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ERNST MARCUS
Revoulutionäre Kräfte
in der Philosophie


"Der materialistische Monismus wirkt wohltätig, sofern er den Bann der Kirchendogmen und veralteter Rechts- und Staatsmaximen zu brechen sucht. Aber er hat auch eine bedenkliche Seite; denn ohne Beweis und Begründung glaubt er das tausendjährige Problem der Freiheit und sittlichen Verantwortung auf eine von der Wissenschaft längst verworfene Art zu lösen, indem er die Wirksamkeit der Idee der Freiheit im Menschen leugnet und dadurch den Menschen zum materiellen Mechanismus, zur Maschine herabdrückt. Auch diese Philosophie feierte als extremer Naturalismus ihre Triumphe in der Kunst. Wir sahen Dramen entstehen ohne Helden, sahen Personen dargestellt, die gänzlich passiv durch vererbte Anlagen und Einflüsse der Umgebung zur Vollendung ihres Geschickes getrieben wurden, und deren Leben daher ablief wie ein Uhrwerk - Menschen als untätige Zuschauer ihrer Taten, d. h. ihrer Leiden."

1. Der Seemann sieht am Horizont eine kleine Wolke; er weiß, daß sie sich ausbreiten und bald den ganzen Himmel bedecken wird. Ein aufmerksamer Beobachter des Kulturlebens würde vor etwa zwanzig Jahren, als IBSEN und NIETZSCHE zu wirken begannen, vorausgesehen haben, daß hier eine scheinbar kleine Bewegung einsetzt, die auf die Kultur den mächtigsten Einfluß gewinnen sollte. Es ist wichtig, solche Strömungen des Lebens rechtzeitig zu bemerken, wichtig für Eltern und Erzieher. Durch diese Bewegung und ihre Folgen entstand ein Riß zwischen zwei Generationen, zwischen Eltern und Kindern. Es gibt zwei Arten der Heimat. Die eine ist die physische, örtliche, die des Äußeren, der gemeinsamen Sprache, der Abstammung. Die andere ist die geistige Heimat. Eltern und Kinder hatten damals eine verschiedene geistige Heimat. Sie verstanden einander nicht, weil die ältere Generation es versäumt hat, an der neuen, mächtig aufregenden Strömung des Lebens teilzunehmen, weil sie ihr höchstens die Gedanken, nicht aber das Gemüt öffneten. Mit glücklichem Griff hat GERHART HAUPTMANN uns das Problem dieses Gegensatzes zweier Generationen in seinem Dram "Einsame Menschen" dargestellt. Der Stoff ist klassisch.

Aber das Wirksame und Aufregende in jener literarischen Strömung lag nicht etwa in der neuen künstlerischen Form, sondern im Inhalt, in den philosophischen Ideen, in der Wertung des Menschen, seiner Bedeutung, seines Verhaltens; diese neuen praktischen Ideen errichteten jene mächtigen Schranken zwischen Generationen, die durch Ort, Zeit, Blut und Abstammung eng verbunden waren. Wir sehen hier jenen Einfluß praktisch-philosophischer Tendenzen vor uns, der sich in jeder Kulturepoche mehr oder weniger scharf und augenfällig wiederholt. Philosophie ist keineswegs harmlos. Ausgedacht von einsamen Denkern, wird sie von gläubigen Anhängern popularisiert und verbreitet, sie dringt in Kunst und schöne Literatur ein und sickert, dieses Medium der Bildung und Aufklärung durchlaufend, sogar vielfach in die untersten und breitesten Schichten des Volkes herab. Ganze Zeitalter sehen wir optimistisch, andere pessimistisch gefärbt. Religion und Atheismus, Sittlichkeit und Zügellosigkeit, Freiheit und Dogma entstehen oft genug unter dem Druck philosophischer Anregungen. Und im Einzelleben? - Eltern, die kaum den Namen SCHOPENHAUERs kannten, sahen ihre Kinder im geistigen Bann dieses gewalten Rhetorikers und mußten es erleben, wie sie einer finsteren Askese und einem unfruchtbaren Pessimismus verfallen sind; andere sahen ihre Kinder im Gefolge NIETZSCHEs einem sie beängstigendem Zweifel an der Berechtigung sittlicher Forderungen verfallen. Noch hat bei uns die Schwärmerei TOLSTOIs wenig Einfluß geübt, aber wer schützt uns in Zukunft davor?

