zeit eine im allgemeinen feststehende Übereinstimmung herrscht, zu der doch wohl SCHLOSSER jedenfalls sehr wesentlich beigetragen hat, obwohl LÖBELL gegen GERVINUS auch nicht zugeben wollte, daß er hierin "bahnbrechend" gewesen ist. Allerdings beruft man sich auf französische und englische Vorgänger, welche längst vor SCHLOSSER Staatsgeschichte und Bildungsgeschichte miteinander verbunden haben, indem sie dem Zustand der Literatur, der Philosophie der schönen Künste besondere Abschnitte in ihren Werken gewidmet haben; allein die Methode, welche SCHLOSSER in seiner universalhistorischen Übersicht der alten Welt und wie sich noch zeigen wird, am ebenmäßigsten in der Geschichte des 18. Jahrhunderts zur Anwendung brachte, hatte einen tieferen Zweck und war auf ein weit innerlicheres Moment begründet, als man etwa bei GILLIES oder selbst bei GIBBON und anderen finden mochte (33). Wenn die älteren Schriftsteller die Bezugnahme auf Literatur im Sinn der Vollständigkeit des welthistorischen Stoffes verstanden, so ist es bei SCHLOSSER das Bestreben nach der Kausalität der Erscheinungen, was ihn auf den Gang der Literatur zurückleitet. Er scheint in diesem Punkt durchaus mit WILHELM von HUMBOLDT übereinzustimmen, und es ist unbegreiflich, wie SCHLOSSERs Verhältnis zu dem berühmten Aufsatz HUMBOLDTs so arg mißverstanden worden sein konnte, daß man im letzteren eine Art von Verdikt gegen SCHLOSSERs Geschichtsschreibung erblicken wollte (34). Es ist auch nicht entfernt daran zu denken, daß HUMBOLDT die im Jahr 1821 geschriebene Vorrede zum ersten Teil des dritten Bandes der Weltgeschichte treffen oder tadeln wollte: Hier verlangt SCHLOSSER von der Geschichtsschreibung eine Eingehen in die Einzelheiten der Erscheinung, wie auch HUMBOLDT durchaus gleichlautend gefordert hatte. Wenn SCHLOSSER die Bemerkung macht, daß in der Geschichte "ohne vorhergegangene Anschauung des Einzelnsten alles Absprechen hohl und eben darum schief ist", so wird man ja nicht denken dürfen, daß HUMBOLDTs Aufsatz hiergegen einen prinzipiellen Gegensatz bildet. Es wäre nicht leicht möglich, mit Sicherheit nachzuweisen, welche Verallgemeinerungen der Weltgeschichte SCHLOSSER in seiner Vorrede zum dritten Band der Weltgeschichte, wo er sich "gegen die erkünstelte philosophische Geschichtsschreibung, gegen den phantastisch philosophischen Schwulst" ausgesprochen hat, speziell im Auge hatte, die Prinzipien, welche HUMBOLDT 1822 in seinem Aufsatz über die Aufgabe des Geschichtsschreiber aussprach, waren zu sehr verwandt mit allem, was aus den kant-schillerschen Traditionen in SCHLOSSER lebendig war, als daß man irgendeinen Gegensatz zwischen HUMBOLDT und SCHLOSSER voraussetzen dürfte. Vielleicht wollte SCHLOSSER einen Seitenhieb gegen STOLBERG oder FRIEDRICH SCHLEGEL führen (35), in Bezug auf HUMBOLDT läßt sich nur sagen, daß sein Aufsatz über die Aufgabe des Geschichtsschreibers genau zu all dem paßt, was in irgendeiner Weise von SCHLOSSER über Dinge dieser Art geäußert wurde. Sie stehen beide auf dem Standpunkt einer zuletzt auf den Gottesbegriff zurückgehenden Ideenwelt, welche hinter den Erscheinungen der Geschichte zu suchen wäre. (36)

Wie aber nun der Historiker dieser Ideenwelt habhaft zu werden vermöchte, darüber gehen die Methoden allerdings sehr stark auseinander und SCHLOSSER sucht sich in diesem Punkt deutlich von seinen philosophierenden Gesinnungsgenossen zu unterscheiden; wenn man aber aufrichtig sein soll, so muß man gestehen, daß auch er in einem ungewissen Dunkel mehr die Ideen umhertappend zu fangen, als zu erforschen weiß, und daß ihn eben deshalb nicht selten ein Mißbehagen über die "durchlesenen Folianten" ergreift, welche am Ende nichts sagen, als "daß im Leben stets ein Schatten dem andern weicht, um endlich im Nichts den Platz zu lassen" (37). Es wäre nicht schwer, eine ganze Reihe von Stellen zu finden, aus denen man glauben machen könnte, daß der eifrige Vertreter der Prinzipien in der Geschichte eigentlich ein Nihilist gewesen ist, und sich in die unendliche Masse von Einzelheiten nur hineingestürzt