GIDEON SPICKER Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie [Mit besonderer Berücksichtigung der kantischen "Kritik der reinen Vernunft" und der "Geschichte des Materialismus" von Albert Lange.]
"Die ganze Philosophie des Sokrates und Plato war dialektischer Wortkampf. Durch die Wörter ließen Sokrates, Plato und Aristoteles sich täuschen. Es waren große Wortklauber, aber keine großen Denker. Hätten sie etwas gedacht, so hätte auch etwas dabei herauskommen müssen. Ein positives Resultat ist aber bei keinem zu finden. Nicht einmal über den Grundbegriff seiner Philosophie ist Plato während seines langen und reichen Lebens ins Klare gekommen."
"Nach Langes Auffassung soll dem Aristoteles Wort und Begriff ein und dasselbe sein. Aristoteles hält sich direkt an das Wort. - Diese Tendenz, das Wesen unmittelbar aus dem Wort abzuleiten, ist der Grundfehler der aristotelischen Begriffslehre."
Einleitendes
Dieser Kritik könnte man ebensogut zum Vorwurf machen, daß sie verfrüht, als daß sie verspätet ist. Verfrüht in Bezug auf die zweite Auflage, da deren zweite Hälfte des zweiten Bandes noch nicht erschienen ist; verspätet in Bezug auf die erste, weil sie durch die zweite "vermehrte und verbesserte" bedeutende Veränderungen erfahren haben könnte. Wir haben aber gefunden, daß Herr Professor LANGE seinen empirisch-philosophischen Standpunkt noch nicht verändert hat und auch in der letzten Hälfte des zweiten Bandes nicht verändern wird. Denn der Verfasser hat sich nach einer vorläufigen Ankündigung "vor allem die Aufgabe gestellt, den Fortschritten der Naturwissenschaft zu folgen, und alle Fragen möglichst im Licht des gegenwärtigen Standes der Forschungen zu behandeln". Und trotz einer "totalen Erneuerung des Stoffes einzelner Abschnitte" konnte doch der "Gedankengang und die Resultate im Wesentlichen unverändert bleiben". (Vorrede, zweite Auflage, Seite 1). Wir haben deshalb die erste Auflage zugrunde gelegt und alle einschlägigen Stellen oder Abweichungen in der zweiten berücksichtigt und mit zitiert.
Die Frage, um die es sich handelt, ist der Kampf zwischen Empirie und Spekulation, zwischen Materialismus und Idealismus. LANGE kämpft für die Empirie; wir für die Spekulation. Sein Ideal ist DEMOKRIT, das unsrige hingegen PLATO. Beide können von beiden als Urtypen zweier Geistesrichtungen, wie sie sich durch die ganze Geschichte der Philosophie, sich gegenseitig stets berührend und stets bekämpfend, hindurchziehen, betrachtet werden. Die eine treibt ihre Wurzeln im physischen, die andere auf ethischem Gebiet. Das letztere zu kultivieren betrachten wir speziell als Aufgabe der Philosophie; das erstere dagegen als höchstes Ziel der Naturwissenschaft. Die Grenze und Verschiedenheit beider Gebiete aufzuzeigen ist der Zweck meiner Kritik.
Ob ferner die Spekulation, d. h. die Philosophie, nicht bloß ein "Bedürfnis des Gemüts", sondern auch eine Wissenschaft ist, nicht eine empirische, sondern die Wissenschaft des Geistes: das ist der Kern der Frage. LANGE verneint es mit aller Entschiedenheit; wir dagegen suchen ebenso entschieden mit allen Mitteln der Kritik, die uns zu Gebote stehen, ihr den Charakter der Wissenschaftlichkeit zu wahren. Wie geringschätzig LANGE von der Spekulation denkt und in welche Widersprüche er sich dadurch verwickelt, wird unsere Kritik hinlänglich beweisen. Wie sehr aber diese Geringschätzung, ja, man darf geradezu sagen Verachtung, sich bei ihm seither gesteigert hat, mag der Leser aus einigen Zitaten der zweiten Auflage ersehen.
Bisher war es die allgemeine Ansicht und wird wohl auch fernerhin unter Philosophen von echtem Schrot und Korn allgemeine Ansicht bleiben, daß die griechische Spekulation in dem Dreigestirn SOKRATES - PLATO - ARISTOTELES ihren höchsten Glanz und ihre höchste Blüte erreicht hat. LANGE dagegen behauptet, daß gerade diese Drei "eine Reaktion im schlimmsten Sinne des Wortes" hervorgerufen haben, nämlich:
"eine Erhebung des niederen, mit Bewußtsein und guter Geistesarbeit überwundenen Standpunkts über den höheren, eine Verdrängung der Anfänge besserer Einsicht durch Anschauungen, in welchen die alten Irrtümer des unphilosophischen Denkens in neuer Form, mit neuer Pracht und Macht, aber nicht ohn ihren alten verderblichen Charakter wiederkehren."
