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MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Über den Begriff
und Satz des Bewußtseins

[Eine erkenntnistheoretische Untersuchung]
[2/2]

"Die unmittelbare Sinneswahrnehmung zeigt mir nur eine Reihe diskontinuierlicher Wahrnehmungsfragmente und es bedarf zahlreicher Beobachtungen unter den verschiedensten Bedingungen, um aus diesem Chaos die geordnete Wahrnehmungswelt, die dem entwickelten Verständnis gleichsam mit einem Schlag da zu sein scheint, herauszuarbeiten. Schon die Tatsache der Dreidimensionalität der Sinnesdinge ist kein unmittelbarer Sinnesinhalt."

"Die Verbindung der in zwei Zeitpunkten gegebenen Daten zu einem Gegenstand der Erfahrung ist die Verbindung eines Vergangenen mit einem Gegenwärtigen und überschreitet somit stets die gegenwärtige Bewußtseinslage. Die Synthesis ist keine Tatsache der Erfahrung, sondern eine Tat des Denkens."

"Das letzte und elementarste Wissen ist immer nur dem einfachen Existentialurteil äquivalent: ein Etwas, ein Ton, eine Farbe, ein Schmerz ist. Jede Zuordnung der einzelnen Daten zu einem Selbst, zu meinem Selbst, überschreitet bereits die Grenzen der reinen Erfahrung."


II.

So gewiß es ist, daß die Empfindung stets eine Relation zu einem Bewußtsein einschließt und daher ohne dasselbe einen angebbaren positiven Inhalt nicht mehr enthält, so gewiß ist es auch andererseits, daß diese Einsicht nicht der Behauptung gleichgesetzt werden kann, die Empfindung sei nur subjektiv gegeben. Ich habe es abgelehnt, im Zustand des unmittelbaren Wissens Subjekt und Objekt nach Analogie des entwickelten Denkens zu scheiden und schon aus diesem Grund ist es nicht angängig, die Empfindung etwa als ein subjektives Phänomen zu bezeichnen. Das Gegebene ist weder objektiv noch subjektiv; aber es ist zweiseitig; an ihm lassen sich in abstracto ein subjektives und ein objektives Moment abheben, die jedoch nicht als zwei selbständige Mächte einander gegenübertreten. Eine solche Zerlegung tritt erst in jenen intentionalen Erlebnissen ein, wo der aktuelle Vorgang des Denkens, des Fühlens auf das Schärfste vom Objekt, in Bezug auf welches ein derartiges Verhalten gilt, getrennt werden muß. Es kann gezeigt werden, daß in weitem Umfang die Sinnesdaten als die Objekte fungieren, auf welche die Intention gerichtet ist. Aber diese intentionalen Erlebnisse selbst sind immer nur für ein Bewußtsein da, das ihrer inne wird, in einem Vorgang, der nicht selbst einen intentionalen Charakter besitzt. Versteht man unter Bewußtseinsinhalt diese Tatsache, daß alles Gegebene ein unmittelbares Wissen um eben dieses Gegebene einschließt, dann ist der ganze Inbegriff der Erfahrung Bewußtseinsinhalt; und wenn auch dieser Terminologie noch eine gewisse Bildlichkeit des Ausdrucks anhaftet, so ist sie doch insofern zweckmäßig, als sie gestattet, die faktische Zusammengehörigkeit beider Tatsachen zu kennzeichnen ohne den hypothetischen Subjektcharakter in die Beschreibung aufzunehmen. So hat es keinen Sinn, von einem Bewußtseinsinhalt zu sagen, daß er nur Phänomen für ein Subjekt, nur subjektiv ist.