Wir wollen diesen bedeutenden Denkern keineswegs große Verdienste um Freiheit und Aufklärung absprechen; sie gehören zu jenen exorbitierenden [außerordentlichen - wp] Geistern, die neue Geleise der Kultur aufsuchen und den Boden der Dogmen und des Vorurteils unterwühlen. Aber ich habe zeigen wollen, daß nicht nur heilsame und wahre Lehren, sondern mit ihnen auch schädliche Irrtümer philosophischer Systeme herabsickern und ihren sicheren Weg finden, um auf disponiertem Boden das Lebensglück vieler Einzelner zu beeinflussen. Wir bemerken das gerade in heutiger Zeit wieder an einer verbreiteten philosophischen Richtung; es ist die des materialistischen Monismus. Auch sie wirkt wohltätig, sofern sie den Bann der Kirchendogmen und veralteter Rechts- und Staatsmaximen zu brechen sucht. Aber auch sie hat eine bedenkliche Seite; denn ohne Beweis und Begründung glaubt sie das tausendjährige Problem der Freiheit und sittlichen Verantwortung auf eine von der Wissenschaft längst verworfene Art zu lösen, indem sie die Wirksamkeit der Idee der Freiheit im Menschen leugnet und dadurch den Menschen zum materiellen Mechanismus, zur Maschine herabdrückt. Auch diese Philosophie feierte als extremer Naturalismus ihre Triumphe in der Kunst. Wir sahen Dramen entstehen ohne Helden, sahen Personen dargestellt, die gänzlich passiv durch vererbte Anlagen und Einflüsse der Umgebung zur Vollendung ihres Geschickes getrieben wurden, und deren Leben daher ablief wie ein Uhrwerk - Menschen als untätige Zuschauer ihrer Taten, d. h. ihrer Leiden. An die Stelle des heroischen Interesses trat ein animalisches Mitgefühl. Die Idee der Freiheit, die Vorstellung, daß der Mensch sich selbst zu bestimmen vermag, eben jenes ätherische, ideale Moment des Intellekts, durch das der Mensch sich vom Mechanismus der mechanischen Natur unterscheidet, und wenn er will, zu unterscheiden vermag, wurde hier eliminiert. In dem berechtigten Bestreben, jenen Kunstfehler auszuschalten, der das Kunstwerk zum Mittel der Moralpredigt macht, hat man die moralische Natur des Menschen selbst, ein tatsächliches und notwendiges Stück im Organismus des Intellekts, gänzlich ausgewiesen. Wir sehen vielfach die Moral selbst in Frage gestellt, weil unsere heute herrschenden Moralbegriffe allerdings noch zahlreiche, mit Recht angegriffene Irrungen und Vorurteile enthalten; und so zündet man nach dem Vorgang NIETZSCHEs das Haus an, um das lichtscheue Gesindel, das in ihm seine Wohnstätte aufgeschlagen hat, zu verbrennen.

Solche vielfachen Mißgriffe unserer Philosophen konnten nicht unbemerkt bleiben. Eine neue Generation von Eltern und Erziehern fühlte das Unheil. Und es kam, was kommen mußte. Sie suchen ihre Kinder zu schützen und flüchten - in die Arme der Glück versprechenden Kirche und der Reaktion. Überall, wohin wir den Blick richten, sehen wir die Kirche erstarken und scheinbar überwundene Dogmen mächtig das Haupt erheben. Die geistige und mit ihr - wie stets - die physische Freiheit ist bedroht. Das ist die Rache der angefeindeten reinen Moral und ihrer Freiheit. Freidenker, denen das wahre Wohl der Menschheit am Herzen liegt, sehen sich nach Rettung um.

Sie werden, die Strömungen der Kultur überblickend, ein winziges Fünkchen gewahren, das noch verborgen unter der Oberfläche glimmt, und das zu heller Flamme anzufachen der Mühe wert wäre. Dieser Funke ist die Philosophie KANTs, die Kritik der Vernunft.

2. Fast hundert Jahre lang blieb die gewaltige Umwälzung, die KOPERNIKUS in der Lehre von den Weltkörpern hervorgerufen hat, ohne Anerkennung, bis es endlich KEPLER gelungen ist, sie gegen die Meinung "berühmter" und gelehrter Zeitgenossen durchzusetzen. Ein ähnliches Geschick traf KANTs Weltlehre. Was der kopernikanischen Lehre endlich zum Sieg verholfen hat - war der Beweis, der Vollbeweis ihrer Wahrheit. Er war es, der die Kultur mit der der Wissenschaft innewohnenden Kraft auf den Angeln gehoben hat, der den Himmel der Kirche herunterriß und die erhabene Größe des unendlichen Weltenraums ans seine Stelle setzte. So gab KOPERNIKUS den Menschen eine neue Heimat, er riß ihnen das blaue Gewölbe hinweg, aber das erregte ihm auch den hundertjährigen Widerstand von Gegnern, deren Gemüt mit dem blauen Dach und der zentralen Bedeutung der Erde verwachsen war. Die kopernikanische Wahrheit verstand man nicht, weil man sie nicht glauben wollte. Indes der Beweis war da, er wirkte, und die alte Heimat mußte weichen.

