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ERNST MARCUS
Das Erkenntnisproblem
[Wie man mit der Radiernadel philosophiert]
[2/4]

"Wenn es richtig ist, daß alle unsere Erkenntnis aus der wirklichen Welt durch die Sinne in uns hineinströmt, so ist es auch richtig, daß sie eine Vorstellung von der wirklichen Welt enthalten muß. Es wäre also damit der gesuchte Beweis der Wirklichkeit der Welt geführt, und dieser Umstand ist es, der dem sogenannten Sensualismus so viele Anhänger schafft, ja ihn noch gegenwärtig unter dem Namen des Empirismus zum Grundprinzip unserer Physiologen, Physiker und Materialisten macht."

"In der exakten Wissenschaft gibt es keine Kleinigkeiten. Hier bedeuten die kleinsten Fehler genau dasselbe wie die gröbsten. Hier gibt es keinen kleinen Fehler, sondern jeder Fehler ist groß, auch wenn er für das ungeübte Auge weniger leicht sichtbar ist. Es kommt nicht etwa viel, sondern alles, alles darauf an, sich das klar zu machen, wenn man sich nicht mit der Verantwortung belasten will, ein großes Problem durch fehlerhafte Lösung verschütten, einen glimmenden Funken künftiger Wahrheit ersticken zu lassen."

I. Beleuchtung des peripherischen Dunkels

"Geheimnisvoll am lichten Tag
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben."


1. Cartesius und das kritische Problem. Fassen wir einmal das größte und gewaltigste Problem der Geschichte in die Augen, nämlich das Problem der Bewegung und des Charakters der Himmelslichter. Ich bezeichne Sonne, Mond und Sterne absichtlich als Himmelslichter; denn bis zur großen Entdeckung des KOPERNIKUS (in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) wußte man nicht, daß diese Lichter gewaltige Weltkörper offenbaren.

Seit man den Gestirnen die Aufmerksamkeit zuwandte, begann man unter ihnen die verschiedenartigsten Bewegungen zu beobachten; aber das Eigentümliche war, daß sie nicht etwa wie eine Herde Schafe regellos durcheinanderlaufen, oder daß hier ein Lichtchen erlischt, während sich dort ein neues entzündet - sondern Sonne, Mond und Sterne einzeln und gruppenweise machen ihre regelmäßige Wanderung, und die gleichen Gruppierungen der Gestirne kehren periodisch und jährlich wieder. Nur ganz vereinzelnte Vagabunden gibt es unter ihnen (die Kometen), und diese rufen dann auch, wie alles Regelwidrige, unter den abergläubischen Menschen die größten Befürchtungen hervor.

Jedes Problem tritt anfänglich als ein dunkles Gefühl hervor, daß etwas in unserem Wissen nicht in Ordnung ist oder fehlt, als Gefühl eines Dunkels in unserer Erkenntnis. Es enthält also ursprünglich keineswegs eine scharfe Formulierung, vielmehr wird es mehr gefühlt, als scharf gedacht, und begabte Menschen beginnen nunmehr instinktiv die Frage im Geiste zu wälzen: sie fangen an zu raten, wie die Sache wohl zu erklären ist, obwohl sie sich das zugrunde liegende Rätsel noch gar nicht einmal klar vorgestellt haben. Das Problem der Gestirne lautet für uns, die wir es nach seiner Lösung scharf zu formulieren vermögen: - Wie erklärt sich die Regelmäßigkeit in den Bewegungen der Gestirne? - Aber denen, die zuerst das Problem zu lösen suchten, erschien es noch nicht in dieser scharfen Fassung. Sie stellten sich die Frage noch nicht allgemein und scharf präzisiert vor; sie trugen sie nur dunkel im Bewußtsein und haben drauf los geraten. Die verschiedenen verfehlten Lösungsversuche (pythagoräisches, ptolemäisches System, von Gott eingesetzte Ordnung, Harmonie der Sphären) sind bekannt, ebenso die endgültige kopernikanische Lösung mit ihren ungeheuren kulturellen Folgen (Vernichtung des Himmels und damit eines Teils des Kirchenglaubens, Eröffnung des unendlichen Raums, Vertilgung des astrologischen Aberglaubens, Erhebung der Himmelslichter zu unfaßbar gewaltigen Weltkörpern und Weltsystemen, Aufhebung der zentralen Bedeutung der Erde, d. h. unserer Heimat usw.).

Wie nun aber ehemals das astronomische Problem den Forschern nur dunkel vorschwebte, genau so war es, ja ist es noch mit dem Erkenntnisproblem. Der Grund dafür ist, daß es noch nicht als gelöst erkannt ist, weil man die ihm von KANT gegebene Lösung nicht verstanden hat. Denn eben das ist öfter der Verlauf in der Geschichte der Probleme, daß man sich der Frage erst scharf bewußt wird, wenn die Antwort schon gefunden ist. (1)

Der Mann, der ganz eigentlich das Erkenntnisproblem entdeckte, war CARTESIUS (oder DESCARTES, 1596 geboren), jener gewaltige, vorurteilsfreie Denker [in Gott - wp], der, obwohl unter dem Lehrzwang einer Jesuitenschule erzogen, sie mit dem Urteil verließ, daß er im Grunde nichts Sicheres gelernt hat; dieser Forscher war von Beruf kein Philosoph oder Philologe, bzw. Historiker (wie unsere heutigen Kantforscher), sondern ein Physiker und Mathematiker, und er entdeckte, daß wir nicht nur die Richtigkeit einzelner Erkenntnisse, sondern sogar die Wahrheit unseres ganzen Wissens, daher die Wirklichkeit der Außenwelt in Zweifel stellen können.

Ist dies nun eine Frage, die man heute mit dem vielfach mißachteten Namen einer "philosophischen" Frage einfach beiseite schieben kann, oder ist es nicht vielmehr eine ganz natürliche Frage, nämlich die Frage nach der Zulänglichkeit der Erkenntniskraft, d. h. einer Naturkraft?

