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ERNST MARCUS
Das Erkenntnisproblem
[Wie man mit der Radiernadel philosophiert]
[1/4]

"Auf der einen Seite der alte Kant ganz allein, auf der anderen einige Tausend Wächter und Hüter der Wissenschaft - lebende und tote - wem soll man da nun glauben, dem einen Kant oder den einigen Tausend Hütern und Wächtern?"

"Ich gebe dem Leser in seinem Zweifel vollkommen recht, ja ich begreife es, wenn er vor dem gewaltigen Heer der Hüter und Wächter ehrfürchtig zurückweicht. Auch geben ihre Stimmen - in Vereinigung gedacht - einen gewaltigen Lärm. Aber - hier entscheidet doch nicht, wie in Parlamenten und Generalversammlungen der Aktionäre, die Majorität."

Vorspiel
Philosophische Walpurgisnacht

"Aber sag mir, ob wir stehen,
Oder ob wir weitergehen,
Alles, alles scheint zu drehen."


Von Kant zum Erkenntnisproblem. Der unkundige Leser wird mit Erstaunen hören, daß es einen Mann gegeben hat, der da behauptete, eine heute noch unbekannte exakte, d. h. im Rang der Mathematik und Physik ebenbürtige, daher ganz und gar unanfechtbare und gänzlich neue Wissenschaft entdeckt zu haben, von der man sich (wie er sich selbst ausdrückt) "bis dahin nichts habe träumen lassen". Er wird erstaunt sein, daß dieser Mann sich wegen seiner Entdeckung mit KOPERNIKUS (dem ersten Begründer des heutigen astronomischen Systems) verglichen hat. Er wird sagen: "Der Mann hat Mut" oder "ein verflucht bescheidener Kerl".

Aber der dies sagte, war in der Tat ein sehr bescheidener, guter, anspruchsloser Mann, der nichts sehnlicher hoffte, als daß er im Jenseits nicht etwa mit seinen großen Kollegen von der Philosophie, sondern mit seinem alten Diener LAMPE zusammentrifft und zwar deswegen, weil er die Gesellschaft besonders rechtschaffener Seelen jeder anderen vorgezogen hat. Der dies sagte, war ferner ein Mann, der nicht nur die Lüge, sondern auch der fahrlässigen Verletzung der Wahrheit, besonders aber der fahrlässigen Verbreitung von Irrtümern im höchsten Grad abhold war. Er war ferner ein Mann, der zuerst eine heute im Wesentlichen anerkannte Wissenschaft von der Entstehung des Fixsternsystems begründete und zwar bis ins Einzelne. Dieser Mann ist unser alter, lieber, den meisten Menschen nur durch dunkle Gerüchte und sich widersprechende Zwischenträgereien nicht sowohl bekannte als genannte KANT.

Wenn also dieser bescheidene und jeder Verletzung der Wahrheit ängstlich ausweichende Mann recht hat, so gibt es eine neue wahrhafte, der Astronomie, Mathematik und Physik ebenbürtige exakte Wissenschaft, das heißt eine Wissenschaft von vollkommener Präzision, obwohl "man sich auch heute davon noch nichts träumen läßt".

