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JOHANN AUGUST EBERHARD
Prüfung des kantischen Beweises
von der bloßen Subjektivität der Kategorien


"Niemand war auf seine Entdeckungen weniger stolz und vergrößerte sie weniger, als Leibniz. Wenn man ihm über eine neue Idee in der Philosophie ein Kompliment machte, so führte er oft den alten oder neuen Schriftsteller an, aus dem er sie genommen hatte, oder durch den er darauf geleitet worden war. Beim Satz vom zureichenden Grund glaubte er so wenig eine neue Entdecktung gemacht zu haben, daß er ausdrücklich sagt, daß er durch die Art zu schließen, deren sich Archimedes bei der Lehre vom Gleichgewicht bedient, darauf gebracht worden ist."

Die kantische Behauptung, daß "die Kategorien, oder, wie sie auch genannt werden, die reinen Verstandesbegriffe bloß subjektive Bestimmungen unseres Gemüts sind und nur insofern objektive Gültigkeit haben, als durch sie allein Erfahrung möglich ist", ist von so wichtigen Folgen durch die ganze Philosophie, daß davon billig der schärfste Beweis gefordert wird. Die LEIBNIZ-WOLFFische und man darf wohl sagen, jede andere nicht skeptische Philosophie hat bisher die Objektivität dieser allgemeinen Begriffe und der darauf beruhenden allgemeinen Grundsätze des menschlichen Verstandes anerkannt. Die Philosophie hat also, in Anbetracht derselben, zumindest eine Art von Besitzstand für sich: wer sie daraus vertreiben will, muß nicht nur zeigen, daß sie keine hinlänglichen Gründe hat, eine solche Objektivität anzunehmen (denn so bliebe die Sache doch noch zweifelhaft); sondern er muß beweisen, daß diese Objektivität nicht stattfindet, und nicht stattfinden kann, und daß unsere allgemeinen Begriffe und Grundsätze bloß subjektiv sind. - Das hat auch Herr KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" zu leisten gesucht; und seinen Beweis davon wollen wir nun prüfen.
    "Die Sinnlichkeit " (sagt er) "liefert uns Anschauungen: aber diese Anschauungen würden blinde, gedankenlose Anschauungen sein, wenn nicht der Verstand sie denkt, d. h. das Mannigfaltige derselben in Begriffe zusammengefaßt und darüber urteilt. Es muß also gewisse Formen des Denkens geben, die es möglich machen, daß wir das Mannigfaltige unserer Vorstellungen in gewissen Verhältnissen geordnet denken und urteilen können. Diese Denkformen, diese ursprünglichen Begriffe sind die Kategorien, die durch die Untersuchung der Urteile gefunden und aufgezählt werden können. Die Kategorien sind also bloß subjektive Bestimmungen des Gemüts und haben nur insofern objektive Gültigkeit, als durch sie alle Erfahrung erst möglich ist."
Es ist offenbar, daß dieser ganze Beweis auf der Voraussetzung beruth, daß das von der Sinnlichkeit gelieferte Mannigfaltige ohne alle Verbindung und Ordnung ist, indem es erst vom Verstand zusammengefaßt und in gewisse Verhältnisse geordnet werden muß. Nun ist aber dieses (gelinde gesagt) eine willkürliche Voraussetzung, die sich durch nichts beweisen läßt; denn woher in aller Welt will man wissen, daß der von der Sinnlichkeit gelieferte Stoff etwas chaotisches ist? - Also liegt dem kantischen Beweis für einen so wichtigen Satz, dergleichen die bloße Subjektivität der allgemeinen Verstandesbegriffe und Grundsätze ist, eine bloß willkürliche Voraussetzung zugrunde. - Zwar weiß ich wohl, daß Herr KANT vor der Synthesis der Begriffe eine Synthesis in der Anschauung und in der Einbildung vorhergehen läßt. Allein da er selbst bei der Synthesis der Anschauung ein bloßes Mannigfaltiges voraussetzt, welches gleichfalls erst durch die ursprünglichen Formen der Anschauung verknüpft werden muß; so sind, nach seiner Philosophie, alle Data der Sinnlichkeit am Ende ein bloßes Mannigfaltiges, worin keine Verbindung, kein Verhältnis und keine Ordnung angetroffen wird.