Ist also dieser Zweifel des CARTESIUS nicht absurd und lächerlich? - Nein, das ist er nicht. - Absurd würde die Behauptung sein, daß die Außenwelt bloß in unserer Einbildung existiert, nicht absurd aber ist der Zweifel an ihrer Realität. Denn wenn ich zeige, daß ich etwas unwiderlegt bezweifeln kann, so beweise ich dadurch zwar nicht die Berechtigung des Zweifels, wohl aber die Frage nach der Zulänglichkeit der Erkenntniskraft, d. h. ich zeige, daß uns der wissenschaftliche Beweis für die Wahrheit unserer Erkenntnis noch fehlt.

CARTESIUS benutzte also die Form des Zweifels, um eine Beweislücke offen zu legen. Er begann sofort den fehlenden Beweis für die Wirklichkeit der Außenwelt zu suchen und fand das einzig sichere Fundament der Wirklichkeit bekanntlich in dem Satz: "Ich denke, also existiere ich." (Cogito ergo sum.)

Ob diese Lösung des Problems richtig oder falsch ist, interessiert uns nicht. Genug, das Problem selbst, die Frage ist jetzt da und beunruhigt die Geister. Die Aufgabe ist entdeckt; sie lautet:
    Es sind die Beweise für die Wahrheit unserer Erkenntnis zu suchen. Es ist zu untersuchen, ob die Naturkraft, die als Erkenntnisvermögen auftritt, jene Wirkung hervorbringt, die wir als Wahrheit bezeichnen.
Diese Aufgabe zwingt uns also, unser ganzes Urteilsvermögen der Kritik auf seine Vollwirksamkeit zu unterziehen. das cartesianische ist das kritische Problem.

2. Locke und das Sensualproblem. Durch den cartesianischen Angriff sehen wir nunmehr die Geister in Unruhe geraten; man macht die verschiedenartigsten Versuche, das Problem zu lösen. Aus diesen Versuchen aber entspringen die Entdeckungen von zwei großen Teilproblemen, die wir kennen lernen.

Man suchte nämlich alsbald das kritische Problem durch eine Ermittlung der Erkenntnisfaktoren, das heißt der Ursachen, durch die unser Wissen hervorgerufen wird, zu lösen. Ganz natürlich: denn man sagte sich: Wenn es gelingen sollte, die Ursachen zu ermitteln, aus denen unsere Erkenntnis entspringt, und den Charakter dieser Ursachen, so wird sich schon ergeben, ob diese Kräfte (diese dynamischen Faktoren der Erkenntnis) ausreichen, um eine richtige Erkenntnis der Dinge zustande zu bringen.

LOCKE (1632 bis 1704) war es, der als erster die Frage nach den Ursachen oder dem Ursprung unserer Erkenntnis systematisch zu lösen suchte, obwohl er so wenig wie die nachfolgenden Forscher das Problem in seinem ganzen Umfang sich völlig klar und deutlich vorstellte. Wir haben es hier so wenig, wie überall, mit der Frage zu tun, wie LOCKE das Problem zu lösen suchte, als vielmehr mit der Frage, welche Seite des Problems er durch seine Versuche ins Licht setzte. Denn nur mit dem Problem selbst, nicht aber mit der Lösung befassen wir uns hier. Hat man sich das Problem in seiner ganzen Größe und allseitig vorgestellt, so mag es Zeit sein, die Lösung ins Auge zu fassen. Unsere Kritik philosophischer Versuche reicht also nur so weit, wie es die Feststellung des Problems fordert, und aus der Geschichte der Philosophie und ihrer Systeme wird hier die Geschichte des Erkenntnisproblems. (2) Aber auch nicht seine Geschichte zu schreiben ist hier die Absicht, sondern es handelt sich darum, die Bestandteile des Problems klar vor Augen zu stellen und zugleich zu zeigen, daß dieses Problem das Zentrum ist, um das sich die Versuche der bedeutendsten Philosophen lagern, und unter dessen Druck ihre Systeme geschaffen sind, gerade so, wie sich die Versuche der Astronomen um das Problem der kosmischen Bewegungen drehten.

Bemerkenswert für unser Thema ist allein das Grundprinzip LOCKEs. Er suchte das Erkenntnisproblem durch die Behauptung zu lösen, daß all unser Wissen aus den Sinnen entspringt, und er behauptete das nicht nur, sondern suchte auch die Beweise für seine Behauptung. Getreu seiner Grundbehauptung nahm er an, daß auch alles, was wir an sogenannten Ideen haben, aus den Sinnen herstammt, und daß der Verstand dabei nur die Funktion ausübt, über die durch die Sinne eingeführte Erkenntnis zu reflektieren und durch eine Kombination sinnlicher Erkenntnisse jene Vorstellungen zu bilden, die wir als Ideen, Ideale oder dergleichen bezeichnen.

Diese Lehre ist die Theorie des Sensualismus. Ihren extremsten und drastischsten Ausdruck findet sie in dem Satz: "Der Geist ist eine unbeschriebene Tafel (tabula rasa), die ihre Schrift allein durch die Sinne erhält."

Warum stellt LOCKE nun dieses Prinzip auf? Man betrachte nur das Problem des CARTESIUS, und man wird finden, daß LOCKE, wenn er mit seinem Sensualprinzip recht hat, er das cartesianische Problem exakt, d. h. mit vollkommener wissenschaftlicher Präzision gelöst hat. Denn wenn es richtig ist, daß alle unsere Erkenntnis aus der wirklichen Welt durch die Sinne in uns hineinströmt, so ist es auch richtig, daß sie eine Vorstellung von der wirklichen Welt enthalten muß. Es wäre also damit der gesuchte Beweis der Wirklichkeit der Welt geführt, und dieser Umstand ist es, der dem sogenannten Sensualismus so viele Anhänger schafft, ja ihn noch gegenwärtig unter dem Namen des "Empirismus" zum Grundprinzip unserer Physiologen, Physiker und Materialisten macht.