Der für sensationele Neuigkeiten empfängliche Leser wird sich fragen, ob er träumt oder wacht, und, nachdem er zur Besinnung gelangt ist, also reden: "Was Tausend! Das ist ja etwas ganz Neues und noch gar eine jener seltenen oder unmöglichen Neuigkeiten, die schon über hundert Jahre alt sind. Wenn das wahr ist, wo sind denn da die Leute, denen der Staat das Amt anvertraute, die vorhandenen Wissenschaften zu pflegen, die neuendtdeckten sich anzueignen und zu verbreiten. Schlafen diese Männer? Ist es nicht fabelhaft im allerhöchsten Grad, daß die bestellten Wächter und Hüter der Wissenschaft gar nicht merken, daß es eine gänzlich neue von KANT entdeckte exakte Wissenschaft gibt. Davon habe ich ja bis jetzt nichts gehört. Ich hörte nur, daß KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" allerlei krauses, schwer verständliches Zeug geschrieben, daß er sich auf das Gröblichste widersprochen hat, daß er mit der "modernen" Naturwissenschaft in Konflikt ist und daß der Darwinismus ihn widerlegt hat. Nun aber, da ich höre, daß er sich für einen großen Entdecker gehalten hat, müßte ich ihn für einen ganz gewissenlosen und unbescheidenen Scharlaton oder gar für einen Narren halten. Aber eine kuriose Geschichte ist es doch. Auf der einen Seite der alte KANT ganz allein, nach der Methode der englischen Politik in glänzender Isolierung, auf der anderen einige Tausend Wächter und Hüter der Wissenschaft - lebende und tote -, darunter sogar "große" Philosophen und Männer der Naturwissenschaft. Wem soll man da nun glauben, dem einen KANT oder den einigen Tausend Hütern und Wächtern?

Ich gebe dem Leser in seinem Zweifel vollkommen recht, ja ich begreife es, wenn er vor dem gewaltigen Heer der Hüter und Wächter ehrfürchtig zurückweicht, umso mehr, als er von ihnen manches gelernt hat, was wirklich und wahrhaftig richtig ist. Auch geben ihre Stimmen - in Vereinigung gedacht - einen gewaltigen Lärm. Aber - hier entscheidet doch nicht, wie in Parlamenten und Generalversammlungen der Aktionäre, die Majorität. Sowas nämlich ist schon einmal dagewesen, vielleicht auch schon mehrmals. Es hat wirklich schon mal eine solche sensationelle, an die hundert Jahre alte Neuigkeit gegeben. Dem berühmten KOPERNIKUS ist es nämlich um nichts besser gegangen, als KANT. Bis etwa hundert Jahre später KEPLER durchdrang, gab es eine ganze Menge von Wächtern und Hütern der Wissenschaft, darunter berühmte Gelehrte (zum Beispiel der "große" Philosoph BACO von VERULAM), die nichts davon wissen wollten, daß die Sonne das Zentrum unseres Planetensystems ist, und daß die Erde sich um sich selbst und um die Sonne dreht. Das waren Leute, die sich von den Traditionen ihrer Väter nicht losmachen konnten, das waren altgläubige, rechtgläubige Gegner des KOPERNIKUS oder sagen wir kurz: orthodoxe Anti-Kopernikaner; und nun wird der Leser mir zugeben, daß es zwar geradezu betrübend unwahrscheinlich ist, aber doch nicht außerhalb aller und jeder Möglichkeit liegt, daß unsere Tausende von Hütern und Wächtern, die es bestreiten, daß KANTs Lehre eine wahre, zweifellose Wissenschaft ist, vielleicht orthodoxe Gegner KANTs, das heißt orthodoxe Anti-Kantianer sind. Also über allen Zweifel erhaben ist die Sache doch noch nicht, obwohl uns dei Hüter das glauben machen wollen, zumal da allerlei andere höchst merkwürdige und fabelhafte Dinge vorgekommen sind, die ich gleich mitteilen werde. Dabei muß ich aber den Leser inständig bitten, doch ja von dem ihm von der Natur verliehenen beschränkten Laienverstand Gebrauch zu machen. Nicht als ob ich diesen auch von mir öfters mit Erfolg benutzten Verstand besonders hoch schätze. (Es sei mir fern, den Leser durch Komplimente über seinen Verstand für mich einzunehmen.) Nein! Er soll nur nicht von dem philosophischen Sonderverstand, den einer der Kantforscher als einen den Laienverstand überragenden Kennerverstand gelegentlich zu diesem Zweck empfiehlt, Gebrauch machen. Diese Warnung wird der Leser schon verstehen, wenn er weiterhin die Produkte dieses Sonderverstandes kennen lernt, und wenn er erwägt, daß KANT selbst gelegentlich verlangt, daß man seine Wissenschaft mit dem "gemeinen" Verstand beurteilen soll, gerade als ob er sich schon damals vor dem jetzt neu entdeckten Kennerverstand gefürchtet hätte.

