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GEORG GOTTFRIED GERVINUS
(1805 - 1871)
Friedrich Christoph Schlosser

"Er verschmähte es, in unbegangenen Kohlenschachten zu graben, wo im grünen Wald der offen liegenden Geschichte so viel frisches Holz noch ungeschlagen steht. Dieser Methode, die die größere Freude voraus hat am Leben, an Handlungen und Tatsachen ansich, wird es dann ohne jede Absicht leicht, die Natur und den Geist der Personen, der Völker und Zeiten in einer treuen Unbefangenheit abzuspiegeln, die die andere mit aller Kunst sehr viel schwerer erreicht. Denn dazu fördert weit mehr, als die Eröffnung aller Archive, die Beleuchtung der ideellen Antriebe in der Geschichte."

Es ist nur kurze Zeit her, daß sich in Bonn über ARNDT und DAHLMANN die Gräber geschlossen haben; in diesen Tagen, am 23. September, ist ihnen FRIEDRICH CHRISTOPH SCHLOSSER (am 17. November 1776 in Jever geboren) im Alter von 85 Jahren gefolgt. Ein eigenes Geschlecht von deutschen Gelehrten eines ganz gesonderten Schlages, von so ungewöhnlich starker Körpermuskulatur wie kerniger Geisteskraft, scheint mit dieser Gruppe norddeutscher Geschichtsschreiber von dem Schauplatz des deutschen Geisteslebens abgetreten zu sein. Alle drei die Söhne einer groß angeregten Zeit spiegeln sie in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auf verschiedene Weise die Periode ab, in der sich die politischen und nationalen Berufe im deutschen Volk zu streiten begannen mit den Überlieferungen und Gewöhnungen einer vorzugsweise inneren und geistigen Existenz. Alle drei haben sie zu verschiedenen Zeitpunkten die Anfänge ihrer Entwicklungen in der Zeit der deutschen Erniedriegung und Unterdrückung erlebt, und die Eindrücke dieser Volksschmach haben unwillkürlich ihrem erweiterten Geist die Richtung auf die öffentlichen Verhältnisse, ihrem vertieften Gemüte die Fülle des innigen Mitlebens mit den nationalen Geschicken gegeben. In allen Dreien haben diese schweren Leiden der Zeit den kraftvollen Charakteren, die in ihren Naturanlagen begründet waren, eine solche Stahlhärte gegeben, daß in der schlafferen Spannung des folgenden Zeitalters die Epigonen in ihnen wohl oft ein Übermaß des Selbstgefühls und einen Auswuchs des Eigensinns zu tadeln gefunden haben. In allen Dreien hat das deutsche Volk die sympathetische Ader erkannt, die ihre literarische Tätigkeit mit seinem Wohl und Wehe verbindet; es hat in ihnen Volksschriftsteller verehrt, die seine Sache selbst in solchen Werken führten, die, nach Umfang Form und Inhalt so unvolkstümlich als möglich, der gelehrten Innung am innigsten anzugehören schienen.

So tat es selbst mit dem unter ihnen, der sich unmittelbar in die öffentlichen Geschäfte niemals gemischt hat, der jedes Streben nach jeder Popularität geflissentlich verleugnete, dessen Charakter vom schroffsten Gepräge unter den Dreien war, und dessen herbe Urteilsstrenge sich nicht selten gefiel, die Schwächen der Deutschen aufs unschonendste zu geißeln, mit SCHLOSSER. Es ware eine Zeit, wo Deutschland in diesem Mann die ungeheure Belesenheit, den unermeßlichen Umfang der Gelehrsamkeit und die sichere Beherrschung seines Wissens in ungeteilter Meinung bestaunte; wo es seine freie politische Gesinnung und ihr unbekümmertes Bekenntnis, die seltensten Eigenschaften in einem deutschen Stubengelehrten der früheren Jahrzehnte, in höchster Achtung hielt; wo es seine rücksichtslose Sittenpredigt und Kritik in einer Art stummer Ehrfurcht dahinnahm. In dieser Zeit saß ich in Heidelberg zu seinen Füßen, sein dankbarer Schüler, und lauschte in gleich gefesselter Spannung, wenn er seine Vorträge mit einzelnen Bemerkungen einer treffenden Welt- und Menschenkenntnis würzte, die in den mannigfaltigsten Fragepunkten und Zweifeln, von denen die jugendliche Seele bewegt ist, mir die Schuppen von den Augen nahm, und wenn er die Entwicklungsepochen des menschlichen Geschlechts in großartigen Orientierungen entwarf, unter denen vor dem jungen Geist die Pforten der Geschichte gleichsam knarrend auseinander sprangen. Damals wußte ich, was dieser Mann in der Geschichte unserer historischen Wissenschaft für das deutsche Land und Volk bedeutete, nur zu ahnen, an seinen unschätzbaren Wert nur zu glauben; aber die öffentliche Meinung störte mich in diesem Glauben nicht. Wenn ich heute offen und öffentlich gestehe, daß ich diesen Glauben an die große Bedeutung dieses Mannes nie, und auch heute nicht abgelegt habe, so werde ich jetzt vielleicht manchem befangen erscheinen in der Stärke des Dankes oder in der Schwäche des Urteils des gewesenen Schülers, der Schüler geblieben ist. Denn die Meinung über SCHLOSSER ist heute in Deutschland nicht mehr ganz die ungeteilte, die sie ehedem war.

