ra-2F. LifschitzK. DiehlF. EulenburgO. SpannR. SchüllerR. Stammler     
 
GEORG SIMMEL
Zur Methodik der
Sozialwissenschaft
(1)

"So wenig also etwa das Kausalgesetz aus der Erfahrung abzuleiten ist, da es vielmehr diese erst aus dem rohen Stoff sinnlicher Eindrücke formt: so wenig kann das Recht aus der Wirtschaft hervorgehen; denn Wirtschaft bedeutet entweder die bloße Technik und insofern ist sie überhaupt keine soziale Angelegenheit, oder sie bedeutet die soziale Wirtschaft und diese entsteht überhaupt erst als Gestaltung eines technischen Materials  in bestimmten Rechtsformen.  Deshalb stehen Recht und Wirtschaft auch gar nicht, wie vorgegeben wird, in einem Verhältnis der Wechselwirkung. Die rechtlichen Regeln stellen vielmehr die formale Seite eines einheitlichen Objekts sozialwissenschaftlicher Untersuchung, des  sozialen Lebens  dar, dessen bloße Materie die technische Produktion ist."

"Überall da, wo das Verhalten von Menschen nicht nur von Naturgesetzen, sondern von einer menschlichen Normierung - selbstverständlich innerhalb der von jenen gesetzten mechanischen Notwendigkeiten - bestimmt wird, - da ist  Gesellschaft." 


I.

Die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis - ihrer Bedeutung, ihres Ursprungs, ihres Rechts - beunruhigt den menschlichen Geist nur selten so, wie es ihrer Tiefe und Schwere entspräche. Solange uns das Erkennen brauchbare Inhalte für die praktischen, wie für die ideellen Seiten des Lebens liefert, lassen wir die Fragwürdigkeit seiner Fundamente auf sich beruhen; erst wenn wir seine Resultate, an unseren inneren Bedürfnissen gemessen, als zuzulänglich oder feindselig empfinden, erhebt sich das kritische Problem der Begründung, des Sinnes, der Geltung dieses Erkennens überhaupt. So entstand die Erkenntniskritik KANTs, als eine 150-jährige Entwicklung der Naturwissenschaft ausschließlich Mathematik und Mechanik als legitime Erkenntnisinhalte inthronisiert und so den ganzen Bereich dieser in einen furchtbaren Gegensatz gegen alle Bedürfnisse des Gemüts gestellt hatte. So scheint heute das sozialwissenschaftliche Erkennen eine prinzipielle Kritik seiner selbst zu verlangen, da aus dem endlosen Streit um seine Inhalte sich nur das eine unzweideutig erhellt: seine Unzulänglichkeit gegenüber der drängenden Not der Zeit, die doch an dieses Erkennen vor allem zu appellieren hätte.

Die großen Parteigegensätze allen Erkenntnislebens treten auch hier auf den Plan. Einerseits ein Empirismus, der mit der Konstatierung der Tatsachen, mit der historischen Beschreibung des sozialen Lebens abschließt; andererseits eine konstruktive Systematik, die von allgemeinen Begriffen ausgeht und von der Entwicklung dieser die Wahrheit erwartet, die von den Tatsachen nur nachträglich und unvollkommen bestätigt werden kann. Nun aber wächst dieser Gegensatz, der allen theoretischen Gebieten eigen ist, hier in die praktischen Fragen hinein. Die empiristische Richtung wird aus dem bisher beobachteten Verlauf der Dinge den weiteren als einen unvermeidlichen erschließen, dessen Tatsächlichkeit man sich unterordnen muß; als praktisch bewegende Kraft gilt hier die sachliche Gesetzlichkeit der Verhältnisse, die wir einfach empirisch zu rezipieren haben. Auf der anderen Seite wird die Tendenz, die sich nicht einmal in der Theorie mit den bloß hingenommenen Tatsachen beruhigt, sondern ein begriffsmäßig abgeschlossenes Vernunftsystem der Dinge sucht, von der Vernunft aus auch die praktische Entwicklung leiten und dem bloß natürlichen Verlauf dieser die Wirksamkeit der Ideen, der Werte, der Freiheit entgegenstellen wollen.