Wenn wir nun aus diesem Grund dem Prinzip LOCKEs beistimmen wollten, so hätten wir über unser schönes Problem nichts mehr zu sagen. Aber die Sache hat glücklicherweise einen kleinen Haken, und so kommt es, daß ich noch nicht ganz fertig bin, also nicht ganz so fertig, wie unsere Empiriker und Materialisten. Aber schön wäre es doch, wenn LOCKE recht behalten hätte; wie unvergleichlich genial, wie leicht, wie verständlich wäre dann das Problem gelöst gewesen. Dann wäre KANT ganz überflüssig gewesen - ja er wäre der erste gewesen, der das selbst eingesehen hätte -, dann wäre die Kritik der reinen Vernunft nicht geschrieben worden, wir hätten keinen KANT-Urwald und keine philosophische Walpurgisnacht mit ihrem genialen Widerspruch und sonstigem chaotischem Gestrüpp erlebt; HEGEL, SCHELLING, FICHTE, SCHOPENHAUER und HARTMANN, ja selbst NIETZSCHE hätten ihre philosophischen System nicht auf ein Mißverständnis KANTs, sondern auf irgendein Mißverständnis der Natur und der Welt gegründet (wie die vorkantischen Philosophen), hätten also mit ganz anderen Systemen die wißbegierige Menschheit in den Schlaf gesungen und beträumt. Aber es kam anders, und deshalb bin ich noch nicht fertig.

Sehen wir uns nämlich den Sensualismus näher an, so fußte er zunächst auf dem ja unmittelbar einleuchtenden Umstand, daß alles, was uns erkennbar sein soll, zuvor empfunden sein muß. Er statuiert also gewissermaßen für uns einen Bereich der Empfindung, eine Sphäre, innerhalb deren Empfindungen auftreten und sich zu Wahrnehmungen verdichten. Wir wollen daher einmal von einem Diesseits und Jenseits der Empfindung reden. Dann ließe es sich - ob richtig oder falsch, soll dahingestellt bleiben - denken, daß jenseits der Grenzen unseres Empfindens Dinge existieren, die wir niemals kennen lernen, weil sie eben nicht in unsere organische Erkenntnissphäre (die Empfindung) hineinkommen (ich meine hier aber beileibe nicht die berühmten Dinge-ansich).

Nun wollen wir sehen, was wir wirklich erkennen, und untersuchen, ob denn wirklich alles, was wir erkennen, innerhalb der Grenzen der Empfindung liegt, oder etwa, ob wir auch Dinge erkennen, die jenseits der Empfindung liegen. Bejahen wir das letzte, so hat der Sensualismus das Erkenntnisproblem nicht gelöst. Denn er behauptete: "Alle Erkenntnis stammt aus den Sinnen", ist also die Erklärung dafür schuldig geblieben, daß wir etwas erkennen, das jenseits der Sinne (der Sensualgrenze) liegt.

Nun ist es doch, wie es scheint, ganz offenbar, daß ein ganz ungeheurer und wesentlicher Teil des Erkennbaren jenseits der Grenze unserer Empfindung liegt, nämlich die ganze Körperwelt, mit der wir im Grunde sogar eher und besser Bescheid wissen, als mit unseren Empfindungen.

Tatsache ist, daß wir vom Körper stets nur die Oberfläche mittels der Empfindung wahrnehmen, oder besser, daß unsere Empfindungen selbst in der Regel da ihre Grenze haben, wo die Oberfläche der Körper liegt, durch die sie, wie es scheint, hervorgerufen werden. Man denke zum Beispiel an die Tastempfindung; hier liegt die Empfindung stets zwischen der Oberfläche meines Fingers und der Oberfläche des Fremdkörpers, so daß ich also nicht den Fremdkörper selbst, sondern nur meine durch ihn hervorgerufene Empfindung wahrnehme. Genauso bei der Oberfläche, die ich sehe (optische Fläche). Ja, diese sehe ich im Spiegel oft an einer Stelle, wo der Körper gar nicht liegt. Also liegt der Körper und seine Oberfläche nicht in, sondern hinter der Empfindung, wird also selbst, wie es scheint, durch die Sinne gar nicht wahrgenommen.

LOCKE sagte: "Wir erkennen alles durch Empfindung." Nun findet sich plötzlich, daß wir die Körper nicht durch Empfindung erkennen; denn sie liegen nicht in, sondern außerhalb der Empfindung.

Es ist aber Tatsache, daß wir trotzdem die Körper genauso gut, ja früher und vielfach noch besser, als unsere Empfindungen erkennen. Wir erkennen sie als ein Etwas, das im Raum einen Platz einnimmt, als etwas, das einen anderen Körper (seinesgleichen) verhindert, den Platz zu besetzen. Den es selbst einnimmt, und zwar mehr oder weniger energisch, als etwas, das von seinesgleichen (einem anderen Körper) umspannt und zusammengepreßt werden kann, aber nur so, daß die Kompresson niemals bis zum Verschwinden des Körpers getrieben werden kann, so daß er stets einen, wenn auch noch so kleinen Platz besetzt hält, ferner daß dieses Etwas scheinbar zerstört werden kann (z. B. durch Verbrennung), dann aber doch stets in anderer Art fortexistiert und nach wie vor irgendwo als Materie anderer Art einen Platz im Raum einnimmt.

Der Körper also, obwohl (wie es scheint) jenseits der Sensualgrenze, ist uns sehr bekannt und vertraut. Es gibt also etwas, das nicht in unsere Sinne eingeht und trotz LOCKE dennoch erkannt wird.

Und nun muß ich den Leser bitten, scharf aufzumerken: denn die Sache klingt anfänglich wie Haarspalterei. Aber es ist keine. Das Erkenntnisproblem ist nämlich ein Gebiet, in das sich scheinbar ganz kleine Fehler einschmuggeln, die aber in Wahrheit ungeheuer grob sind, und wenn man diese artigen Kleinigkeiten nicht beachtet, so löst man nicht nur nicht das Erkenntnisproblem, sondern man verwischt es, man vernichtet es an der Wurzel und macht seine Lösung damit unmöglich. Weit entfernt, es zu lösen, beweist man dadurch, daß man sogar das Problem verfehlt, daß man nicht einmal die Aufgabe verstanden hat. Also wohl aufgemerkt: In der exakten Wissenschaft gibt es keine Kleinigkeiten. Hier bedeuten die kleinsten Fehler genau dasselbe wie die gröbsten. Hier gibt es keinen kleinen Fehler, sondern jeder Fehler ist groß, auch wenn er für das ungeübte Auge weniger leicht sichtbar ist. Es kommt nicht etwa viel, sondern alles, alles darauf an, sich das klar zu machen, wenn man sich nicht mit der Verantwortung belasten will, ein großes Problem durch fehlerhafte Lösung verschütten, einen glimmenden Funken künftiger Wahrheit ersticken zu lassen.