Diese weittragende Einsicht kann noch durch eine andere Betrachtung gefestigt und erweitert werden. Eine transzendente Gültigkeit ist dem Erfahrungsinhalt, den Sinneselementen, allerdings genommen; beschränkt man sich lediglich auf die Frage, ob den Empfindungen eine Existenz unabhängig von einem Bewußtseinsinhalt d. h. ohne das Merkmal der Bewußtheit zuzusprechen ist, dann muß nach dem Vorhergehenden die Antwort lauten: Wir wissen es nicht, denn die Frage ist unbestimmt, sie verliert, eben auf das Bewußtsein angewandt, ihren Sinn. Die letzte Einsicht, zu der wir gelangen können, spricht der Satz des Bewußtseins aus, nach welchem alles Erfahrbare unter der Bedingung steht, eine Tatsache des Bewußtseins zu sein. Aber dieses Bewußtsein, das dergestalt als die Bedingung aller Erfahrung erscheint, ist nicht identisch mit dem Subjekt, das im Vollzug des Urteils, in aller gegenständlichen Erkenntnis, in allen intentionalen Erlebnissen hervortritt. Dieses Bewußtsein ist nicht mein Bewußtsein; es hat nichts Individuelles an sich; es ist unpersönlich; es ist in jedem Sein als ein Moment enthalten, es umfaßt die Totalität aller Erfahrungen. Es ist die allgemeinste Charakteristik, die von der uns zugänglichen Wirklichkeit gegeben werden kann, daß sie nur ist, indem sie gewußt wird. Jedoch dieses Wissen ist nicht das Denken oder Vorstellen der einzelnen Personen, sein Träger nicht das empirische individuelle Ich; es ist primär gegenüber allen räumlichen, zeitlichen und kategorialen Bestimmungen und kann daher weder in einem Ort noch in einer Zeit, noch als ein Vieles oder Eines bestimmt werden, es entzieht sich jeder Fassung durch das Denken, dessen Voraussetzung es vielmehr bildet. Vergeblich haben Metaphysiker und Erkenntnistheoretiker daran gearbeitet, dieses Urphänomen des Bewußtseins, das stets erkennend nie erkennbar ist, mit den Mitteln unseres Verstandes zu bestimmen; sie haben es auf das eigene Ich eingeschränkt, es als eine Funktion einer, genauer meiner Person dargetan oder nach Analogie des individuellen Ich als ein überempirisches Ich begründet. Aber alle Versuche, welche die Geschichte der Philosophie hervorgebracht hat, zeigen nur, daß das Bewußtsein keins von beiden ist. Jenes entspringt einer Verwechslung des Bewußtseins mit dem "Selbst" der Eigenerfahrung, welches in der Tat das Individuellste ist, was es gibt, dieses dagegen ist die Hypostasierung [Verdinglichung - wp] einer bloßen Abstraktion nach dem Schema der individuellen Erfahrungen; aber das Bewußtsein ist weder das eine noch das andere.

Im Nachweis, daß eine Übertragung der im individuellen Denkerlebnis gegebenen Verhältnisse auf das unmittelbare Wisen, das jenem vorangeht, nicht zulässig ist, ist schon eine hinreichende Begründung dieses Satzes enthalten. Aber ich verdeutliche doch noch einmal, warum insbesondere das Bewußtsein, als dessen Inhalt das Gegebene bezeichnet werden kann, weil es die Bedingung der Existenz desselben ist, nicht dem Selbst, meinem Ich, dasnur einen Teil des Gegebenen bildet, gleichgesetzt werden darf.

Den Ausgangspunkt aller methodischen Selbstbesinnung bildet der Rückgang auf die eigene Erfahrung. Freilich der Beginn meiner Erfahrung ist mir verborgen und keine Erinnerung vermag den Ursprung und Inhalt des ersten Wissens mir zu vergegenwärtigen. Auch das Studium Neugeborener und das Studium fremder Kinder kann nicht durch ein Verfahren des Rückschlusses die Mängel meiner Kenntnis ergänzen. Nicht sowohl wegen der Vieldeutigkeit der Symptome, als vielmehr aus dem Grund, weil ein solches Verfahren schon die Anerkennung der Realität eines fremden Ich voraussetzt, die zunächst für mich problematisch bleiben muß. Es könnte sein, daß die Bedingungen für die Ausbildung fremden Geisteslebens als eines bloßen Phänomens in mir nicht die gleiche Gültigkeit für mich besitzen. So bin ich auf die Erfahrung gleichsam in einem Querschnitt meines Daseins in einem gegebenen Zeitmoment angewiesen. Und diese Erfahrung enthält ein Doppeltes: den Inhalt der Erfahrung und die Tatsache des Erfahrens selber. In der Reflektion zumindest, wenn auch nicht im Erlebnis, vermag ich beides zu scheiden und indem ich diese Tatsache als die durch das