Und nun zur Sache! KANT hat neben dem eben erwähnten unbescheidenen Ausspruch noch einen anderen überaus bescheidenen Ausspruch getan, von dem der Leser auch noch nie etwas gehört haben wird, der also wohl von den Hütern und Wächtern übersehen und deswegen oder vielleicht aus anderen Gründen nicht verbreitet wurde. Dieser Ausspruch besagt, daß, wenn Kants neue Wissenschaft nicht alles leistet, sie überhaupt nichts leistet, das heißt überhaupt ganz und gar falsch und wertlos ist.

Ja! wird der Leser sagen: "Was, zum Henker, soll mir das? Dieser Ausspruch ist ja überflüssig, weil ganz selbstverständlich. Denn, wenn das, was Kant vorbringt, nicht wahr und bewiesen ist, so ist es eben falsches oder doch zweifelhaftes Zeug, das in die Rumpelkammer gehört."

Ja, so spricht der Laie und so spricht KANT, der also wie ich richtig vermutet habe, auch mit dem Laienverstand arbeitete; aber eine ganze Menge, ja fast alle Wächter und Hüter, die als Kantforsher auftreten, sind anderer Meinung. Die sagen etwa, wenn wir ihre Meinungen in eins zusammenfassen:
    "Es taugt keineswegs alles, was Kant in der Kritik sagt, ja im Grunde hat er gar nichts von dem, was er behauptet, durchschlagend bewiesen oder auch nur überhaupt etwas bewiesen, auch hat er sich selbst vielfach auf das Gröbste widersprochen und keineswegs eine wahre Wissenschaft, sondern höchstens allenfalls eine historisch vergängliche (auf Laiendeutsch: "zweifelhafte") Wissenschaft (d. h. eine Nicht-Wissenschaft) entdeckt, trotz alledem aber ist einiges von Kants Lehre überaus wertvoll, seine Lehre ist trotz seinen Widersprüchen genial, ja die Widersprüche sind ein Zeichen der Qualität."
Der Leser sieht also zu seiner Befriedigung, daß auch KANTs "gemeiner" oder Laienverstand mit dem Kennerverstand im Streit liegt. Denn KANT verweist seine ganze Lehre (gerade wie der Leser) in die Rumpelkammer, wenn sie nicht alles leistet. Dagegen die Kenner retten einige Stücke davon (der eine dies, der andere jenes) und bestreiten KANT das bescheidene Recht, seine eigene Lehre in den Schlund der "philosophischen Ideen" hinabzustoßen. Aber dieser Zusammenstoß zwischen den Puffern des Laien- und des Kennerverstandes ist noch nicht alles. Als dritter höchst bedenklicher Umstand kommt noch hinzu, daß die Kenner nicht bloß mit KANTs Lehre, sondern sogar - untereinander im Streit liegen.

Denn der eine meint, daß KANT dies und der andere, daß er das gerade Gegenteil davon gelehrt hat. Der eine meint, ein gewisser Teil seiner Lehre sei richtig, daher wertvoll, der andere, dieser selbe Teil sei falsch. Der eine hält einen Satz für richtig, weil der Beweis erbracht ist, und der andere hält ihn für - richtig, obwohl der Beweis mißlungen ist.

Hieraus würde der beschränkte Laie voreiligerweise schließen, daß die oberen Tausend der Wissenschaft sich gegenseitig vorwerfen, daß ihre Kantauslegungen falsch sind, sich also sogar gegenseitig vorwerfen, daß sie in Sachen KANTs keine Kenner, sondern Laien sind. Aber weit gefehlt! Es kommt ganz anders, ganz wunderbar, ganz überraschend. Die einander widersprechenden Kantauslegungen werden als "scharfsinnige" und "wertvolle" "Kantauffassungen" gewürdigt und geehrt.