Worin also besteht der Fehler LOCKEs, der Fehler des Sensualismus? - LOCKE beweist nicht etwa, daß uns die Körperwelt bekannt ist, daß wir in der Empfindung das Mittel haben, sie zu erkennen, er beweist nicht, daß sie wirklich ist, sondern er nimmt unbesehens und ohne Weiteres als bekannt an, was er erst noch beweisen soll. Er nimmt an, daß eine Körperwelt existiert, und daß diese die Empfindungen in uns hervorruft. Er hätte also in Konsequenz seines Sensualprinzips sagen müssen:
    "Nur was wir empfinden ist als wirklich gegeben und ist bekannt: nun sind aber die Körper nicht innerhalb unserer Empfindung, sondern jenseits; also sind sie unbekannt; ob also unsere Empfindungen durch jene mir noch ganz unbekannten (weil wissenschaftlich nicht bewiesenen) Dinge (die wir Körper nennen) hervorgerufen wurden, kann ich eigentlich gar nicht wissen, würde es also beweisen müssen. Ich kann es aber eigentlich gar nicht beweisen, weil ich ja selbst behauptet habe, daß alle Erkenntnis in der Empfindung liegt. Denn die Körper liegen ja nach meiner eigenen Behauptung gar nicht innerhalb dieser einzigen Ursache der Erkenntnis."
Hier stoßen wir nun zum ersten Mal auf jenes eigentümliche Moment, das einige unserer Kantforscher (im ersten Teil) als genial bezeichnen, nämlich auf den - Widerspruch.

LOCKE nämlich ging unbesehens von dem Satz aus, daß die Körperwelt bekannt (als wirklich gegeben) ist und muß am Schluß seines Systems zugestehen, daß sie nach seiner Theorie unbekannt ist. Er konstruiert also eine bekannte Körperwelt, die unbekannt ist; da haben wir also, wie gesagt, unseren lieben alten und genialen Freund aus der philosophischen Walpurgisnacht - den Widerspruch. Er ist klein und unscheinbar, aber er ist da.

Merkt der Leser etwas? - Ja, es ist wirklich so. Das Erkenntnisproblem verlangt in der Tat, daß man den Widerspruch "genial" verwendet, aber nicht, um (wie gewisse Kantforscher) tolerant, sondern um gröblich intolerant zu sein (gerade wie unser wissenschaftlicher Vetter von der Laien-Mathematik). Denn der Widerspruch ist der sichere und vielfach der einzige Beweis für die mißglückte Lösung (3) des Erkenntnisproblems, da er beweist, daß der Entdecker der Lösung etwas gesagt hat, ohne etwas gesagt zu haben. Wenn also gewisse "Kenner" den Widerspruch bei KANT für "genial" erklären, so sage ich: Wenn es wahr sein sollte, daß KANT sich widersprochen hat, so ist das ein sicherer Beweis, daß seine Lehre das Erkenntnisproblem nicht gelöst hat, daher in seiner Wahrheit für uns so wertlos ist, wie der Koran. Ich sage ferner: Der Widerspruch, so klein er erscheinen mag, und so schwer er oft aufzufinden ist, ist keine Kleinigkeit, sondern ein sicheres Wahrzeichen, ein Leuchtturm auf dem Meer des Erkenntnisproblems, der uns die Klippen und Untiefen anzeigt, an denen die Lösung scheiterte. Denn er hebt eine Behauptung oder eine stillschweigende Voraussetzung wieder auf, die man zuvor hat machen müssen, um das Erkenntnisproblem zu lösen. Ja, er ist vielleicht der einzige Wegweiser, der uns vor falschen Lösungen bewahrt. Denn es ergeht uns bei diesem Problem ähnlich, wie beim kopernikanischen. Wie nämliche KOPERNIKUS nicht seinen Standpunkt außerhalb der Erde nehmen konnte, um wahrzunehmen, daß sich die Erde bewegt, also sich darauf beschränken mußte, sämtliche Bewegungen der Himmelskörper so zu erklären, daß keine Bewegungserscheinung mit seiner Erklärung im Widerspruch steht, so muß der Erkenntnistheoretiker, da er keinen Standpunkt außerhalb der Erkenntnis einzunehmen vermag, eine Theorie entdecken, die mit den Folgerungen aus dieser Theorie nicht im Widerspruch steht. Wenn auch das Fehlen des Widerspruchs noch keineswegs die Wahrheit verbürgt, so verbürgt doch sein Dasein mit tödlichster Sicherheit die Verkehrtheit einer Lösung. Es gibt aber zweierlei Formen des Widerspruchs, die der Erkenntnistheoretiker, gerade so wie der Astronom, zu vermeiden hat.
    1. Den eigentlichen Widerspruch, durch den man die eigene ausdrückliche oder auch stillschweigende Behauptung oder Voraussetzung wieder aufhebt, der also entweder offen zutage liegen oder versteckt sein kann.

    2. Den uneigentlichen Widerspruch, eine Art Analogie des Widerspruchs, nämlich der Widerspruch, in den man sich zu offenbaren Tatsachen bringt. Denn hier unterdrückt oder verstümmelt man Tatsachen, die man hätte anerkennen, also behaupten müssen. Man vermeidet also hier eine Behauptung, mit der man sich hätte in Widerspruch bringen müssen, wenn man sie aufgestellt hätte. Man vermeidet sie, um den Schein der Lösung des Problems hervorzubringen.
Solchen Unterdrückungen oder Verstümmelungen offenbarer Tatsachen werden wir im Laufe unserer Untersuchung noch öfter begegnen. Wer also ein Problem lösen will, der hat die Lösung den Tatsachen anzupassen, nicht aber Tatsachen zu fälschen, um sie einer Theorie anzupassen, die gewaltsam durchgedrückt werden soll. Denn jede Lösung eines Problems besteht darin, daß man Tatsachen ergründet oder erklärt, nicht darin, daß man Tatsachen erfindet, leugnet oder verfälscht.