Nun kann immerhin zugegeben werden, daß das, was uns von der Sinnlichkeit geliefert wird, etwas Mannigfaltiges ist, wiewohl man die kantische Philosophie auch zum Beweis dieses Satzes aufzufordern berechtigt wäre (1). Aber mit welchem Grund will man behaupten, daß dieses Mannigfaltige ohne alle regelmäßige Verbindung, ohne alle Ordnung ist, und daß ihm die Ordnung erst von unserem Verstand und von diesem allein mitgeteilt wird? Durch den Begriff des Denkens, welches im Zusammenfassen des Mannigfaltigen in die Einheit der Apperzeption bestehen soll, geschieht der Sache kein Genüge; denn man kann diesem Begiff den Vorwurf machen, daß in denselben schon hineingelegt wird, was in der Folge bewiesen werden soll: ein Vorwurf, der besonders diejenigen trifft, die so sehr gegen den Mißbrauch der Definitionen eifern. Wie? wenn uns von der Sinnlichkeit alles schon in der gehörigen Verknüpfung und Ordnung geliefert und diese Ordnung von der Spontaneität des Gemüts nur entwickelt und wahrgenommen würde? Die Spontaneität wäre immer nötig, aber bloß umd das Allgemeine, Notwendige und Objektive aus den sinnlichen, mit subjektiven Zusätzen vermischten Anschauungen herauszuziehen, und ihm das Gepräge des Bewußtseins aufzudrücken. Dies ist doch immer eine mögliche Vorstellungsart, die man einer anderen willkürlichen entgegensetzen kann. Liegen doch so viele Vorstellungen und Urteile im Abgrund unserer Seele, denen es nicht an der Synthesis (von welcher wir wissen, daß sie zustande gebracht ist), sondern bloß an der Wahrnehmung fehlt, mit der sie auch bei Gelegenheit wieder hervortreten.

In der Tat ist es gar nicht ungereimt anzunehmen, daß die Kategorien und die allgemeinsten Verstandesgesetze zwar in der menschlichen Seele a priori verborgen liegen, daß sie aber mit den objektiven Dingen-ansich auf die Seele, erweckt und zu Bewußtsein gebracht werden. Nach dieser Vorstellungsart wäre sie nicht bloß subjektiv, sondern zugleich objektiv, und man käme auf ein Resultat, das vom kantischen ganz verschieden ist. Ich rede aber hier von der Vernunftkritik; denn neuere Behauptungen des Herrn KANT trennen das Subjektive nicht mehr so sehr vom Objektiven. So heißt es z. B. in Herrn KANTs neuer Entdeckung (Seite 56):
    "Die Gegenstände, als Dinge-ansich, geben den Stoff zu empirischen Anschauungen."
Geben die Dinge-ansich den Stoff zu den empirischen Anschauungen; so kann ja dieser Stoff schon eine gewisse Form und Verbindung haben, oder doch gewisse Formen enthalten. Diese können mit den im Gemüt a priori liegenden Formen koinzidieren [übereintreffen - wp] und dann vom Verstand aus der Masse der sinnlichen Vorstellungen herausgezogen und mit Bewußtsein wahrgenommen werden.

Sind die Kategorien und die allgemeinsten Grundsätze auf solche Art einmal entwickelt und wahrgenommen; so kann der Verstand einen Gebrauch davon machen, der ihm vorher, da sie noch in ihren Keimen lagen, versagt war. Er darf es nun wagen, mit diesen Grundsätzen nicht nur das Feld der Erfahrung zu betreten, sondern sich selbst in die übersinnlichen Regionen aufzuschwingen. Er trägt alsdann nicht seine bloß subjektiven Gesetze auf die Dinge-ansich über; er macht nicht erst die Natur, sondern er entdeckt sie; er schreibt ihr nicht seine Gesetze vor, sondern er lernt die Gesetze seiner und der ganzen Natur kennen, weil er überzeugt ist, daß das, was er durch seine notwendigen und allgemeinen Gesetze herausbringt, auch in der objektiven Natur gegründet und damit übereinstimmend ist.