hat, um den eigentlich ungestillten Drang nach den in der Gottheit ruhenden Ideen der Weltgeschichte zu begraben. Aber eine Ansicht solcher Art über SCHLOSSER wäre sicherlich falsch. Was er gleichmäßig scheute, war einerseits jede philosophische Einseitigkeit, welche sich über die unmittelbar gegebene Erfahrung erhebt und andererseits die Selbstgenügsamkeit und Trockenheit jener, welche im äußeren Gerüst das Wohnhaus erblicken. Wie freilich GERVINUS behaupten konnte, daß es sein Meister in der Vermittlung dieser Gegensätz zu einer kanonischen Harmonie für die Geschichtsschreibung gebracht hätte, ist von einem entfernteren Platz besehen, allerdings unbegreiflich gewesen. Ebensowenig aber hatten spätere ein Recht SCHLOSSER darüber Vorwürfe zu machen, daß er es bei seinem kritischen Bestreben in der Enthüllung der Ideen nicht weiter gebracht hat.

Man hat sich bei dieser Gelegenheit zuweilen der Streitigkeiten erinnert, welche SCHLOSSER in einen Gegensatz zu F. A. WOLF, NIEBUHR und OTFRIED MÜLLER brachten, und glaubte in der geringen Würdigung philologischer Kritik von Seiten SCHLOSSERs die Ursache mancher sachlichen Irrtümer und Mißerfolge der alten Geschichte erblicken zu sollen. Wenn aber SCHLOSSER die Philologen überhaupt und F. A. WOLF für besonders eingebildet hielt, so ist dies freilich kein Gegenstand, bei welchem eine exakte Entscheidung über sachliche Fragen gewonnen werden konnte. Da man aber nachträglich den Siegerpreis in diesen Dingen mit Leichtigkeit und ohne großen Scharfsinn verteilen kann, so dürfte zu erinnern sein, daß andere auch fragen können, wie viel denn heute in Bezug auf die Einzelheiten der Forschung von NIEBUHR und OTFRIED MÜLLER aufrecht besteht. Beachtet man die Wandelbarkeit, die sich in den Urteilen und Auffassungen über das einzelnen Moment der geschichtlichen Erscheinungen zeigt, so wird man genötigt sein, auf den ephemeren [Eintagsfliege - wp] Streit der Gelehrten nur eine sehr untergeordnete Rücksicht zu nehmen, falls man eine richtige Summe vom Leben und der Tätigkeit eines schriftstellerischen Geistes ziehen und seine Stellung in der Literatur im allgemeinen bezeichnen will. Es würde hier auch viel zu weit führen, jede einzelne Frage der Kritik in ihrer nur für die Gelehrtengeschichte wichtigen Stellung zu erörtern. War es uns doch nun zur Aufgabe gemacht, SCHLOSSERs allgemeine Leistungen auf dem Gebiet der Universalhistorie zu bezeichnen (38).
LITERATUR Ottokar Lorenz, Friedrich Christoph Schlosser und über einige Aufgaben und Prinzipien der Geschichtsschreibung, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 88, Heft 2, Jahrgang November 1877
    Anmerkungen
    19) Hier wäre der Platz, über das Verhältnis Schlossers zu Johannes von Müller zu reden, worüber jedoch außer der Stelle (vgl. Note 15) keine sicheren Anhaltspunkte vorliegen. Was Johannes von Müllers Stellung in der Historiographie überhaupt anbelangt, so hat Büdinger ("Über Darstellungen der allgemeinen Geschichte", insbesondere des Mittelalters) Müller gleichsam als den Schlußpunkt der universalhistorischen Entwicklung bezeichnet. Ich bin nun nicht sicher, ob die 24 Bücher ohne eingehende Berücksichtigung Voltaires zu verstehen wären. Darin aber stimme ich wie ich vermute, mit Büdinger überein, daß nach einer Seite der Betrachtung, nämlich in Bezug auf die räumliche Auffassung der Weltgeschichte Müller in eine ganz andere Reihe gehört als Schlosser, und daß er in Bezug auf den universalhistorischen Begriff viel vorsichtiger und gemäßigter war als Schlosser. Man darf auch nicht außer Acht lassen, daß er seinem Buch sehr verständig anfangs den Titel "Les époques de l'histoire politique des principales nations" gegeben hatte, wie dann auch der schließliche Titel nur von der "europäischen Menschheit" spricht. Ohne daß ich hierin gerade einen beabsichtigten Gegensatz gegen die universalhistorische Theorie der Anderen erblicke, scheint mir doch anzuerkennen, daß sich Johannes von Müller klug genug durch das modern gewordene Stichwort von der allgemeinen Menschheit nicht verblenden ließ.