Auf diese "geniale" Art hat aber auch KANT mit dem "gemeinen Verstand" (nicht mit dem Kennerverstand) die Tatsachen und den Widerspruch verwertet. Denn er sagt an der einen Stelle: "Mein Feld ist das fruchtbare Bathos [Niederes gegenüber einem Höherwertigen - wp] der Erfahrung", und an vielen anderen Stellen sagt er: "Wenn Ihr dies oder jenes annehmt, so geratet Ihr mit Euren eigenen Annahmen in Widerspruch, folglich ist Eure Annahme unhaltbar." Hätte man also KANT wirklich einen offenen oder versteckten Widerspruch nachgewiesen, so würde er gelassen gesagt haben: "Gut; dann taugt eben meine ganze Lehre nichts; folglich muß das Problem auf andere Art gelöst werden." Aber man hat KANT noch zu seinen Lebzeiten Widersprüche vorgeworfen, und er hat erwidert, daß man ihn mißverstanden habe. Trotzdem werden ihm dieselben Widersprüche noch heute vorgeworfen: die Antwort KANTs, daß man ihn nicht verstanden habe, wird ignoriert. Jawohl! Man hat ihn verstanden, trotz seiner Verwahrung, die Widersprüche sind zwar da, aber - "genial", und die Kantforscher sind - "Kenner". Sie sind größere Kantkenner, als KANT selbst; sie müssen doch besser wissen, als er, ob sie ihn verstanden haben.

Ich habe also LOCKE und seinem Sensualismus einen Widerspruch nachgewiesen. Trotzdem ist aber diese Theorie bei unseren Physikern und Physiologen (also bei Naturforschern - es ist wirklich so!) unter dem Namen des Empirismus oder gelegentliche des Positivismus (4) noch die herrschende. Wie erklärt sich das? Auf irgendeine Weise muß sich doch dieser Racker von verfehlter Lösung herausgezogen haben. Denn das will ich nur gleich bemerken: unser Naturforscher ist kein Anhänger der Lehre vom genialen Widerspruch und von der Toleranz, vielmehr gegen Widerspruch intolerant bis zur Leidenschaft, was allerdings nicht hindert, daß er sich gelegentlich widerspricht, ohne es selbst zu merken. Denn so gut er sich mit Bazillen abzufinden weiß, ein kleiner Widerspruch entgeht ihm ab und zu. So was kommt eben vor, wenn man nicht wie KANT gegen diesen Erz- und Erbfeind der Wissenschaft stets auf der Lauer liegt. Weder mit Tiegel und Retorte, noch mit dem Tintenfaß kann man diesen bösen Feind verjagen, sondern nur - mit der Logik. Wie also zieht sich der Sensualismus aus der Schlinge?

Nun, ganz einfach; der Sensualist sagt: Wir erkennen nur, was innerhalb der Grenzen unserer Empfindung liegt. Nun liegen allerdings die Körper nicht innerhalb dieser Grenzen, das heißt sie sind keineswegs unsere Empfindungen, also auch nicht Gegenstände unserer unmittelbaren Wahrnehmung. Aber -
    wir erkennen sie dadurch, daß wir von der Empfindung auf deren Ursache, also auf den Körper schließen.
Hat sich nun der Sensualist nicht radikal und außerdem genial, ja anmutig aus der Schlinge gezogen? Ist nun das Problem nicht gelöst, radikal gelöst? - Soviel ist sicher; die Sache ist so ungemein leicht verständlich, daß schon ein Liebhaber von Profession, dem es geradezu darauf ankommt, recht schwierige Probleme zu erjagen, zu sammeln und möglichst intakt zu halten, d. h. ihre Lösung tunlichst zu erschweren, genügt, um diese Lösung anzufechten. Ja, man muß in dieser Sache schon ein Steckenpferdreiter, ein Problemfex allerärgster Art sein, wenn man bestreiten will, daß das Problem durch diesen feinen Zug gelöst und gleichsam getötet ist. Nun denn! Ich bin ein Problemfex (5) und sage: Mein Problem ist noch nicht gelöst! So leicht könnt Ihr es mir nicht totschlagen.

Ich komme hier allerdings wieder mit einer humpigen Bagatelle, mit einer ganz kleinlichen Unterscheidung, mit einem wahren Zwerg, einem Bazillus, einem Atom von einer Tatsache. Ich halte es darin genau wie KANT, der eben kein Genie, sondern in dieser Hinsicht ein Art Kleinigkeitskrämer und Pedant gewesen ist, der sich nicht nur keinen Widerspruch durchgehen ließ, sondern für den der feinste tatsächliche Unterschied von Begriffen eine so überaus wesentliche Tatsache war, wie der Unterschied zwischen - zwei Bazillen.

Ich muß das sehr betonen. Dröhnen soll dieses Wort in den Ohren. Denn mit leiser Stimme dringt man hier nicht durch.

Und nun will ich noch unseren guten KANT selbst zugunsten meiner Theorie der Kleinigkeiten ins Feld führen. Der alte Fuchs läßt mich in der schwierigsten Situation nicht im Stich, ihm ahnte wahrscheinlich etwas von seinen genialen Bearbeitern (O! wie haben sie ihn bearbeitet!) KANT nämlich bemerkt gelegentlich, "daß man auf diesem Gebiet mit der Radiernadel arbeiten muß", und ich setze zur Jllustration hinzu: KANT war ein BENVENUTO CELLINI, aber seine "Bearbeiter" sind Grobschmiede, sie "philosophieren mit dem Hammer", so daß die Funken in Gestalt von Widersprüchen herumwirbeln und die ganze Atmosphäre erfüllen. "Nun ist die Welt von diesem Spuk so voll, daß keiner weiß, wie er ihn meiden soll."