Herr KANT schließt aus der Allgemeinheit und Notwendigkeit der höchsten Grundsätze des Verstandes, daß sie a priori und rein von aller Erfahrung im Gemüt vorhanden sein müssen. Gut: allein, daß sie bloß subjektive Bestimmungen des Gemüts sind, das folgt so wenig daraus, daß man mit weit mehr Grund schließen kann, sie seien zugleich in den Dingen-ansich, und im Verstand überhaupt gegründet, so daß sich gar kein Verstand ohne solche Grundsätze denken läßt.

Auf diese Art entsteht zwischen dem ursprünglich Subjektiven in der menschlichen Seele, und dem Objektiven außerhalb von ihr, eine Harmonie, welche anzunehmen für den gemeinen Menschenverstand Bedürfnis ist, und die ebensogut ein Postulat der reinen Vernunft genannt werden könnte, als mancher andere Satz, der in der kantischen Philosophie dafür ausgegeben wird.

Daß übrigens die Philosophie des LEIBNIZ die Objektivität der Kategorien und transzendentale Gültigkeit der höchsten Verstandesgrundsätze annimmt, daran wird wohl niemand zweifeln, der diese Philosophie und den Geist derselben kennt. Da jedoch Herr KANT in seiner "nouveaux essais" usw. LEIBNIZ in Anbetracht dieses Punktes, mit sich übereinstimmend findet; so muß ich hierüber noch einige Bemerkungen machen.

Herr KANT sagt nämlich in der angeführten Schrift (Seite 119/120)
    "daß es gar nicht glaublich ist, daß Leibniz seinen Satz des zureichenden Grundes objektiv habe verstanden wissen wollen, indem er eine große Wichtigkeit in demselben, als Zusatz zur bisherigen Philosophie setzte. Er ist ja so allgemein bekannt, und (unter gehörigen Einschränkungen) so augenscheinlich klar, daß auch der schlechteste Kopf damit keine neue Entdeckung gemacht zu haben glauben kann. - Dieser Grundsatz ist Leibniz bloß ein subjektives, auf eine Kritik der Vernunft bezogenes Prinzip gewesen. Er habe damit bloß andeuten wollen, daß über den Satz des Widerspruchs (als das Prinzipium analytischer Urteile) noch ein anderes Prinzip (das der synthetischen Urteile) hinzukommen muß. Dieses ist allerdings eine neue und bemerkenswürdige Hinweisung auf Untersuchungen gewesen, die in der Metaphysik noch anzustellen wären, und die auch seit kurzem angestellt worden sind, usw."
Diese Stelle enthält mehrere, mit dialektischer Kunst ineinander verwobene Sätze, die wir trennen müssen, damit nicht einer mit dem andern durchschlüpft:
    1) Leibniz hat mit dem Satz des zureichenden Grundes keine neue Entdeckung zu machen geglaubt; eine Behauptung wodurch man ihn dem Gespött aussetzt (Seite 121)

    2) Leibniz hat im Satz des Grundes als Zusatz der bisherigen Philosophie, keine große Wichtigkeit gesetzt.

    3) Leibniz hat dem Satz vom Grund keine Objektivität beigelegt, sondern dadurch bloß angedeutet, daß außer dem Satz des Widerspruchs noch ein Prinzip für die synthetischen Sätze zu finden übrig ist.