Nun hat KANT den Streit zwischen Empirismus und Metaphysik dadurch geschlichtet, daß er nachwies, wieviel Metaphysik in der Erfahrung selbst unvermeidlich enthalten ist; daß diese kein passives Hinnehmen tatsächlicher Eindrücke ist, sondern eine Bearbeitung der letzteren nach Kategorien, welche a priori in uns liegen. Diesen Gesichtspunkt, den KANT ausschließlich auf Naturwissenschaft anwandte, habe ich in meinen "Problemen der Geschichtsphilosophie" für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen gesucht, indem ich nachwies, wie sehr die Geschichtsforschung auch da von apriorischen Voraussetzungen abhängig ist, wo sie rein empirisch vorzugehen glaubt, und wieviel Überempirisches in ihrer scheinbaren exakten Tatsächlichkeit steckt. Ganz unabhängig hiervon bietet RUDOLF STAMMLER in seinem Werk: "Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung" eine Anerkennung jener kantischen Methodik auf die Sozialwissenschaft. Gegenüber den empiristischen Richtungen derselben will er nachweisen, daß eine wissenschaftliche Erfahrung über soziale Dinge überhaupt nur möglich ist, wenn gewisse Begriffe zugrunde liegen, die aus dem Stoff menschlicher Triebe und menschlicher Technik erst das Bild einer  Gesellschaft  zustande bringen. Auf die theoretische wie auf die praktische Seite des prinzipiellen Konflikts wendet STAMMLER diesen kritischen Lösungsversuch an.

Die empiristische Geschichtsbetrachtung des historischen Materialismus behauptet bekanntlich, daß das in einer Gesellschaft gültige Recht nur der Ausdruck und das Produkt ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse ist; zugrunde liegt die technische Produktion, die Wirtschaft als bestimmt geartete Erzeugung und der Austausch materieller Güter, und durch sie bestimmt sich die rechtliche Gestaltung der Gesellschaft. Dem gegenüber behauptet STAMMLER: Die soziale Wirtschaft bringt das Recht so wenig hervor, daß dieses vielmehr zugrunde liegen muß, damit es überhaupt eine soziale Wirtschaft gibt. Natürlich ist dies nicht im Sinne eines zeitlichen Vorhergehens gemeint; die historische Wirklichkeit soll vielmehr das unmittelbare Zusammen einer technisch-materiellen Produktion und einer rechtlichen Regelung sein. Aber diese letztere ist  das  logische Prius, das zur ersteren gehört, wie die Form zum Stoff, und die bloße Stofflichkeit der technischen Gütererzeugung bildet erst dadurch eine soziale Wirtschaft, daß sie in rechtlich geregelten Formen stattfindet. Abgesehen von diesen ist sie ein Objekt der Naturwissenschaft, Technologie, Individualpsychologie - aber keines einer besonderen, nämlich sozialen, Wissenschaft. So wenig also etwa das Kausalgesetz aus der Erfahrung abzuleiten ist, da es vielmehr diese erst aus dem rohen Stoff sinnlicher Eindrücke formt: so wenig kann das Recht aus der Wirtschaft hervorgehen; denn Wirtschaft bedeutet entweder die bloße Technik und insofern ist sie überhaupt keine soziale Angelegenheit, oder sie bedeutet die soziale Wirtschaft und diese entsteht überhaupt erst als Gestaltung eines technischen Materials  in bestimmten Rechtsformen.  Deshalb stehen Recht und Wirtschaft auch gar nicht, wie vorgegeben wird, in einem Verhältnis der Wechselwirkung. Die rechtlichen Regeln stellen vielmehr die formale Seite eines einheitlichen Objekts sozialwissenschaftlicher Untersuchung, des sozialen Lebens dar, dessen bloße Materie die technische Produktion ist. Es ist deshalb zumindest ein mißverständlicher Ausdruck, wenn man etwa die Benutzung der Dampfkraft schlechthin als die Ursache der sozialen bzw. rechtlichen Umwälzungen dieses Jahrhunderts betrachtet. Sie hat als bloße Technik mit der Gesellschaft als solcher und ihrem Recht gar nichts zu schaffen. Nur weil sie in eine bestehende rechtliche Ordnung hineintraf und in die Formen derselben gefaßt wurde, vollzog sich der Vorgang, den man als Zersetzung des Handwerks und Proletarisierung der Massen zu bezeichnen pflegt. Unter einer anderen Rechtsordnung, z. B. einer sozialistischen oder anarchistischen, hätte die Erfindung der Dampfmaschine völlig andere soziale, bzw. Rechtswirkungen gehabt. Die soziale Bedeutung einer veränderten Produktionstechnik ist also davon abhängig, daß sie sich in bestimmten Rechtsformen auslebt und mit diesen soziale Gesamtphänomene erzeugt, welche dann ihrerseits freilich auf Änderungen der rechtlichen Verfassung hindrängen können.