In einer Zeit, die ihre Evolutionen in einer nie zuvor gekannten Bewegungsschnelle macht, ist es nur zu natürlich, daß ein einzelner gelehrter Forscher durch die zusammengeschossene Tätigkeit eines rührigen Geschlechts von Mitbewerbern in kürzester Frist überholt wird; daß Geschmack und Bedürfnis des Tages sich bald in weitem Abstand von einem Schriftsteller findet, der eine ungewöhnlich lange Lebensbahn durchlaufen hat; daß man die Beziehung seiner Werke zur Periode ihrer Entstehung vergißt und den Wert übersieht, der vielleicht vorzugsweise in diesem Verhältnis gelegen war. Unter dem allgemeinen Gedeihen der ausgreifenden, weitreichenden Gelehrsamkeit in Deutschland mußte die SCHLOSSERsche notwendig in der Meinung von ihrem Vorzug und Alleinruhm verlieren. Unter dem üppifgen Aufschießen einer kunstfertigen, formgewandten schöngeistigen Literatur wurde SCHLOSSERs so kunst- wie schmucklose Schreibweise unausbleiblich in den Schatten gerückt. Unter der Verwöhnung der schlaffen Lesewelt durch eine Flut einschmeichelnder Toilettenlektüre wandte sich Geschmack und Gefühl von der bitteren Strenge des altväterlichen Sittenrichters unwillkürlich ab. In der schreibenden Welt sammelte sich dann mit der Zeit eine Gruppe von systematischen Gegnern, die für die Angriffe, die Härten, die Verletzungen, wohl selbst unverdiente Verletzungen, die sie durch SCHLOSSER in seiner langjährigen kritischen Tätigkeit persönlich und unmittelbar erlitten hatten, feindselige Vergeltungen übten. Gab es Männer des Fachs unter diesen, so war der Widerstreit grundsätzlicher durch Urteilsberechtigung, durch Sachkenntnis und Kennergefühl. War unter diesen ein Jünger entgegengesetzter Richtungen, so schärfte der ätzende Geist des Schuleifers den Gegensatz, der nun, die Meister der Schule auf den Thron erhebend, das deutsche Volk in einem blöden und bereits überwundenen Irrtum befangen nannte, als es SCHLOSSER für einen großen Historiker hielt und seine Werke begieriger las, als die der meisten, wenn nicht aller zeitgenössischen Rivalen. Und wie nun jede neue Meinung einen Schwarm von urteilslosen Nachsprechern im Gefolge hat, so bildete sich allerdings eine ziemlich verbreitete Ansicht in Deutschland, die über SCHLOSSER nicht mehr wie früher in tiefer Hochachtung spricht, sondern in flacher Geringschätzung abspricht.  Formlosigkeit  und Mangel an aller Methode sollte seine Darstellungsweise als eine schwer, oder nicht mehr genießbare verleiden. - In seiner  wissenschaftlichen Kritik  wollte man nichts mehr erkennen, als eine reizbare Schmähsucht gegen alle andere Schriftstellerei außer der seinigen. - In seiner  ethischen Kritik  fand man sich abgestoßen vom einseitigen Maßstab einer grämlichen Hausmoral, vor der jede historische Größe zusammenschrumpfen sollte. - In seiner  politischen Kritik  sah man sich ratlos hin und her getrieben durch die Verwerfung einer jeden Regierungsweise, einer jeden Verfassungsform, eines jeden Nationalcharakters und Volkszustandes, die alle gleich untauglich erschienen. - In seiner  Darstellung des Geschichtslaufs  ganz im Großen endlich fühlte man sich umherirrend in einem so planlosen wie trostlosen Chaos, in dem zu keinem Ziel und zu keiner Befriedigung zu gelangen sei.

Diesen Ausstellungen läßt sich in der Tat ein Anschein zutreffender Richtigkeit und in gewissem Maße selbst ein Grund der Wahrheit nicht füglich absprechen. Und dennoch könnten sie das erste instinktive Urteil, das sich in Deutschland über SCHLOSSER gebildet hatte, nicht beeinträchtigen; nie konnten sie in mir meine ältesten Überzeugungen vom Wert dieses außerordentlichen Mannes erschüttern, Es kommt nur darauf an, daß seine Beurteiler die in ihm getadelte Grämlichkeit nicht darin selbst verschulden wollen, daß sie seine Vorzüge über seinen Mängeln geflissentlich übersehen. Es kommt nur darauf an, sich der Oberflächlichkeit zu entschlagen, die den gerügten Fehlern nicht bis zu dem Grund nachspüren mag, wo sie im Ganzen des Charakters ihre Wurzel schlagen. Es ist im Wesen alles menschlichen Geistes gelegen, und wird sich selbst in den schwächsten Naturen beobachten lassen, daß eines jeden eigenste Fehler und Tugenden in einer solidarischen Verknüpfung stehen: es ist aber nicht selten das Vorrecht gerade der Vorragenden in der Menschheit, daß je totaler, je stärker, je größer in ihnen Geist und Charakter gewachsen sind, desto unscheidbarer und ununterscheidbarer die Wurzeln in Eins zusammenlaufen, aus denen ihre guten und üblen Eigenschaften zugleich entsprossen sind. Es komme nur auf die Stellung oder den Willen an, ob man allein die Schatten sehen will oder zugleich das Licht, von dem sie geworfen sind.