    4) Dieses Prinzipium ist nun (durch die "Kritik der reinen Vernunft") gefunden und somit Leibniz' Forderung erfüllt worden.
Was nun den ersten Satz betrifft, so kann man einen solchen wohl zugeben. Niemand war auf seine Entdeckungen weniger stolz und vergrößerte sie weniger, als LEIBNIZ. Wenn man ihm über eine neue Idee in der Philosophie ein Kompliment machte, so führte er oft den alten oder neuen Schriftsteller an, aus dem er sie genommen hatte, oder durch den er darauf geleitet worden war. Beim Satz vom zureichenden Grund glaubte er so wenig eine neue Entdecktung gemacht zu haben, daß er ausdrücklich sagt, daß er durch die Art zu schließen, deren sich ARCHIMEDES bei der Lehre vom Gleichgewicht bedient, darauf gebracht worden ist. Und wer hat jemals gesagt, daß LEIBNIZ mit diesem Satz eine neue Entdeckung gemacht hat? Mit wem streitet Herr KANT?

Der zweite Satz ist gar nicht einerlei mit dem ersten, obwohl er in der kantischen Stelle mit ihm vermengt wird. Man kann einen bekannten, aber bisher vernachlässigten Satz, als Prinzip in die Philosophie einführen, und dieser Satz kann von großer Wichtigkeit sein. So hat NEWTON den von allen Menschen (wenigstens undeutlich) erkannten Satz: actioni aequalis est reactio [Ursache gleich Wirkung - wp] an die Spitze seiner allgemeinen Physik gesetzt, ohne zu glauben, daß er dadurch eine neue Entdeckung gemacht hat: und doch ist dieser Satz von großer Wichtigkeit in der Physik. Ebenso konnte LEIBNIZ den von ihm zuerst in seiner ganzen Allgemeinheit vorgetragenen und gehörig bestimmten metaphysischen Satz vom Grund für einen wichtigen Satz in der Philosophie halten, und er setzte sich dadurch so wenig wie NEWTON mit seinem physischen Grundsatz bei Verständigen dem Gespött aus.

Der dritte Satz ist es eigentlich, den Herr KANT beweisen wollte, den er aber nicht bewiesen hat, und den ich für ganz ungegründet halte. Wie? LEIBNIZ sollte den Satz des Grundes für kein objekties, transzendentales Prinzipium gehalten haben, er, der mittels desselben, aus der Kontingenz und Abhängigkeit der Welt, das Dasein Gottes bewies, und ihn also zum Fundament des kosmologischen, von Herrn KANT wegen dieses Gebrauchs verworfenen Beweises annahm? Wie war es möglich, daß Herr KANT bei seinen Lesern eine so große Unkunde von LEIBNIZens Philosophie oder eine so große Leichtgläubigkeit voraussetzte? - Da es hier auf ein Faktum ankommt, so will ich aus einer Menge von Stellen in LEIBNIZ' Schriften nur einige zum Beweis des Gesagten anführen.