    20) Auf die Frage: Was in die Universalgeschichte gehört, antwortete Schlözer wirklich mit dem unbesonnenen Wort, das alle Universalhistoriker bis auf den heutigen Tag in ihren Einleitungen wiederholen: "Alle Völker der Welt". "Ohne Vaterland, ohne Nationalstolz verbreitet sie sich über alle Gegenden, wo gesellschaftliche Menschen wohnen und überschaut mit weitem Blick die ganze Bühne, auf welcher jemals Rollen gespielt worden sind. Jeder Weltteil ist ihr gleich. Nicht vier Monarchien, aus etwa dreißig anderen ärmlich herausgeschieden, nicht Volk Gottes, nicht Griechen und Römer beschäftigen sie mit Prädilektion [Vorliebe - wp]. Sie weidet ihre Neugier so gut am Hoangho und Nil, als am Tiber oder der Weichsel". Dagegen ist Schlözer im Bezug auf den Anfang seiner Universalgeschichte noch sehr bescheiden im Vergleich mit der von Schlosser gepflegten Richtung, da er wenigstens die "verzeichnete Überlieferung" als Grenze der Geschichte ansetzt. Sehr marktschreierisch geht er aber in Bezug auf den Umfang dessen zu Werke, was als Äußerung menschlicher Tätigkeit angeblich eine der politischen Geschichte gleichgestellte Bedeutung in Anspruch nimmt: Nach seiner Ansicht ist die Universalgeschichte eben so sehr Staats- wie Kunstgeschichte, Handels- wie Gelehrtengeschichte und beschäftigt sich auch mit den Veränderungen und Verhältnissen der Natur, sofern hierdurch das Leben der Menschen berührt wird. Man muß übrigens bemerken, daß Schlözer in der praktischen Anwendung der letzteren Dinge sehr verständig im besten Sinne realistisch zu Werke geht und heute noch als Muster gelten kann. Daß er aber auch da den Umfang der Weltgeschichte theoretisch mehr ausstopft, als er halten konnte, lag eben in den universalhistorischen Vorstellungen seiner Zeit. Vgl. übrigens Wesendonck, "Die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung", Seite 165f. Wie man aber in diesen rein äußeren Dingen der Geschichtsschreibung die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung sehen mag - und in einem - vom Standpunkt der allgemeinen Literatur betrachtet - als ein Geist sechsten oder siebenten Ranges dastehenden Gelehrten, wie Gatterer den Begründer unserer heutigen Historiographie sehen will, beweist, wie unendlich bescheiden, vom allgemeinen literarischen Standpunkt, der heutige Historiker von sich denkt. Es ist übrigens schade, daß das lehrreiche Buch von Wesendonck in einer so wenig gerundeten Form erscheinen konnte, zahllose Wiederholungen enthält und aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist.
    21) Für seine Exzerpte hatte Johannes von Müller wirklich die von Schlözer vermuteten dreißig Monarchien der Weltgeschichte in Anwendung gebracht. Was den Umkreis der alten Völker betrifft, so ist er bei Johannes von Müller enger als bei Schlözer, bei Schlosser weiter als bei diesem. Im Wesentlichen schließt sich Johannes von Müllers universalhistorischer Begriff enger an die Systeme der mittelalterlichen Weltgeschichte als die von Schlözer oder Schlosser.