Die Stunde des Verlustes dieses Mannes fordert mich auf, zu einer berichtigten und bereinigten Beurteilung desselben den kleinen Beitrag zu steuern, den ich aus meiner Kenntnis und Erfahrung zu geben vermag. Der Ernst des Anlasses mahnt, bei diesem Totengericht mit aller Offenheit und Wahrheit zu verfahren. Die Ehrfurcht vor den Manen des Dahingeschiedenen und seinem eigenen Charakter gestatten nicht, sie in irgendeiner Weise zu verleugnen. So wäre es denn auch gewiß nicht wohlgetan, all jenen scharfen und sehr bestimmten Ausstellungen an ihm, nachdem sie einmal aufgestellt wurden, mit flachen Redensarten und vagen Gemeinplätzen begegnen oder ausbeugen zu wollen. Man kann jeder einzelnen desto befriedigender Rede stehen, je gerade, je eingehender, je genauer es geschieht.

So könnte man zunächst den Tadlern der nachlässigen  Formlosigkeit  in SCHLOSSERs Werken zu ihren gewöhnlichen Waffen noch neue in die Hände geben, ohne darum sich und ihn der Verteidigung zu berauben. Es ist wahr: es gibt vielleicht keine Schriftstellerei eines anderen Autors, die so launisch und ungeordnet, so unvollständig und unvollkommen aussähe, wie die Geschichtswerke SCHLOSSERs. Die verschiedensten Motive, äußerliche und innerliche, haben eingeständlich nicht nur ihre Entstehung, je nach augenblicklicher Laune und Liebe, je nach fremdem Anlaß und Anstoß, zufällig angeregt, sondern auch ihre Behandlung zufällig verändert, ihre Fortführung und ihren Umfang zufällig so und anders gestaltet. In seiner Jugend herumschwankend (schrieb er selber) zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Kirchengeschichte und klassischen Studien, verfaßte er verschiedene Biographien und Monographien in anscheinend gleichgültiger Wahl aus Mittelalter und Neuzeit, aus Orient und Okzident. Um eine Unterlage für seine Frankfurter Vorlesungen über Geschichtsphilosophie zu haben, begann er seit 1811 die alte Geschichte, den ersten Band seiner Weltgeschichte (1815) auszuarbeiten. Als dieser Anlaß später wegfiel, setzte er das Werk im zweiten Teil hauptsächlich (so schien es) zu seiner eigenen Belehrung, wie ein Heft zum Eigengebrauch fort; und im dritten Teil änderte er noch einmal den Ton, um es etwas lesbarer und mundgerechter zu machen. Beim vierten Teil ließ er es plötzlich liegen, obgleich er sich gegen die zweifelnden RÜHS und LUDEN vermessen hatte, an der Behandlung des ganzen Mittelalters mit dem gleichen Fleiß ausdauern zu wollen. Er sprang nun zum 18. Jahrhundert (1823) über, das er ursprünglich zu einem eng gezogenen Leitfaden für seine Vorlesungen bestimmt hatte, dann auf ALEXANDER von HUMBOLDTs Rat etwas erweiterte, auch in dieser Gestalt aber nach seinem eigenen Geständnis hastig hinwarf, unvollständig und ohne seine mündlichen Erläuterungen nicht völlig verständlich. Dann folgte die universalhistorische Übersicht der Geschichte der alten Welt (1826), anfangs in einer gemesseneren Darstellung, weiterhin formloser, zuletzt auslaufend in einen Schlußteil, der ungehörig nur zugefügt schien, um mit dem Register noch einen Band zu füllen. Nach dessen Beendigung erschien die Umarbeitung des 18. Jahrhunderts mit ausführlicheren literarischen Abschnitten, die allzusichtlich aus dem Kollegienheft erwuchsen, das zum Druck nicht eigentlich vorbereitet war. Kaum war dies begierig aufgenommene Werk recht im Zug, so sprang der Verfasser wieder ab, um seiner Geschichte des Mittelalters zwei Bände über das 14. Jahrhundert, wieder in einer verschieden gearteten Behandlung, anzuschieben, nur weil er es dem Verleger so versprochen hatte. Zwischen allem durch gab er dem Freund BERCHT zu gefallen das historische Archiv heraus und schrieb dem Kollegen BÄHR zu gefallen zahllose kritische Anzeigen in die Heidelberger Jahrbücher. Als er dann zum 18. Jahrhundert zurückgekehrt war, ließ er sich erst von den Herren GFRÖRER und FRANCK überraschen, seine Einwilligung zu einer volkstümlichen Bearbeitung seiner verschiedenen Werke zu einer allgemeinen Weltgeschichte zu geben, die nachher in befreundetere Hände überging und ihn noch zu einer Ausfüllung der großen Lücken des 15. - 17. Jahrhunderts aus seinen Heften nötigte, die begreiflich viel leichter gearbeitet sein mußte als irgendeines seiner früheren Werke. Gewiß, eine größere Verwirrung der Antriebe und Zwecke in einer rastlosen und ausgedehnten schriftstellerischen Tätigkeit, und eine ihr entsprechende Verschiedenartigkeit, Ungleichheit und Sorglosigkeit der Darstellung würde sehr schwer in irgendeinem anderen Schreiber nachzuweisen.