Hiermit ist allerdings ein bedeutsames heuristisches Prinzip ausgesprochen. Allzu unbedenklich hat man aus den Unterschieden der technischen Produktion: ob Handwerk oder Fabrikbetrieb, ob Gemengelage oder Sonderung der Äcker, ob Arbeitsteilung oder undifferenziertes Produzieren - die Notwendigkeit bestimmter Modifikationen des Rechts hergeleitet und dabei übersehen, daß jede Änderung der Technik solche charakteristischen Folgen nur insofern entfalten kann, als sie auf eine schon bestehende, bestimmt qualifizierte Sozialordnung trifft. Nur im Zusammenhang mit dem Recht, in dessen aktuelle Formen er sich zunächst kleidet, kann der Fortschritt der Produktionstechnik jene sozialen Erscheinungen hervorrufen, die dann in neuen Rechtsbestimmungen ihren abstrakten Ausdruck finden. Die Aufgabe wird also nicht mehr lauten: aus den Wandlungen der ökonomischen Materie die Wandlungen des Rechts als des "Überbaus" derselben zu erklären, - sondern vollständiger und tiefergreifend: diese Wandlungen aus den spezifischen Erscheinungen zu erklären, welche die technisch ökonomische Wandlung durch ihr Eintreten in eine schon gegebene Rechtsordnung hervorgerufen hat und welche bei Konstanz jenes materiellen Faktors doch ganz anders ausgefallen wären, wenn die von ihm vorgefundene rechtliche Verfassung eine andere gewesen wäre. Damit scheint mir die Meinung, daß die Produktion als solche, ausschließlich vermöge ihrer immanenten technischen Eigenschaften, die zu ausreichende Ursache einer Rechtsordnung ist, definitiv entthront und als Fall jenes typischen Irrtums nachgewiesen: daß bei Veränderung eines Elementes aus eine komplexen System das nächste Entwicklungsstadium des Ganzen ausschließlich als der Erfolg jenes einzelnen Elementes gilt, während es in Wirklichkeit aus denjenigen Kombinationen besteht, welche das relativ unveränderte Weiterwirken der übrigen Elemente mit den Veränderungen jenes einen eingeht. So ist z. B. auch dem Einzelnen gegenüber zwar für den populären Ausdruck, keineswegs aber für die wissenschaftliche Analyse ausreichend, wenn etwa seine Verarmung als Ursache seines moralischen Herunterkommens gilt. Denn nur im Zusammenwirken mit der vorgefundenen Konstitution dieses Individuums hat das veränderte ökonomische Moment den Gesamteffekt der moralischen Verlumpung ergeben und ein ganz anderer wäre jenem Moment gefolgt, wenn die übrigen, relativ konstanten Prozesse der fraglichen Seele,  denn der veränderte als Ursache des neuen Zustandes doch nur koordiniert  ist, andere gewesen wären.


II.

Jener fruchtbare methodische Gedanke STAMMLERs ruht jedoch auf einem allgemeinen soziologischen Prinzip, das mir viel fragwürdiger erscheint und so wiederum beweist, daß in geistigen Dingen die Lockerheit des Fundaments nicht die Festigkeit des Überbaus zu gefährden braucht. STAMMLER sucht einen völlig scharfen Begriff von "Gesellschaft" - im Gegensatz zu einem bloß naturhaften Zusammen, der bloßen Summe der Einzelnen; und er findet ihn darin, daß soziales Leben "ein durch äußerlich verbindende Normen geregeltes Zusammenleben von Menschen" ist. Dadurch erst würde das soziale Leben der einheitliche Gegenstand einer besonderen Wissenschaft; die von Menschen gesetzte Regelung scheidet das gesellschaftliche Zusammensein vom bloß natürlichen, während zugleich die Äußerlichkeit dieser Regelung, d. h. ihre Gleichgültigkeit gegen die subjektiven Triebfedern ihrer Befolgung, sie von der Moral trennt. Die äußerliche Regelung - die keineswegs nur eine rechtliche, sondern auch eine konventionale sein kann - ist das Apriori, unter dessen Bedingung das Gebiet der Gesellschaft als eine wissenschaftliche Einheit erscheint.