In der zweiten Schrift des literarischen Briefwechsels zwischen ihm und CLARKE, sagt er:
    "Der Hauptgrundsatz der Mathematik ist der Grundsatz des Widerspruchs oder der Identität. - Dieser einzige Satz ist zum Beweis der Arithmetik und Geometrie, d. h. der ganzen Mathematik zulänglich. - (Ist dies vielleicht auch kantisch?) - Wenn man aber von dieser zur Naturkunde übergeht, so hat man noch eines anderen Hauptsatzes vonnöten, welcher darin besteht, daß sich nirgends nichts zuträgt, wovon man nicht einen hinlänglichen Grund angeben kann, warum die Sache vielmehr so, und nicht anders geschieht. - Durch diesen einzigen Satz wird das Dasein Gottes und alles übrige in der Metaphysik erwiesen."
Und in der Abhandlung von den Monaden:
    "Der zulängliche und allerletzte Grund muß also außerhalb der Folge und außerhalb des Zusammenhangs der unter sich verschiedenen zufälligen Dinge, ihre Zergliederung mag so unendlich fortgehen, wie immer sie will, gesucht werden. Die allerletzte Ursache der Dinge muß demnach eine schlechterdings notwendige Substanz sein. - Diese Substanz nennen wir Gott."
Diesen Stellen kann ich nicht umhin folgendende aus den "Nouveaux Essais" (Seite 414) beizufügen:
    "Man wird demgegenüber vielleicht fragen, wo diese Vorstellungen sein würden, wenn es keinen Geist gäbe, und was dann aus der realen Grundlage dieser Gewißheit der ewigen Wahrheiten werden würde? Das führt uns endlich zur letzten Grundlage der Wahrheiten, nämlich auf jenen obersten und allgemeinen Geist, dessen Dasein notwendig und dessen Verstand in Wirklichkeit, wie St. Augustin es anerkannt und auf eine sehr lebhafte Weise ausdrückt, der Ort der ewigen Wahrheiten ist. Und damit man nicht denke, daß darauf zurückzugehen nicht notwendig ist, muß man erwägen, daß diese notwendigen Wahrheiten den Bestimmungsgrund und das Regulativprinzip alles Daseienden selbst und mit einem Wort die Gesetze des Weltalls enthalten. Gehen also diese notwendigen Wahrheiten dem Dasein der zufälligen Wesen voraus, so müssen sie im Dasein einer notwendigen Substanz begründet sein. Dort finde ich das Urbild der Vorstellungen und Wahrheiten, welche unserer Seele eingeprägt sind, nicht in Form von Sätzen, sondern wie Quellen, aus deren Anwendung und Gelegenheiten wirkliche Urteile hervorgehen."
Unsere Leser mögen nun selbst urteilen, ob es de facto richtig ist, daß LEIBNIZ den Satz vom zureichenden Grund für ein bloß subjektives Prinzipium gehalten wissen wollte, und daß er damit auf weiter nichts als auf die kantische Theorie von den synthetischen Urteilen (die er zwar geahnt, aber zu finden nicht das Glück gehabt hat) hingewiesen hat. Sie mögen urteilen, was Herr KANT für eine Achtung gegen das philosophisches Publikum hat, daß er ihm solche Dinge glauben machen will. - Nun ist nichts übrig, als daß uns Herr KANT noch beweist, daß LEIBNIZ den Satz des Widerspruchs und der Identität nicht für das höchste Prinzip der Arithmetik und Geometrie hat halten können, weil ja nach seiner (Herrn KANTs) Philosophie die Wahrheiten dieser Wissenschaften keine analytische, sondern lauter synthetische Sätze sind. Ich sage, dieses fehlt noch zur völligen Übereinstimmung der LEIBNIZschen Philosophie mit der kantischen; denn durch seine Monaden hat LEIBNIZ (nach Seite 121 der "nouveaux essais") weiter nichts als das für uns unerkennbare Substratum der Körper, und durch die vorherbestimmte Harmonie (nach Seite 125) weiter nichts als eine gewisse Vorherbestimmung der Sinnlichkeit und des Verstandes, und ihr Verhältnis zur Erkenntnis der Dinge a priori, sowie es die Kritik lehrt, andeuten wollen.
    "Und so möchte wohl (schließt Herr Kant Seite 126) die Kritik der reinen Vernunft die eigentliche Apologie für Leibniz, selbst wider seine, ihm mit nichtehrenden Lobsprüchen erhebende Anhänger sein."
Gott bewahre uns (werden vielleicht hier die Freunde von LEIBNIZ' Philosophie mit Herrn KANTs etwas veränderten Worten Seite 119 ausrufen) vor solchen Apologeten! gegen unsere Feinde wollen wir uns wohl selbst verteidigen.