Bewußtsein gegebene Bedingung für die Möglichkeit der Erfahrung ausspreche, erhalte ich den allgemeinen Satz der Korrelativität von Bewußtsein und Inhalt. In dieser Fundamentalformel ist zunächst noch keine Entscheidung über den Ort des als Ich-Bezeichneten enthalten; aber wenn ich von meiner Erfahrung spreche, wenn ich behaupte, daß alle Dinge mir gegeben sind, ich nur von ihnen weiß, sofern sie als Tatsache meines Bewußtseins auftreten, entsteht die Aufgabe, dieses Ich näher zu bestimmen, und wenigstens in seiner Sphäre zu umgrenzen. Die Analyse des Begriffs des Bewußtseins hat bereits ergeben, daß das reine Bewußtsein diesem Ich nicht gleichgesetzt werden darf; jeder Versuch dieser Art verwickelt nicht nur in die Schwierigkeiten, die aus der Interpretation des Bewußtseinszustandes als eines Verhältnisses von Objekt und Subjekt entspringen, sondern er ist auch nur mittels einer Hypothese möglich, die in den Tatsachen der Selbstbeobachtung keine hinreichende Grundlage findet. Ganz deutlich ist dieser über die Grenzen einer strengen Selbstbesinnung hinausführende Schritt in der Argumentation des DESCARTES sichtbar, welche vom Prinzip des Bewußtseins aus die Existenz des Ich erweisen sollte. Wäre selbst der Satz: "Ich denke ich bin", in seiner Gültigkeit für den zweiten Teil allem Zweifel und aller Unbestimmtheit entrückt, so bleibt doch stets fraglich, mit welchem Recht das Wissen von meinem Zweifel (und dieses und nicht der gewußte Zweifel bildet den Ausgangspunkt) als ein Ich denke auf gefaßt wird. Aus dem Denken kann vielleicht die Existenz eines Denkenden gefolgert werden; aber das Bewußtsein ist eben kein Denken. Vielmehr ist das Denken, wie es stets mit einem unmittelbaren Wissen um sich selbst auftritt, ein Bewußtseinsinhalt. Denn das ist die andere Seite des Nachweises, daß alles Individuelle, alles, was mein Ich konstituiert, dem Inhalt angehört, daß die "Erfahrung überhaupt" nicht nur logisch meiner Erfahrung übergeordnet ist, sondern sie tatsächlich in sich enthält, sie einschließt.

Das Wort Ich umfaßt im gewöhnlichen Sprachgebrauch zwei Bedeutungen; einmal meine gesamte Persönlichkeit mit Einschluß meines Körpers und meiner Sinnesorgane, die ganze organische Verfassung, die als ein einheitliches System sich in der Umwelt, der Außenwelt erhält, und sodann in einem engeren Sinn den Inbegriff der geistigen Vorgänge des Wollens, Denkens und Fühlens, die man wohl als Charakter, als geistiges Ich, als Seele, allem körperlichen Geschehen mit Einschluß der materiellen Prozesse im eigenen Leib als der Außenwelt gegenüberstellt. In beiderlei Bedeutung, in der psychophysischen, wie in der psychologischen, besitzt aber mein Ich dieselbe Art von Existenz und Gewißheit als die anderen Dinge und Personen in Raum und Zeit. Für mein physisches Ich, für die Summe der Glieder und Teile, die meinen Körper ausmachen, ist dies zunächst ohne Weiteres einleuchtend. Allerdings ist richtig, daß unter allen räumlichen Gebilden meine Sinnesorgane eine ausgezeichnete Stellung einnehmen, insofern ihre Funktion die unerläßliche Bedingung für das Zustandekommen meiner Sinneswahrnehmungen bildet. Diese Einsicht ist so alt, wie die Versuche der Menschen, über die Entstehung der Erkenntnis Aufklärung zu gewinnen. Aber niemals kann sie dazu führen, in der Tätigkeit der Sinnesorgane allein die hinreichende Bedingung für die Erzeugung der Wahrnehmungsbilder zu erblicken. Ein Phänomenalismus, der behauptet, die Welt sei nur eine in meinem Kopf befindliche Vorstellung, ein Gehirnphänomen, mit SCHOPENHAUER zu sprechen, oder der die Annahme auch nur für diskutabel hält, daß die Rose, die ich jetzt anblicke, mit dem Lidschluß meiner Augen verschwindet, ist sinnlos, denn diese meine Sinnesorgane sind mir auch nur als Sinnesvorstellungen, durch ihre Wirkung auf Sinnesorgane gegeben; nur mittels einer wechselseitig sich unterstützenden Konstruktion von Sinneseindrücken erhalte ich eine Orientierung über Bau, Struktur und Funktion meines Körpers. Demgemäß gerät ein solcher physiologischer Idealismus, der von einem halluzinatorischen Charakter aller Wahrnehmungen ausgeht, notwendig in eine von zwei Absurditäten; entweder er gibt die Konsequenz