Ich will die Bedeutsamekeit dieses Versuches nicht verkennen. Mit großer Schärfe ist hier das Problem erfaßt: nach welchem Gesichtspunkt sich aus dem ungeheuren Nebeneinander und Durcheinander der Individuen das besondere Objekt ausscheidet, das wir Gesellschaft nennen? und man kann seine Antwort allgemein so ausdrücken: dadurch, daß eine Zusammenfassung der Individuen nach  Ideen  geschieht. Wie eine Welt des Schönen dadurch zustande kommt, daß wir das natürliche, gegen schön und häßlich gleichgültige Sein nach diesen Gesichtspunkten ordnen, wie die sittliche Welt entsteht, indem wir die ansich nur kausal bestimmten Erscheinungen nach Werten gliedern, sie gleichsam durch Linien verbinden und sondern, die in ihrer bloß natürliche Struktur nicht vorgezeichnet sind: so entsteht die Welt der sozialwissenschaftlichen Betrachtung, indem man diejenigen Synthesen von Individuen, die einer von Menschen gesetzten Regelung unterstehen, aus dem Wirbel der natürlichen Beziehungen heraushebt und als einheitliches Objekt der sozialen Wissenschaft zusammenschließt. Überall da, wo das Verhalten von Menschen nicht nur von Naturgesetzen, sondern von einer menschlichen Normierung - selbstverständlich innerhalb der von jenen gesetzten mechanischen Notwendigkeiten - bestimmt wird, - da ist "Gesellschaft".

Allein hiermit scheint mir eine bloße Nebenerscheinung, eine sekundäre  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] zum positiven Lebensprinzip der Gesellschaft erhoben zu sein. Die Religionsgemeinschaft z. B. wird allerdings gewisser äußerlicher Regelungen ihres Zusammenseins nicht entbehren können; was sie aber zur gesellschaftlichen Einheit zusammenbindet, das ist das Bewußtsein des gemeinschaftlichen Verhältnisses zu einem höchsten Prinzip, sie bildet sich als Gesellschaft nicht vermöge der "Regelung durch äußerlich verbindende Normen", sondern dadurch, daß jeder sich mit dem andern im Glauben eins weiß. Und dies ist nicht etwa, nur die  Veranlassung,  auf welche hin dann erst die Vergesellschaftung gemäß STAMMLERs Definition eintreten würde, sondern dieses Bewußtsein, diese psychologische Wechselwirkung in der "unsichtbaren Kirche" ist schon Gesellschaft, und es ist nur eine Art der Ausgestaltung der schon bestehenden Vergesellschaftung, wenn die Mitglieder an irgendeine äußerliche Norm des Verhaltens gebunden werden. Ferner: die Mitglieder eines Kassenvereins unterliegen freilich einer bestimmten Regelung der Beiträge und Entnahmen, weil ohne solche das Ganze nicht bestandfähig wäre. Allein das ist doch nur eine limitierende Bedingung; das positive vergesellschaftende Prinzip ist die gegenseitig gewährte Hilfe, nicht die Form der technischen Regelmäßigkeit, in die sie sich kleidet. Und schließlich einen Fall aus niederem Gebiet. Ein geselliges Beisammensein, eine "Gesellschaft" im engeren Sinne setzt zweifellos eine große Anzahl äußerer Regelungen des Verhaltens bei den Teilnehmern voraus. Allein selbst wenn auch diese alle eingehalten werden, so wird doch die Gesellschaft ihrem Sinn und Lebensprinzip, aristotelisch ausgedrückt: ihrer Entelechie [sich im Stoff verwirklichende Form - wp] nach, erst dann daraus, wenn ein gegenseitiges Vergnügen, Anregen, Erheitern eintritt. Den Begriff der Gesellschaft von der "äußerlichen Regelung" herzuleiten ist dasselbe, als wollte man den Begriff des Zweckhandelns von dem der menschlichen Hand abhängig machen. Denn es mag freilich jegliches Zweckhandeln nur in den Bewegungsformen erfolgen können, die der Mechanismus unserer Hand ermöglicht - aber darum ist diese technische Bedingung doch nicht das Wesen des zweckmäßigen Tuns. Regelung ist so wenig die schöpferische Bedingung der Gesellschaft, wie etwa die Sprache es ist. Gewiß gibt es keine Vergesellschaftung ohne Sprache in Worten oder Gebärden; ebensowenig gibt es andererseits Sprache ohne Vergesellschaftung. Demnach ist sie, wie die Regelung, eine Bedingung oder eine Form, ein Produkt oder ein Mitproduzent der Gesellschaft - aber nicht deren Kern und Wesen selbst.