N a c h s c h r i f t   d e s   H e r a u s g e b e r s
Das Vorgeben: LEIBNIZ habe durch den Satz des Grundes auf einen Wahrheitsgrund der synthetischen Urteile hingedeutet, den Herr KANT in ihrer Beziehung auf eine mögliche Erfahrung gefunden zu haben glaubt, ist so auffallend grundlos, daß man es bisher seiner eigenen Schwäche überlassen hat. Wie sehr man dazu berechtigt war, beweist der vorstehende Aufsatz selbst denjenigen, die bisher LEIBNIZ' Philosophie nur durch Herrn KANTs ungetreue Auslegung gekannt haben. Es mag unentschieden bleiben, ob Herr KANT diese Philosophie wirklich so, wie er sie vorstellt, durch das Medium seines Systems gesehen hat, oder ob er sie, bald krank macht, um sie heilen zu können, bald aber sich an sie anschließt, um eine Gelegenheit zu haben, ihren Verteidigern etwas Beleidigendes zu sagen. Genug, es ist in vorstehendem gründlichem Aufsatz unwidersprechlich bewiesen, daß der Satz des Grundes, in LEIBNIZ' Sinn und im ganzen Geist seiner Philosophie, dem kritischen Idealismus in all seinen Punkten entgegengesetzt ist. Herr KANT widerspricht sich selbst und seinem ganzen System, so bald er es mit dem von LEIBNIZ in Übereinstimmung bringen will.
    1. Leibniz hat nicht bloß im Allgemeinen, außer dem Satz des Widerspruchs, als dem kritischen Prinzip der analytischen Urteile, auf ein ungenanntes und erst von Herrn Kant entdecktes unentbehrliches Prinzip der synthetischen Urteile hingewiesen. Denn er nennt es; es ist der Satz des Grundes. Dieser Satz hat aber in Leibniz' System transzendentale Gültigkeit und einen konstitutiven Gebrauchj; denn er schließt daraus die Wirklichkeit von Gegenständen, in denen kein Raum und keine Zeit ist; nicht allein die Wirklichkeit Gottes, sondern auch die Wirklichkeit bestimmender Gründe aller freien Handlungen, auch der göttlichen. (2) Er hält also dafür, daß in der Vorstellung des Guten der Grund der freien Handlungen ist; in Gott aber ist zwischen diesen Gründen und dem Wollen keine Zeitfolge. Er macht also vom Satz des Grundes einen Gebrauch, der mit der Theorie der kritischen Philosophie von der Erkenntnis Gottes durch die theoretische Vernunft und von der transzendenten Freiheit im geraden Widerspruch steht.

    2. Er kann also nicht durch diesen Satz auf das kritische Prinzip der synthetischen Urteile hingewiesen haben. - Denn, hat der Satz des Grundes eine transzendentale Gültigkeit, ist er, wie wir gesehen haben (=1), nach Leibniz auch für unsinnliche Gegenstände objektiv wahr: so kann er seine objektive Wahrheit nicht erst durch die Anschauung des Raumes und der Zeit in der möglichen Erfahrung erhalten. Folglich kann er schlechterdings nicht auf den kritischen Wahrheitsgrund der synthetischen Urteile gedeutet werden.

    3. Er kann aber auf keinen Wahrheitsgrund irgendeines Vernunfturteils (Urteils a priori) hindeuten, weder der analytischen, noch der synthetischen; dieser ist nach Leibniz bei allen der Satz des Widerspruchs. Denn den kritischen Wahrheitsgrund der synthetischen Urteile erkennt er nicht (=2); er sagt vielmehr von allen Urteilen ohne Unterschied, daß der Satz des Widerspruchs ihr Wahrheitsgrund ist (3).

    4. Gesetzt aber schließlich, Leibniz habe mit seinem Satz des Grundes auf den kritischen Wahrheitsgrund der Urteile hingewiesen: so wäre die Kritik, auf die er gedeutet hat, gerade das Gegenteil von der kantischen. Er sagt ausdrücklich:
      "Der Hauptgrundsatz der Mathematik ist der Grundsatz des Widerspruchs oder der Identität. - Dieser einzige Satz ist zum Beweis der Arithmetik und Geometrie, d. h. der ganzen Mathematik hinlänglich."
    Also: in der Vernunftkritik des Leibniz wären alle arithmetischen und geometrischen Wahrheiten analytische Urteile. Hingegen wäre die ganze natürliche Theologie, wie alles übrige in der Metaphysik, ein Inbegriff synthetischer Urteile; denn nach LEIBNIZ' Vernunftkritik
      "wird das Dasein Gottes und alles übrige in der Metaphysik aus dem Satz des Grundes bewiesen."
    Die Metaphysik wäre also apodiktischer Gewißheit fähig, die Mathematik hingegen nicht; gerade das Gegenteil von der kantischen Vernunftkritik!