zu, daß mein Sinnesorgan selbst nur ein Phantasma in einem Sinnesorgan ist, und dann entsteht ein unendlicher Regreß von ineinander geschachtelten Phänomenen, wie dann SCHOPENHAUER in der Tat das Gehirn zum Gehirnphänomen erklärt (38); oder aber er behandelt die Sinnesorgane als Dinge-ansich und dann kann mit vollem Recht gefragt werden, warum der Schluß von den Phänomenen auf eine metaphysische Substanz, wenn er überhaupt für die physischen Objekte zulässig ist, nicht für ihre Gesamtheit Geltung haben soll, da doch die Bedingungen ihrer Gegebenheit durchweg die gleichen sind. Ich sehe ganz davon ab, daß in einem frühen Stadium der kindlichen Entwicklung die Glieder des eigenen Körpers als fremde Gegenstände angesehen werden. Entscheidend ist vielmehr, daß die räumlich aufgefaßten Sinnesinhalte gar nicht im Bewußtsein in einem räumlichen Verhältnis zu den Sinnesorganen auftreten; vielmehr sind diese dem gleichen Zusammenhang von Phänomenen eingeordnet. Die Erkenntnis, daß diese insgesamt als Bewußtseinsinhalte gegeben sind, ist in Bezug auf ihre gegenseitige räumliche Orientierung bedeutungslos. Für den Erkenntnistheoretiker besteht daher kein Anlaß, in einem natürlichen Weltbild Elemente von verschiedener Provenienz [Herkunft - wp] zu unterscheiden und Teile von ihnen in ein besonderes funktionelles Abhängigkeitsverhältnis von anderen zu setzen und in diesen, die er seine Körper- und Sinnesorgane nennt, zu lokaliseren. Und wenn der Physiologe, gestützt auf seine Reaktionsversuche, auch zu dem Nachweis fortgeht, daß die Qualitäten, mit denen der naive Mensch die Welt bevölkert, allein im empfindenden Organismus vorhanden sind, wenn er so eine höhere Art von Subjektivität dieser Qualitäten etabliert, indem er sie aus dem Zusammenhang eines objektiven Naturgeschehens ausscheidet, um sie jenem Reich von Vorgängen einzugliedern, das als das Innenleben der Personen nicht in seine Beobachtungssphäre fällt: so erklärt er sie doch nur als phänomenal im Vergleich zu den Reizursachen. Bezeichnet er diese selbst als Phänomene, so werden ihm die Empfindungen seiner Versuchsperson, zu denen er sich übrigens selbst rechnen kann, Phänomene einer zweiten Ordnung. Aber darin liegt das Entscheidende, daß er gemäß seiner Methode, welche dem Verfahren der Selbstbesinnung gerade entgegengesetzt ist, den Akt des Wahrnehmens immer nur unter den Bedingungen des Naturganzen studieren kann, und eben darum in der Frage nach seiner Gültigkeit vom empirischen Dasein dieser Bedingungen ausgehen muß. Nur unter der Voraussetzung objektiv bestimmbarer Vorgänge in einem Medium, Fortpflanzung derselben bis zu den Sinnesorganen, Erregungszustände in den nervösen Apparaten vermag der Physiologe die Aussage des empfindenden Menschen hinsichtlich des empfundenen Sachverhaltes zu prüfen und einzuschränken. So schließt die Scheidung des in der spezifischen Reaktion, sei es der Nerven, des Gehirns oder der Seele Enthaltenen von seinen materiellen Ursachen, wenn sie eine reine Subjektivität der Empfindungen besagen soll, zugleich die Annahme einer Außenwelt, die Existenz von Bewegungen und Körpern und Sinnesorganen in sich. Es ist ein Mißverständnis, vielmehr ein methodischer Fehler, aus dem Satz der inadäquaten Reizung durch Verallgemeinerung einen generellen Zweifel am Dasein einer Außenwirklichkeit zu folgern; denn der Satz leugnet nur die Korrespondenz zwischen Empfindung und ihren materiellen Ursachen, aber diese selbst kann er nicht aufheben, ohne seinen Sinn zu verlieren. Die Existenz einer Außenwelt, sofern diese die Gesamtheit der von meinem leiblichen Ich unabhängigen Körper umfaßt, ist überhaupt kein Problem. Die Erde, auf der ich wandle, wie der Himmel mit seinen Gestirnen über mir ist mir genauso gewiß, wie das Dasein meiner Glieder und der Sinnesapparate, durch welche ich als ein lebender Organismus mit jenen Gebilden in einen Kontakt und Energieaustausch trete; ihre Realität ist von derselben Ordnung. Gewiß erfordert die Feststellung der empirischen Existenz dieser in jedem einzelnen Fall eine große Reihe sehr verwickelter psychologischer Operationen, die man etwa unter dem Namen der Intellektualität der Sinneswahrnehmung zusammenfassen kann.