Er wirft dieser Reaktion ferner "Fanatismus" und "platten Anthropomorphisms" vor (Seite 38). Gegenüber dem Materialismus seien die Leistungen dieser gefeierten Heroen "unzweifelhafte Rückschritte" und ihre "Fortschritte" zumindest "sehr zweifelhafter Natur" (Seite 39). Wir verdanken dem SOKRATES das "Phantom der Definitionen", dem PLATO die "trügerische Methode" und dem scharfsinnigsten und umfassendsten Denker des Altertums, ARISTOTELES "das Gaukelspiel von Möglichkeit und Verwirklichung und die Einbildung eines in sich geschlossenen und alles wahre Wissen in sich begreifenden Systems". Ihre "historische Bedeutung" ist im "Gegensatz gegen den Materialismus" eine "unglückliche" zu nennen. Wäre man im Geiste der Sophisten und Materialisten weiter gefahren, "so hätte sich fast mit zwingender Notwendigkeit der Begriff der Wahrscheinlichkeit ergeben" - "die reifste Frucht des modernen Denkens" (Seite 41). Glückliche Gegenwart, der es vorbehalten war, die reifste Frucht der bloßen Wahrscheinlichkeit in so vorzüglichem Maß zu genießen, während so viele Jahrhunderte dieses Hochgenusses entbehrten! "Warum mußte der große Umschwung eintreten, der die Welt auf Jahrtausende in den Irrweg des platonischen Idealismus geleitet hat?" Dieser platonische Idealismus ist ein "Unkraut", gehört unter die "welthistorischen Irrtümer", aber glücklicher- oder unglücklicherweise ebenso auch der "Materialismus". Beide "beruhen auf der breiten Basis unserer gesamten psychischen Organisation". Schöne Zuversicht, die Wahrscheinlichkeit, diese reifste Frucht des modernen Denkens, zur Wahrheit zu erheben!
Trotz ihres "welthistorischen Irrtums" und ihrer "trügerischen Methode" "wird stets die platonische Philosophie das erste und erhebendste Vorbild einer dichtenden Erhebung des Geistes über das unbefriedigende Stückwerk der Erkenntnis bleiben" (Seite 60). Zu dieser "Erhebung auf den Flügeln einer begeisterten Spekulation" sind wir sogar berechtigt und "werden ihr einen hohen Wert beimessen, wenn wir sehen, wie der Schwung des Geistes, der mit dem Suchen des Einen und Ewigen im Wechsel der irdischen Dinge verbunden ist, belebend und erfrischend auf ganze Generationen zurückwirkt und indirekt sogar der wissenschaftlichen Forschung oft einen neuen Impuls gibt" (ebd.). Nichtsdestoweniger hat die "sokratisch-platonische Weltanschauung die empirische Forschung in der Wurzel verdorben" (Seite 61). Und gerade in den "platonischen Dialogen finden sich die logischen Sprünge, die Erschleichungen und Sophismen aller Art massenweise auf Seiten des stets siegreichen Sokrates.PLATO hat nach "Sophisten Art" die Sophisten bekämpft; er macht es mit seinen Gegnern wie die "Katze mit der Maus" und seine "literarische Behandlung" ist "kühl" (Seite 51). Die ganze Philosophie des SOKRATES und PLATO war "dialektischer Wortkampf" (Seite 11). "Durch die Wörter ließen Sokrates, Plato und Aristoteles sich täuschen" (Seite 57). Es waren große Wortklauber, aber keine großen Denker. Hätten sie etwas gedacht, so hätte auch etwas dabei herauskommen müssen. Ein positives Resultat ist aber bei keinem zu finden. Nicht einmal über den Grundbegriff seiner Philosophie ist PLATO während seines langen und reichen Lebens ins Klare gekommen. "Was denn nun eigentlich der Begriff des objektiv Guten ist, erfahren wir aus sämtlichen platonischen Dialogen so wenig, wie aus den alchemistischen Schriften, was der Stein des Weisen ist." (Seite 40). So fruchtlos ist die Spekulation! Es ist eine reine Spielerei! Kein Wunder, wenn sie es liebt, "an die naiven Anschauungen des Kindes und des Köhlers anzuknüpfen". (Seite 68) Von ARISTOTELES wollen wir ganz und gar schweigen. Ein selbständiger Forscher war er überhaupt nicht. Einzelne "empirische Ausflüge" abgerechnet gehört alles Übrige dem DEMOKRIT an, den er wahrscheinlich abgeschrieben und noch dazu die Unredlichkeit begangen hat, die Quellen zu verschweigen, aus denen er geschöpft und sich den Anschein gegeben hat, als ob es das Resultat seiner eigenen Forschung wäre (Seite 10, 61, 64, 135). Mit einem Wort: sein System ist eine "feindliche Macht", "das Urbild des Verkehrten, das große Beispiel dessen, was nicht sein soll". (Seite 69)