Wir eigentlichen Laien wissen nun allerdings gar nicht, welche von diesen "wertvollen" Kantauslegungen richtig ist, d. h. welche von ihnen die Lehre richtig wiedergibt, und das wissen auch die "Kenner" nicht. Denn bewiesen hat noch keiner von ihnen die Richtigkeit seiner "Kantauffassung". Aber eine solche Kleinigkeit, wie einen strengen, durchschlagenden Beweis, verlangt man im KANT-Urwald auch gar nicht. Man begnügt sich mit einer sogenannten gleichfalls "scharfsinnigen" Begründung, die genauso zweifelhaft ist, wie die scharfsinnige Kantauffassung selbst. Man ist daher auch gegen abweichende Kantauffassungen "tolerant". Man erklärt sie für "wertvolle" Kantauffassungen.

Eine solche Toleranz zu rechtfertigen ist nicht ganz leicht. Es geht aber doch. Die ganzen übrigen Wissenschaften nämlich leiden an der rohesten, schamlosesten und unsittlichsten Intoleranz. Sie lassen keine Behauptung über die Schwelle, die falsch, ja die auch nur zweifelhaft, d. h. ohne Beweis ist, und so verletzt zum Beispiel der Mathematiker den sittlichen Grundsatz der Toleranz auf das Gröblichste, indem er seinen Gegner, der die "scharfsinnige" mathematische "Auffassung" vorbringen wollte, daß eine gerade Linie nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten oder daß manchmal 2 x 2 auch 5 sein kann, einfach die Türe weist. Ganz anders in der "Wissenschaft" von KANT. Hier haben wir den Anblick der freundlichsten Duldsamkeit, einer wahrhaft wohltuenden Harmonie. Diese Toleranz wird aber etwa durch folgende Erwägungen geschaffen:

Diejenigen, die sich an der Auslegung KANTs beteiligen, sind Kantkenner (im Gegensatz zum "Laien"). Da nun jeder von ihnen in KANTs Lehre etwas Anderes und Entgegengesetztes auffindet, wie seine Mitkenner, so unterliegt es (da wir es doch mit Kennern zu tun haben) keinem Zweifel, daß KANT all das auch gedacht hat. Daraus folgt aber schon, daß KANT sich in sehr vielen Fällen widersprochen hat und vor allem, daß er äußerst vielseitig war, da man so viele Meinungen aus ihm herauslesen kann, wie der Mohammedaner aus dem Koran (1). Der Mann hat sozusagen alles gesagt, was sich denken läßt (vielleicht auch noch einiges Andere), und daher hat er "das vielseitigste, genialste, zugleich aber (natürlich) auch das widerspruchsvollste Buch" geschrieben, das je existiert hat. Der Widerspruch hat ja auch in der Tat die Vielseitigkeit zur Folge. Wenn z. B. jemand den Widerspruch vermeiden will, so kann er nur sagen: "Die Welt existiert"; ist er dagegen "genial" genug, den Widerspruch nicht zu scheuen, so kann er im zweiten Teil seines Werkes ebenso ernsthaft behaupten: "Die Welt existiert nicht." Er kann also mittels des Widerspruchs genau doppelt so viele Aussprüche tun, wie ohne ihn, das heißt genau zweimal so vielseitig sein. Demgemäß erfahren wir fdann auch von einem anderen Kantforscher, daß der Widerspruch ganz eigentlich zur "Genialität" gehört, daß er genial ist, daß ein wahrer Genius nicht so beschränkt sein darf, den Widerspruch zu scheuen.