Die unmittelbare Sinneswahrnehmung zeigt mir nur eine Reihe diskontinuierlicher Wahrnehmungsfragmente und es bedarf zahlreicher Beobachtungen unter den verschiedensten Bedingungen, um aus diesem Chaos die geordnete Wahrnehmungswelt, die dem entwickelten Verständnis gleichsam mit einem Schlag da zu sein scheint, herauszuarbeiten. Schon die Tatsache der Dreidimensionalität der Sinnesdinge ist kein unmittelbarer Sinnesinhalt, selbst wenn man die direkte Perzeption einer gewissen "Dicke" im Sinne der HERINGschen Ausführungen zugestehen will. Jeder Gegenstand hat eine Vorder- und eine Rückseite, die zugleich an ihm niemals von mir beobachtet werden können. So ist hier schon eine ergiebige Quelle von Täuschungen über die Existenz der individuellen Objekte. Und hierzu kommt noch die andere Tatsache, daß, wie DILTHEY in seiner Analyse der Entstehung des Glaubens an die Realität der Außenwelt (39) gezeigt hat, das Urteil über Realität nicht nur Denkvorgänge sehr komplizierter Art voraussetzt, sondern seinen zwingenden Charakter erst durch das Hinzutreten von Prozessen und Erfahrungen empfängt, die der emotionalen Seite unseres Seelenlebens, dem Trieb und dem Willensleben entstammen. Erst eine Verbindung all dieser Momente vermag dem erfahrenen Sinnesbild seine Objektivität zu erteilen. Aber alle diese Bestimmungen gelten gleichmäßig für die Erscheinungen meiner Sinnesorgane und allgemein für das Dasein und die Struktur meines Körpers. Auch dieser ist erschlossen, wenn man die Konstruktion eines einheitlichen Gegenstandes aus der regellosen, stets veränderlichen Mannigfaltigkeit von Sinneseindrücken ihrem logischen Wert nach einem Syllogismus äquivalent setzt; auch hier sind die Erfahrungen von Willensimpuls und Hemmung von einer entscheidenden Bedeutung und daher treten ebenfalls in Bezug auf die Vorstellungen von den eigenen Organen die seltsamsten Täuschungen auf, an welchen die klinischen Beobachtungen nicht arm sind. Meine Organe sind ein physisches Objekt wie jeder andere Gegenstand der Wahrnehmung, und die höchst komplexe Struktur etwa des Seh- oder Hörapparates gestaltet die auf sie bezüglichen Untersuchungen auch nur rein tatsächlicher Natur zu einem höchst schwierigen Problem. Ja, dieses Problem kann einer allmählichen Auflösung nur unter steter Voraussetzung der Gleichartigkeit meiner Sinnesorgane mit denen der Mitmenschen entgegengeführt werden, eine Voraussetzung, welche die unentbehrliche Grundlage der Physiologie bildet und vielleicht am schlagendsten zeigt, daß die Sinnesorgane immer nur als Körper unter Körpern und von derselben Dignität wie diese gegeben sind. Im Begriff einer Außenwirklichkeit oder Außenwelt ist daher meine Leiblichkeit eingeschlossen und die Totalität aller im Raum befaßten Gebilde ist vom selben Grad der Realität. Sieht man das Ganze als ein Phänomen an, so sind meine Organe nur Teilphänomene, und ihr ausgezeichneter individueller Charakter ist lediglich in ihrer konstanten Präsenz und zugleich dem Umstand gegründet, daß nur unter der Bedingung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs mit ihnen andere Objekte in meine Erfahrung eintreten können.

