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IWAN LAPSCHIN
Denkgesetze und Erkenntnisformen (1)

T H E S E N

1. Die meisten Denker der Gegenwart erkennen die Allgemeingültigkeit der Denkgesetze (z. B. des Satzes vom Widerspruch) offen oder stillschweigend an, stellen jedoch die erkenntnistheoretische Notwendigkeit bald der einen, bald der anderen Erkenntnisformen in Abrede.

2. In der modernen Philosophie findet häufig ein transzendenter Gebrauch der Denkgesetze, d. h. eine Übertragung auf die Dinge-ansich statt.

3. Der Gebrauch der Denkgesetze ohne vorhergehende Begründung ihres Zusammenhangs mit den Erkenntnisformen in der Erkenntnislehre ist ebenso wie die transzendente Anwendung derselben in der Metaphysik vollkommen willkürlich.

4. Die "reine Empfindung" enthält bereits in einer unbemerkten Form die notwendigen Elemente der Erkenntnis (Raum, Zeit, die Kategorien, Bewußtseinseinheit) und die "Entwicklung der Erkenntnisformen" stellt sich bloß als Entwicklung der Erkenntnis dieser Formen dar.

5. Raum und Zeit sind vom Bewußtseinsinhalt nicht zu trennen; ein leerer Raum und eine leere Zeit bedeuten Hirngespinste.

6. Die kategoriale Synthese kann ebenfalls nicht von den sinnlichen Bewußtseinsdaten getrennt werden.

7. Das "Ich" ist keine Substanz, sondern die vom Bewußtseinsinhalt unabtrennbare formale Einheit des Bewußtseins.

8. Die erkenntnistheoretische Untersuchung der Einheit der Apperzeption zeigt, daß die Denkgesetze in der kategorialen Synthese gründen, in der sämtliche Erkenntnisformen zusammenwirken.

9. Folglich gehen alle, welche die kritische Erkenntnislehre ablehnen, dadurch auch des Rechts verlustig, sich auf die Gesetze der formalen Logik zu berufen.

10. Es bleibt unaufgeklärt, ob die in den Kategorien gründenden Denkgesetze auf die Dinge-ansich angewandt werden können, und das ganze Rätsel der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des Dings ansich besteht eben in der unbewußten Übertragung der Denkgesetze auf die Dinge ansich.

11. Sobald die Anwendbarkeit der Denkgesetze außerhalb des Gebiets möglicher Erfahrung als völlig unerlaubt erkannt ist, verliert auch die Metaphysik als beweiskräftige Wissenschaft jede raison d'être [Rechtfertigung - wp]

12. Streng genommen dürfen wir keine Definition der Erkenntnisformen geben, denn jede Definition bildet ein Urteil, jedes Urteil aber einen Denkakt, alle Denkakte jedoch sind den notwendigen Formen des Denkens unterworfen, somit hätten wir hier einen circulus in definiendo.

13. Ebenfalls kann nicht bewiesen werden, warum die Zahl der notwendigen Erkenntnisformen n, nicht aber n + m oder n - m beträgt, da ein jeglicher Beweis schon die Denkgesetze und die sie stützenden Erkenntnisformen voraussetzt und unsere Vernunft in diesem Fall einen circulus in demonstrando begehen würde.

14. Die Denkgesetze bedeuten leere Abstraktionen zum Ausdruck der Allgemeinheit, Notwendigkeit und Unersetzbarkeit der Erkenntnisformen.

15. Die logische Gleichwertigkeit der Erkenntnisformen gibt uns die Möglichkeit, ein geordnetes Verzeichnis der metaphysischen Fiktionen aufzustellen.

16. Das Gesetz von der Kommutabiliät [Vertauschbarkeit - wp] der Erkenntnisformen besteht in der Gleichgültigkeit der Reihenfolge bei der Deduktion der Kategorien.

17. Da die Anerkennung einer Mehrheit von gleichwertigen und kommutativen Erkenntnisformen die notwendige Bedingung der Widerspruchslosigkeit unserer Erkenntnis darstellt, so ergibt sich, daß der Kritizismus die reinste Ausdrucksform des Strebens nach einer widerspruchslosen Weltanschauung bildet.

18. Der Mangel an Vertrauen auf die Möglichkeit einer wenn auch langsam vorrückenden Ausarbeitung einer widerspruchslosen Weltauffassung ist die Ursache des skeptischen Verhaltens der rationalen Erkenntnis überhaupt gegenüber. In der neuesten Philosophie sind vier Abarten eines solchen Skeptizismus anzutreffen: der Skeptizismus des Dilletanten, des Gelehrten, des Pessimisten und des Ästhetikers.

19. Bei der sogenannten Verletzung der Denkgesetze läßt sich nur eine Störung des Zusammenhangs der Vorstellungen mit der Sprache feststellen.

20. Die Entstehung metaphysischer Fiktionen ist nicht einfach durch die willkürliche Verbindung widersprechender Merkmale bedingt, dieselben sind nicht ausgedacht, sondern gehen (wie auch einige mathematische Begriffe) gesetzmäßig aus der vielseitigen Struktur der Denkgesetze, dank auch aus der psychischen Trägheit hervor.

21. Der metaphysische Symbolismus besitzt gemeinsame Züge mit dem sprachlichen, mathematischen und logischen Symbolismus.

22. Die Formen und der Inhalt der Erkenntnis haben getrennt überhaupt keinen Sinn und können auch nicht auseinander deduziert werden: die "reine Vernunft" und die "reine Erfahrung" sind für sich genommen zwei leere Fiktionen.
LITERATUR - Iwan Lapschin, Denkgesetze und Erkenntnisformen, Kant-Studien, Bd. 14, Berlin 1909
    Anmerkungen
    1) Mit Bezug auf die gleichnamige, in russischer Sprache erschienene Schrift des Verfassers (Privatdozent an der Universität St. Petersburg). Diese Schrift (im Umfang von 270 Seiten) bildet den 80. Band der Berichte der Historisch-Philologischen Fakultät der Petersburger Universität. Von demselben Vertreter des Kritizismus sind außerdem noch folgende Schriften in russischer Sprache erschienen: Die philosophische Bedeutung der psychologischen Ansichten von William James (1906, 35 Seiten). - Über die Möglichkeit des ewigen Friedens in der Philosophie (1899, 10 Seiten). - Über die Feigheit im Denken. Ein Beitrag zur Psychologie des metaphysischen Denkens vom kritischen Standpunkt aus (1900, 64 Seiten). - Das Schicksal der kritischen Philosophen in England bis zum Jahr 1830. (Aufgrund der Sammlungen des britischen Museums geschrieben) (1901, 36 Seiten). - Das mystische Erkennen und der universelle Affekt. Eine psychologische Untersuchung der mystischen Ekstase vom kritischen Standpunkt aus (1904, 92 Seiten) - Eduard von Hartmann. Eine Darstellung der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Psychologie Hartmanns und eine Würdigung desselben vom kritischen Standpunkt aus (1908, 48 Seiten) - Heinrich Gomperz' Pathempirismus (1908, 24 Seiten). - Heinrich Maiers Psychologie des emotionalen Denkens (1908, 35 Seiten). - Kant und die positiven Wissenschaften (Vom Zusammenhang der Philosophie Kants mit seinem Verdienst um die positive Wissenschaft) (1908, 24 Seiten).