Und was kann Regelung denn bedeuten? (2) Doch nur Befehl, Garantie, Vorsatz einer Gleichmäßigkeit des Verhaltens. Das Benehmen einer Person bzw. der Mitglieder einer Gruppe ist dann "geregelt", wenn in der gleichen bedingenden Situation immer die gleiche Handlung ihrerseits erfolgt. Nun ist kein Zweifel, daß, von allem Inhalt des Handelns abgesehen, eine solche Gleichmäßigkeit seiner Formen vorhanden sein muß, damit eine Gesellschaft überhaupt bestandfähig ist. Wie der Einzelne nicht existieren könnte, wenn er, mit absoluter Launenhaftigkeit, auf die gleiche Lage mit stets wechselnden Handlungen reagierte, so würde auch keine Gesellschaft bestehen können, wenn unter ihren Mitgliedern, im Nebeneinander, die entsprechende Ungleichmäßigkeit herrschen würde. So ist die Regelung aber nur die Bedingung, daß eine einmal entstandene Gruppe weiter besteht, nicht die formende Bedingung ihres Entstehens. - Und wenn STAMMLER die sonst noch mögliche Regelung des Verhaltens, nämlich die moralische, dadurch ausschließt, daß er die gesellschaftliche ausdrücklich als eine "äußere", d. h. von den subjektiven Triebfedern ihrer Erfüllung ganz unabhängige bezeichnet, so fördert auch dies unsere Einsicht in das Wesen der Gesellschaft nicht. Denn damit eine Regelung - im Gegensatz zu der aus dem Innern des Subjekts stammenden - eine "äußere" sei, bedarf es doch schon einer Gesellschaft. Wenn die Regelung nicht von innen kommen soll, so kann sie nur von Subjekten außerhalb des Subjekts ausgehen, mit denen dieses in bindenden Beziehungen steht, d. h. von einer Gesellschaft. Die Definition dreht sich also im Kreis.

Ich glaube nicht, daß man bei sozialphilosophischen Untersuchungen von einer bestimmteren Definition der Gesellschaft ausgehen darf, als daß Gesellschaft überall da ist, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung stehen. Denn wenn Gesellschaft ein eigenes Objekt einer selbständigen Wissenschaft sein soll, so kann sie es nur dadurch, daß aus der Summe der Einzelwesen, die sie ausmachen, eine neue Einheit entsteht; andernfalls wären alle Probleme der Sozialwissenschaft nur solche der Individualpsychologie. Einheit aus mehreren Elementen aber ist nichts als Wechselwirkung derselben, gegenseitig ausgeübten Kräfte der Kohäsion, Attraktion, vielleicht sogar einer gewissen Repulsion [Abstoßung - wp]. Daß diese Wechselwirkungen, die die individuellen Elemente zu einer höheren gesellschaftlichen Einheit zusammenbinden, in der Form der Regelung ablaufen, mag zugestanden werden, bedeutet aber nicht das Wesen, sondern nur ein Attribut der Vergesellschaftung.

Man könnte meiner Begriffsbestimmung der Gesellschaft entgegenhalten, daß auch zwei kämpfende, also sehr entschieden wechselwirkende Heere dennoch eine "Gesellschaft" bilden. Ich bin tatsächlich geneigt, den Krieg als einen Grenzfall der Vergesellschaftung aufzufassen. Es wird niemand bezweifeln, daß die Konkurrenz ein soziales Prinzip ist; ja vielleicht bedarf sogar jede Vergesellschaftung, wie die physische Welt, neben den attraktiven auch repulsiver Kräfte; erst Konkurrenz und Haß, Zurückhaltung und Entfremdung schaffen in Gemeinsamkeit mit den entgegengesetzten, den verbindenden Kräften die bestimmt umgrenzte Form der Gesellschaft, ja, oft auch der einzelnen Verhältnisse, die bei alleiniger Wirksamkeit der zentripetalen Tendenzen in eine formlose Masse zusammenschmelzen würden. Der Krieg ist diejenige Wechselwirkung, in der das Quantum der vereinheitlichenden Kräfte gegenüber den repulsiven, sich dem Grenzwert Null nähert, bzw. ihn in den Fällen einer Kriegsführung ohne irgendein beiderseitig eingehaltenes Kriegsrecht auch erreicht. Sieht man ihn so als Grenzfall der Vergesellschaftung an, so ist er keine Gegeninstanz gegen die obige begriffliche Feststellung derselben.


III.

In einem scharfen Gegensatz zu allem Relativismus behauptet STAMMLER einen unbedingten Unterschied innerhalb der sozialen Bestrebungen; zwischen den bloß subjektiven, ausschließlich dem Impuls der gegebenen Lage entspringenden und den objektiv begründeten, nach einem allgemeingültigen Gesichtspunkt berechtigten. Es gibt zwar kein inhaltlich bestimmtes soziales Sein oder Geschehen, das sich als das schlechthin berechtigte, als absolutes Ideal behaupten könnte, aber es muß ein solches als formale Idee geben, an der sich entscheidet, ob ein empirischer, bwz. erstrebter sozialer Zustand objektiv berechtigt ist - einen höchsten Einheitspunkt allen sozialen Urteils, der zwar seinem Begriff nach nicht konkret zu verwirklichen ist, aber richtend über allen Einzelzwecken steht. Als das so beschriebene Endziel allen sozialen Lebens gilt ihm "die Gemeinschaft frei wollender Menschen".