    Eine solche Apologie für Leibniz ist Herrn Kants "Kritik der reinen Vernunft!" So versteht dieser Schriftsteller den Herrn von Leibniz, er mag ihn widerlegen oder bestätigen wollen! Solche Lobsprüche ehren allerdings den Weltweisen besser, als die Lobsprüche all seiner Anhänger!

    5. Wie glücklich Herr Kant einen Leibniz mit sich zu vereinigen weiß, läßt sich an noch einer anderen Probe ersehen. Leibniz hat, wie Herr Kant sagt, mit seinen Monaden nichts weiter als "das für uns unerkennbare Substratum der Körper andeuten wollen" (4). Es gäbe also ein Inneres der Materie, welches doch Herr Kant für eine bloße Grille erklärt; denn die Monaden wären dieses Innere. Ist aber dieses Substratum der Körper für uns unerkennbar. Für den Herrn von Leibniz nicht; denn er hat Verschiedenes von ihnen beweisen zu können geglaubt. Für Herrn Kant aber auch nicht; denn er erklärt ausdrücklich (5):

    In der Kr. d. r. V. werde buchstäblich und wiederholentlich behauptet: Raum und Zeit haben außer den subjektiven auch objektive Gründe, und diese objektiven Gründe seien keine Erscheinungen, sondern wahre erkennbare Dinge.
Also: die Gründe der Erscheinungen der Körper sind erkennbar und nicht erkennbar; LEIBNIZ soll sie für unerkennbar gehalten haben, und doch will Herr KANT, der sie für erkennbar hält, mit ihm, der auf sie als ein unerkennbares Substratum soll hingewiesen haben, übereinstimmen!

So setzt Herr KANT den Herrn von LEIBNIZ mit sich selbst in Widerspruch, so ist er mit ihm und mit sich selbst im Widerspruch und das alles, um zu zeigen, wie sehr er mit ihm übereinstimmt, und wie ein besserer Ausleger und würdigerer Lobredner dieses großen Mann er sei, als die Verteidigerin der LEIBNIZschen Philosophie.
LITERATUR: Johann August Eberhard, Prüfung des kantischen Beweises von der bloßen Subjektivität der Kategorien, Philosophisches Magazin, Bd. 4, Halle/Saale, 1791
    Anmerkungen
    1) Herrn Reinhold muß ich hierbei die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er die Verbindlichkeit, diesen Satz zu beweisen, gefühlt und auch diese Lücke in der kantischen Philosophie auszufüllen versucht hat. Aber sein Beweis ist selbst von Freunden dieser Philosophie nicht befriedigend gefunden worden; und man kann auch an diesem Beispiel sehen, daß die neuere Philosophie so wenig, ja noch weniger, als die ältere, alles streng zu beweisen imstand ist.
    2) Theodizee § 45. Il y a toujours une raison prévalente, qui porte la volonté á son choix. - Jamais la volonté n'est portée á agir, que par la representation du bien, qui prevaut aux representations contraires. On en convient même á l'egard de Dieu. [Es gibt immer einen vorherrschenden Grund, der den Willen zu seiner Wahl führt. - Der Wille ist nie geneigt zu handeln, außer durch die Vorstellung des Guten, die über die gegensätzlichen Vorstellungen überwiegt. Wir stimmen sogar mit Gott überein.- wp]
    3) ebd. § 44. L'un est le principe de la contradiction, qui porte que de deux propositions contradictoires l'une est vraye et l'autre fausse. [Das ist das Widerspruchsprinzip: das heißt von zwei widersprüchlichen Sätzen, einer ist wahr und der andere falsch. - wp]
    4) Wie oben aus den "nouveaux essais" Seite 121 angeführt ist.
    5) Siehe "nouveaux essais", Seite 55, 56. Vgl. "Philosophisches Magazin", Bd. III, St. 2, Seite 214.