Braucht es noch mehr, um LANGEs Verachtung nicht nur der Spekulation, sondern aller Philosophie überhaupt, als Wissenschaft, zu kennzeichnen? Gegen solche Vorwürfe kann alle übrige Anerkennung dieses Geistes nicht mehr ins Gewicht fallen (ebd.). Wenn gerade diese Drei, als die Hervorragendsten des ganzen Altertums ein solcher Hemmschuh im Fortschritt der Wissenschaft waren, wenn die sokratische Methode ein bloßer Wortkampf, seine Definitionen nur ein Phantom, PLATOs Dialektik trügerisch, sophistisch; wenn seine ganze Philosophie kaum mehr Wert hat, als die Salbadereien der Alchemie, wenn die Spekulation ihre Rechnung nur bei "Kindern und Köhlern" findet; wenn ARISTOTELES bloß ein Gaukler, ein eingebildeter Schwärmer und überhaupt das Urbild aller philosophischen Verkehrtheit ist: dann läßt sich denken, was er von allen übrigen hält und was ihm Philosophie (die kantische ausgenommen) überhaupt gilt. "Darüber muß die Welt einmal definitiv ins Klare kommen, daß es sich hier nicht um ein Wissen handelt, sondern um Dichtung." (Seite 60) Schöne Poesie, die bloß in abstrakten Begriffen, statt in farbenreichen Bildern und Gestalten der Phantasie sich bewegt! Wenn die Philosophie keine Wissenschaft ist, so ist sie noch viel weniger Dichtung. Ein abscheuliches Phantom ist sie, ein Hirngespinst, ein Zwitterding, das keinem Geschlecht, weder der Kunst noch der Wissenschaft angehört und eben deshalb so unfruchtbar ist. Wie kommt es aber, daß sie trotz dieser ihrer Geschlechtslosigkeit sich dennoch so lange erhalten und sogar ein welthistorischer Irrtum werden konnte? Laßt uns doch einmal ins Klare kommen, was sie ist und was sie nicht ist! Und haben wir endlich eine prinzipielle Überzeugung gewonnen, dann sind wir auch so ehrlich und entschieden, sie entweder gänzlich über Bord zu werfen, oder aber uns rückhaltlos ihr in die Arme zu stürzen!
Solche Ausfälle gegen die ganze antike Spekulation finden sich in der ersten Auflage noch nicht. Hier wird noch behauptet, es sei "den größten Männern aller Zeiten eigen, daß sie die Gegensätze ihrer Epoche in sich zu einer Versöhnung gebracht haben. So stehen im Altertum PLATO und SOPHOKLES da und je der Größte zeigt uns oft in seinen Werken die geringsten Spuren der Kämpfe, welche die Massen zu jener Zeit bewegt und welche auch er in irgendeiner Form durchlebt haben muß" (erste Auflage, Seite 4). Ferner rühmt er an ihnen, daß sie es verstanden haben,
"Konsequenzen zu ziehen und allgemeine Sätze klar und nüchtern zu formulieren. Ist die neuere Zeit groß durch Induktion, so ist Deduktion das Charakteristische der griechischen Forschung in der Naturwissenschaft wie in der Philosophie" (ebd. Seite 6)
Was er nun den Engländern, diesen eingefleischten Empirikern, in Bezug auf die Herabwürdigung der griechischen und insbesondere der aristotelischen Spekulation zum Vorwurf macht, das gilt jetzt ganz besonders von LANGE selbst.
"Es ist heutzutage gebräuchlich geworden, namentlich bei den Engländern seit Bacon, den Wert der Deduktion zu gering anzuschlagen. Whewell in seiner berühmten Geschichte der induktiven Wissenschaften tut den griechischen Philosophen häufig Unrecht, namentlich der aristotelischen Schule." (ebd.)
Was aber WHEWELL in seiner Geschichte den größten Denkern des Altertums zum Vorwurf macht, ist ganz dasselbe, was ihnen jetzt auch LANGE vorwirft: nämlich, daß SOKRATES, PLATO und ARISTOTELES sich "durch Wörter täuschen ließen". Wenn aber LANGE oder WHEWELL das im Ernst behaupten, so muß ich mit aller Entschiedenheit annehmen, daß weder der eine noch der andere PLATO oder ARISTOTELES ganz oder gründlich gelesen hat; denn an den verschiedensten Stellen beklagt oder erklärt sich PLATO, daß das "Wort" ein durchaus ungenügendes Mittel ist, "Dinge" sachgemäß oder objektiv zu bezeichnen.
