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Das Ding ansich [2/4]
Wie kommt objektivgültige Anschauung zustande? Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß für KANT die psychologische Seite der Anschauung nicht in Betracht kommen darf. Ihm kommt es immer darauf an, erkenntnistheoretisch zu untersuchen, welcher Grad von Gültigkeit der jeweiligen Anschauung zuzuschreiben ist. Wir werden deshalb mit KANT nicht fragen dürfen, "wie in einem denkenden Subjekt überhaupt eine äußere Anschauung, nämlich die des Raumes (eine Erfüllung desselben, Gestalt und Bewegung) möglich ist?" Denn abgesehen davon, daß diese Fragestellung eine psychologisch-genetische wäre, so ist doch nach KANT "auf diese Frage keinem Menschen möglich, eine Antwort zu finden und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals ausfüllen." (1) Wir setzen also diese Fähigkeit anzuschauen voraus und fragen nach der Gültigkeit erstens der reinen, zweitens der empirischen Anschauung. Die erste dieser Fragen bietet nun keine besondere Schwierigkeit. Wir brauchen nur die allgemein bekannte Lehre der transzendentalen Ästhetik in kurzen Worten wiederzugeben. Der Raum und die Zeit sind keine den Dingen selbst inhärierenden Eigenschaften. Räumlich und zeitlich sind die Erfahrungsobjekte deshalb, weil wir so beschaffen sind, daß wir die ansich raum- und zeitlosen Dinge nur so und nicht anders wahrnehmen können. Daraus ergibt sich die Gültigkeit dieser Anschauungsweise, denn alles Äußere muß räumlich und zeitlich, alles Innere zeitlich sein. Die Übereinstimmung der Anschauung mit dem Angeschauten ist aber dadurch gegeben, daß wir es lediglich mit unseren Erscheinungen zu tun haben und nicht zu fragen brauchen, ob sie den Dingen selbst adäquat sind; diese letzteren gehen uns nichts an. Wir fragen nach der Übereinstimmung unserer Begriffe von der Erscheinung mit ihr selbst, nicht mit dem transzendentalen Objekt, das sie hervorruft. Wir bekommen so zwar nur eine "empirische Wahrheit"; aber die formalen Bedingungen dieser Wahrheit beruhen auf einem sicheren Prinzip, nämlich der apriorischen Subjektivität der Anschauungsformen Raum und Zeit. Aus dieser Subjektivität läßt sich nun ferner die Apodiktizität [Gewißheit - wp] derjenigen Wissenschaften erklären, die ihre Elemente in diesen Formen konstruieren (Geometrie durch die Apriorität des Raumes, Arithmetik durch diejenige der Zeit). (2) Es muß jedoch hervorgehoben werden - was oft übersehen worden ist - daß Raum und Zeit allein noch nicht imstande sind, eine fertige Anschauung hervorzubringen. Gleich am Anfang der transzendentalen Ästhetik deutet KANT an, daß Raum und Zeit lediglich das sind, "worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Formen gestellt werden können." (3) Der Raum ist die "Vorstellung einer bloßen Möglichkeit des Beisammenseins". (4) Diese Einschränkung der Bedeutung der Anschauungsformen für die Anschauung, die naturgemäß in der transzendentalen Ästhetik nur angedeutet werden konnte, wird nachher in beiden Deduktionen weiter ausgeführt:
Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der empirischen Anschauung, wenn wir die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen irgendwie ableiten wollen. Die Frage würde dann lauten: Wie ist die Anschauung des Mannigfaltigen möglich? Anschauung überhaupt ist durch die Apriorität von Raum und Zeit ermöglicht worden. Ist aber die bunte, unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in ihren Qualitäten und Formen ebenfalls subjektiven Ursprungs? Dies wird von KANT verneint: Das Mannigfaltige der Anschauungen wird a posteriori gegeben, im Gegensatz zu Raum und Zeit, die apriori gegeben werden. Wie ist aber diese Anschauung möglich? Der Raum, der hier hauptsächlich in Betracht käme, ermöglicht uns nur eine räumliche Anschauung überhaupt, anders ausgedrückt, durch ihn sehen wir die äußeren Dinge räumlich. Vermögen wir aber durch ihn die unendliche Mannigfaltigkeit der räumlichen Gestalten - um von den qualitativen Formen gar nicht zu reden - irgendwie zu begreifen? KANT erwidert darauf: "die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen" kann nicht "aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich begriffen werden"; es müssen bloß "die Erscheinungen, ungeachtet der Verschiedenheit ihrer empirischen Form, dennoch jederzeit den Bedingungen der reinen Form der Sinnlichkeit gemäß sein." (9) Diese Lücke in der Lehre von der empirischen Anschauung, die KANT durch die Unmöglichkeit ihrer Ausfüllung rechtfertigt, ist vielfach angegriffen worden, jedoch nicht immer und vor allem nicht in allen Punkten mit Recht. Wir wollen am Beispiel der Kritik SCHOPENHAUERs untersuchen, in welcher Form dieser Vorwurf berechtigt ist. In seiner Kritik der kantischen Lehre sagt SCHOPENHAUER:
"Nicht bloß wie die reine und nur formale Anschauung a priori, sondern auch wie ihr Gehalt, die empirische Anschauung ins Bewußtsein kommt, hätte nun untersucht werden müssen." (11) Bedingt durch den idealistischen Zug von SCHOPENHAUERs Metaphysik, ist diese Lehre eine Theorie der Intellektualität der empirischen Anschauung. Die Sinnesempfindung als solche ist ein ärmliches Ding, ein lokales, spezifisches, subjektives Gefühl, welches nicht von Anschauung enthalten kann. Diese Empfindung, wenn sie auch später durch einen besonderen Akt des Verstandes als von außen herrührend angesehen wird, unterscheidet sich in nichts von den inneren Empfindungen unseres Leibes. Erst wenn der Verstand in Tätigkeit gerät und sein Gesetz der Kausalität in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor sich: aus den ärmlichen subjektiven Empfindungen wird objektive Anschauung der herrlichen Außenwelt. - So gefaßt, ist diese Lehre nur eine Modifikation der kantischen Theorie der Anschauung. Auch bei KANT ist die Anschauung intellektuell, jedoch in ganz anderer Weise. Es wurde schon oben hervorgehoben, daß auch für KANT Raum und Zeit allein nicht genügen, um Anschauung hervorzubringen. Sie sind das, was macht, daß das Mannigfaltige in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann. Zur Hervorbringung einer Anschauung bedarf es der Spontaneität unseres Verstandes. Der Hauptunterschied besteht jedoch in folgenden zwei Momenten. Für KANT sind es die Kategorien, die das Mannigfaltige verbinden, und erst durch sie kann selbst der Raum als solcher zur Vorstellung werden. SCHOPENHAUER dagegen behauptet, Raum und Zeit seien Kontinua, also ursprünglich gar nicht getrennt. Da sie Formen der Anschauung sind, wird alles, was in ihnen erscheint, schon von Anfang an als Kontinuum auftreten und bedarf keiner Verbindung seitens des Verstandes. Der weitaus wichtigere Unterschied ist jedoch der: bei KANT wird das Mannigfaltige, der stoffliche Gehalt der Anschauung, von einem Ding außerhalb von uns gegeben, der Verstand kann nur die Form schaffen und schaut selbst nichts an. Dagegen muß SCHOPENHAUER gemäß seinem Prinzip: "Kein Objekt ohne Subjekt" alles auf innere Empfindung zurückführen. Die Materialität der Erscheinungen beruth also lediglich auf der Kategorie der Kausalität (der einzigen, die SCHOPENHAUER gelten läßt), da das Wesen der Materie im Wirken besteht, sie also durch und durch Kausalität ist. Auch alle empirischen Eigenschaften der Dinge laufen auf diese Wirksamkeit zurück und sind nur nähere Bestimmungen der Kausalität. Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage baut SCHOPENHAUER im einzelnen seine Theorie der empirischen Anschauung auf und zeigt, wie der Verstand aus dem rohen Stoff der Empfindungen mit Hilfe der apriorischen Formen: Raum, Zeit und Kausalität, die unerschöpflich reiche, vielgestaltete anschauliche Welt zustande bringt. Der objektiven Anschauung dienen eigentlich nur zwei Sinne: das Getast und das Gesicht; die anderen Sinne bleiben subjektiv. Drücke ich mit der Hand gegen den Tisch, so liegt in dieser Empfindung noch nicht die Vorstellungen des Zusammenhangs der Teile dieser Masse. Erst wenn mein Verstand von der Empfindung zur Ursache übergeht, konstruiert er sich einen Körper, der die Eigenschaft der Solidität, Undurchdringlichkeit und Stärke hat. Beim Gesicht ist die Tätigkeit des Verstandes indem er die Empfindung in Anschauung umwandelt, eine viel mannigfaltigere. Der rohe Stoff dieses Sinnes ist eine Empfindung auf der Retina, welche gleich ist dem Anblick einer Palette mit vielerlei bunten Fabren, Klecksen, die sich bei der Einwirkung des Verstandes zu einem reichen Bild umwandeln. Das erste, was der Verstand tut ist, daß er das Bild umkehrt. Sodann macht er das zweifach empfundene (durch jedes Auge besonders Gesehene) zu einem einfachen Bild. Drittens konstruiert er aus bloßen Flächen dreidimensionale Körper. Viertens erkennt er die Entfernung der Objekte vom Auge. Dies alles geschieht nicht durch physiologische Ursachen, sondern auf einem rein intellektuellen Weg und ist das Werk des Verstandes, der mittels der Kausalität die Empfindung auf ihre Ursachen bezieht und auf diese Weise die Anschauung zustande bringt. Es ist unleugbar, daß diese Theorie der empirischen Anschauung tatsächlich eine notwendige Ergänzung der kantischen Lehre von der Anschauung bedeutet. Ob jedoch der von SCHOPENHAUER eingeschlagene Weg der richtige ist, ist eine andere Frage. KANT hatte behauptet, Raum, Zeit und Kategorien sind für die Erscheinungen ordnende Prinzipien. Wie der zu ordnende Stoff vor dem Eingreifen der apriorischen Formen beschaffen sein muß, hat KANT nicht erörtert. Das darzutun hat SCHOPENHAUER unternommen. Nachdem KANT diese Frage offen gelassen hatte, konnte man entweder annehmen, daß das Material bereits vom Ding-ansich in einer gewissen, wenn auch nur intelligiblen, Affinität geliefert wird. Die Formen, die uns zu Gebote stehen, haben dann diese Ordnung nur in eine empirische umzuwandeln. Oder aber es lag nicht fern - und die kantische Erkenntnistheorie drängte es oft geradezu auf - anzunehmen, daß uns der Stoff in einem völlig chaotischen Zustand gegeben wird und daß die Ordnung das ursprüngliche Werk von Raum, Zeit und Kategorien ist. Diese Formen müssen somit schöpferische Prinzipien sein, d. h. sie schaffen überhaupt erst Verhältnisse unter den Erscheinungen und geben ihnen Leben. Mit anderen Worten: die Frage ist: handelt es sich beim Ordnen der Erscheinungen nur um eine Übertragung einer Ordnung in die andere, gleich der Aufgabe eines Bildhauers, der ein Gemälde in eine Marmor-Statue umzuwandeln hat, oder hat es dieser Bildhauer nur mit einem Marmorblock ohne jede Form zu tun, den er schöpferisch gestalten muß? - Daß diese Frage vom strengsten