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Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit [7/7]
III. Aussichten für die Zukunft [Forsetzung] Was wir hier als die Zukunft unserer deutschen Philosophie bezeichnet haben, läßt sich leicht als die Richtung der ganzen neueren intellektuellen Kultur darlegen. Schon seit BACO strebt dieselbe, zwar mit manchen Unterbrechungen und Rückschritten, aber doch unaufhaltsam, zwei erhabenen Zielpunkten zu. Zuerst der Antiquierung, zwar nicht der Metaphysik, aber der metaphysischen Methode, d. h. der Methode, welche aus bloßem abstrakten Denken oder aus selbstgebildeten Dichtungen eine Erkenntnis des Wirklichen erklügeln will. Erfahrung, innere und äußere, sind die einzig gültigen Grundlagen jeder wahren Wissenschaft; und selbst die Wissenschaft von den Gründen der Natur, die Meta physik, darf, wenn sie nicht mit Hirngespinsten träumen, sondern wahre Wissenschaft sein will, keine andere Grundlage erhalten, als die innere Erfahrung. (1) Das Streben nach ausschließenden Prinzipien, welche nicht anders sein können (d. h. nach den Machtsprüchen der Systemstifter) ist ganz aufzugeben und dafür vollständig darzulegen, was wirklich ist; ein demütiger Schüler der geistigen Natur soll der Philosoph ebenso, wie der Naturforscher ein Schüler der äußeren Natur, werden, statt dieselbe aus selbsterdachter Weisheit herauskonstruieren zu wollen. War in den nächstvergangenen Jahrzehnten die Wahrheit das Letzte, wonach man fragte bei einem philosophischen System, so ist dieses Verhältnis umzukehren: vor allem anderen muß zuerst nach der Wahrheit oder nach der Übereinstimmung mit dem wirklich Gegebenen, gefragt werden und ohne diese kein Scharfsinn, kein Witz, keine Phantasie ein Stimmrecht erhalten bei der philosophischen Erkenntnis. Kein vermittelnder Vertrag ist zulässig mit der sogenannten philosophischen Spekulation; dieselbe muß ganz und gar ausgetrieben werden, wo es wahre Wissenschaft gilt. Allerdings wird es hierzu in Deutschland noch eines schweren Kampfes bedürfen; aber gewiß wird zuletzt die jetzt unterdrückte Erfahrungs philosophie den Sieg davon tragen. KANTs Philosophie war, ihrem tiefsten Grund nach, ein kräftiger Anlauf hierzu, der nur mißglücken mußte, weil die alte Methode noch zu übermächtig war in Deutschland, als daß selbst ein so erhabener, selbständiger Geist, wie KANT, sich davon hätte ganz losmachen können. Aber wir sind seitdem ein halbes Jahrhundert älter geworden; wir haben das Unwesen der Spekulation in den abschreckendsten Gestalten vor uns aufsteigen seheh; und so kann es nicht mehr lange währen: der Kantianismus in seiner vollen Reinheit wird über die metaphysische Methode triumphieren. Nur die wahre kantische Lehre also ist es, was uns die Zukunft bringen wird, geläutert von ihren Schlacken und befreit von ihren entstellenden Hüllen; KANTs Lehre, nicht seinem Buchstaben nach, wo er freilich zwei entgegengesetzte Sprachen redet, sondern seinem Geist nach; KANTs Lehre, welche zugleich die Lehre aller klaren philosophischen Denker bei allen gebildeten Völkern ist. Das zweite, nahe damit zusammenliegene Ziel, zu welchem wir ebenfalls die ganze neuere Philosophie, von ihrem ersten Aufblicken an bis auf unsere Zeiten, trotz aller Hemmungen und vorübergehenden Abschweifungen, unveränderlich hinstreben sehen, ist: die Psychologie und zwar eine, mit Ausschließung aller materialistischen oder metaphysischen Beimischungen, rein auf unser Selbstbewußtsein begründete Psychologie zum Mittelpunkt zu machen für die gesamte Philosophie: zur Sonne, von welcher alle übrigen philosophischen Wissenschaften ihr Licht empfangen. Nur auf diese Weise ist wahre Einheit und Ordnung, nur auf diese Weise Allgemeingültigkeit für die Philosophie zu erringen. Alle philosophischen Begriffe sind ja Erzeugnisse der menschlichen Seele; und nur durch die