    22) Was Johannes von Müller betrifft, so wird man freilich darüber streiten, ob er sich wirklich zu denen zählen läßt, welche einen einheitlichen Gedanken in der Aufeinanderfolge der herrschenden Mächte vertreten. Büdinger (a. a. O.) hebt die Worte hervor, welche das Gegenteil zu beweisen scheinen: "Die Blätter der Annalen der Menschheit sind mir alle gleich wichtig, und bin ich mit meiner Betrachtung allein beim unsichtbaren Führer aller Dinge, die im Himmel und auf Erden sind." Also doch ein Führer! Betrachtet man außerdem Müllers Versicherung am Ende: "So unvollständig das Geheimnis und die Natur der größten Revolutionen und ihrer Verkettung in diesem Geschichtsbuch, so sichtbar leuchtet eine höhere Leitung hervor, so kann kein Zweifel sein, daß auch Müller über den bloßen sogenannten Pragmatismus hinaus wollte. Wenn er von der "Entwicklung innewohnender Fähigkeiten" spricht, so ist er mit halbem Fuß doch auch bei jenen, welche dem "unerforschlichen Plan" eine Art von Chiliasmus [Lehre von der Erwartung eines 1000-jährigen Reiches nach der Wiederkunft Christi - wp] zugrunde gelegt haben, d. h. Ideen voraussetzen, welche sie nicht empirisch nachzuweisen vermögen und daher von anderswoher als aus der Geschichte genommen haben.
    23) Über die Einwirkung Kants auf die universalgeschichtliche Auffassung verweise ich hier, wo ich nicht eine volle Geschichte der Historiographie schreiben kann, auf Tomascheck, "Schiller", Seite 122. Hier will ich nur noch bemerken, daß von Kants fundamentalem Satz: "Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln" (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", Werke IV, Seite 144) sowohl Schiller wie Schlosser ausgingen und auch Johannes von Müller heimlich die Voraussetzung einer solchen Bestimmung, Naturabsicht, göttlichen Leitung usw. macht.
    24) Herder hielt Schlözers Ansicht von der Weltgeschichte für roh; er verlangte, daß eine Auswahl der Völker, welche in der Geschichte der Menschheit von Bedeutung wären, nach jenen Gesichtspunkten geschieht, die sich auf die religiösen und sittlichen Ideen gründen. Nach Schlözer spielten die Juden in der Weltgeschichte eine traurige Rolle, nach Herder sind sie natürlich der universalhistorische Sauerteig. Über den Streit selbst ist Schlözers zweiter Teil der Vorstellung einer Universalgeschichte zu vergleichen.
    25) Zusammengehalten mit dem früheren Ausspruch Schlossers (Note Seite 15) über Herder wäre der Einfluß dieses auf jenen erst noch näher festzustellen. So viel ist sicher, daß sich Schlosser fortwährend gegen Herders Ideen sträubte, nichts aber ist bezeichnender, als dies, daß er sich äußerlich ganz den "Ideen zur Geschichte der Menschheit" angeschlossen und nicht nur bei der naturwissenschaftlichen Einleitung, sondern auch in der Systematik der Völker genau denselben Gang befolgt hat. Was Herder (II. Teil IV, über die Organisation der afrikanischen Völker hat, bringt Schlosser unter dem spezielleren Titel "Äthiopien"; nachher folgt, wie bei Herder, China und Japan, dann Indien (vgl. Herder III, 11, Babylon, Assyrien, Persien, Medien, Juden, Phönizien, Ägypten; III, 12 bei Herder usw.) Hiermit kann wohl auch hier über den Zusammenhang kein Zweifel sein, nur ist es ja richtig, daß Schlosser Herder in die Bahnen der Humanitätsideen nicht vollständig folgte.
    26) In manchen Dingen sollte unsere heutige Welt nie vergessen, daß die Aufklärung des vorigen Jahrhunderts immer wieder unsere Bewunderung erregt. Ist es nicht merkwürdig, wie der als from verschrieene Herder die Affenfrage mit einer Ruhe behandelt, die man heute manchem weltlichen Mann wünschen könnte. Auch die Bemerkung Herders gegen die Abstammungstheorie, daß die dem Affen am ähnlichsten sehenden Menschen in Ländern wohnen, wo es nie Affen gegeben hat und dgl. mehr ist beachtenswert.
    27) Kants Kritiken von Herders Ideen Werke IV, Seite 171 gehören zu den lesenswertesten Streitschriften des vorigen Jahrhunderts. Die prächtige Art, wie er Herder über dessen Betrachtungen von der Kugelgestalt der Erde ironisiert und dgl. mehr ist höchst ergötzlich zu lesen. Zugleich zeigt aber die Rezension, daß Kant die Idee des unaufhörlichen Fortschreitens der Gattung durchaus nicht weltgeschichtlich so sicher angenommen hat, als es nach seinem achten Satz der Idee zu einer Weltgeschichte angenommen werden könnte.