kritischen Standpunkt aus berechtigt ist, unterliegt keinem Zweifel. Denn bei ihrer Beantwortung braucht man nicht an das Ding-ansich heranzutreten, um über seine Eigenschaften etwas vorauszusagen, sondern muß nur die Funktionen der apriorischen Formen genau bestimmen, um zu wissen, was nach Abzug der Wirkung dieser Formen noch übrig bleibt, d. h. wie dann der ungeordnete Stoff beschaffen sein muß. Wir haben es also hier unstreitig mit einer Lücke zu tun und müssen untersuchen, erstens: warum sie KANT offen gelassen hat, zweitens: welche Folgen daraus für das System selbst entstehen. So wünschenswert aber und notwendig eine deutliche Äußerung KANTs über die Beschaffenheit des Stoffes vor dem Eingreifen der apriorischen Formen gewesen wäre, so klar ist es doch andererseits, daß eine solche Theorie, wie sie SCHOPENHAUER aufstellt, von KANT nicht gelehrt werden konnte. Denn was zunächst den Grundgedanken betrifft, so konnte KANT bei dem realistischen Charakter seiner Denkweise unmöglich die Materialität der Erscheinungen auf ein lediglich subjektives Prinzip zurückführen. Zweitens scheint eine Erörterung der besonderen Funktionen unseres Intellekts beim Gestalten der Mannigfaltigkeit überhaupt nicht im Bereich seines wissenschaftlichen Interesses gelegen zu haben. Schließlich war die Ausgestaltung, welche die Theorie bei SCHOPENHAUER erfahren hatte, eine physiologisch-psychologische und gehörte deshalb nicht in eine Kritik der reinen Vernunft. Die Methode der Kritik ist eine transzendentale, wo jede psychologische Untersuchung vermieden werden sollte, weil eine solche nach KANTs Auffassung keine objektive Gültigkeit beanspruchen darf. Er selbst beanspruchte für diejenigen Teile der transzendentalen Deduktion (erste Auflage), die die "subjektiven" oder "psychologischen" Momente enthalten, keine Allgemeingültigkeit. (12) Wäre es möglich, eine transzendentale Deduktion der einzelnen Gestaltungen der Materie und ihrer qualitativen Verschiedenheit zu geben, d. h. wäre unsere Sinnlichkeit so beschaffen, daß, wenn wir uns alle Inhalte wegdächten, dann nicht nur Raum und Zeit, sondern all die unendlich vielen einzelnen Formen und Qualitäten übrig bleiben, so würden wir schließen, daß uns ebenso wie Raum und Zeit, so auch diese Formen a priori gegeben sind, und könnten dann wohl erklären, wie diese Mannigfaltigkeit zustande kommt. Wenn dem aber nicht so ist, so hat KANT zunächst Recht, wenn er lehrt, daß die empirisch und formal bestimmte Mannigfaltigkeit im Gegensatz zu Raum und Zeit von außen gegeben werden muß. Freilich nicht in dem Sinne gegeben, daß wir sie nur rezeptiv zu empfinden hätten. Kein Gegebenwerden ohne tätige Wirkung unserer Spontaneität. Gegeben ist der Stoff, der nur diese bestimmten und keine anderen Formen annehmen kann; aber wir verarbeiten nur das Mannigfaltige, wir produzieren es nicht. Eine transzendentale Deduktion der mannigfaltigen Formen der empirischen Anschauung zu geben, ist somit durch die Natur dieser Formen ausgeschlossen; die Kritik hat deshalb diese Lücke offengelassen; denn sie hat es nur "mit der Erkenntnisart von Gegenständen zu tun, sofern diese a priori möglich sein soll". Es braucht aber kaum bemerkt zu werden, daß Naturphilosophie und Psychologie (für die objektive und subjektive Seite des Problems) die hier offen gelassene Lücke ausfüllen können, ohne daß sie mit der kantischen Lehre in Konflikt zu geraten brauchen. Man kann die Scheidung von Ding-ansich und Erscheinung aufrechterhalten und z. B. mit Hilfe einer mechanischen