Gleichwohl läßt sich in diesem Wirrsal der Arbeitsmotive des Historikers ein einziger Gesichtspunkt, ein einziges Grundziel erkennen und festhalten, das war auch recht den Anschein des Launischen und Formlosen an sicht trägt, aber mit SCHLOSSERs eigentümlicher Natur und seinen besondersten Vorzügen aufs engste zusammenhängt und das zugleich über die wesentlichsten Abzeichen seiner schriftstellerischen Methode oder Unmethode allen nötigen Aufschluß gibt. SCHLOSSER war auf einen äußeren Anstoß zum Geschichtslehrer geworden, ehe er noch des historischen Wissens in weiterm Umfang mächtig war. Er bedurfte gedruckter Unterlagen die in der deutschen Literatur nicht vorhanden waren; er mußte schreiben, als noch um seiner eigenen Ausbildung willen im Quellenstudium ganz verloren war. So für seine eigene Belehrung sammelnd und für die seiner Schüler schreibend, gewöhnte er sich, das Publikum in geöffneter Werkstätte zum Zeugen seiner Studien zu machen. Dies erklärt vollkommen die Manier, die er, nach seiner starken Natur, sich gleich in den Anfängen sich in solchem Maß angewöhnte, daß er sie auch bei besseren Vorsätzen nie ganz abzulegen vermochte. Die Notwendigkeit einer Ergänzung seiner Schriften aus anderen verwandten Darstellungen war von ihm oft und immer wieder laut und deutlich eingestanden, und endlich selbstverstanden. In allen seinen Werken ließ er, was andere genügend behandelt hatten, am liebsten bei Seite liegen. Seine bilderstürmenden Kaiser wollte er anfänglich geradezu so anlegen, daß man GIBBON immer zur Seite haben müsse: Selbst in der formgerechteren Universalgeschichte wollte er sich über bekanntere Dinge "mit Andeutungen" begnügen; in der römischen Geschichte setzte er NIEBUHR, in der Geschichte der Kreuzzüge WILKEN, um nicht bereits aufgetragene Gerichte noch einmal anzurichten, überall voraus. Für Leser, die keine Bücher zur Hand hätten, sollten die seinigen ein für allemal nicht geschrieben sein. Bei diesen Absichten sah er mit aller Klarheit die Form für gänzliche Nebensache an. Er schrieb in sein "vorsätzlich und der Natur nach trockenes Buch" über das Mittelalter die kahlen nackten Tatsachen nieder, mehr um Haltung als um Färbung, mehr um Sichtung der Quellen als um malerische Darstellung besorgt; er fand es treffend, daß ein geistreicher Mann oft mehr die Noten als Text, den Text aber als Noten betrachtete. Seine Geschichtsschreibung war auf diese Weise früh und spät mehr eine Art fortlaufender Kritik der Quellen und Quellenbenutzung; und wo er einmal diesen Standpunkt geradezu und ausschließlich einnahm, wie im Aufsatz über NAPOLEON Tadler und Lobredner im historischen Archiv von BERCHT, dort ist er wohl jedem und offenbar sich selber am behaglichsten, weil er dort, im zwanglosen Hauskleid, am meisten sich selbst gleich ist. Mit dieser Eigenheit hängt dann alle Vernachlässigung der Methodik, alle Sorglosigkeit des Stils, alle Flüchtigkeit der Darstellung, hängen selbst viele Mängel in dem, was ihm sonst das Heiligste in seiner Tätigkeit war, in der Beschaffung der Materialien, der Zusammenstellung der Tatsachen zusammen. Mehr einer glücklichen Eingebung als einer philologisch genauen Wägung und Prüfung folgend, schrieb er in raschem Zug dahin, wobei einzelne Verwirrungen und Übereilungen unvermeidlich waren. Man braucht sie nicht erst aufzuspüren; er hat ihrer genug ganz aufrichtig eingestanden. Es schlüpft ihm ein Anachronisums von 100 Jahren aus der Feder; er läßt Schlachten gewinnen die verloren wurden und klassische Werke verlieren die erhalten sind; das Vertrauen auf sein starkes Gedächtnis täuschte ihn in solchen Fällen. Gleichgültig gegen die Hilfs- und Nebenfächer der Geschichte, hatte er für einzelne genealogische, chronologische, geographische Notizen und Einzelfragen, "die die Kinder und Anfänger für die Hauptsache in der Geschichte halten", keinen Sinn; wie er sich seinen Stil von BERCHT und KRIEGK gleichgültig zustutzen ließ, so ließ er sich bei gelegentlichen Begegnungen von NIEBUHR und MÜLLER in solchen Dingen geduldig das Konzept korrigieren. Schon die Lebhaftigkeit der eigenen Lernbegierde ließ ihn nicht zu lange auf dem einzelnen Unwesentlichen verweilen. Es ist dann eben diese Lebhaftigkeit, in der er seinem gelehrten Streben von früh auf einen so ungeheuren Umfang vorschrieb, der immer staunenswert bleiben wird, wenn er auch zuweilen auf Kosten der Gründlichkeit erlangt ist. Wo ist der andere Geschichtsschreiber, der so das ganze Gebiet der Geschichte autoptisch [sezierend - wp] an der ganzen Breite der Quellen durchwandert hätte? Er hatte schon 1823 den Plan gefaßt, der Geschichte des Mittelalters, wenn vollendet, die neuere Geschichte anzufügen; er weilte noch 1830 auf diesem Gedanken, die neuere Geschichte in der Art seiner universalhistorischen Übersicht zu bearbeiten; und als er inne ward, daß dazu Leben und Kräfte doch schwerlich ausreichen würden, so hing seine Einwilligung zu der volkstümlichen Weltgeschichte wesentlich mit dem Ehrgeiz zusammen, wenigstens auf diese Weise die noch ausstehende Geschichte des 14. - 17. Jahrhunderts nachzuholen: "um doch das Ganze" -, sagte er wohl in einer naiven Freude, ohne (nach seiner Weise) den verständlichen Satz ganz auszusprechen.