Genauso verhält es sich mit KANTs Lehre. Man sieht es noch nicht, aber man wird es sehen. Auch sie zieht das Gemüt in Mitleidenschaft, aber auch sie bringt vollständige Beweise; sie ist Wissenschaft, wie die Astronomie. Wer die Lehre verstanden hat, der glaubt das nicht mehr, er weiß es; sie wird ihre Gegner mit der Wucht des Beweises niederwerfen; sie wird der Kultur neue ungeahnte Wege zeigen; man tut wohl, in der neuen Heimat, die KANT uns geben wird, sich zurechtzufinden, sie wird die Heimat der kommenden Geschlechter werden, und sie wird besser sein als das mit historischem Gerümpel gefüllte Heim unserer Vorfahren und unfreien Zeitgenossen.

Die Lehre KANTs, wie sie überliefert ist, ist unaussprechlich nüchtern und trocken, der Stil schwerfällig, die Darstellung schwer verständlich, auf jeder Seite starrt uns das Gesetz entgegen - Gesetze der Natur, des Verstandes, der Vernunft, der Sitte. Aber das Gesetz ist das Ideal und Endziel der Wissenschaft. Man muß den Sinn dieser Lehre mühsam durchdrungen haben, um zu finden, daß sie mehr ist als ein System von Begriffen, Formen und Gesetzen. Sie enthält mehr als das, sie enthält, sobald man einen über die Einzelheiten sich erhebenden freien Überblick gewonnen hat, ein gewaltiges, unendlich erhabenes Bild der ganzen Welt, ein plastisches, greifbares Bild auf mystistischem Grund, das von der bisherigen Welt so verschieden ist, wie die alte Astronomie von der kopernikanischen. Diese Lehre also erfaßt nicht nur den Verstand, sondern greift ans Herz. In ungeahnter Weise "erweitert sie das Gemüt" (KANT) (1). Sie reinigt von Vorurteilen und Dogmen und regt zur freien Betätigung aller Kräfte und zur selbsttätigen Aufklärung und Entwicklung an.

Sie schließt aus der Organisation des Geistes auf den Charakter der Welt. Die Natur ist eine Sinneserscheinung, hervorgerufen durch eine jenseits dieser Erscheinung liegende ewig unerkennbare Wesenheit. Hier also schickt sich der mystische Schleier des ewigen Geheimnisses - offenbar geworden durch den strikten kantischen Beweis - zwischen die Natur und ihren sie an jedem Tag neu schaffenden Urgrund (das sogenannte "Ding-ansich"). Jeder Tag ist ein erster Tag der Schöpfung. Die Geburt eines Menschen ist der Tag einer neuen Welt, sein Tod ihr Untergang. Der Intellekt des Menschen - wie ein Polyp, der die Fangarme ausstreckt - bedient sich seiner logischen Kraft, um an den Sinneserscheinungen jene Seite ausfindig zu machen, die sich unter seine logischen Gesetze bringen läßt. So findet er Gesetze der Erscheinungen (Gesetze der Beharrung und Vergänglichkeit), und aus ihnen entspringt die Erkenntnis einer sich in feste logische Gesetze einfügenden endlosen Masse von Sinneserscheinungen. So werden aus Sinneserscheinungen gesetzliche oder Naturerscheinungen, aus ihrer ungeheuren Masse die endlose Natur. - "Und was in schwankender Erscheinung schwebt, befest'gen wir mit dauernden Gedanken." (2)

Eben derselbe Intellekt aber, der Gesetze konstruierte, denen die Natur sich einfügen läßt, und der mittels der Erkenntnis dieser Gesetze - den Willen dirigierende - die Natur beherrscht, war auch imstande, Gesetze zu erdenken, die das Verhalten intelligenter Wesen regeln sollen. Es sind die Gesetze der Sitte (bekannt unter dem Namen des vielfach mißdeuteten "kategorischen Imperativs").

Aber hier haben wir keine Sittenlehre, die wie die kirchliche von dem durch KOPERNIKUS zertrümmerten Himmel heruntergeholt ist, und die vermöge ihrer Irrungen dem Angriff moderner Skeptiker mit Recht ausgesetzt war, hier haben wir keine tolstoische Schwärmerei, kein Sentiment, keine Askese, sondern eine gesunde, reine, vom historischen Dunst der Offenbarung befreite Sittenlehre, eine Lehre, die eine wahre, auf vollgültige Beweise gestützte exakte Wissenschaft ist. Wie KOPERNIKUS den Himmel, so befestigtes KANT die himmlische Ethik und setzte die irdische an ihre Stelle. Sittliche Vorurteile und Irrungen lassen sich durch diese neue Wissenschaft nachweisen mit der Schärfe des logischen Beweises. Das ist allerdings keine Ethik, die dem Despotismus dienen kann, wohl aber eine solche, die eine feste Stütze des wahrhaften, auf Ethik gegründeten Rechtsstaates ist. Der Staat bedarf nicht mehr der zweifelhaften Stütze eines in unaufhaltbares Wanken geratenen Kirchenglaubens, wenn KANTs Ethik sich durchgesetzt hat. Sie wird früher oder später die Konfessionen der Kirche, die im Namen Gottes Schranken zwischen den Menschen errichten, hinwegschwemmen; der Wucht des kantischen Beweises werden sie nicht standhalten.