Erkenntnis der Art und Weise also, wie sie entstanden sind in dieser, können sie ihre höchste Klarheit erhalten. Wie das schon DESCARTES aussprach, indem der das "Ich denke" als an Evidenz alles Übrige bei Weitem übertreffend, zum Ausgangspunkt machte für alle menschliche Erkenntnis, so ist dies von LOCKE und von allen späteren englischen Philosophen, so von LEIBNIZ (welcher ja die Grundkräfte aller Monaden der menschlichen Vorstellungskraft ähnlich denkt), so von CONDILLAC, so dem tiefsten Grunde nach auch von KANT ausgesprochen worden. Das Logisch-Richtige und Unrichtige, das Schöne und das Häßliche, das Sittliche und das Unsittliche, das Recht und das Unrecht (2) und was sonst noch Problem der Philosophie werden kann, sind nur verschiedene psychische Bildungsformen; und mit der vollkommen klaren Erkenntnis der in allen Menschen gleichen Form und Entstehungsweise dieser Bildungen werden wir auch eine vollkommen klare und allgemein -gültige Erkenntnis für die Logik, die Ästhetik, die Moral, die Rechtsphilosophie gewonnen haben; ja selbst die inneren Kräfte und Gründe der Außendinge, so weit wir dieselben überhaupt zu erkennen imstande sind, vermögen wir nur in Analogie mit unserem eigenen Seelensein zu erkennen, als dem einzigen Sein, welches wir überhaupt in seiner vollen Wahrheit und Innerlichkeit aufzufassen imstande sind. Die gesamte übrige Philosophie also ist nichts anderes, als eine angewandte Psychologie. Eine aufmerksame Vergleichung der im letzten Jahrzehnt bei den übrigen gebildeten Völkern Europas erschienenen philosophischen Schriften zeigt uns, daß, wie verschieden auch sonst ihre Ansichten sein mögen, doch diese beiden Wahrheiten in der Tat allgemein anerkannt sind.
"Die Erkenntnis der menschlichen Seele bildet das notwendige Prinzip, den Mittelpunkt und das natürliche Band aller moralischen Wissenschaften. Von der Psychologie aus verbreitet sich Licht und Gewißheit auf alle Wahrheiten der moralischen Erkenntnis. Will man also wahrhaft wissenschaftliche Entscheidungen über die dem menschlichen Geschlecht als Aufgabe vorliegenden erhabenen Probleme gewinnen, so muß man vor allem die Psychologie klar und sicher begründen; sonst würde man der rechten Klarheit und Sicherheit entbehren und die trefflichsten Versuche zur Lösung jener Probleme zu nichts weiter, als zu beschränkten und mangelhaften Hypothesen führen können." Auf gleiche Weise entscheidet sich der Neapolitaner GALUPPI, der ausgezeichnetste unter den italienischen Philosophen der letzten Jahrzehnte. Die Philosophie ist nach ihm nicht als objektive Wissenschaft, als Wissenschaft des Seienden, sondern als subjektive Wissenschaft zu behandeln: als Wissenschaft vom Menschen, als Wissenschaft von unseren Erkenntnismitteln. Die Metaphysik ist, ihrem tiefsten Glauben nach, Ideologie oder Wissenschaft von den Kräften unseres Geistes und von unseren Ideen. Vor allem anderen also muß die Entstehungsweise dieser letzteren nachgewiesen werden; dann erst kann eine gründliche Beurteilung der Realität unserer Erkenntnisse folgen: Das Zeugnis unseres Bewußtseins ist die tiefste Grundlage allen Wissens im Menschen; und auch die praktische Philosophie, die Wissenschaft vom Willen des Menschen, kann nur als ein Teil der Psychologie ihre wahre Begründung erhalten. (5) Eben diese Ansicht finden wir bei den ganz unabhängig hiervon sich entwickelnden Forschern des oberen Italiens wieder. Nach ROMAGNOSI bedürfen die Moral, die Gesetzgebung, die Politik, kurz alle philosophischen Wissenschaften, als der ersten Grundbedingung ihrer Existenz, einer guten Psychologie, einer Dynamik des inneren Menschen; und die Unkenntnis dieser Dynamik ist das verderblichste von allem, was die Völker in ihrer Entwicklung beengt und aufhält. Auch eine gesunde Metaphysik kann nur durch die Beobachtung, Zusammenfassung und Verarbeitung des Besonderen erworben werden.