Mit dieser Ausbreitung, mit jener Sorglosigkeit und Unvollständigkeit seiner Arbeiten gab SCHLOSSER der Kritik sehr starke Blößen, die sie geschäftig ausbeutete. Die angemessenen Würdigungen und Besprechungen seiner Leistungen, die dann noch so streng hätten sein mögen, ließen auf sich warten, da die kritischen Anstalten für alle, die außerhalb der literarischen Koterien stehen, bei uns keinen Raum zu haben pflegen; wohl aber wurden ihm überall her einzelne Rügen und Ausstellungen durch anonyme Briefe, durch Verleger un Trätscher, durch ehrliche und unehrliche Freunde zugetragen, mitsamt den gegenteiligen Artikeln, worin die Klienten der in Preußen lange so auffällig beschützten historischen und philosophischen Schulen ihre Meister auf den Schild erhoben. Diesen Dingen gegenüber wäre die einzige SCHLOSSERs würdige Haltung gewesen, daß er, der vom Lob nichts zu hoffen vom Tadel nichts zu fürchten hatte, sich gegen die "bellenden Hunde" der Literatur durchaus schweigend verhalten hätte. Wen hätte in der wissenschaftlichen Welt die Erfahrung nicht verdrossen, daß der tiefsinnigste Philosoph, der erhabenste Poet, der weitsichtigste Geschichtsforscher die Richterwaage von den fadesten Schwätzern muß über sich halten sehen, die die literarische Zensur als ein Brotgewerbe betreiben? Darüber verbergen die meisten der Betroffenen ihren Unmut aus Klugheit und Anständigkeit; ein Mann wie SCHLOSSER hätte ihn aus Selbstgefühl nicht einmal empfinden sollen. Ihn aber ärgerten die Vorwürfe anderer über seine selbst eingestandenen Mängel, und er begann früh (1817) in seinen Vorreden und Noten, und später in den Heidelberger Jahrbüchern, in den Auslassungen seiner  wissenschaftlichen Kritik  Repressalien zu üben. In unbekümmerter Offenheit plauderte er dann alles heraus, was andere am tiefsten verstecken, die kleinsten Empfindlichkeiten und den größten Verdruß, die Eifersucht auf jede Anerkennung die ihn vorbeiging, die Herbeiten gegen fremde Belehrungen, die bitteren verletzenden Aburteilungen über jede abweichende Richtung; lauter Züge, die einen Mangel an Selbstbeherrschung, an Duldung und Unbefangenheit zu verraten, einen Staub auf den hellen Charakter des Mannes zu werfen schienen, den man sich in Widerspruchsgeist und Schmähsucht ganz verlieren sah. Und unleugbar waren das Auswüchse, die SCHLOSSERs eigensten Grundsätzen geradaus zuwider waren. Auch war er dessen wohl selber geständig. Er bat in der Vorrede zum zweiten Teil seines Mittelalters (1821) seinen zu lauten Tadel über die Flachheiten mancher sonst verdienter Männer ab, inne geworden, daß dieses zänkische Herabsetzen und Verachten leicht Anmaßung im Charakter erzeuge. Gleichwohl waren die großen und starken Züge seiner graden und ganzen Natur in ihm mächtiger als die Gebote der am Ende doch nur konventionellen Pflichten. Denn sicher zählen diese Eigenheiten SCHLOSSERs unter jene Sünden, die von seinen besten Tugenden unzertrennlich sind. Seiner Gradheit und Wahrheit einen Zwang aufzulegen, war ihm im Leben unmöglich, viel weniger im wissenschaftlichen Verkehr. Er hatte der Herzogin von Saint LEU die private Mitteilung ihrer Denkwürdigkeiten zu danken; mitten in der Bezauberung von ihrer Persönlichkeit aber sagte er ihr öffentlich, daß er mit diesen geistreichen Sachen für seine Zwecke nichts anzufangen wisse. Er war mit GRÉGOIRE befreundet und nahm sich des verfolgten Mannes offen an, aber über seine seltsamen Verblendungen in naivster Aufrichtigkeit. Ja, selbst seinen DANTE, dem er die unparteiische Strenge, die auch jener gegen seine eigenen Parteigenossen übte, ablernte, selbst diesen enthusiastisch bewunderten Meister hat er über die Schulgrillen seiner spitzfindigen Deuteleien der eigenen Werke sehr unsanft angelassen: wie sollte man von solch einem Diener der Wahrheit Rücksicht verlangen gegen die Kathederweisen seiner Zeit oder gar gegen literarisch Gegner von unversöhnlicher Feindschaft?