    28) Unter vielen schönen Definitionen, von denen die weltgeschichtlichen Kompendien erfüllt sind, erwähle ich zum Exempel eine, welche so lautet: "Die allgemeine oder die Weltgeschichte umfaßt das ganze menschliche Geschlecht. (?) Sie erzählt nämlich (!), durch welche Schicksale, Begebenheiten und Taten jenes unter der Leitung Gottes seiner Bestimmung, d. h. der immer vollkommeneren Ausbildung seiner geistigen Kräfte und sittlichen Anlagen, als ein Ganzes stets näher gekommen ist." Man sieht, es ist immer die kantische Naturabsicht mit dem von Schlosser noch obendrauf gesetzten persönlichen Gott, der aber auf ein besonderes Verlangen in vielen anderen weltgeschichtlichen Schulbüchern auch wegbleiben kann, ohne daß sich dadurch viel Wesentliches an der Definition und noch viel weniger am Inhalt des Buches und der Weltgeschichte verändert.
    29) Herder, Ideen III, 14 am Schluß.
    30) Man muß es den Herren von der Universalgeschichte bei jeder Gelegenheit ins Gedächtnis rufen, daß Schlagintweit 341 Millionen Buddhisten berechnet und die besten Berechnungen für das Christentum auf 320 bis 330 Millionen lauten. Wo ist also die Menschheit unserer Geschichtsbücher.
    31) Nur erwünscht erscheint uns für diese Betrachtung der soeben erschienene Vortrag von Emile Dubois-Reymond, "Über die Grenzen des Naturerkennens" (Deutsche Rundschau IV, 2, 230). Denn von unserem Standpunkt ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die Naturforschung immer wieder ihre Forderungen an die Geschichte der Menschheit zur Geltung bringt. Wenn aber Dubois-Reymond triumphierend ausruft: "Da erblicken wir eine ganz andere Weltgeschichte, als die, welche gewöhnlich diesen Namen trägt", - so wäre es nicht schwer, ihm nachzuweisen, daß es mit seiner Weltgeschichte auch nicht übermäßig gut bestellt ist, denn was er über Christentum, Islam, Judentum und über viele andere geistige Faktoren sagt, wird ungefähr dasselbe Lächeln bei jenen erregen, die von der Sache mehr verstehen, als er, welches ihm die Außerachtlassung der natürlichen Faktoren der Geschichte erregt. Wir unsererseits billigen sehr, wenn es betont wird, daß man die geistigen Zustand der Alten schlecht beurteilt, wenn man Dinge nicht weiß, welche Littrow über das Sehen in der Astronomie bemerkt hat. Ob man die Frage des Untergangs des römischen Reiches lieber auf das Zurückbleiben in den Naturwissenschaften überhaupt oder auf den mangelhaften Dünger im Besonderen zurückzuführen hat, mag hier dahingestellt bleiben, wir freuen uns aber sehr, wenn die Naturforschung ihre Rechte immer mehr geltend macht und den Beweis liefert, daß ohne ihre Kenntnis der Menschheitsbegriff in geschichtlicher Entwicklung nicht faßbar ist. Es haben ja auch schon mehr Leute dergleichen gesagt. Wenn die Naturforschung dem gewöhnlichen Geschichtsbetrieb immer mehr und mehr entzieht, so ist dies für eine schließliche Verständigung der Wissenschaften untereinander gewiß nur ersprießlich; verfehlt wäre nur, wenn die Naturforschung meinen würde, daß das, was sie vom quaternären [aus 4 Bestandteilen zusammengesetzt - wp] Menschen an bis auf Dubois-Reymond und Virchow als Weltgeschichte ausgibt, weniger einseitig sein würde. Wie verächtlich man auch von dem reden mag, was man das Steigen und Fallen der Könige und Reiche, Völkerhetzen, Morden usw. nennt, - man versuche es nur, die elementaren gesellschaftlichen Faktoren außer Acht zu lassen, und man wird ja sehen, daß die neuartige Weltgschichte noch mehr ein Roman ist, als es die alte gewesen war. Diesen Gegensätzen unserer heutigen Wissenschaften gegenüber, welche sich über das Dominium in der Universalgeschichte streiten, ist wirklich die Auffassung des vorigen Jahrhunderts, etwa Schillers, ein Muster von Verständigkeit und Einsicht, wenn er auseinandersetzt, was alles zur Weltgeschichte nötig wäre (Briefwechsel mit Körner II, Seite 48). Dennoch aber scheint uns jeder Naturforscher, der seiner Geringschätzung dessen, was sich gewöhnlich als Menschheitsgeschichte ausgibt, nur Dank zu verdienen, denn es ist wirklich kläglich, welcher Mißbrauch mit dem Begriff Menschheit getrieben wurde, ohne daß sich nur das Bedürfnis geltend macht, die richtige Fahrstraße aufzufinden. Vorläufig aber wird es gut sein, sich zu sagen, daß weder der Historiker, noch der Philologe, noch der Naturforscher befähigt ist, eine Universalgeschichte zu schreiben, und daß der archimedische Punkt für diese Wissenschaft noch völlig unentdeckt ist.