Verwischt man einen kantischen Begriff nur um ein Atom, so ist es unter Umständen genauso gut, als ob man ihn um die Größe eines Fixsternsystems verfehlt hätte. Ihr habe ihm dann nicht etwa in der "Hauptsache" (auch ein verteufelt geniales Wort) erfaßt und in einigen "Nebensachen" verfehlt, sondern ihn ganz und gar in jeder Hinsicht verfehlt und derart vorbeigehauen, daß die Luft von Widersprüchen wirbelt, von jenen Widersprüchen, die man nur mit der "Radiernadel" vermeiden kann. Aber Ihr könnt das nicht merken, daher KANT auch niemals verstehen lernen, weil ihr die Widersprüche nicht dazu benutzt, um zu erkennen, daß Ihr vorbei interpretiert, sondern sie stattdessen lieber KANT zur Last legt. Gebt doch dem Mathematiker eine Linie, die nur um ein Atom von der geraden Linie abweicht, und er kann den pythagoräischen Lehrsatz nicht mehr beweisen; gebt ihm zwei Punkte, die nur die Größe eines absolut kleinsten Atoms (aber doch eine Größe, also Teilbarkeit) haben, und er kann nicht mehr behaupten, daß zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie möglich ist. Lernt beim Mathematiker, was eine exakte Wissenschaft, eine Wissenschaft von vollkommener Präzision ist, dann werdet ihr wissen, wie man die Grenzlinien kantischer Begriffe zu respektieren hat. Hier also haben wir nun eine solche Kleinigkeit, auf die es ankommt, eine Kleinigkeit solcher Art, daß davon die ganze Sache, ja die Existenz des Problems abhängt. Die Sensualisten nämlich haben behauptet, daß wir die Körperwelt nur durch Schlußfolgerung erkennen und in dieser Behauptung steckt die Behauptung (eine harmlose und beweislose Kleinigkeit), daß unsere sichere Vorstellung, als ob wir Körper (ebensowohl wie Empfindungen) unmittelbar erkennen, auf einer Selbsttäuschung beruth. Hier also macht der Sensualist eine Tatsache, nämlich die Tatsache, daß wir bloße Schlußfolgerungen von unmittelbaren Wahrnehmungen sehr wohl und mit Sicherheit unterscheiden - (ja unterscheiden müssen, um überhaupt mit Sicherheit Erfahrungen erwerben zu können) -, diese Tatsache macht der Sensualist zur Jllusion, um seine Theorie durchzudrücken. Während also die Tatsache, daß wir Körper nicht nur durch Schlußfolgerung, sondern so unmittelbar, wie unsere Empfindungen erkennen,. die Richtung zur Lösung des Problems geben sollte, stellt der Sensualist seine willkürliche Theorie auf, und hebt jene Tatsache, die nicht zu ihr paßt, einfach auf.

Um dies klarzustellen, wollen wir einmal versuchen, was eine Erkenntnis durch Schlußfolgerung bedeutet und wohin der Sensualist mit seiner "Schlußfolgerung" kommt. Nun braucht der Leser nicht zu befürchten, daß ich etwa eine schwierige logische Untersuchung über "den Begriff, das Wesen, die Arten und die Entstehung" der Schlußfolgerung anstellen werde. Nein! Mich soll der Geist begreifen, dem ich gleiche, nämlich der Laie.

Eine Schlußfolgerung nehme ich z. B. vor, wenn ich plötzlich ein donnerähnliches Getöse höre und darauf schließe, daß ein Blitz vorhergeganen ist. War nun dieser Blitz ein wirklicher Blitz? - Nein! Es war kein wirklicher Blitz - denn es wurde nur bei Nachbars gekegelt -, es war also gewissermaßen ein Gedankenblitz, ein idealer Blitz, ein Blitz in mir, aber kein wirklicher Blitz außerhalb von mir, den ich durch meine "Schlußfolgerung" feststellte und erkannte.

Nun meint der Leser gewiß, ich würde folgern: Bei jeder Schlußfolgerung können wir somit irren, also kann der Sensualist nie wissen, daß es wirkliche Körper gibt; seine Annahme, die er als richtig hinstellt, ist damit zweifelhaft gemacht (ja, sie ist auf ewig unbeweisbar), folglich hat er sich widersprochen. Diese Folgerung des Lesers ist auch vollkommen richtig. Aber ich verschmähe es, mich auf die Möglichkeit eines Irrtums der Sensualisten zu stützen. Das wäre nicht vornehm.

Nein; ich will noch etwas anders verfahren: Jener schlußgefolgerte Blitz war nur ein Gedankenblitz, ein Blitz in mir, aber nicht ein Blitz außerhalb. Und ebenso sage ich: "Der vom Sensualisten aus der Empfindung gefolgerte, aber niemals unmittelbar erkannte Körper ist nur ein Gedanken - körper, ein idealer Körper ein Körper innerhalb seiner Idee, aber kein realer Körper außerhalb seines Gedankens. Dagegen an den angeblichen wirklichen Körper reicht seine Erkenntniskraft niemals heran. Einen wirklichen Blitz kann er durch Empfindung wahrnehmen, ihn mit dem bloß schlußgefolgerten Gedankenblitz vergleichen, ihn davon unterscheiden und so feststellen, ob er wirklich ist. Würde ich nicht jenen unmittelbaren wirklichen Blitz, so würde er niemals auf einen Gedankenblitz verfallen. Ganz anders beim Körper. Niemals lernt er einen wirklichen Körper kennen. Denn jeder Körper ist bloß - ein Gedankenblitz. Niemals lernt er einen wirklichen von einem schlußgefolgerten Körper unterscheiden. Alle Körper ausnahmslos, die er erkennt, haben den Charakter eines Gedankenblitzes; ob sie existieren, ist niemals feststellbar, und wenn er sie für wirkliche Körper hält, so irrt er, es sind nur Gedankenkörper. Kurz und gut! Die Sache liegt nicht etwa so, daß ich behaupte: "Vom wirklichen Körper, den der Sensualist erkennt, hat er nur eine Idee." Das wäre viel zu wenig. Sondern ich sage: "Der Körper, den der Sensualist zu erkennen vorgibt, ist gar kein wirklicher Körper, sondern nur ein Produkt seiner Schlußfolgerung, d. h. eine von ihm hinter die Empfindungsgrenze projizierte Idee, gleichsam eine auf diese Stelle mit bewunderungswürdiger mathematischer Sicherheit abgefeuerte Gedankenbombe, die er mit einem wirklichen Körper verwechselt; und niemals erfährt er, ob er diese Bombe deswegen abfeuerte, weil es da hinten "gedonnert" hat oder weil es da hinten "kegelt". Sein Schreibtisch, sein Stuhl, sein - usw. liegen in seiner vierten Dimension (6).