Man würde sich übrigens selbst nur einer Oberflächlichkeit und ungerechten Schmähsucht schuldig machen, wenn man annehmen wollte, daß vor SCHLOSSERs Tadelsucht gar nichts hätte bestehen können, oder daß sie überall und immer nur der Ausfluß von Übellaune und Galle gewesen wäre. Von ganzen Reihen zeit- und landsgenössischer Geschichtsschreiber, die er auf dem Weg ernster, selbstvergessener, wahrheitsgetreuer Forschung und ehrlicher wahrhaftiger Bestrebung sah, urteilte er, weit entfernt von jeder kleinlichen Eifersucht, in stets gleicher Achtung und Ehrfurcht. Dahin gehören die MASCOV, MÖSER, PLANCK, WILKEN, REHM, vor allem SPITTLER, sein Lehre in Göttingen, von dem man ihn mußte mündlich sprechen hören, um zu erfahren, von wie tiefer Pietät er gegen einen wahrhaft bedeutenden Mann erfüllt sein konnte, und in unabänderlicher Gesinnung auch immer erfüllt  blieb.  Nur wo er sich in inneren Punkten, die ihm heilig im Leben und das Wesentliche in der Wissenschaft waren, abweichend erkannte, da war seine Abneigung von einer Stärke, die ihm jede Verhehlung und Vertuschung ganz unmöglich machte. Aber man wird in allen größeren Fällen und Beziehungen nicht finden, daß er dabei verurteilte und  vor urteilte, ohne genaue Kenntnis der Sachen. Er achtete in GIBBON lange Zeit, in JOHANNES MÜLLER immer den genauen Quellenforscher; sein Mißfallen am ersteren ist nach und nach  geworden,  als er seine Ungenauigkeiten, und mehr noch als er ihre Quelle entdeckte: den falschen rhetorischen Prunk, der ihm auch an MÜLLER lästig ward, und an beiden lästiger, seit er sich über MÜLLERs politischen Charakter enttäuschen mußte und in GIBBON die Freude am Wüstlingswesen liederlicher ROUÉS gewahrte. Der Mißmut, der dann gegen diese Zeitgenossen zutage kommt, ist aber ebensowenig persönlicher Art oder in den Motiven einer zufälligen Leidenschaftlichkeit begründet, wie sein Gegensatz gegen die DIODOR, die XENOPHON oder SALLUST, die Schreiber längst untergegangener Zeiten; Eine und dieselbe Abneigung setzte ihn aller sittlichen Verderbtheit, aller Grundsatzlosigkeit im Leben, allem Flitter in der Wissenschaft, allem oratorischen Schmuck, aller poetisierenden Schreibart, allen pragmatistischen Charakteristiken und Seelengemälden, aller malerischen romantischen Manier, aller affektierten Altertümlichkeit und Zeitfärbung in historischen Darstellungen entgegen. Und wie in diesen Fällen, so schieden ihn überall die bestimmtesten Grundsätze, die mit der Totalität seiner ganzen Natur aufs innigste zusammenhängen, von allen historischen Koryphäen unter den vaterländischen Zeitgenossen ab, von denen er einen und den anderen stets mit Achtung genannt hat, obgleich man aus seinen gelegentlichen Ausfällen oder Stichen gegen andere, die er nicht genannt hat, schließen könnte, es sei nur KRITTEL und kleinliche Laune die ihn bewege.

So war es z. B. das Bestreben von DAHLMANN, dessen fester, persönlich und wissenschaftlich zuverlässiger Charakter bei SCHLOSSER allezeit in den höchsten Ehren stand, das Theoretische und Praktische zu verbinden, den Geschichtsschreiber zum Staatsmann zu steigern; SCHLOSSER aber, wie sehr er vom Buchstaben der Wissenschaft zum Geist, aus dem Buch in das Leben vordrang, erklärte sich früh in einem ganz entgegengesetzten Sinn, dem er zu allen Zeiten unverbrüchlich treu geblieben ist: daß er die Wissenschaft als solche ganz vom Leben trenne, die nur für das Leben vorbilde, das "sich selbst regieren" solle; wie denn nur der wahre Geschäftsmann, der nur wirke was aus den allgemeinen lebendigen Bedürfnissen entspringt, fest stehe wo der Halbwisser schwanke.

Das konnte nun im Extrem einseitig klingen; aber man durfte es auch nach dem Worte nicht nehmen. Oder man mußte es in aller Strenge nach den Worten nehmen, wo (wie so oft in SCHLOSSERs Äußerungen) unter dem doppelseitigen Widerspruch in seiner Rede die Einseitigkeit verschwindet. Sein Gegensatz galt der Vereinigung des Theoretikers und Praktikers in  einer  Person, einer Rolle, in der ihn schon die Teilung der Kräfte besorgt gemacht hätte, zu der  er  persönlich auf alle Fälle nicht wäre geschaffen gewesen. Dagegen die Wissenschaft ganz vom Leben zu trennen, ist nicht möglich, wenn sie "für das Leben vorbilden solle": auf diesem Teil seines Satzes aber würde sein Ton gelegen haben. Auch durfte er sich nur nach dem entgegengesetzten Extrem gezogen fühlen, um sich sogleich in einem umgekehrten Gegensatz zu erkennen. Als STEIN die Sammlung der deutschen Geschichtsschreiber entwarf, lehnte SCHLOSSER die Aufforderung ab, an diesem Nationalwerk teilzunehmen. Er ließ nur Nebengründe angeben; der eigentliche Grund war doch nur der, daß er von allem Anfang an ganz unwillkürlich gerade den intimeren Bezug zur Wissenschaft zum Leben suchte, von dem ihn diese Arbeit historischer Philologie hinweggezogen hätte, die bei ihm gewiß in aller Achtung stand, für die er aber persönlich noch weniger geschaffen war, als zur Praxis des staatlichen Beamten.