    32) Hier wäre eine große Anzahl von Schrifstellern zu nennen, welche auf diese Schwäche der Historik neue Systeme gebaut haben; es mag einer für alle sprechen: "Die Stellung einer so beschränkten Aufgabe hat auf den Fortschritt unserer Erkenntnis sehr nachteilig gewirkt. Sie hat die Zuft der Historiker verleitet, niemals die Notwendigkeit der ausgebreiteten Vorstudien anzuerkennen, wodurch sie sich zu befähigen gehabt hätten, ihren Gegenstand im ganzen Umfang seiner natürlichen Verhältnisse zu erfassen. Daher die sonderbare Erscheinung, daß der eine Historiker nichts von der politischen Ökonomie, ein anderer nichts von den Gesetzen, wieder ein anderer nichts von den geistlichen Angelegenheiten und von den Veränderungen der religiösen Vorstellungen weiß; daß der eine die Statistik, der andere die Naturwissenschaft vernachlässigt, obgleich diese Fächer die wichtigsten von allen sind, da sie Verhältnisse umfassen, von denen vornehmlich die Stimmung und der Charakter der Menschen erzeugt und in denen beides entfaltet wurde." (Buckle, Geschichte der Zivilisation, Bd. 1, 3) Daß sich an diesen Umstand der Versuch knüpft, die sogenannte Kulturgeschichte wissenschaftlich zu rechtfertigen, ist bekannt; daß aber die Möglichkeit einer allgemeinen Kulturgeschichte mit der Möglichkeit einer Universalgeschichte ganz zusammenfällt, pflegt man gewöhnlich weniger zu beachten. Aufrichtiger ist die Kulturgeschichte darin, daß sie ihr Unvermögen wenigstens nach einer Seite offen eingesteht, jene Faktoren zu erklären, welche aus den gesellschaftlichen Verhältnissen des Staates entspringen. Sie unterschätzt den Menschen nach seiner politischen Seite wie der einseitige Staatshistoriker ihn in seinen kulturellen Motiven häufig verkennt. In Bezug auf die räumliche Ausdehnung des Menschheitsbegriffs heuchelt die Kulturgeschichte aber gewöhnlich ebenso wie die Universalgeschichte, und wenn Dubois-Reymond gegen die letztere den Vorwurf schleudert, daß sie selten erkennt, wie die ostasiatischen Völker den Griechen und Römern in vielen Zweigen der Kultur frühzeitig und immer überlegen waren, so trifft diesr Vorwurf meist ganz ebenso die Kulturgeschichte.
    33) Löbell, Briefe, Seite 48. Dennoch bleibt aber das, was Gervinus bemerkt, aufrecht, denn wenn es sich bloß um eine synthetische und synchronische Zusammenstellung von Literatur handelt, so kann man dergleichen selbst bei den ledernsten Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts finden und braucht nicht Gillies, geschweige Gibbon zu erwähnen; es handelt sich aber doch um mehr: man will Ideen, über welche die Staatsgeschichte schweigt, zur Motivierung politischer Ereignisse gewinnen; hierin hat Schlosser doch entschieden energischer eine Richtung eingeschlagen, als alle früheren, so zwar, daß man heute der Meinung sein darf, er habe darin jedenfalls mehr getan, als der Wahrheit der Dinge und dem wirklichen Hergang entspricht, er hat den Einfluß der Literatur ebenso gewiß überschätzt wie die Vorgänger ihn zu gering angeschlagen haben. Unter diesem Gesichtspunkt hätten sie Löbell und Gervinus vielleicht einigen können.