Endlich wird PLATO trotz all seiner Irrtümer doch zugleich als "der geistige Stammvater einer Reihe von Forschern, welche die klarste und konsequenteste aller Wissenschaften, die Mathematik, auf den Gipfel der Höhe brachten, die sie im Altertum erreichte", betrachtet.
"Euklid war sein Schüler und Freund; durch diesen war Archimedes angeregt, der größte Erfindergeist des Altertums. Die alexandrinischen Mathematiker hielten fast alle zur Schule Platos, und selbst als die Ausartungen des Neuplatonismus begannen und die trüben Gährungen der großen Religionswende in die Philosophie hineinspielten, brachte diese Schule auch große Mathematiker hervor." (ebd. Seite 65).
Das Gleiche wird von PYTHAGORAS behauptet (zweite Auflage, 1. Buch, Seite 92).
Auch die Metaphysik kommt hier noch zu Ehren, trotz all der schwankenden Äußerungen im späteren Verlauf seines Buches. LANGE geht sogar so weit, daß er sagt, das einmütige Verwerfen der Metaphysik von Seiten der Materialisten sei "bei Lichte besehen" eine "bloße Selbsttäuschung", "da es gar nicht möglich ist, ein Erklärungsprinzip aller Dinge durchzuführen, ohne dabei die Metaphysik zu berühren."
"Der Begriff der Materie selbst ist und bleibt ein Gegenstand der Metaphysik und wenn man glaubt, ihr zu entrinnen, so entrinnt man im Grunde nur den konsequenten und scharfen Begriffsbestimmungen der Philosophen, um sich der Metaphysik des gemeinen Mannes hinzugeben, oder Sätze anzunehmen, welche empirisch scheinen, weil sie aus früheren Jahrhunderten stammen und sich mit dem empirischen Denken der halbgebildeten Kreise verschmolzen haben."
LANGE anerkennt also die Metaphysik; ja, er ist so billig, daß er bloß eine "Reform" derselben verlangt, "die zum Teil schon eingetreten ist"; "eine Reform, die von Kant begonnen wurde, aber bei weitem noch nicht in voller Strenge und Klarheit durchgeführt ist."
KANT ist der große Reformator der Metaphysik; der große Begründer derselben aber ist ARISTOTELES. Sie war ihm die erste Philosophie,
"d. h. nach Analogie des aristotelischen Sprachgebrauchs, die allgemeine, sich noch nicht auf einen besonderen Zweig beziehende Philosophie. Daß eine solche notwendig ist, hatte zuerste Aristoteles klar genug erkannt, und in der Tat, wenn man die mannigfachen Mißverständnisse betrachtet, welche lediglich aus Mangel an Verständigung über die unentbehrlichen Begriffe hereinzubrechen pflegen, wird man in unserer Zeit, statt dieselbe abzuschaffen und « zur Astrologie in die Rumpelkammer zu werfen», vielmehr ein erhöhtes Bedürfnis nach ihr empfinden." (erste Auflage, Seite 86)
Mit dieser Anerkennung der Metaphysik hängt auch zugleich die Anerkennung mit deren Begründer zusammen. ARISTOTELES nimmt "als umfassender Beherrscher und schärfster Sichter des ganzen naturwissenschaftlichen Stoffes seiner Zeit in den positiven Wissenschaften die erste Stelle ein." (Seite 65).
"Schon lange vor Ptolemäus (sagt Lange an einer anderen Stelle Seite 62) hatten die riesigen Forschungen des Aristoteles eine Fülle von Kenntnissen über die Tier- und Pflanzenwelt naher und ferner Länder verbreitet. Genaue Beschreibungen, anatomisches Erforschen des inneren Baues der organischen Körper bildete die Vorstufe zu einer zusammenfassenden Betrachtung der Formen, die, von der niedersten zur höchsten hinauf als eine fortlaufende Betätigung gestaltender Kräfte erfaßt wurden, welche im Menschen endlich das vollendetste Gebilde der Erde darstellen."
Endlich stimmt er in seiner Anerkennung mit HUMBOLDTs Ansicht überein, welcher, der Epikureer kaum gedenkend, von PLATO und ARISTOTELES in seinem Kosmos sagt:
"In Platos hoher Achtung für mathematische Gedankenentwicklung, wie in den alle Organismen umfassenden morphologischen Ansichten des Stagiriten [Aristoteles - wp] lagen gleichsam die Keime aller späteren Fortschritte der Naturwissenschaft. Sie wurden der Leitstern, welcher den menschlichen Geist durch die Verirrungen der Schwärmerei finsterer Jahrhunderte sicher hindurch geleitet, sie haben die gesunde wissenschaftliche Geisteskraft nicht ersterben lassen." (ebd. Seite 68)
Da ist nun in der neuen Auflage, in der kurzen Spanne von sieben Jahren, alles anders geworden. Die sieben mageren Kühe haben die sieben fetten ganz verschlungen.