Das Phänomen einer Außenwelt ist aber auch nicht das Erzeugnis eines Ich, das ich als Psychisches, Geistiges den körperlichen Vorgängen gegenüberzustellen gewohnt bin. Dieses Ich, das am zweckmäßigsten mit dem Ausdruck des Selbst bezeichnet wird, ist zunächst ebensowenig eine unmittelbare und einfache Tatsache der Innenwahrnehmung, wie die Dinge im Raum unmittelbare Tatsachen der Außenwahrnehmung sind. Gewiß werde ich in jedem Augenblick meiner Gefühle oder Strebungen in einer Weise inne, die eine weitere Analyse nicht mehr zuläßt; aber das Gleiche gilt, wie gezeigt, für die Perzeption einfachster Sinnesinhalte. Und wie im Fall der Bildung von Gegenstandsvorstellungen eine Mehrheit von Daten erforderlich ist, die erst die Konstruktion eines Verharrenden im Wechsel der flüchtigen Bilder gestatten, so ist die Entstehung der Ich-Vorstellung ein sehr zusammengesetzter Vorgang, in dem unter andern die primären intellektuellen Operationen des Unterscheidens, Vergleichens, Zusammenfassens von nicht minderem Einfluß sind. Sicherlich sind hier bedeutende Unterschiede; vor allem ist die Art der Beziehung zwischen Vorgängen und Momenten desselben Vorganges in einer Gruppe von Regelmäßigkeiten nicht wie im Bereich des Naturgeschehens erschlossen, sondern ein charakteristisches Moment des Erlebnisses selbst. Die Beziehung selbst ist innerlich erlebbar (40). Aber die Erkenntnis eines einheitlichen Verbandes aller seelischen Erlebnisse wird doch erst allmählich in der Erfahrung erworben, die Einordnung der einzelnen Erlebnisse und Akte in diesem Zusammenhang ist das Ergebnis einer späteren Reflexion. Ja, dieser Zusammenhang selbst bildet sich erst in langsamer Entwicklung. Er ist, wie DILTHEY dargelegt hat, ein erworbener Strukturzusammenhang, eine Lebenseinheit, welche eine deutlich zunehmende Artikulation aufweist.

Und hierin ist zugleich ein Zweites enthalten. Den Mittelpunkt des erworbenen Zusammenhangs bildet nicht das vernünftige Denken, die Ratio, das vorstellende Ich, wie die intellektualistischen Schulen annahmen, sondern ein Bündel von Gefühlen und Trieben, ein Irrationales, ein Lebendiges, das sich in der ganzen Fülle seiner Lebendigkeit auswirkt und nur in dieser selbst, und nicht an einem abstrakten von ihm isolierten Moment gefaßt werden kann. Und wie immer dieses Selbst in seiner Vielseitigkeit, in seiner Verbindung struktureller Beziehungen, in seinem Zusammenwirken von Leistungen zu einem Gesamteffekt zu bestimmen ist, wesentlich bleibt, daß es in seiner Totalität innerhalb des Bewußtseins liegt. Die Bedingung seiner Existenz ist, daß es als ein Erfahrungsinhalt vorfindbar ist. Gerade weil die Kernhaftigkeit des Erlebenden selbst nicht in einem Wissen, nicht in einem Bewußtsein gegründet ist, muß dieses Bewußtsein ihm gegenüber als primär gesetzt werden. Jeder Versuch, in der Richtung von SCHOPENHAUERs System das Bewußtsein als Funktion eines Unbewußten, einer Willenssubstanz zu begreifen, erhellt nur die innere Unmöglichkeit eines solchen Unternehmens. Das schlechthin unmittelbare Wissen, das in allen Erlebnissen enthalten ist, kann nicht eliminiert werden, ohne daß jeder Erfahrungsinhalt verschwindet. Ein anderes ist freilich die Frage, in