Also - "der Widerspruch ist genial". Lasset uns sehen, was ein Widerspruch bedeutet: Ein Widerspruch besteht darin, daß ich an der einen Stelle meines Buches sage: "Dieses Ding existiert", und an einer anderen Stelle mit derselben Bestimmtheit behaupte: "Eben jenes (zweifellos existierende) Ding existiert nicht" (oder auch etwa: "Es ist zweifelhaft, ob jenes zweifellos existierende Ding existiert"). Was habe ich nun eigentliche behauptet? Nun ganz einfach! Jene Behauptungen sind gleich stark, folglich hebt meine zweite Behauptung die erste und meine erste die zweite auf. Die Behauptungen widerrufen sich gegenseitig. Was also habe ich behauptet? - Gar nichts habe ich behauptet, und somit liegt die Genialität des Widerspruchs darin, daß man gar nichts behauptet. So steht in der Tat die Sache nach unserem und sogar auch nach KANTs Laienverstand, und nun rate ich dem Leser, sich an der "Kantbewegung" zu beteiligen, wenn er Lust hat, ein Genie zu werden. Er braucht gar nichts zu sagen, wenn er es nur in der genialen Form des Widerspruchs tut; denn das ist die einzige Form, in der man etwas sagen kann, ohne etwas zu sagen.

Daß aber doch der Gedanke vom genialen Widerspruch höchst fruchtbar ist, ja daß er sogar sittlich wirkt, indem er die Toleranz befördert und die Verkünder dieser Lehre zu "toleranten Freidenkern", ihre Gegner aber zu "intoleranten Orthodoxen" stempelt, ergibt sich daraus, daß nun die Anhänger dieser KANT-Konfession ein jeder, ohne einen Fehler zu machen, KANT auf ganz entgegengesetzte Weise auslegen ("auffassen") oder auch "umdeuten" kann. Denn der Widerspruch der verschiedenen "Kantauffassungen" ist ja nicht dadurch entstanden, daß man KANT falsch auslegt, sondern dadurch, daß eben KANT selbst "gründlich, vielseitig und genial" genug war, um sich selbst zu widersprechen.

Das also ist die "Kantbewegung", und nun will ich nur noch verraten, daß einst in Griechenland ein Dichter und Tänzer KALLIPIDES lebte, von dem die Alten sagten, daß er stets gelaufen ist, aber niemals von der Stelle kam. Im Übrigen mag der Leser seine Schlüsse selbst ziehen (2). Jedenfalls wird er mir zugeben, daß außer der Möglichkeit, daß KANT sich auf das Vielseitigste und Genialste widersprochen hat, das heißt auf das Vielseitigste und Genialste gar nichts gesagt hat, noch eine andere Möglichkeit (natürlich nur eine Möglichkeit) besteht, nämlich diese:
    daß Kant sich nicht widersprochen hat, also auch kein Genie war, daß dagegen seine Ausleger (als Einheit gedacht) in der Tat genial sind, und gerade durch ihre widersprechenden Auslegungen bewiesen haben, daß sie zwar Genies sind, aber allesamt Kant nicht verstanden haben.
Denn es ist doch denkbar, daß einer ein Genie ist und trotzdem KANT nicht versteht, so wie es zum Beispiel Genies gegeben hat, die von der Bedeutung der Mathematik keine rechte Vorstellung hatten (zum Beispiel GOETHE). Diese Möglichkeit liegt umso näher, als KANT (gerade als hätte er so etwas geahnt) sich gelegentlich aus Leibeskräften dagegen verwahrt hat, ein Genie zu sein, und daß er seine Wissenschaft nicht als genial, sondern nur als richtig oder falsch bewertet wissen wollte. Das ist natürlich hausbackene und philisterhafte Pedanterie, aber es ist doch immerhin möglich, daß KANT ein Erzphilister war. Jedenfalls sieht man aus dieser Verwahrung, daß der alte Herr seine Leute kannte. Er hatte eine schreckliche Angst, daß man ihn einst zum "Genie" erheben würde. Besteht nun aber danach für uns Laien die Möglichkeit, da alle jene Kenner KANT nicht verstanden haben, das heißt selbst Laien sind, so bleibt auch die Möglichkeit (ich sage wieder ausdrücklich nur: "die Möglichkeit"),
    daß Kant vielleicht eine wahre Wissenschaft entdeckt hat, und zwar etwa so in der Art, wie er selbst die Wissenschaft auffaßt, nämlich so ähnlich, wie die Mathematik, also eine ganz intolerante, eine sich gar nicht widersprechende (d. h. eine nicht nichtssagende), eine gar keinen Widerspruch duldende Wissenschaft, eine nicht beweislose, sondern gründlich bewiesene Wissenschaft.
Wichtig genug ist es doch immerhin, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, da man nie wissen kann, welche Folgen für die Fortschritte der Menschheit eine neue Wahrheit haben kann, die einen alten Irrtum verdrängt. Allerdings im höchsten Grad betrübend wäre es ja, wenn so viele scharfsinnige "Kantauffassungen" wertlos sein sollten und folglich auch betrübend, wenn KANTs Lehre eine wahre Wissenschaft sein sollte. Aber - untersuchen muß man die letzte Möglichkeit doch; denn es könnte auch manches Erfreuliche daraus entspringen. Die Kantforscher wollen aber diese Möglichkeit (aus mir unbekannten Gründen) nicht untersuchen, sie bleiben dabei, daß ihre "Kantauffassung" richtig ist und erklären dadurch jene Möglichkeit für eine Unmöglichkeit. Folglich müssen Andere sich schon mit dieser schwierigen Untersuchung befassen. Welchen Weg haben wir aber nun, um unsere "Möglichkeit" zu untersuchen? Nun! Es gibt einen Weg, auf dem zwar (wie KANT sagen würde) schon manche "herumtappten", der aber noch nicht erschlossen ist, daher noch nicht klar vor uns liegt. Dieser Weg ist einer jener Wege, die KANT als die "Heeresstraße der Wissenschaft", als "Königlichen Weg der Wissenschaft" anpreist. Es ist der Weg
vom Problem zur Lösung.
Es gilt also das Grundproblem KANTs in völliger Klarheit - doch hier nur in großen Umrissen - darzustellen. Jeder wahrhaft wissenschaftlichen Arbeit liegt nämlich ein Problem, eine Frage, ein Rätsel, eine noch ungelöste Aufgabe zugrunde, die gelöst werden soll, eine Lücke des Wissens, die ausgefüllt werden soll.