"Wie er (Aristoteles) in ethischer und politischer Beziehung sich auf die hellenische Welt als die mustergültige beschränkte und für die großen Veränderungen, die unter seinen Augen vorgingen, wenig Sinn hatte, so kümmerte ihn auch nicht die Fülle neuer Tatsachen und Beobachtungen, welche dem Forscher durch die Züge Alexanders des Großen zugänglich gemacht wurde." (zweite Auflage, 1. Buch, Seite 62)
Dieser Vorwurf ist ganz ungerecht; und diese Ungerechtigkeit ist lediglich eine Folge der Verkennung des Wesens der Philosophie gegenüber der Naturwissenschaft. ARISTOTELES ist vor allem ein Philosoph und als solcher hat er das Höchste geleistet, wenn er uns ein Gesamtbild seiner Zeit gibt, wenn er das zerstreute fragmentarische Wissen in einen Brennpunkt sammelt, d. h. wenn er dasselbe auf ein rationales Prinzip fundiert und dieses durch das gesamte Material durchführt. Das hat ARISTOTELES getan; aber auch das gereicht ihm so wenig zum Lob, als die "Begriffsromantik" einem SCHELLING oder HEGEL. Daß er sich noch keine Staaten von 40 Millionen denken konnte, ist selbstverständlich; er rechnete mit der unmittelbaren Gegenwart, was sonst den Empirikern jederzeit das Höchste und einzig Richtige ist. Daß er aber Griechenland im Großen und Ganzen für "mustergültig" gehalten hat, darin hatte er vollkommen Recht. Hätte er sich die Perser, oder Römer oder Skythen zum Muster nehmen sollen? Wenn die Griechen auch keine so großen Politiker waren, wie die Römer, so sind sie nichtsdestoweniger im Allgemeinen das mustergültigste Volk des ganzen Altertums. Einen Beweis hierfür zu erbringen hieße Eulen nach Athen tragen.
Daß ARISTOTELES kein Naturforscher war, keine selbständigen Beobachtungen oder Experimente gemacht, steht unserem Autor unabänderlich fest. Zweitausend Jahre lang war die Welt in diesem Vorurteil befangen; aber seit etwa zwei Jahren ist durch MULLACH und EUCKEN das Gegenteil bewiesen worden (ebd. Seite 128, Anm. 11; Seite 135, Anm. 49) Man weiß jetzt,
"wie viele Vorarbeiten auf diesem Gebiet vorhanden waren, wie unbefangen sich ARISTOTELES fremde Beobachtungen und Mitteilungen aller Art angeeignet hat, ohne die Verfasser zu zitieren und wie Vieles in seinen Überlieferungen den Schein eigener Beobachtung erregt, was nie beobachtet sein kann, weil es total falsch ist." (Seite 61).
Hiernach scheint es also doch, als ob ARISTOTELES sich um "die Fülle neuer Tatsachen und Beobachtungen, welche dem Forscher durch die Züge Alexanders des Großen zugänglich gemacht wurden, bekümmerte". Aber der berühmte Philosoph hat es vielleicht gemacht, wie es heutzutage bisweilen unsere berühmten Naturforscher machen: er hat aus einem Handbuch oder Kompendium zitiert, wie z. B. DUBOIS-REYMOND in seinen "Grenzen des Naturerkennens", um sich den Anschein philosophischer Belesenheit zu geben, sich nicht genierte, LEIBNIZ' Beispiel von den zwei Uhren aus SCHWEGLERs "Grundriß" zu zitieren. Was würden die Naturforscher dazu sagen, wenn ein Philosoph seine Beweise aus SCHÖDLERs "Buch der Natur" hernähme?
Wenn aber ARISTOTELES als Naturforscher von keiner Bedeutung ist, ja vielmehr durch ihn "die empirische Forschung in der Wurzel verdorben wurde" (Seite 61); hat er dann vielleicht als Systematiker ein größeres Verdienst? Auch dieses ist nach LANGE höchst zweideutig.
"Wieviel oder wie wenig er in den einzelnen Wissenschaften selbständig mag geleistet haben - Hauptsache in seiner Gesamttätigkeit bleibt jedenfalls die Sammlung des Stoffs aller damals vorhandenen Wissenschaften unter spekulativen Gesichtspunkten. Also eine Tätigkeit, welche mit derjenigen neuerer Systematiker, Hegels(1) vor allen Dingen, im Prinzip zusammenfällt (Seite 62).