Naturauffassung und etwa eines Entwicklungsprinzips den objektiven Bestand der mannigfachen Qualitäten und der entstandenen Formen zu erklären suchen; während Psychologie und Physiologie - wiederum in Übereinstimmung mit den kantischen Voraussetzungen - zu beschreiben hätten, wie die Anschauung dieser Mannigfaltigkeit subjektiv zustande kommt. Wir werden also nicht, wie SCHOPENHAUER es tut, KANT zum Vorwurf machen, daß er keine vollständige Theorie der empirischen Anschauung gegeben hat, denn "KANT wollte nur eine Kritik des reinen, nicht eine Theorie des empirischen Verstandes geben". (13) Es ist vielmehr die Frage, ob bei dieser Beschaffenheit der empirischen Formen für das System selbst nicht eine Schwierigkeit entsteht. In der Vorrede zur zweiten Auflage und öfters, besonders aber in der zweiten Deduktion sagt KANT:
Indessen läßt sich auch diese Schwierigkeit bis auf einen Rest lösen. Mit der Konstatierung der Unmöglichkeit, die mannigfaltigen Formen aus der reinen Form abzuleiten, wird die Lehre KANTs von der Revolution der Denkart nicht widerlegt, sondern nur in ihrer Tragweite eingeschränkt. Und das veranlaßt uns, den wahren Sinn der Grundlage seiner Erkenntnistheorie genauer zu bestimmen. Allgemein wurde und wird vielfach noch heute KANTs Lehre dahin verstanden, daß nach ihr ein Wissen überhaupt nur dann möglich ist, wenn sich die Gegenstände nach den Begriffen richten; man glaubte, daß nur dieser eine Weg zur Erkenntnis führt. (17) In Wahrheit gibt es aber für KANT zwei Wege: sowohl wenn die Begriffe die Gegenstände, wie auch wenn die Gegenstände die Begriffe möglich machen, ist Erkenntnis vorhanden. Beides ist möglich, und beides ist der Fall. Nur ist die erste eine Erkenntnis a priori und deshalb objektiv gültig. Die andere ist von der Erfahrung abgeleitet und zufällig. Die Notwendigkeit, die die Verstandesbegriffe bei sich führen, und die besondere, einzigartige Beschaffenheit der Anschauungsformen Raum und Zeit, zwangen KANT zu der Annahme, daß sie a priori, von aller Erfahrung unabhängige Formen sind, und daß ihre Übereinstimmung mit der Erfahrung daher rührt, daß diese Begriffe die Erfahrung allererst möglich machen. Aber neben diesen Prinzipien, die Erfahrung überhaupt ermöglichen, gibt es eine unendliche Fülle von Begriffen und Anschauungen, nämlich der Einzeldinge, die von der Erfahrung abstrahiert sind und deshalb mit ihr übereinstimmen, weil die Gegenstände diese Begriffe möglich machen. In der Vorrede zur zweiten Auflage werden gerade die Wissenschaften, die sich auf empirische Prinzipien gründen, unter anderen die chemischen Experimente STAHLs als diejenigen bezeichnet, die den Heersweg der Wissenschaften getroffen haben. Die Tatsache, daß man bei diesen Fragen auf die Belehrung der Natur angewiesen ist, hindert nicht, die Anwendung der - wenn auch nur empirischen - Prinzipien derart anzustellen, daß man an die Natur herangeht "nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." (18) Daß unsere Auffassung richtig ist, geht ganz deutlich aus dem bekannten Brief an HERZ hervor:
Der Grund der Mißdeutung, als ob KANT nur den einen Weg, auf dem die Begriffe die Gegenstände ermöglichen, als allein Erkenntnis möglich machend anerkannt hätte, liegt auf der Hand. Überall da, wo KANT von seiner kopernikanischen Revolution der Denkart spricht, speziell in der Vorrede zur zweiten Auflage (21), kommt nur dieser eine Weg zum Ausdruck. KANT handelt immer nur von seinen apriorischen Verstandesbegriffen, weil ihm das andere kein Problem ist.