Hat ein Mathematiker (wie zum Beispiel GAUSS) ein längere Zeit unverstandenes Buch geschrieben, so wird sich der Kenner zuerst fragen: "Welche Aufgabe hat der Mann lösen wollen?" und wird dann unter Beachtung des neuen GAUSSschen Verfahrens versuchen, diese Aufgabe selbständig zu lösen. Ähnlich würde ich in diesem Fall fragen: - Welches Problem lag KANTs angeblicher Wissenschaft zugrunde? - Hätte ich das Problem ermittelt und ganz klar erfaßt, so würde ich versuchen, es nach kantischem Verfahren zu lösen; erhielte ich ein von KANT abweichendes Ergebnis, so würde ich mein eigenes und KANTs Ergebnis nochmals mit der Aufgabe vergleichen und mich fragen, ob in dieser oder jener Lösung der Aufgabe ein Fehler steckt. Nur wer die Aufgabe kennt, ist fähig, zu sehen, ob in der Lösung ein Irrtum liegt. Laßt Euch von einem Schüler das Resultat seiner Multiplikationsaufgabe sagen (z. B. 25) und Ihr werdet nicht eher beurteilen können, ob er richtig oder falsch gerechnet hat, bis Ihr wißt, ob die die Aufgabe 3 x 8 oder 5 x 5 lautete. Das ist zur Evidenz klar.

Damit tritt in dieser verworrenen Angelegenheit wieder ein Umstand zutage, der ganz und gar von der Regel abweicht.