Wie aber, wenn wir nun in diese besonnene Richtung des philosophischen Forschens eingelenkt sind: werden nicht vielleicht innerhalb ihrer die Verschiedenheit und der Wechsel der Ansichten ins Unendliche fortgehen? - Wie der Mensch auch die niederdrückenste Lage, wenn einmal die Errettung aus derselben unmöglich ist oder doch von ihm für unmöglich gehalten wird, nicht nur ertragen, sondern gewissermaßen auch lieb gewinnen und sich in ihr wohlbefinden lernt: so hat man sich bei uns an diesen unseligen Wechsel der Systeme in dem Maße gewöhnt, daß man die Meinung, derselbe könne jemals aufhören, als widersinnig und unnatürlich zu betrachten pflegt. Jede philosophische Erkenntnis, sagt man, habe Wahrheit für ihr Volk und ihre Zeit; in dieser Beziehung könnten geradezu entgegengesetzte Behauptungen in gleichem Maße wahr sein; über diese Wahrheit hinaus aber gebe es nun auch keine höhere und eine für alle Zeiten und Völker unveränderlich gleiche Wahrheit sei ein Hirngespinst. Eine erhabene Wissenschaft der Wissenschaften, die Philosophie, für welche keine volle Wahrheit möglich wäre; die es ruhig über sich ergehen lassen müßte, daß, was sie aus für alle Zukunft gültigen Prinzipien für alle Zukunft unerschütterlich gewiß erwiesen zu haben meinte, nach einem halben Jahrzehnt wieder zur Seite geschoben und mit seinem direkten Gegenteil vertauscht würde, welches nun wieder das für alle Zukunft unerschütterlich Gewisse zu sein sich brüstete und dann wieder ebenso einem anderen weichen müßte! - Nein, eine solche Wahrheit ist gar keine Wahrheit. Die Wissenschaft der Wissenschaften muß wenigstens das erreichen können, was für die gemeinste unter den Wissenschaften ohne Ausnahme gefordert wird: daß, was sie bejaht, nicht mit eben dem Recht verneint werden könne. Solange dies noch nicht für sie erlangt worden ist, haben wir auch überhaupt noch keine Philosophie: dieselbe ist noch nicht, sondern sie wird erst. Ist sie geworden, so wird auch für alle Zukunft dasjenige in ihr wahr bleiben, was einmal in ihr wahr ist; und sie wird in ebenso stetigem Fortschritt, wie die Mathematik und die Naturwissenschaften, von einem Geschlecht dem anderen übergeben werden. Aber würde hiermit nicht das höchste Leben des menschlichen Geistes in einen gefährlichen Stillstand geraten, der uns mit einem gänzlichen Ersterben desselben bedrohte? - Man unterscheide wohl: wir behaupten keineswegs, die Philosophie könne jemals vollendet werden, so daß dem menschlichen Geist nichts mehr zu erforschen und zu ergründen übrig bliebe. Ebensowenig, wie dies bei der Mathematik und den Naturwissenschaften jemals zu befürchten oder zu erwarten ist. Die Philosophie muß und wird ins Unendlich fortschreiten; aber es muß und wird auch hier, wie dort, eine gewisse, stets wachsende Grundlage von Erkenntnissen gewonnen werden, deren Gewißheit so klar und sicher festgestellt ist, daß kein einsichtsvoller und denkender Mensch mehr daran zweifeln wird und daß man mit vollem Vertrauen und Gelingen auf dieselbe sich wird stützen können für die Gestaltung des eigenen und des fremden Seelenlebens. Man wird nicht mehr einwenden, einer solchen festen Grundlage seien nur die Erfahrungs wissenschaften fähig, die man von