Mit dieser Richtung SCHLOSSERs auf das Leben hing auch die Entschiedenheit zusammen, mit der er in der reinen Geschichtsschreibung alle Ostentation [Eitelkeit - wp] mit Neben- und Hilfswissenschaften, vor allem aber mit aller abgelegenen antiquarischen, archäologischen und mythologischen Weisheit verpönte. Ihm wie einem THUKYDIDES und MACHIAVELLI und allen Historikern, die vor der universellen Bildungsschule der neuesten Zeit lagen, galt für die Geschichte nur der Fluß der Begebenheiten, nicht die Schilderung ruhender Zustände und die Erläuterung stehender Verhältnisse, "nicht das Ausmessen der Räume, wie er es nannte, sondern das Aufzählen der Momente." Es war nicht die Grille und Eigensinn, sondern wohlerwogenes Prinzip, daß er die Erforschung der Ur- und Vor- und Mythen- und Göttergeschichte aus der strengen Historie in die Vorschule schob. Ihm war das nicht die Aufgabe des Historikers, sich im Chaos der Vorwelt, den Sümpfen der Barbaren und den Wäldern der Brahmanen herumzutreiben, sondern in den angebauten sonnigen Gegenden der Geschichte das Licht zu suchen wo es ist. Er konnte daher die folgenreiche historische Kritik eines NIEBUHR, die philologische Mosaik eines OTFRIED MÜLLER an ihrem Ort ehren und achten, aber es war ihm zuviel, als er zu erleben glaubte, daß die Divination zweifelhafter Ergebnisse aus Mythen, Altertümern und Inschriften die klare helle Geschichte verdrängte, als sich die kritische Mikrologie so breit machte, daß die Historie wie zu einem Beiwerk der Philologie herabzusinken schien.

Und ähnlich verneinend verhielt sich SCHLOSSER der diplomatischen und archivierenden Geschichtsschreibung der RANKEschen Schule gegenüber. Es gibt für die Vielseitigkeit des deutschen Geistes wenig Charakteristischeres, als diese beiden gegensätzlichen Auffassungsweisen von Beruf und Behadlung der Geschichte dicht nebeneinander entstanden und ausgebildet sind, sich schroff einander ausschließen und doch gleichsam ergänzend decken, weil jeder das fehlt was die andere hat und jede das hat was der anderen fehlt. Beide Methoden sind wesentlich kritischer Natur und ähnlich fragmentarischer Art. Das Voraussetzen der Vergleichung anderer Bücher ist ihnen beiden eigen, die beide nicht wiederholen mögen, was unzählige Male erzählt wurde. Die eine, die die historische Materie in aller umfänglichen Breite ergreift und in einer trockenen annalistischen Darstellung, aber von allen Seiten beleuchtend vorführt, zerstückelt doch das Ganze der Geschichte durch ungleiche, form- und kunstlose Behandlung leicht wieder wie in Bruchstücke; die andere, die mehr nur einzelne Momente auswählend aus einzelnen Gesichtspunkten darstellt und in formgefälliger Memoirenmanier pragmatisch ausfeilt, sucht umgekehrt aus Bruchstücken zusammenhängende Ganze zu bilden; die eine ergänzt die vorhandenen Geschichtswerke gleichsam aus übersehenen Stellen bekannter Quellen, die andere aus noch nicht gesehenen Urkunden. In diesem Geschäft das Unbekannte aus unentdeckten Regionen ans Licht zu fördern, sieht die letztere Methode den Hauptreiz der Geschichtsforschung und glaubt damit Nützliches und Notwendiges zu leisten, selbst wenn das Gefundene "an und für sich nicht von unbedingter Wichtigkeit wäre." Dieser im Grunde kleinlichen Ansicht hat der Verfechter der anderen, der die nicht zu bewältigende Unermeßlichkeit des bereits vorliegenden Stoffes überdenkt, die große und ernste Erwägung entgegenzusetzen: wie es die  ausschließliche Eigenschaft der Geschichtswissenschaft  ist, daß sie täglich, mit den fortschreitenden Bildungen der Völker, stets neue in ganz ungeheuren Verhältnissen anwachsende Massen des Stoffes immer unübersehbarer emportürmt, ohne wie  alle  anderen Wissenschaften eine gleiche Masse als antiquiert bei Seite legen zu können; ihn bewegt daher peinlich vor vielen anderen Gedanken  der Eine,  wie man in dieser Überfülle die Materie auf das unbedingt Wichtigste einschränken solle. Zu diesem Zweck muß man auf dieser Seite, die zwar wie die geistlosere aussieht, in Geist und Kern der Geschichte vorzudringen suchen, auf der anderen, als die geistreichere gerühmten, besteht man auf der gründlichen Erforschung des Einzelnen und läßt "das andere Gott befohlen" sein. Dieser Methode gehen dann leicht nach umfassendsten neuen Ergründungen die einfachsten Gesichtspunkte in den größeren geschichtlichen Verhältnissen verloren, die die gemeine Betrachtung aus den platten Tatsachen längst ganz sicher abgezogen hatte. Denn ihr liegt immer die Gefahr nahe, daß sie ihre ungedruckten Quellen überschätzt nur weil sie neu sind und ihre diplomatischen Gewährsleute, nur weil sie als amtliche Eingeweihte über die geschehenden Dinge zu räsonnieren wissen: da doch die Stellung des Diplomaten seinem Zeugnis keinen besonderen Wert erteilt, wenn ihn der Mann nicht erst seiner Stellung gegeben, da doch an und für sich der Bericht eines Diplomaten keine größere Bedeutung hat, als die Mitteilung jedes anderen fähigen zeitgenössischen Beobachters, der im eigentlich faktischen Teil der Geschichte den Täuschungen leicht weniger als jener ausgesetzt ist. Nach dieser Ansicht gewinnt es der Wochenbericht eines Diplomaten wohl über die großen Kombinationen eines MACHIAVELLI, aus dem nichts gründlich Einzelnes, nichts Neues zu exzerpieren und zu registrieren ist; und nichts könnte frappanter sein, als die Weise der Beurteilung dieses größten historischen Genies aus beiden Standpunkten einander gegenüber zu stellen. Der Vertreter der einen Seite würde in diesem Mann den Diplomaten vielleicht beargwohnen, aber den hohen staatsmännischen Geist in ihm nicht verkennen und dem Meister in der historischen Kunst die größte Bewunderung zollen; dem der anderen würde sein Geschichtswerk als eine bloße mittelbare Nacherzählung nach ursprünglicheren Quellen gleichgültig sein, desto schätzbarer aber seine diplomatischen Berichte, die Arbeit des Handlangers der Florentiner Regierung; vor den bösen Worten seiner politischen Prinzipien, trotz denen er sich (nach den Urteilen des ersteren) im öffentlichen Wirken als ein großer Bürger bewährt hätte, würde sich der andere entsetzt hinwegwenden und würde dagegen von Herzen lieber einen Schönredner wie GUICCIARDINI rühmen, der sich im öffentlichen Leben handelnd aufs schlechteste bewährte. Und von diesen ersten Unterscheidungen aus dränge man in dieser Betrachtung mit Leichtigkeit in die innerste Verschiedenheit des Verhältnisses beiderlei Geschichtsbetrachtung zueinander und zu ihren großen Objekten, zur Geschichte der Vergangenheit, zum staatlichen Leben in der Gegenwart vor. Denn Gesinnung, ethischer Ernst und politisches Urteil können unmöglich gleich arten da, wo man vorzugsweise auf die Taten, und dort wo man vorzugsweise auf die Worte in der Geschichte achtet, wo es dem Mann dieser Methode am heimlichsten, und dem der anderen am unheimlichsten ist in den Urkunden der Leute, deren Schrift und Wort so oft nur zur Verstellung der Wahrheit dienen muß, für die die Geschichte erst ein Geschehendes nicht ein Geschehendes ist, die in der Befangenheit von Dienern und Schreibern, mit verengtem Blick, in Rücksichten auf die Herren schreiben für die sie beobachten und auf die Beobachteten, über die sie berichten. SCHLOSSER glaubte daher früh nicht vorsichtig genug aus dieser Welt der schleichenden Kabale erzählen zu können, wenn die Geschichte nicht Klatscherei werden solle. Er verschmähte es, in unbegangenen Kohlenschachten zu graben, wo im grünen Wald der offen liegenden Geschichte so viel frisches Holz noch ungeschlagen steht. Dieser Methode, die die größere Freude voraus hat am Leben, an Handlungen und Tatsachen ansich, wird es dann ohne jede Absicht leicht, die Natur und den Geist der Personen, der Völker und Zeiten in einer treuen Unbefangenheit abzuspiegeln, die die andere mit aller Kunst sehr viel schwerer erreicht. Denn dazu fördert weit mehr, als die Eröffnung aller Archive, die Beleuchtung der ideellen Antriebe in der Geschichte, die Heranziehung des  offenst liegenden  Teils aller Geschichte, der Literatur. Im Gebrauch, den SCHLOSSER von ihr zur Erhellung des Geistes der politischen Geschichte machte, hat er sein eigenstes bahnbrechendes Verdienst. Er hat dadurch nicht allein die Methode der Geschichtsschreibung fruchtbar erweitert, sondern er ist auch wesentlich dadurch ein wahrer Volkshistoriker im besten Sinne des Wortes geworden: nicht durch populare Form und Darstellung, sondern durch seine Hinkehr auf den idealen Teil der Geschichte, auf die geistigen Strebungen im Volk, die von den Veranstaltungen und Einwirkungen willkürlich lenkender Regierungen am unabhängigsten sind, in denen die freiest wirkenden Antriebe der Tatengeschichte gesucht werden müssen.