Ich lasse diese Bestimmung des normativen Ideals, als nicht von methodischem Interesse, hier beiseite und frage nach der von STAMMLER behaupteten Notwendigkeit eines solchen überhaupt. Ihn leitet die Analogie mit dem theoretischen Erkennen. Auch hier ist die unmittelbare Wahrnehmungstatsache noch nicht objektive Wahrheit; vielmehr muß der Gedanke einer allgemeingültigen Gesetzmäßigkeit und objektiven Einheit der Natur schon zugrunde liegen, damit aus der Wirrnis sinnlicher Einzelheiten eine gültige, der bloßen Subjektivität enthobene Wahrheit entsteht. So muß, damit es überhaupt zu einer Unterscheidung zwischen subjektiv zufälligen und objektiv berechtigten sozialen Strebungen kommt, ein  oberster  Grund vorhanden sein, ohne den es überhaupt keine Begründung für oder gegen eine soziale Einrichtung geben kann. - Diese Parallele beweist weniger, als sie zuerst glauben läßt. Wenn wir innerhalb der theoretischen Erkenntnis zwischen subjektivem Eindruck und objektiver Wahrheit unterscheiden, so gründet sich dies auf die Vorausetzung einer objektiven Welt jenseits des Ich (gleichviel ob in der erkenntnistheoretischen Spekulation das Ich auch noch die Welt umfaßt); dadurch werden Vorstellungen, welche mit dieser Welt übereinstimmen, als objektive charakterisiert, im Gegensatz zu denjenigen, denen diese Beziehung fehlt. Das Wollen jedoch, die Wertsetzung, die praktische Vorstellung hat nichts sich gegenüber, dessen Beziehung oder Beziehungslosigkeit zu ihr über ihre Objektivität oder bloße Subjektivität entscheidet. Die höchste Norm, von der jede singuläre ihre Rechtfertigung entlehnen soll, liegt ebenso innerhalb der menschlichen Wertsetzung, wie die tiefere, während das Denken sein Kriterium an seiner Übereinstimmung mit einer empirisch von ihm unabhängigen Welt findet. Der Gegensatz von Objektivität und Subjektivität hat deshalb auf theoretischem Gebiet einen ganz anderen Sinn als auf dem des Wollens; die Einheit der Erkenntnis findet an der gegenseitigen Kontrollen von Denken und Erfahrung einen festen Punkt, während dem Gebiet des Willens ein derartiges Kriterium und damit der Gegensatz einer objektiven Einheit seines Inhaltes zu den subjektiven Einzelheiten derselben mangelt.

Und was bedeutet denn eigentlich jene Einheit des theoretischen Weltbildes, die eine gleiche für das praktisch-soziale involvieren soll? Sie besteht darin, daß unsere einzelnen Erkenntnisvorstellungen nach Regeln zusammenhangen. Keineswegs nach einer einzigen höchsten Regel! Sondern jene angebliche Einheit geht in eine Mehrheit innerlich zusammenhangloser Prinzipien auseinander, z. B. den Satz des Widerspruchs, das Kausalgesetz, die mathematischen Axiome. Eine Welt, die wir gemäß dem Satz des Widerspruchs denken, braucht darum noch nicht kausal geordnet zu sein; eine kausal geordnete braucht noch nicht den euklidischen Axiomen zu unterliegen; umgekehrt könnte unsere Mathematik volle Geltung haben, ohne daß dadurch das Kausalgesetz involviert wäre. Die "Einheit der Erkenntnis" bedeutet also nur, daß die einzelnen Inhalte dieser sich nach der Norm einiger höchster Prinzipien verhalten, welche Prinzipien aber ihrerseits ihrem Inhalt nach keine "Einheit" bilden, sondern nur im tatsächlichen Weltbild nebeneinander gelten. Die Analogie zwingt uns also keineswegs, das Bild des sozialen Lebens für unvollendet zu halten, ehe wir zu einer höchsten Zweckeinheit desselben gelangt sind. Es ist vielmehr durchaus möglich, daß auch in diesem eine Reihe generell unterschiedener Tendenzen nebeneinander herlaufen, deren jede für sich einem höchsten, auf kein weiteres zu reduzierendes Endziel zustrebt. So glaube ich, daß der Individualismus und der Kollektivismus, die fortschrittliche wie die konservative Denkart, der Instinkt zur Subordination und der zur Koordination, die abstrakteren und die sensualistischen Neigungen - zu gesonderten sozialen Idealen aufstreben, deren jedes eine letzte Instanz bildet. Wenn nun im Konfliktfall zwischen diesen Tendenzen dennoch eine Entscheidung als objektiv richtig, die andere als falsch beurteilt und damit scheinbar ein höheres Kriterium  über  jenen einzelnen vorausgesetzt wird, so kann man ohne weiteres annehmen - was die Erfahrung ja auch in singulären Fällen tausendfach zeigt - daß auch in diesem höheren Kriterium nur die größere psychologische Kraft entweder eines einzelnen, oder - häufiger - die einer Kombination derselben zum Ausdruck kommt. Und dies kann man annehmen, ohne in den von STAMMLER perhorreszierten [ablehnenden - wp] Skeptizismus und empiristische Oberflächlichkeit zu verfallen.