jeher mit der Philosophie in Gegensatz gestellt habe. Denn das ist es eben, was wir wollen und was der Fortschritt unserer ganzen intellektuellen Kultur will und trotz aller Hindernisse herbeiführen wird, daß die Philosophie ebenfalls Erfahrungs wissenschaft werde: nicht Wissenschaft der äußeren Erfahrung, welche sie nur insoweit in ihren Bereich zu ziehen hat, als dieselbe entweder offenbarend ist für das innere Leben anderer Menschen oder als sie dieselbe kennen muß, um ihr die höchste Aufklärung zu geben von unserem eigenen geistigen Lebens aus, von welchem aus diese allein möglich ist; sondern Wissenschaft der inneren Erfahrung; aber eben so genau sich dieser anschließend, eben so treu sie verarbeitend und jeder fremdartigen Erdichtung sich entschlagend, wie die Naturwissenschaften in Hinsicht der äußeren Natur. Um hierüber klar zu sehen, halte man noch zweierlei scharf auseinander. Das Übersinnliche (dies wird sich als bleibender Gewinn von KANTs kritischem Unternehmen stets von neuem bestätigen) ist für das menschliche Erkennen unerreichbar. Nur im Glauben und Ahnen vermögen wir uns demselben zu nähern; Glaube und Ahnung aber lassen sich nicht in fest begrenzte Formeln spannen und fesseln und in Bezug darauf also ist keine allgemeingültige und allgemeingeltende Theorie, keine volle Einstimmigkeit der Ansichten in irgendeinem Entwicklungspunkt des menschlichen Erkennens zu erwarten. Die religiösen Ideen werden, den Verschiedenheiten der subjektiven Auffassungsweise und der subjektiven Bedürfnisse gemäß, in alle Zukunft hin auf mannigfache Weise begründet werden können und wirklich begründet werden können und wirklich begründet werden; und jede Philosophie ist eine einseitige und beschränkte, welche eine dieser individuellen Begründungsweisen fälschlich als allgemein behaupten und die übrigen leugnen will. Auch KANT hat sich dieses Fehlers schuldig gemacht in seiner Theorie des moralischen Glaubens, wenn er sich auch auf der anderen Seite auch dadurch ein unschätzbares Verdienst erworben hat, daß er eine von der Wissenschaft bisher unbeachtete Begründungsweise des Glaubens an Gott und die Unsterblichkeit hervorgehoben und die Idee Gottes in die engste Verbindung gesetzt hat mit dem Edelsten und Höchsten im menschlichen Geiste, mit dessen moralischen Bedürfnissen. Hier also ist für die allseitig umfassende Wissenschaft nur die Aufgabe gestellt, die verschiedenen Wege, auf welchen der Mensch zum Glauben an Gott und die Unsterblichkeit geführt werden kann, in treuer Beobachtung und den allgemeinsten Richtungen nach erschöpfend, darzulegen und aufzuklären. Die Religionsphilosohie, als Wissenschaft, kann weniger Philosophie über die Gegenstände der Religion sein, als Philosophie über das, unabhängig von der Philosophie entwickelte, religiöse Bewußtsein. Dagegen alle Gegenstände der inneren Erfahrung, d. h. nicht nur, was unmittelbar dem Selbstbewußtsein vorliegt von den Entwicklungen unserer Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen, sondern auch, was mit dem ihm Vorliegenden als Problem in Verbindung gesetzt und aus demselben bestimmt werden kann, wie die innere Grundlage der Seele, die Art und das Maß der Freiheit des menschlichen