welchem Umfang das gegenständliche Vorstellen durch den Trieb- und Willenszusammenhang bedingt ist, der die Grundlage der geistigen Organisation ausmacht. Indem die Analyse hier die Abhängigkeit aufweist, in welcher etwa jene zentralen und so wenig durchsichtigen Begriffe wie Kausalität oder Substanz von letzten Erlebnissen in der Tiefe der Seele, der vollen Mannigfaltigkeit der Kräfte des lebenden Menschen stehen, sieht sie sich allgemeinsten Aufgaben gegenüber, deren Lösung für eine künftige Kritik unserer theoretischen Weltvorstellung von grundlegender Bedeutung ist. Aber das schließt nicht aus, daß nun doch das Ganze des menschlichen Daseins nur auf dem Hintergrund eines umfassenden Bewußtseins sichtbar wird, das zugleich das Selbst wie die Natur, in welcher das Selbst sich zu einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit befindet, umschließt. Und zwar umschließt nicht in einem metaphysischen Verstand, wie etwa LOTZE das universale Bewußtsein als das die Wechselwirkung der realen Substanzen Vermittelnde setzt, vielmehr gilt uns das Bewußtsein, wie wir ihm den Charakter von Subjekt oder Ich oder Substanz absprechen müssen, lediglich als die unter einem erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt unumgängliche Bedingung dafür, daß überhaupt etwas da ist. Demgemäß ist in Bezug auf das Bewußtsein Außenwelt und Innenwelt, das System der Körper wie das Selbst gleichgeordnet. Wir fragen nicht, ob das menschliche Denken an irgendeinem Punkt die Grenzen des Bewußtseins zu überschreiten vermag; es genügt hier, daß Außenwelt und Innenwelt von diesem Bewußtsein in gleicher Abhängigkeit stehen. Denn das Entscheidende für uns ist, daß die Unabhängigkeit der Objektwelt von einem Selbst, meinem Selbst zunächst innerhalb des Bewußtseins gesichert ist. Und zwar stützt sich dieser Nachweis nicht auf ein Schlußverfahren von der Wirkung in uns auf die supponierte [unterstellte - wp] Ursache dort draußen, denn daß die Empfindungen als solche nur in meinem Selbst beschlossen sind, kann immer nur unter der Voraussetzung eines von meinem Selbst Unabhängigen wahrscheinlich gemacht werden. Vielmehr liegt der Nerv des Beweises für den Glauben an die Realität einer von unserem Selbst, unserem Willen unabhängigen Außenwelt in der Klarlegung, daß diese aus den Daten der Eigenerfahrung nicht bloß erschlossen, durch reine Denkvorgänge abgeleitet wird, sondern in den Verhältnissen von Impuls und Hemmung der Intentionen, von Wille und Widerstand sich gleichsam aufschließt. Subjekt und Objekt sind innerhalb des Bewußtseins als Korrelativtatsachen gegeben. Indem das Selbst sich als eigenes Zweckganzes absondert, entfaltet sich der Keim der Trennung von Subjekt und Objekt, welcher vor allem in den Tatsachen von Impuls und Hemmung enthalten ist, und indem das vermittelnde Denken hinzutritt und die Erfahrungen verbindet und summiert, wächst der Charakter von Wirklichkeit, welchen die Sinnesbilder für uns haben. So entsteht die Außenwelt in ihrer lebendigen, kernhaften Realität vor unserem Selbst. Gleich ihm ist auch sie nur im Bewußtsein; aber in diesen Grenzen ist sie zumindest in ihrem letzten Bestand von meinem körperlichen und geistigen Dasein unabhängig.