Hierfür läßt sich eine ganze Reihe von Belegen anführen. So sagt KANT, daß empirische Begriffe sich auf empirische Anschauungen gründen; ferner, wir können
Noch deutlicher als aus allen diesen Stellen, geht die Einteilung der Begriffe nach ihrem Ursprung aus folgenden Reflexionen hervor:
"Wir haben zweierlei Arten von Begriffen: solche, die durch die Gegenwart der Sache in uns entstehen können, oder diejenigen, wodurch der Verstand das Verhältnis dieser Begriffe zu den Gesetzen seines eigenen Denkens sich vorstellt. Zu den letzteren gehört der Begriff des Grundes, der Möglichkeit, des Daseins. Daher die Grundsätze über jene objektiv, die über diese subjektiv sind." (28) "Einige Begriffe sind von der Empfindung abstrahiert; andere bloß vom Gesetz des Verstandes, die abstrahierten Begriffe zu vergleichen, zu verbinden oder zu trennen. Der letzteren Ursprung liegt im Verstand, der ersteren im Sinn. Alle Begriffe solcher Art heißen reine Verstandesbegriffe." (29) Zu diesen Vermutungen gibt folgende Äußerung KANTs Anlaß:
"Wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das ... was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori auch ohne wirklichen Gegenstand ... als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüt stattfindet." (32) Die weitere Frage, ob KANT mit diesem Zugeständnis dem Resultat der transzendentalen Ästhetik Abbruch tut, scheint mir, sofern es nur die Gestalt der Erscheinung betrifft, verneinend beantwortet werden zu können. Wir können zwar die besonderen Figuren der Erscheinungen nicht nach unserem Gefallen gestalten, wir müssen vielmehr abwarten, in welcher Weise das von uns völlig unabhängige Ding ansich uns affizieren und die determinierte Figur uns darbieten wird; wir können aber trotzdem von dieser Erscheinung "vieles a priori aussagen", weil die allgemeine Form, nämlich der Raum, in dem allein sie erscheinen kann, eine apriorische subjektive Form ist, somit auch für die besondere Erscheinung seine Eigenschaften bewahrt, sie gleichsam in seine Form hineinzwingt und ihr dieselbe aufdrängt. Infolgedessen wird jede Erscheinung trotz der Besonderheit ihrer Gestalt dieser allgemeinen Form des Raumes entsprechen müssen. Sie wird dreidimensional sein und alle Axiome der Geometrie, die vom Raum überhaupt gelten, werden sich auch an ihr bewahrheiten; und wenn sie derart gestaltet ist, daß ihre Figur sich auf eine mathematische Formel bringen läßt, so werden all die Regeln von ihr ausgesagt werden können, die von einer entsprechend konstruierten Figur der Geometrie gelten. Denn es ist ein und derselbe Raum, mit dem wir in der Geometrie operieren, und in den sich die Erscheinungen kleiden müssen; beide Male ist er nur die Form der äußeren Sinnlichkeit. Ganz anders steht es mit der Frage nach dem Ursprung der Bewegung. Die Beantwortung dieser Frage kann für die KANTs Erkenntnistheorie nicht gleichgültig sein. Die Bewegung der Erscheinungen läßt sich ebenfalls nicht aus der Form des Raumes ableiten, sondern muß auf bestimmende Gründe in den Dingen-ansich zurückgeführt werden, und zwar so, daß für jede Bewegung ein besonders bestimmter "Zustand" - ich muß mich in Ermangelung eines entsprechenderen, dieses phänomorphen Ausdrucks bedienen - im Ding ansich vorauszusetzen sein wird. Abgesehen davon, daß dies bei der Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit der Dinge-ansich nicht gut denkbar ist (was aber schließlich auf die Beschränktheit und Einseitigkeit unseres Erkenntnisvermögens zurückgeführt werden könnte), so taucht doch die Frage auf, wie kommt es, daß die Verhältnisse, die durch diese determinierte Bewegung unter den Erscheinungen geschaffen werden, mit unserer Erkenntnis dieser Verhältnisse übereinstimmen? Hiermit jedoch kommen wir auf das Problem der empirischen Gesetze, das erst bei der Untersuchung der Tragweite der Apriorität der Kategorien erörtert werden kann. Wir wollen also folgendes feststellen:
2. Die Tatsache der Aposteriorität des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung, dem die Gestalt einzuordnen ist, schränkt die Tragweite der "kopernikanischen Drehung" zwar auf ihr richtiges Maß ein, widerlegt sie aber nicht. 3. Das Resultat der transzendentalen Ästhetik wird durch die festgestellte Beschaffenheit des Mannigfaltigen, sofern Empfindung und Gestalt in Betracht kommen, nicht beeinträchtigt. Hingegen bietet der Begriff der Bewegung Schwierigkeiten, die aber die Ästhetik nicht antasten, denn sie gehören zum Problem der Möglichkeit empirischer Gesetze.