Willens, die Norm des Sittlichen, des Rechts usw., allerdings einer allgemeingültigen Erkenntnis fähig sind und früher oder später gewiß in einer solchen werden aufgefaßt und dargelegt werden. Wie viel größer auch die Schwierigkeiten für die Beobachtung und wissenschaftliche Verarbeitung hier sein mögen, als bei der Erkenntnis der äußeren Natur: so ist doch auf der anderen Seite die menschliche Seele von allem Existierenden das Einzige, welches ohne fremdartige Vermittlung in seiner vollen Wahrheit, in seiner Innerlichkeit von uns erkannt werden kann. Die menschliche Seele ist uns also durch unsere ganze Stellung in der Welt als der Mittelpunkt gegeben für die Anknüpfung und Würdigung alles übrigen und wenn überhaupt für irgendeine Erkenntnis, unstreitig für diese eine vollkommene Wahrheit zu erreichen. Oder warum sollte die Beobachtung unseres Selbstbewußtseins, warum sollten die Analysis desselben und die auf diese gegründete Synthesis, welche wir oben als die Grundaufgaben der Philosophie bezeichnet haben, nicht mit voller Klarheit und Bestimmtheit, nicht allgemeingültig und mit so zwingender Evidenz, daß sie sich für jeden, eines tieferen Denkens fähigen Menschen wirklich als solche geltend machten, zustande gebracht werden können? Allerdings ist dasjenige, was man bisher als empirische Psychologie gegeben hat, nicht von dieser Art; und wir werden dazu einer psychologischen Methode bedürfen, welche den bisher üblichen ungenauen und oberflächlichen Methoden so weit überlegen ist, wie den früher bei den Naturwissenschaft angewandten die Methoden, nach welchen wir jetzt dieselben bearbeitet sehen. Aber wenn für diese letzteren eine solche Umwandlung der wissenschaftlichen Bearbeitung hat ins Werk gesetzt werden können: warum sollte das für die Psychologie nicht möglich sein? (9) Daß von einer solchen Umwandlung der Methode der günstigste Erfolg für die Wissenschaft von der menschlichen Seele zu erwarten sei, findet sich ebenfalls bei den ausgezeichnetsten psychologischen Forschern als fest begründete Überzeugung.
"Eine aufmerksame Prüfung der Tatsachen unseres Bewußtseins (weissagt ein ausgezeichneter Denker der schottischen Schule) wird einst zur Erkenntnis der allgemeinsten Grundgesetze der psychischen Entwicklung führen und sich so eine Wissenschaft von dieser bilden, welche der Wissenschaft vom Leiblichen in nichts nachstehen wird." (11) "Man kann freilich nicht leugnen (heißt es beim Stifter eben dieser Schule), daß, obgleich der menschliche Geist uns von allen Gegenständen am nächsten liegt und daher am meisten in unserem Bereich scheint, es dennoch sehr schwierig ist, die Tätigkeiten desselben klar und bestimmt aufzufassen; und aus diesem Grund gibt es keinen Zweig des Wissens, in welchem selbst talentvolle Forscher in so große Irrtümer und sogar Ungereimtheiten verfallen wären. Diese Irrtümer und Ungereimtheiten nun haben ein allgemeines Vorurteil gegen alle Untersuchungen dieser Art begründet; und daraus, daß ausgezeichnete Denker, viele Menschenalter hindurch, verschiedene, ja widersprechende Behauptungen über die Kräfte unseres Geistes aufgestellt haben, will man den Schluß ziehen, daß alle Meinungen über dieselben nichts als Chimären und