Im Namen dieser Ethik und der durch sie gebotenen Möglichkeit selbsttätiger Aufklärung fordert KANT die Freiheit der Presse. Im Hinblick auf sie nennt er als das einzige Ereignis, das den geschichtlichen Fortschritt des Menschengeschlechts zum Besseren zu verbürgen schien, - die französische Revolution. Er fordert, daß wenn schon die Philosophie "die Magd der Kirche" sein soll, sie nicht "ihre Schleppenträgerin", sondern "ihre Fackelträgerin" sein muß. Er will (mit Rücksicht auf die Zensur) gern aufhören, den Kirchenglauben mit seiner Vernunft auszulegen, sofern nur auch die Orthodoxen ihrerseits darauf verzichten wollen, sich bei der Auslegung der Schrift ihrer Vernunft zu bedienen. Er fordert zu einer Zeit, da man an Frauenbewegung kaum dachte, daß die Frau sich aus dem "Zustand der Unmündigkeit" befreien soll, sich nicht mehr am "Gängelband" des Mannes leiten läßt, der ein Interesse daran hat, "sein Hausvieh dumm zu erhalten". Er fordert manches, was dem Gemütsmenschen vom alten Heimatgefühl nicht gefallen dürfte. Aber die Wucht der Beweise, die Strenge der Wissenschaft, der allein wir verdanken, was wir an dauernden Kulturträgern haben, wird die Pforten der neuen Heimat sprengen.

KANT konstruierte als notwendiges logisches Moment des Sittengesetzes die Idee der Freiheit, als ein Ideal, das uns ermöglicht, uns frei zu machen vom Mechanismus der Natur. Tötet diese Idee durch die Autosuggestion des Fatalismus, und ihr werdet zu dem werden, wofür ihr euch haltet, nämlich zur Maschine; denn die Idee der Freiheit ist praktisch, sie wirkt wie ein Begehren; die Begierde treibt, und sie erkennend verwirklichen wir sie. Die vernunftgeborene Idee der Freiheit treibt, und sie erkennend verwirklichen wir sie. Freiheit ist keine Jllusion, sondern ein treibendes und belebendes Ideal, ein Treibrad in der Organisation des Geistes, das in der Natur nicht auffindbar ist, und dessen Namen wir daher nicht einmal kennen würden, wenn es nicht dem Geist unabhängig von der Natur eigen wäre. Befreiung ist die Wirkung der Idee der Freiheit.

Wem daran liegt, eine heute noch fast geheime große Wissenschaft, die Sonne künftiger Kultur, kennen zu lernen, der wende sich zu KANT. Er ist der Vorkämpfer - nicht, wie einer jener vielen nichtverstehenden Gelehrten meint, des Protestantismus und des Deutschtums, sondern der Freiheit und der Menschheit. Alle, die sich berufen fühlen, die noch elastisch genug sind, ihr Gemüt einer neuen Heimat zu öffnen, müssen mitwirken, dieser noch schlummernden Lehre den Weg in Kultur und Leben zu bahnen. Künftige Generationen werden ihnen danken. Neu - völlig neu ist noch heute diese Lehre; was man bisher dafür ausgegeben hat, ist ihr Zerrbild.
LITERATUR - Ernst Marcus, Revoulutionäre Kräfte in der Philosophie, "März", Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, Erster Jahrgang 1907, Erster Band (Januar bis März)
    Anmerkungen
    1) Allerdings in den Büchern der meisten Gelehrten, die über Kant geschrieben haben, ist davon wenig zu merken. Wie ein unebener Spiegel reflektieren sie ein bloßes Zerrbild der noch wenig verstandenen erhabenen Lehre. Ich habe dieser Irrungen der Kantforschung in meinem "Erkenntnisproblem" (1905) gedacht, einer Broschüre, in der ich die der Lehre zugrunde liegenden Welträtsel in populärer Form darzustellen suchte, um zunächst wenigstens bezüglich des Problems Klarheit zu verbreiten.
    2) Goethe, Faust - Prolog im Himmel