Bei den meisten wissenschaftlichen Werken merkt man nämlich sofort, welche Aufgabe ihnen zugrunde lag. In der Regel kann der Schriftsteller es gar nicht vermeiden, sie ganz klar hinzustellen. Aber - bei KANT liegt die Sache ganz anders. Hier tritt das Grundproblem, jenes große Problem, dessen Lösung die Grundlage des Systems ausmacht, gar nicht deutlich zutage. Nur die Lösung ist gegeben, nicht das Grundproblem, und sie tritt nur als Mittel zum Zweck der sogenannten Kritik der Erkenntnis auf. Ein großes Weltproblem ist es, das KANT lösen mußte, um die "Kritik der reinen Vernunft" schreiben zu können, und statt nun dieses große Probem selbständig und scharf hinzustellen, versteckt er seine Lösung in der Kritik der reinen Vernunft und gebraucht sie nur als Mittel zum Zweck, nämlich zu dem Zweck, die Grenzen unserer Erkenntnis festzustellen, gerade als ob ein großes Problem undd seine Lösung nicht schon für sich Interesse genug bieten würde (3).

Und nun gebe ich dem Leser die Erlaubnis, nochmals ein erstauntes Laiengesicht aufzusetzen. Dieselben Kantforscher, die KANTs Lehre als ganz oder teilweise falsch bezeichnen, die also behaupten, daß er seine Aufgabe nicht gelöst hat, eben dieselben Forscher streiten darüber, welche Aufgabe es ist, die er hat lösen wollen. Man braucht übrigens auch nur einen Blick auf die KANT- Darstellungen zu werfen, um sich zu überzeugen, daß sie an einen Vergleich der Lösung mit dem Problem gar nicht einmal dachten. Da findet man stets, daß der Kantkenner die "Lehre des Meisters" (waren KOPERNIKUS oder NEWTON auch "Meister"?) genau in der Reihenfolge und annähernd mit denselben Worten vorträgt, die er in KANTs Schriften vorgefunden hat - eine rein gedächtnismäßige Arbeit, wenn nicht gar eine Kopie mit Varianten, eine KANT-Stilisierung -. Da erfährt ann dder höchst überraschte Leser zuerst, daß KANT die sogenannte Idealität des Raums gelehrt hat, er erfährt auch die Beweise, die KANT dafür gibt, hübsch in der Reihenfolge. Aber davon erfährt er nichts, welches gewaltige Problem KANT in diesen höchst wunderlichen Gedanken hineingetrieben hat und hineintreiben mußte. Dagegen führt man allenfalls dafür einen anderen wunderbaren Grund an, nämlich den, daß KANT ein "Idealist" war und deshalb den realen Raum in einen idealen umwandelte. Der eine meint, daß KANT diesen, der andere, daß er jenen Zweck verfolgt hat. Es geht hier genau wie mit den Kantauffassungen, und wunderbar ist es nur, daß man noch nicht darauf verfallen ist, KANT habe möglicherweise viele einander genial widersprechende Probleme vor Augen gehabt.