Ist mit dieser systematischen Tätigkeit für das eigentliche Wissen und den Fortschritt der realen Erkenntnis etwas geschehen? Keineswegs! ARISTOTELES hat vielmehr
"in starker Abhängigkeit von Plato ein System geschaffen, welches, nicht ohne innere Widersprüche, den Schein der Empirie mit allen jenen Fehlern verbindet, durch welche die sokratisch-platonische Weltanschauung die empirische Forschung in der Wurzel verdirbt." (Seite 61)
Was bleibt hiernach noch dem pseudo-berühmten Denker? "Auf alle Fälle das Lob, welches Hegel ihm gespendet hat, daß er den Reichtum und die Zerstreuung des realen Universums dem Begriff unterjocht hat" (ebd.). Hierin steckt eine starke Ironie. Denn nach LANGEs Auffassung soll dem ARISTOTELES Wort und Begriff ein und dasselbe sein. "Aristoteles hält sich direkt an das Wort. - Diese Tendenz, das Wesen unmittelbar aus dem Wort abzuleiten, ist der Grundfehler der aristotelischen Begriffslehre". (Seite 66). Diese führt naturnotwendig zur platonischen Idee. Man darf nur die Methode der Untersuchung, welche ARISTOTELES anwendet, beobachten.
"Da sieht man bald, daß sein Ausgehen von Tatsachen und die Induktion, welche von den Tatsachen zu den Prinzipien aufsteigen soll, eine Theorie geblieben ist, welche Aristoteles selbst fast nirgends anwendet. Höchstens führt er etwa einige vereinzelte Tatsachen an und springt dann sofort von diesen zu den allgemeinsten Prinzipien, die er fortan in rein deduktivem Verfahren dogmatisch festhält." (Seite 67)
"Mit der Deduduktion im Bunde steht die dialektische Behandlung der Streitfragen. Aristoteles liebt es, die Ansichten seiner Vorgänger historisch-kritisch zu erörtern. Sie sind ihm die Repräsentanten aller überhaupt möglichen (!) Meinungen, denen dann seine eigene Ansicht abschließend gegenübertritt".
"Aristoteles führt die Gegner selbst auf; er läßt sie ihre Ansichten, oft mangelhaft genug, darlegen, disputiert auf dem Papier mit ihnen und sitzt dann in eigener Sache zu Gericht. So tritt der Sieg im Disput an die Stelle des Beweises, der Meinungskampf an die Stelle der Analyse und das ganze Verfahren bleibt ein völlig subjektives (2), aus welchem keine wirkliche Wissenschaft hervorgehen kann." (Seite 68)
Soviel über die Methode; was LANGE vom aristotelischen Prinzip hält, ist auf Seite 159-178 ausgesprochen. Es handelt sich um "das Gaukelspiel von Möglichkeit und Verwirklichung und die Einbildung eines in sich geschlossenen und alles wahre Wissen in sich begreifenden Systems". Das Resultat der aristotelischen Philosophie ist die Einheit und Großartigkeit seiner den rücksichtslosesten Anthropomorphismus" (Seite 63). Als ob nicht auch vor allem die kantische und überhaupt jede Weltauffassung eine schlechthin menschliche, d. h. als anthropomorphe wäre! Die Großartigkeit der aristotelischen Weltauffassung beruth hauptsächlich auf seinem Zweckbegriff. Diese Teleologie aber nennt LANGE geradezu "die schlechte". Hätte sich diese Vorrede nicht schon über Gebühr ausgedehnt, so würde ich gern noch LANGEs Auffassung der aristotelisch-kantisch-darwinschen Teleologie einer kurzen Kritik unterwerfen. So aber möge es genügen, gezeigt zu haben, wie es kommt,
"daß uns das aristotelische System beständig als eine feindliche Macht gegenübersteht", daß "es noch immer das Urbild des Verkehrten ist, und das große Beispiel dessen, was nicht sein soll."
LANGE hat versprochen, in seiner neuen Auflage, auf den vielfach geäußerten Wunsch, seine philosophische Ansicht etwas deutlicher hervortreten zu lassen. Ich glaubte, er werde seinen transzendentalen Idealismus tiefer begründen und seinen kantischen Standpunkt etwas mehr rechtfertigen. Stattdessen ist alles beim Alten geblieben. "Um Kant ist nicht herumzukommen", hieß es in der ersten Auflage, Seite 241. Ebenso heißt es auch in der zweiten Auflage, 2. Buch, Seite 147:
"Um diese Fragen ist nicht herumzukommen." "Man kann sich am Einfluß derselben vorbeidrücken; aber damit macht man keine Epoche. Man müßte sich mit Kant abfinden." (Seite 103)
Dies tut nun aber LANGE nirgends. Überall, wo ihn das wissenschaftliche Gewissen auffordert, Rede zu stehen für seine prinzipiellen Behauptungen, sucht er in irgendeiner Art auszuweichen. Entweder "verzichtet" er auf die Erklärung: "Wir verzichten aber darauf, auch hier auf den subjektiven Ursprung dieser Begriffe (Unendlichkeit, Anfangslosigkeit etc.) näher einzugehen" (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 239); oder er vertröstet uns auf eine andere Gelegenheit: "Es werden sich bessere Gelegenheiten finden, den idealistischen Standpunkt dem materialistischen entgegenzustellen" (ebd.); oder in der allerärgsten Klemme, z. B. auf die Frage:
"Wozu führt alle unsere Wissenschaft, wenn wir uns die absolut existierenden Dinge, die Dinge-ansich ohne Raum und Zeit, also in einer für uns völlig unfaßbaren Weise vorstellen soll?"