Einbildungen seien. Aber welchen Einfluß auch dieses Vorurteil auf oberflächliche Denker ausüben möge: der tiefer Dringende wird sich nicht durch dasselbe irre führen lassen. Vor zweihundert Jahren waren die Meinungen in den Naturwissenschaften eben so mannigfaltig und widersprechend, als sie jetzt in Hinsicht der Geisteskräfte sind. GALILEI, TORICELLI, KEPLER, BACO und NEWTON hatten die gleichen abschreckenden Verhältnisse vor sich bei ihren Versuchen, die äußere Natur zu erklären, wie wir in Hinsicht der geistigen. Hätten sie sich zurückschrecken lassen durch solche Vorurteile, so würden wir uns nicht der wohltätigen Folgen der Entdeckungen freuen, welche das menschliche Geschlecht ehren und ihren Namen unsterblich machen werden." (12)
1) Auf dieser Grundlage habe ich dieselbe begründet in er ersten Abteilung meiner Schrift über "das Verhältnis von Seele und Leib" (Göttingen 1826). 2) Am vollständigsten und klarsten habe ich das in Hinsicht der praktischen Philosophie überhaupt ausgeführt: in meinen "Psychologischen Skizzen", Bd. II, Seite 374f und in Hinsicht der Rechtslehre insbesondere in meiner Bearbeitung von BENTHAMs "Grundsätzen der Zivil- und Kriminalgesetzgebung", Bd. I, Seite XIXf und Seite 56 -72 3) M. TH. DAMIRON, Essai sur l'histoire de la philosophie en France au dix-neuviéme siécle, Seconde Edition, 1828, Tome II, Seiten 240 und 302 4) VICTOR COUSIN, Fragmens philosophiques, Paris 1826, Seite VI,VII, XV 5) PASQUALE GALUPPI, da Tropea, Messina 1827, Seite 8 - Elimenti di filosofia, Messina 1821 - 27, Tomo III, Seite 2 und 111; Tomo IV, Seite 3; Tomo V, Seite 1 6) GIAN DOMENICO ROMAGNOSI, Che cosa è la mente sana?, Milano 1827, Seite 6 und 10. - Della suprema economia dell' umano sapere in relazione alla mente sana, Milano 1828, Seite 98 7) JOHN ABERCROMBIE, Inquiries concerning the intellectual powers and the investigation of truth, Edinburg 1830, Seite 1, 24 und 403 8) CHARLES VICTOR de BONSTETTEN, Etudes de l'homme ou recherches sur les facultes de sentir et de penser, Genf 1821, Tome I, Seite 45, 48 und 57 9) Man findet diese Umwandlung der Methode für die Bearbeitung der Psychologie näher charakterisiert im zweiten Band meiner "Psychologischen Skizzen", besonders Seite 20 - 30. - Neue Probleme sind es vorzüglich und eine bei weitem bestimmtere und schärfere Auffassung der älteren Probleme, worauf es ankommt; um die Lösung derselben braucht man nicht bange zu sein. Dazu liegen überall die Materialien so viele vor, daß wir uns nur um uns zu schauen und zuzugreifen brauchen und wir werden einen solchen Reichtum derselben finden, daß auch das tätigste Leben zu ihrer Verarbeitung nicht ausreichen möchte. Allerdings darf man aber hierbei nicht so saumselig verfahren wie bisher, sondern, dem Botaniker gleich, muß auch der Psychologe unermüdlich sammeln, vergleichen, ordnen, zerglieder usw., um zu einem klaren Überblick und zu einer tiefer gehenden Erklärung der Tatsachen zu gelangen. 10) JOUFFROY in der Vorrede zu seiner Übersetzung von STEWARTs Moralphilosophie (1826) 11) DUGALD STEWART, Outlines of moral philosophy, Edinburg 1818, Seite 7 12) THOMAS REID, Essays on the powers of the human mind, Edinburg 1812, Bd. I, Vorrede Seite X. |