Jede Epoche nämlich hat einen besonders gefestigten Schatz von Überzeugungen und Tendenzen - im Praktischen wie im Theoretischen -, der zum Kriterium aller einzeln auftretenden Vorstellungen und Strebungen wird, und so diesen als subjektiven gegenüber das Objektive repräsentiert. Dieser Komplex von Kriterien aber, wie er historisch entstanden ist, unterliegt nun weiterhin selbst der Umgestaltung, einerseits durch den noch sehr wenig aufgeklärten Prozeß der gleichsam organischen Selbstentwicklung der sozialpsychischen Inhalte, andererseits dadurch, daß jener Komplex verschieden betonte Elemente enthält und das früher untergeordnete zu einer herrschenden Stellung aufwachsen und damit den Charakter des Ganzen ändern kann. So erhebt sich über das bisher Höchste und Objektive durch immanente oder äußere Korrekturen eine neue Schicht von letzten Maximen, die nun ihrerseits zum Kriterium jener früheren wird. Gemeinsam sind allen Stadien dieses Prozesses nur die Gegensätze von Wahrheit und Irrtum, Objektivem und Subjektivem, Logischem und Psychologischem überhaupt; diese aber sind nichts als die abstrakten Ausdrücke für das Verhältnis der jeweils allgemeinsten, festesten, betontesten Vorstellungen zu den tieferstehenden. Das ist so wenig Skeptizismus, daß vielmehr umgekehrt das Festhalten an einem allgemeingültigen, absolut einheitlichen Ideal für Erkenntnis, Sittlichkeit und Gesellschaft zu skeptischer Verzweiflung führen muß, wenn wir uns dem gegenüber in nie gelöste Zwistigkeiten, Unsicherheiten, Unzulänglichkeiten verstrickt sehen. Dagegen gewinnen wir eine feste - im Unterschied von einer starren - Position, sobald wir das Objektive, im Erkennen wie im Handeln, für einen  Verhältnisbegriff  erklären, der die Relation der jeweils historisch herrschenden Vorstellungen und Tendenzen zu den schwächeren oder vorübergehenden oder individuelleren ausdrückt. Denn selbst wenn es jenes absolut sachlich richtige gäbe, so wäre es uns doch nur in der Gesalt der historisch zur Herrschaft gelangten Vorstellung zugänglich, stellt also erkenntnistheoretisch eine unnütze Verdoppelung derselben dar (3). Das verhindert natürlich nicht, daß wir die jeweilig höchsten Gesichtspunkte im Theoretischen wie im Praktisch-Sozialen so behandeln,  als ob  sie, in genetischem Unterschied gegen alle Einzelheit und Subjektivität der Bestrebungen, das objektiv Wahre darstellen.