weist er die Antwort spöttisch und ärgerlich in einer Gegenfrage zurück: "Wer sagt denn, daß wir uns mit den für uns unfassbaren Dingen-ansich überhaupt befassen sollen?" (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 35) Auf diese Antwort und überhaupt auf diese ganze Verschiebungstheorie habe ich in meiner "Kritik der kantischen Erkenntnistheorie", insbesondere in § 4 das Nötige erwidert.
Trotz alledem ist es an einem Autor, der aufklären und "wirken, direkt wirken will" (erste Auflage, Seite 241) sehr anzuerkennen, wenn er mit solcher musterhafter Klarheit und Präzision den schwierigen Punkt, um den es sich handelt, formuliert und ausspricht.
"Man gewinnt dadurch schon sehr viel (sagt der alte Kant, Kr. Einl. VI), wenn man eine Menge von Untersuchungen unter die Formel einer einzigen Aufgabe bringen kann. Denn dadurch erleichtert man sich nicht allein selbst sein eigenes Geschäft, indem man es sich genau bestimmt, sondern auch jedem anderen, der es prüfen will, das Urteil, ob wir unserem Vorhaben Genüge getan haben oder nicht."
Als solche mustergültig präzisierte Fragen, wie sie sich allenthalben im Werk LANGEs finden, hebe ich beispielsweise nur folgende heraus: "Was ist alle Erfahrungswissenschaft, wenn wir nur unsere selbstgeschaffenen Gesetze in den Dingen wiederfinden, die gar nicht mehr Dinge sind, sondern nur Erscheinungen?" (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 35).
"Ist der Kausalitätsbegriff eine Kategorie im Sinne Kants, so hat er, wie alle Kategorien, bloß Gültigkeit für das Gebiet der Erfahrung. Nur in Verbindung mit den Anschauungen, welche die Sinnlichkeit liefert, können diese Begriffe überhaupt auf einen Gegenstand bezogen werden. - Wie ist es dann nun aber möglich, wenn sich die Sache so verhält, auf ein Ding-ansich zu schließen, welches hinter den Erscheinungen steht? Wird denn da nicht der Kausalbegriff transzendent? Wird er nicht auf einen vermeintlichen Gegenstand angewendet, welcher jenseits aller überhaupt möglichen Erfahrung liegt?" (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 48)
Endlich kommt er zu folgender Alternative:
"Man muß entweder den Unterschied zwischen dem Ding-ansich und der Erscheinungswelt zugeben, und sich damit begnügen (a. a. O., Seite 50), die spezielle Ausführung Kants zu verbessern; oder man muß sich dem kategorischen Imperativ in die Arme stürzen und also gewissermaßen Kant mit seinen eigenen Waffen zu schlagen versuchen." (a. a. O., Seite 104)
Welche ist nun LANGEs wahre Ansicht, die er uns deutlicher hervortreten zu lassen versprochen hat? Er steht auf dem Boden der Naturwissenschaft und huldigt zugleich einem gewissen Idealismus. Aber dieser Idealismus besteht nicht in der Annahme eines "übernatürlichen Schöpfungsaktes".
"Auf dergleichen Erklärungen zu verfallen, ist stets ein Verlassen des wissenschaftlichen Bodens, welches nicht innerhalb einer wissenschaftlichen Untersuchung als zulässig, oder überhaupt als in Betracht kommend erwähnt werden darf. Denen aber, die eine Schöpfungsart als Gemütsbedürfnis brauchen, muß es überlassen bleiben, ob sie es vorziehen, mit demselben in jeden Winkel zu flüchten, den das Licht der Wissenschaft noch nicht erreicht hat, oder ob sie sich lieber gegen die ganze Wissenschaft empören und unbekümmert um die Regeln des Verstandes glauben, was ihnen gutdünkt, oder ob sie sich endlich auf den Boden des Ideals zu stellen wissen und eben dasselbe, was die Wissenschaft einen Naturvorgang nennt, als einen Ausfluß göttlicher Macht und Weisheit verehren. Daß nur der letztere Standpunkt einer gehobenen Kultur entspricht, der erste aber zwar der gewöhnlichste, aber auch nach allen Seiten der schwächste ist, brauchen wir hier nur anzudeuten." (a. a. O., Seite 236, 239)
Ob nun dieser "letztere Standpunkt" auch LANGEs innerste Ansicht ist, oder ob er dieser offenbar rein religiösen Frage gegenüber unentschieden oder zurückhaltend bleibt, haben wir aus dem letzten Teil seines Werkes noch zu erwarten.