Auf diesem Gebiet der Literaturgeschichte wieder wich SCHLOSSER aller eigentlichen Fachwissenschaft, wie aller ästhetischen Betrachtung aus, in einem Maß, das ihn mit seinem getreuen Schüler, mit mir, und mich mit ihm in öffentliche und private Kollision brachte. Auch dabei leiteten ihn ganz bestimmte, stets behauptete Prinzipien, obwohl man nach einzelnen Strudeln seiner Laune hätte schließen können und in meiner Umgebung oft geschlossen hat, daß doch einige absprechende Verwerfung und Rechthaberei gegen den Jünger dabei obwalten werde. Wer ihn aber gesehen hätte, wie er nach Durchlesung des letzten Bandes der Geschichte der deutschen Dichtung, vom ersten Eindruck ergriffen, früh Morgens auf meinen damaligen Landsitz kam, mir mit strahlenden Augen und übersprudelndem Mund in innigster Freude dankte, daß ich in meiner Beurteilung so vieler Gegenstände und Menschen überall seinen eigenen Gedanken zuvorgeeilt wäre und mit dem frohesten Ausdruck der Erwartung schloß: es müsse doch seltsam zugehen, wenn bei so einer Kontinuität gesunder Ansichten nicht zuletzt ein guter Zweck erreicht werden sollte, - der hätte ihn in seiner echten und wahren Natur gesehen, die, wo sie nur ernst angefaßt wurde, jeder Kleinlichkeit gänzlich fremd war.
LITERATUR Georg Gottfried Gervinus - Friedrich Christoph Schlosser, Leipzig 1861