Zugeben muß man nun doch, daß die Kantforscher so im Allgemeinen allerdings davon eine Ahnung haben, daß es auch das Erkenntnisproblem war, das KANT vor sich hatte, denn sie bezeichnen seine Lehre als "Erkenntnistheorie". Aber jede klare, deutliche, scharfe Vorstellung vom Problem selbst, die Übersicht über seine Bestandteile, über das Verhältnis der Lehre zum Problem fehlt völlig, wie sich auch in ihrer Beurteilung der ersten Entdecker des Problems (CARTESIUS, LOCKE, HUME) zeigt. Wer aber ein Rätselt nicht kennt oder es nur "im Wesentlichen" (4) (d. h. nur teilweise) kennt, der kann auch nicht beurteilen, ob es richtig oder falsch gelöst ist. Untersuchen wir also nunmehr KANTs Grundproblem, das Erkenntnisproblem. Selbst wenn KANTs Lehre nichts taugen sollte, so ist doch das Problem noch einer Untersuchung würdig; denn ein Problem ist keine Bücherweisheit, sondern es liegt in der Natur der Dinge. Man muß es pflegen und aufbewahren. Denn vielleicht findet sich noch ein KOPERNIKUS, dem wir es zur künftigen Lösung überliefern können, - falls nämlich KANT doch die Lösung nicht gelungen sein sollte.
LITERATUR - Ernst Marcus, Das Erkenntnisproblem, Berlin 1919
    Anmerkungen
    1) Napoleon der Erste erhielt von einem ägyptischen Würdenträger die Belehrung, daß im Koran alle Weisheit enthalten ist, die existiert. Auf seine Frage, ob man auch daraus lernen kann, wie das Pulver gemacht wird, erhielt er die Antwort: "Auch das steht da drin, aber man muß ein Schriftgelehrter sein, um es herauslesen zu können." Ganz richtig. Es kommt eben alles auf die richtige Auslegung, auf die "scharfsinnige Auffassung" an.
    2) Die unter vielseitigem Beifall aufgenommenen Grundsätze vom genialen Widerspruch und der Toleranz gehören zwar nur einer besonders hervortretenden Richtung von Forschern an. Aber auch alle Anderen haben jeweils ihre besondere "Kantauffassng" und geben sie ohne zwingenden Beweis als richtig aus. Man hätte sich angesichts so vieler verschiedener Auslegungen neutral halten und die Möglichkeit als ganz selbstverständlich zugeben müssen, daß die schwierige Lehre überhaupt noch nicht verstanden ist. Man hätte das "non liquet" [Es ist nicht klar. - wp] aussprechen müssen. Denn welchen Beweis des mangelnden Verständnisses verlangt man noch, wenn nicht der Umstand den Beweis liefert, daß man sich über die Frage, welchen Inhalt ein Buch hat, allseitig nicht einigen kann?
    3) Warum hat Kant diesen Kern seiner Lehre, sein Fundament versteckt? Hat er etwa selbst nicht gemerkt, was ihm gelungen war? - Das ist ganz ausgeschlossen. Aber ich vermute, daß ihm selbst vor der Größe der Umwälzung, die er vorbrachte, bangte, daß er sich fürchtete, mit einer so gegen die Meinungen aller verstoßenden Lehre als erster mit Ostentation [Hervorhebung - wp] vor die Öffentlichkeit zu treten. Er fürchtete den Lärm; eine Art literarischen Lampenfiebers mag ihn veranlaßt haben, die Größe der Umwälzung durch eine scholastische, trockene Sprache abzuschwächen. Warum wurden die epochemachenden Schriften des Kopernikus erst nach seinem Tod veröffentlich. Wahrscheinlich fürchtete er sich nicht nur vor dem geistlichen, sondern auch vor dem literarischen Inquisitionsgericht, einem Gericht, das, auf inferioren [niederen - wp] Geistern zusammengesetzt, über das Neue mit großem Lärm den Stab zu brechen pflegt. Das ist übrigens - wohlgemerkt - nur eine Vermutung von mir. Ich sage das ausdrücklich, denn in diesem Vortrag befasse ich mich sonst grundsätzlich nicht mit bloßen Vermutungen und unbewiesenen Meinungen.
    4) Ich habe schon früher behauptet, daß man Kant völlig mißverstanden hat, daß er überhaupt von den Kantforschern nicht verstanden wurde. Ein Rezensent meinte, das habe der Verfasser nicht sagen dürfen, denn so viele bedeutende Forscher usw. - Ich dagegen meine, ich habe es sagen müssen. Denn Kants Ausspruch lautet: "Entweder leistet meine Lehre alles oder gar nichts" und meine Folgerung lautet: "Entweder versteht man Kant ganz oder gar nicht"; daß man nämlich einzelne Sätze von ihm, d. h. ihn im "Wesentlichen" versteht, ist wirklich schwer zu vermeiden. Aber auch diese Sätze hat man nicht mal verstanden. Das ergibt sich aus den verkehrten Folgerungen und dem totalen Mißverständnis anderer Sätze. Kants Lehre ist einem großen mathematischen Beweis zu vergleichen, den man entweder ganz oder gar nicht versteht. Meine anstößige und wirklich entsetzlich unbescheidene Behauptung ist also auf Kant selbst zurückzuführen. Auch ist sie nicht viel unbescheidener als die der Kantforscher, die da behaupten, Kant habe selbst von seiner Sache nichts verstanden.