Was aber seinen kantischen Standpunkt und insbesondere seine eigentümliche Verbindung von Empirismus und Idealismus betrifft, so glaube ich LANGEs Anschauung aus folgenden Stellen zuverlässig erkannt zu haben:
"Man kann die Sinnlichkeit zum Prinzip machen, und dabei doch in der wesentlichsten Grundlage des Systems Aristoteliker, Spinozist und sogar Kantianer sein. Man nehme nur z. B. an, daß dasjenige, was Kant als Vermutung ausspricht, Tatsache ist, daß nämlich Sinnlichkeit und Verstand in unserem Wesen eine gemeinsame Wurzel haben. Man gehe dann einen Schritt weiter und leite die Kategorien des Verstandes aus der Struktur unserer Sinnesorgane ab: so kann dabei immer noch der Satz bestehen bleiben, daß die Sinnlichkeit selbst, welche sonach der ganzen Erscheinungswelt zugrunde liegt, nur die Art ist, in welcher ein Wesen, dessen wahre Eigenschaften wir nicht kennen, von anderen Wesen affiziert wird. Es steht alsdann kein logischer Grund im Weg, die Wirklichkeit so zu definieren, daß sie mit der Sinnlichkeit zusammentrifft, während man freilich festhalten muß, daß hinter demjenigen, was so für den Menschen Wirklichkeit ist, ein allgemeineres Wesen verborgen ist, welches mit verschiedenen Organen aufgefaßt, auch verschieden erscheint. Man könnte sogar die Vernunftideen samt der ganzen Kant eigentümlichen Begründung der praktischen Philosophie auf das Bewußtsein des Handelnden beibehalten; nur müßte freilich die intelligible Welt unter dem Bild einer sinnlichen Welt gedacht werden. Statt Kants nüchterner Moral käme dann eine farbenvolle und lebenswarme Religion heraus, deren gedachte Sinnlichkeit zwar nicht die Wirklichkeit und die Objektivität der unmittelbaren Sinnlichkeit beanspruchen, wohl aber, gleich Kants Ideen, als eine Vertretung der höheren und allgemeineren Wirklichkeit der intelligiblen Welt gelten könnte." (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 77).
"Erhebt man sich einmal über diesen Standpunkt (übernatürliche Schöpfung und jüngstes Gericht); sucht man den Ruhepunkt der Seele im Gegebenen, so wird man sich auch leicht dazu bringen, ihn nicht in der ewigen Dauer des materiellen Zustandes zu finden, sondern in der Ewigkeit der Naturgesetze und in einer solchen Dauer des Bestehenden, welche uns den Gedanken seines Untergangs in eine hinlängliche Ferne rückt. Die architektonische Neigung der Vernunft wird sich aber zufrieden geben, wenn man ihr den Reiz einer Weltanschauung enthüllt, die keine sinnliche Stütze mehr hat, die aber auch keiner bedarf, weil alles Absolute beseitigt ist. Sie wird sich erinnern, daß diese ganze Welt der Verhältnisse durch die Natur unserer Erkenntnisvermögen bedingt ist. Und wenn wir dann auch immer wieder darauf zurückkommen, daß unsere Erkenntnis uns nicht die Dinge-ansich erschließt, sondern nur ihr Verhältnis zu unseren Sinnen; zu unseren Sinnen; so ist doch dieses Verhältnis umso vollkommener, je lauterer es ist; ja es ist sogar der berechtigten Dichtung eines Absoluten umso tiefer verwandt, je reiner es sich von willkürlichen Beimischungen erhält." (ebd. Seite 229; erste Auflage Seite 497).
Schließlich bemerke ich noch, daß meine "Kritik der kantischen Erkenntnistheorie" sowohl als Grundlage, wie als Ergänzung dieses Traktats zu betrachten ist.
LITERATUR Gideon Spicker, Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie,
Berlin 1874
Anmerkungen 1) Welche Verachtung in dieser Zusammenstellung mit Hegel liegt, kann aus Seite 21, 241, 327 ersehen werden. 2) Ähnlich hat es Hegel mit der Chronologie gemacht (a. a. O., Seite 327).