1) Kr. d. r. V., A - Seite 393. 2) Ob wirklich durch die bloße Tatsache, daß der allgemeine Raum und die allgemeine Zeit in dem Sinne a priori sind, daß ohne sie gar keine Anschauung möglich wäre, auch diejenige Apriorität, durch welche sie apodiktisch gültige Sätze möglich machen, gesichert ist, soll als zu unserer Frage nicht gehörig, nicht untersucht werden. 3) Kr. d. r. V., Seite 34 4) Kr. d. r. V., A - Seite 374 5) Kr. d. r. V., A - Seite 120 6) vgl. Kr. d. r. V., Seite 136 Anm. und 161 Anm. 7) vgl. Kr. d. r. V., A - Seite 100 8) Kr. d. r. V., A - Seite 120. Man denke hier an die CONDILLAC'sche Fiktion. Daß HOBBES mit seiner Behauptung, daß zur Wahrnehmung Gedächtnis gehört, dieser Entdeckung KANTs keineswegs vorgegriffen hat (vgl. dagegen RIEHL, Kritizismus I, Seite 508 Anm.), geht daraus hervor, daß KANT hier von der produktiven Einbildungskraft redet, HOBBES aber nur die reproduktive des Gedächtnisses gekannt hat. Niemand vor KANT hat es gesehen, daß die Sinne nicht verbinden (auch nicht die sinnlichen Elemente), und darin besteht seine bedeutsame Entdeckung. Man vgl. auch Kr. d. r. V., Seite 152, wo der Unterschied zwischen der produktiven und der reproduktiven Einbildungskraft ganz scharf hervorgehoben ist. 9) Kr. d. r. V., A - Seite 127 10) SCHOPENHAUER, Werke I, Ausgabe GRIESEBACH, Seite 549 11) SCHOPENHAUER, ebd. Seite 551 12) siehe Vorrede 1, III. Vgl. auch RIEHL, a. a. O., Seite 503f 13) SCHOPENHAUER, a. a. O., Seite 446 14) Kr. d. r. V., Seite 166 15) Kr. d. r. V. Seite 120. Vgl. auch Prolegomena § 40 Anfang: "Reine Mathematik und reine Naturwissenschaft hätten zum Zweck ihrer eigenen Sicherheit und Gewißheit keiner derartigen Deduktion bedurft ..." 16) Vorrede 2, Seite XVII 17) Diese Mißdeutung, deren Grund viel tiefer liegen mag als in einer oberflächlichen Interpretation, war einer der bedeutendsten Faktoren zur Ausbildung des nachkantischen Idealismus. 18) Vorrede 2, Seite XIIf 19) Diese Frage ist etwas mißverständlich ausgedrückt und ist nicht identisch mit der Frage nach der "Beziehung auf den Gegenstand" in der Analytik, die erläutert wird durch folgenden Satz: "Wie kommen wir dazu, daß wir ... Vorstellungen, ein Objekt setzen, oder über ihre subjektive Realität ... ihnen noch ... eine objektive beilegen" (Kr. d. r. V. Seite 242). Hier handelt es sich hauptsächlich um die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, die Beziehungsfrage ist zwar darin mit enthalten, sie ist jedoch Nebensache. 20) Brief an Marcus Herz vom 21.2. 1772 21) Vorrede 2, Seite XVIf 22) Prolegomena 23) Daselbst. 24) Werke IV, HARTENSTEIN, Seite 57 25) Kr. d. r. V., Seite 508 26) Kr. d. r. V., Seite 118f 27) Reflexion, a. a. O., Nr. 966 28) Reflexion, a. a. O., Nr. 536 29) Reflexionen, a. a. O., Nr. 513 30) Kr. d. r. V., Seite 217 31) Kr. d. r. V., Seite 124f 32) Kr. d. r. V., Seite 35 33) Man vgl. Reflexion Nr. 658. "Die Figur ist Qualität, darin lassen sich noch Räume unterscheiden." 34) LOTZE, Mikrokosmus, zweite Auflage, Seite 496 35) LOTZE, Metaphysik, zweite Auflage, Seite 202 36) JULIUS BERGMANN, Sein und Erkennen, Seite 91. Man vgl. auch "Geschichte der Philosophie II", Seite 63 37) ERNST LAAS, Idealismus und Positivismus III, Seite 483 |