Wenn man die relativistische Ansicht, die ich hier vertrete, nur hoch und weitgreifend genug faßt, so schließt sie in sich selbst die Ergänzungen ein, die ihre niedrigeren Formen in der entgegengesetzten, der rationalistischen und absolutistischen Theorie hatten suchen müssen. So wird sich von ihr aus z. B. der Widerstreit der historischen und der dogmatischen Schule in der Nationalökonomie folgendermaßen lösen. Von jedem wirtschaftlichen "Gesetz" wird man annehmen können, daß sich seine Gültigkeit aus den besonderen historischen Bedingungen der wirtschaftlichen Lage, seine Erkenntnis aus denen der wirtschaftlichen Situation der Zeit herleiten läßt. Allein dieser historische Vorgang ist nur verständlich unter der Voraussetzung und mit Verwertung gewisser  sachlich  gültiger Sätze und Begriffe, die das Apriori jener historischen Ableitung bilden. Diese wiederum ruhen auf einer vorangehenden, weiter zurückliegenden historischen Entwicklung; und diese ihrerseits bedarf zu ihrem Zustandekommen (sowohl an und für sich wie in der Erkenntnis) gewisser einfacherer, sachlich geltender Normen usw. ins Unbestimmte. Die in ihrer Allgemeinheit sehr wenig überzeugende Forderung, daß beide Methoden "sich gegenseitig ergänzen" sollen, wird hier durch das bestimmte Prinzip ersetzt: daß jedes rationalistische Theorem zu seinem Verständnis einer historischen Ableitung bedarf und daß diese historische Genesis wiederum nicht ohne rationalistisches Apriori stattfinden kann. Der hierin gelegene  regressus in infinitum  ist der völlig legitime Ausdruck für die über jeden gegebenen Stand hinaustreibende Unvollendbarkeit unseres Wissens. Kantisch ausgedrückt: statt zweier konstitutiver, und als solcher unversöhnlicher, Prinzipien erhalten wir zwei regulative, von denen jedes der Unterbau des anderen ist. Es handelt sich also nicht um eine mechanische Mischung oder einen eklektischen Kompromiß der entgegengesetzten Methoden, sondern darum, sie beide als alternierende Stufen  einer  umfassenden Methodik zu verwenden.
LITERATUR - Georg Simmel, Zur Methodik der Sozialwissenschaft, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 20. Jhg., Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Ein sozialphilosophische Untersuchung, Leipzig, 668 Seiten. - Die folgenden Skizzen stellen kein vollständiges Referat des gedankenreichen und tiefdringenden Werkes dar. Insbesondere die erkenntnistheoretische Kritik des historischen Materialismus, die es enthält, wird von keinem Anhänger oder Gegner desselben unbeachtet bleiben dürfen.
    2) Ich kann - salvo errore [unter Vorhalt eines Irrtums - wp] - in STAMMLERs Werk selbst keine Definition dieses seines Zentralbegriffes auffinden.
    3) "Wahr" ist ein Gedanke immer nur im Verhältnis zu einem anderen, nicht im Verhältnis zu einem außerhalb allen Denkens liegenden absoluten Wahrheitsideal. Das Ganze des Denkens ist so wenig wahr, wie das Ganze der Materie schwer ist; nur im Verhältnis der Teile untereinander gelten die Eigenschaften, die wir dann fälschlich einerseits auf das Ganze, andererseits auf das einzelne Element an und für sich übertragen. Wie lange hat man geglaubt, der Apfel wäre ansich schwer, bis man einsah, daß er es nur im Verhältnis zur Erde ist, wie sie es im Verhältnis zu ihm ist. Um den Unterschied des objektiv Richtigen vom bloß psychologisch Entstandenen zu erweisen, bedient sich STAMMLER oft der Überlegung, daß die Wahrheit eines Naturgesetzes, z. B. des Gravitationsgesetzes, völlig unabhängig von den psychologischen Umständen und Kräften ist, durch die NEWTON es entdeckt hat. Die Wahrheit habe eine in sich ruhende Gültigkeit, die sich in der zufälligen psychologischen Konstellation mehr oder weniger verwirklichen kann, ohne daß diese den Inhalt jener irgendwie verändern würde. Allein: das Gravitationsgesetz ist doch nur deshalb "Wahrheit", weil es gewisse Elemente unserer Vorstellungswelt am treffendsten und widerspruchlosesten zusammenfaßt. Nur bei einem gewissen Stand und Ausbildungsgrad des sonstigen wissenschaftlichen Weltbildes ist jenes Gesetz "Wahrheit"; nach einigen tausend Jahren wird es möglicherweise ein Irrtum sein. Diese Überzeugung kann als Skeptizismus nur solange erscheinen, als man an eine schlechthin objektive Wahrheit glaubt, die zu erreichen dann freilich keine menschliche Kraft ausreicht - gerade wie der kantische Idealismus solange als Leugnung der realen Außenwelt erscheinen muß, als man an einer im absoluten Sinn außerhalb uns befindlichen Welt festhält, der gegenüber all unsere Vorstellung ein bloß schwankender Traum sein muß. Die gleiche Kritik gilt gegen jeden Versuch, innerhalb der sittlichen und sozialen Welt ein substantielles und allgemeingültiges, wenn auch noch so allgemeines Ideal zu kreieren.