Kurz! der sensualistische Maurer kennt gar keine wirklichen Ziegelsteine und keinen wirklichen Mörtel, sondern mit seiner Idee, dem Hammer, klopft er auf seinie Ideen, den Ziegelstein, schmiert seine Idee, den Mörtel, darauf und drückt das Ganze auf seine Idee, die Mauer. Tut er das, so gehört er zu den naturwissenschaftlich gebildeten Maurern. Bedient er sich dagegen eines wirklichen sinnlichen Hammers und so weiter, so ist er (wie ich beiläufig verraten will) nur ein Transzendentalphilosoph. (Das ist er allerdings aber nur für den Laien, der KANTs Lehre verstanden hat, und nicht für die Kenner, die sie - auch verstanden haben.)

Aber soviel ist sicher; man kann über die Theorie des Sensualisten genauso gut dumme Witze machen, als ob er ein geborener Philosoph wäre, und das ist schon ein schlimmes Zeichen. Aber - fragen wir - was hat er nun bewiesen, dieser Idealsensualist, mittels seines geschlußfolgerten, daher idealen "Zentralorgans"? Er hat bewiesen:
    1. Alles Erkennbare wird durch Empfindung erkannt.

    2. Die Empfindung entsteht durch Körper, die jenseits der Empfindung liegen.

    Diese Körper sind bloß meine Ideen (denn sie sind bloße Produkte meiner Schlußfolgerungen, wie der oben erwähnte Gedankenblitz).

    4. Folglich entspringen meine Empfindungen aus meinen Ideen.

    5. Dagegen ist nicht bewiesen (ja, ich betone es, "nicht bewiesen"), daß meine Empfindungen aus realen Dingen entspringen und daß reale Dinge jenseits meiner Empfindung liegen.
Das ist ja nun eine vertrackte Haarspalterei. Aber bei der Tugend der Treuherzigkeit versichere ich dem Leser, daß Ich daran ganz unschuldig bin. Ich habe sie nicht gemacht. Die hat der Sensualist (dieser verkappte Idealist) selbst gemacht, und ich habe sie nur ausgesprochen. Daß er es selbst nicht ausgesprochen hat, was aus seiner Theorie noch außer den Körpern geschlußfolgert werden mußte, dafür kann ich nichts. Ich habe mich nur des von KANT empfohlenen minutiöse kleinlichen, genielosen, konsequenten Verfahrens bedient, und wem das nicht paßt, der kann ja unter die Kantforscher oder Empiriker gehen und ein Genie werden. Dort trifft er Leute, die sich mit Kleinigkeiten nicht abgeben. Ein Grobschmied ist ja schließlich ach was reelles; es braucht nicht jeder bei BENVENUTO CELLINI in die Lehre zu gehen. Es kommt im Verlaufe dieser Besprechung noch öfter so, und wenn der geehrte Leser sich schon geniemäßig produziert haben sollte, so empfehle ich ihm, sich mit Entrüstung von diesem Schriftstück abzuwenden. Denn sonst wird er sich ärgern, und das ist nicht gut. Zur Sache also bemerke ich weiter: Entweder existiert das, was für reale Körper halten, wie aus der Theorie der Sensualisten folge, nur in der Idee oder - ja, ich sage es ungern - oder die Sensualtheorie ist falsch. Schade! so leicht verständlich und doch falsch! - Ja! die Idee, daß der liebe Gott oder die Englein uns die Himmelslichter anzünden, war auch so leicht verständlich, viel leichter verständlich, als die kopernikanische Astronomie, und - sie war doch falsch. Also nicht einmal der alte Spruch "simplex sigillum veri" [die einfache versiegelte Wahrheit - wp] (7) wird mehr erkannt!

Ja, ich muß die Sensualtheorie wirklich für falsch halten. Ich kann wirklich die Körper, diese alten trauten Gefährten meiner Kindheit, die sich weit zuverlässiger benommen haben, als meine Empfindungen, die ich auch eher erkannte, als sie, an denen ich emporkletterte und mir den Kopf gestoßen habe, die ich öfters mit Vergnügen aß und trank, die ich teils verächtlich beiseite stieß, teils umarmte und küßte, nein, die kann ich nicht zu Ideen, zu Produkten meiner Schlußfolgerungen herabwürdigen lassen. Ich brauche das ja auch gar nicht. Genötigt wäre ich nur dann dazu, wenn ich die Theorie des Sensualismus lieber hätte, als sie. Wenn ich diese anmutige Theorie zum Beispiel selbst erfunden hätte, ja dann würde ich vielleicht ein Übriges tun und meine alten Kameraden, die Körper, um ihretwillen in den Schlund der Ideen hinabstoßen. Aber so liegt die Sache nicht. Im Gegenteil; der Sensualismus ist mir eine viel zu leichte Lösung meines schönen Problems, es macht mir Vergnügen, daß mein Problem möglichst schwierig ist; es kostet mich gar keine Überwindung, anstelle der trauten Körper den Sensualismus selbst in den Schlund der Ideen hinabzuschleudern, in jenen Schlund, der schon so manches philosophische System verschlungen hat und bald, wie mir deucht, den greulichen Rachen aufsperrt, um so manche "wertvolle und scharfsinnige Kantauffassung" "intus zu suszipieren [zu verinnerlichen - wp], wie einige Philosophen sagen.