    34) Löbell, a. a. O., Seite 42 sagt zwar selbst, daß die Beziehung sehr unwahrscheinlich ist, sucht sie aber doch herzustellen, wobei es uns schwer vereinbar erscheint, wie man Schlosser in einem Atem tadelns und Wilhelm von Humboldts Aufsatz einen "herrlichen akademischen Vortrag" nennen kann (vgl. Anmerkung Seite 44, 2).
    35) In der fraglichen Vorrede wird von Schlosser eine ganze Anzahl von sehr verschiedenen Schriftstellern angegriffen; die dort erwähnte erkünstelt philosophische, affektiert natürliche und süßliche Rede bezieht sich mit dem phantastisch-philosophischen Schwulst gewiß auf die neu aufkommende romantisch katholisierende Richtung, wovon Schlosser in Stolbergs Religionsgeschichte und in Schlegels 1815 erschienener "Geschichte der alten und neuen Literatur" abschreckende Beispiele gesehen haben wird. Die in der letzten Schrift zur Verherrlichung des Mittelalters erfundene Reformationsbeurteilung lag Schlosser gewiß im Sinn, da er sich der Epoche der Kreuzzüge näherte. Man muß auch hier fortwährend das hohe Alter Schlossers im Auge haben. Man bezieht unwillkürlich Alles, was Schlosser gesagt hat, auf literarische Verhältnisse, die uns zu nah stehen. Als Schlosser gegen den philosophischen Schwulst polemisierte, war weder Humboldts Aufsatz, noch Schlegels, noch Hegels Philsophie der Geschichte erschienen. Auch was Schlosser von der einseitig politisch-sophistischen Deklamation sagt, ist zu einer Zeit gesprochen, wo alle unsere jetzt kursierenden Geschichtsschreiber noch nicht geschrieben haben, zum Teil noch nicht einmal geboren waren.
    36) Unter allen philosophischen Aufsätzen über Geschichte und Geschichtsschreibung erfreut sich keiner einer gleichen Autorität wie der Humboldts, und wird mit einem gewissen Respekt auch heute noch gerne zitiert, obwohl die heutige Geschichtsschreibung wenig damit gemein hat. Anders steht es noch bei Schlosser. Nicht von Humboldt angeregt, aber aus denselben Anregungen kant-schillerscher Gedanken heraus hat Schlosser den Versuch gemacht, praktisch zu lösen, was theoretisch aufgestellt worden war. Was von Humboldts Beschreibung gesagt wird, wird sehr gern wiederholt; einige Bemerkungen über die Natur des Geschichtsschreiber wie über die erforderliche Feststellung der Ideen, die zu erkennen sind, werden niemals besser gesagt werden, doch ist es merkwürdig, daß außer in Tomaschek, "Schiller", Seite 130, nirgends der trefflichen Kritik gedacht ist, durch welche Alexander von Humboldt an Varnhagen (Seite 40). Man kann übrigens desselben Bemerkung gegen Hegel (ebd. Seite 43) "damit erfüllt wird, was der Philosoph verheißt", wohl auch schon gegen die Naturabsicht Kants und gegen die "Ideen" seines Bruders anwenden.
    37) Merkwürdig ist übrigens, daß sich in Schlossers allgemeinen Sätzen die unbewußten Reminiszenzen [Erinnerungen - wp] an seine Philosophen bis zur Wörtlichkeit einstellen. So spielt ihm in dieser Vorrede Herder, den er doch gar nicht zu mögen versichert, offenbar einen Streich: "Vorübergehend ist also alles in der Geschichte; die Aufschrift ihres Tempels heißt: Nichtigkeit und Verwesung. Wir treten den Staub unserer Vorfahren und wandeln auf dem eingesunkenen Schutt zerstörter Menschenverfassungen und Königreiche; wie Schatten steigen sie aus den Gräbern hervor und zeigen sich in der Geschichte." (Ideen III, 15)
    38) Ich erinnere hier nur noch, daß von Schlossers Schriften überhaupt nur jene berührt werden, welche für die prinzipiellen Fragen der Geschichtsschreibung von Wichtigkeit sind; übrigens sei bemerkt, daß es an einer Zusammenstellung aller Werke und Schriften Schlossers fehlt und ein Verzeichnis in Webers Buch wohl sehr erwünscht gewesen sein würde.