Der Sensualismus LOCKEs ist also keine Lösung des Problems. Er macht reale Dinge, die Körper, zu Ideen, ja er gestattet sich, etwas zu behaupten, ohne es zu beweisen. Er behauptet, aber beweist nicht, daß die Erkenntnis der Körper auf Schlußfolgerung beruth. Er beweist es nicht, sondern er folgert es aus seiner gleichfalls unbewiesenen, also aus der Luft gegriffenen Theorie, daß alle Erkenntnis auf Empfindung beruth. Er beweist nicht nur nicht, sondern er kann nicht einmal beweisen, daß die Körper durch Schlußfolgerung erkannt werden. Denn nach seiner eigenen Behauptung liegen die Körper gänzlich außerhalb des Horizonts seiner Erkenntnis, folglich kann er auch für ihre Erkennbarkeit niemals Beweise führen. Ich fordere von diesem Mann der Naturkunde, der exakten Wissenschaft, den Beweis, ich fordere, was er von anderen mit Recht verlangt. Also heraus mit dem Beweis, Mann des Experiments! - Und nun antwortet er hoffentlich, wie ich zu seiner Ehre annehmen will, wenn auch mit bekümmerter Miene: "Ich bin Sensualist, weil ich eine andere Lösung des Erkenntnisproblems als die Sensualtheorie nicht zu finden vermochte", setzt aber mit erhobener Stirn hinzu: "und weil auch keine andere denkbar ist", worauf ich ernst erwidere:
    "Mein lieber Bruder, wir wollen die letzte Frage lieber dem künftigen Kopernikus überlassen oder vielleicht auch dem vergangenen (falls nämlich Kant ein solcher gewesen sein sollte). Jedenfalls ist es im Interesse der Wissenschaft ratsam, daß wir ein Problem, das nicht gelöst ist, auch nicht für gelöst ausgeben; denn sonst verdunkeln wir dem künftigen Kopernikus die Aussicht durch den Nebel einer Scheinlösung und erschweren ihm seinen Weg durch unsolide und unwahrhaftige Konkurrenz. Laß also, lieber Bruder, künftig mein Problem neidlos stehen, und erfreue dich an an seinem Anblick; es ist ja nicht notwendig, daß du jedes Problem löst."
Ich glaube, daß unser Naturforscher mir nach kurzem oder auch mehrjährigem Nachdenken recht geben wird. Ich habe dieses Vertrauen zu ihm. Ich wünschte sehr, daß auch meine Mitarbeiter an KANTs Lehre das Problem der Kantinterpretation in gleicher Art stehen ließen und neidlos anerkennen, daß sie es nicht gelöst haben, d. h., daß sie nicht mehr (wie sie bis jetzt tun) behaupten wollten, daß sie KANT verstanden haben. Das gäbe Luft und Licht, und an die Stelle der genial-philosophischen Walpurgisnacht würde der helle Tag einer neuen Untersuchung treten.

Sollen wir nun LOCKE tadeln wegen seines mißlungenen Lösungsversuches? Nein! das Gegenteil wollen wir tun. Er ist zum ersten Mal einer Hypothese systematisch nachgegangen und hat sie durch alle Konsequenzen verfolgt. Eben dadurch aber deckte er einen besonderen Teil des Erkenntnisproblems auf und legte ihn bloß. Er veranlaßte das große und interessante Sonderproblem:
    Auf welche Art erkennen wir die anscheinend jenseits der Empfindungsgrenze liegende Körperwelt?

LITERATUR - Ernst Marcus, Das Erkenntnisproblem, Berlin 1919
    Anmerkungen
    1) So ist das Problem der exzentrischen Empfindung erst ganz deutlich geworden durch eine zweite Lösung, die ich ihm gegeben habe.
    2) Aber nur eine rationale Geschichte, nicht eine Geschichte aller (auch der verfehlten) Versuche, und nur eine Geschichte des neueren Erkenntnisproblems seit Descartes.
    3) Genauso wie der in Kants Lehre entdeckte Widerspruch ein sicherer Beweis der mißglückten Interpretation und des mangelnden Verständnisses ist.
    4) Die Bezeichnung "Positivismus" ist das Aushängeschild für wissenschaftliche Scharlatane. Es besagt, daß die Richtung ihre Theorien nur auf positive Tatsachen gründet, gerade als ob das nicht jeder Forscher (z. B. auch Kant) täte. Es fragt sich nur, ob es nicht noch andere Positiva gibt als die, welche diese Forscher anzuerkennen geruhen.
    5) Vielleicht greife ich ja gerade deshalb fast die ganze wissenschaftliche Welt in so leidenschaftlicher, unbesonnener, ja wütender Art an? - Ich gebe gern diese Vermutung denjenigen Kantforschern an die Hand, die wissenschaftliche Versuchte mit der "Psychologie des Verfassers" zu lösen und zu erklären wissen. Das Huhn hat ein Ei gelegt. Um nun zu erkennen, ob dieses Ei ein wahres oder ein Windei ist, muß man die Henne "psychologisch" untersuchen. Hilft das nicht, so gehe man auf den Hahn und dessen Ahnen zurück. Vielleicht kann man auch das kopernikanische System mit der psychologischen Untersuchung des Kopernikus erklären, und vielleicht sind die Astronomen auf dem Holzweg, die stattdessen törichterweise sein System mit dem Sternenhimmel vergleichen.
    6) Schopenhauer sucht diese unangenehme Konsequenz zu umgehen. Nach ihm konstruiert der Verstand aus Daten der Empfindung den Gegenstand, indem er auf die Ursache der Empfindung zurückgeht. Aber mit dem Zurückgehen kommt man hier nicht weiter. Man konstruiert nur seine - Idee, die man "aus sich herausprojiziert". (Schopenhauer, Werke IV, Reclam, Seite 109)
    7) Dieser zwar alte aber keineswegs ehrwürdige Spruch wird gleichfalls auf dem literarischen Markt vielfach als Reklamemotto verwandt. Er ist alt - das gebe ich zu -, aber daß alles Alte wertvoll ist, gebe ich nicht zu.