Und nun treten in diesem Bereich außenwirklichen Geschehens Tatsachen auf, welche sich für mich zu Realitäten einer neuen, besonderen Art verdichten; neben dem Ich erscheint das Du als ein anderes Selbst in einem fremden Leib. Und zwar sind die Prozesse, welche mich zu der Annahme eines mitmenschlichen Seelenlebens führen, denjenigen im Prinzip analog, welche das Dasein eines von mir Unabhängigen überhaupt garantieren. Auch hier kann ein großer Teil von ihnen rein intellektuellen Vorgängen äquivalent gesetzt werden, ja, überall dort, wo die Ähnlichkeit des körperlichen Systems mit meinem Leib wesentlich nachläßt, an den Grenzen möglicher Beseeltheit, tritt zumindest unter den Bedingungen unseres Wissens die logische Natur des Analogieschlusses deutlich hervor. Und dennoch ist die Existenz fremder Personen als selbständiger Willenseinheiten für mich keine bloße Hypothese, die sich in jedem Fall auf ein abstraktes Räsonnement [Argument - wp] gründet. Ich weiß, daß mein Selbst beständig umfangen ist von einer geistigen Außenwirklichkeit, und ich weiß dies nicht kraft eines Syllogismus, den ich unbewußt oder bewußt vollziehe, sondern diese Außenwirklichkeit offenbart sich mir in jedem Augenblick meines Daseins, indem sie mich bestimmt und eingrenzt, indem auch hier mein Selbst sich gehemmt oder gefördert findet und in den Verhältnissen des Gesellschaftslebens und der geschichtlichen Einwirkungen den Druck einer Umgebung zwingend erlebt, die sich schlechterdings nicht in eine Summe von Empfindungsaggregaten, von Schallwellen und Farbkomplexen und Tasteindrücken auflösen lassen will. Das allerdings ist richtig, daß dieses Fremdgeistige stets einer Vermittlung bedarf, die auf Sinnesdata zurückgeführt werden kann. Und daher wäre es schließlich auch denkbar, daß nur in meinem eigenen Körper und einzig auf Erden ein Selbst vorhanden ist: ein fürchterlicher Gedanke, der die lebendige Wirklichkeit in eine gespenstische Einöde verwandelt und grenzenlose Fremdheit und Einsamkeit um mich breitet. Aber diese Möglichkeit ist nur auf Kosten wissenschaftlicher Konsequenz und mittels einer willkürlichen und methodisch nicht zu rechtfertigenden Einseitigkeit in der Verwertung der Konstruktionsprinzipien durchführbar, deren Anwendung in Bezug auf die körperliche Natur mein Weltbild gestaltet. Denn gesetzt auch, die Annahme der Existenz eines fremden Seelenlebens beruth durchweg auf Prozessen, welche in ihrem Ergebnis einem Analogieschluß äquivalent erachtet werden können, so ist dies ein Schluß auf etwas, das zwar nicht direkt wahrnehmbar ist, der aber auch kein Element einführt, das nicht der Art nach ein Inhalt meiner Erfahrung sein könnte. Beständig ergänze ich so das sich stets verschiebende, zerfließende, in welchselnde Grenzen sich zusammenziehende, einseitige, fragmentarische Bild, das die Sinne mir von der Natur geben. Habe ich ein Recht, auf die Rückseite des Mondes oder das Erdinnere zu schließen, das ich niemals gesehen habe, habe ich ein Recht, gewisse materielle Prozesse als Begleitvorgänge etwas des zentralen Sehaktes, die ich niemals sehen werden, in meinen nervösen Organen zu vermuten, dann bin ich auch berechtigt, in fremden Leibern ein psychisches Leben anzunehmen, das, obgleich es mir nicht direkt als Wahrnehmungsinhalt zugänglich ist, doch erst den Zusammenhang des Wirklichen, in dem ich ein Glied bilde, abschließt und vervollständigt. Aber wie es sich auch mit der Berechtigung und Notwendigkeit dieser Schlußart im Einzelnen verhalten mag, wie die genauere Analyse überhaupt die hypothetische Reduktion der Annahme mitmenschlicher Existenzen auf einen Syllogismus beurteilen mag; für mich ist die Betrachtung vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie zugleich den Nachweis in sich schließt, daß das fremde Selbst wie alle anderen von mir abhängigen Wirklichkeiten noch innerhalb des Bewußtseins liegt. Der Schluß auf das Du ist kein Schritt ins Transzendente. Wenn es feststeht, daß alles, was meine Persönlichkeit konstituiert, Leib wie Seele, ein Bewußtseinsinhalt ist, daß die Scheidung dieser meiner Persönlichkeit sich als ein selbständiges Subjekt von selbständigen Objekten in den Grenzen des Bewußtseins vollzieht und daß schließlich die Substanz des angenommenen Selbst nach ihrem spezifischen Charakter zum Erfahrbaren gehört, dem Inhalt meines Seelenlebens analog ist, dann folgt, daß die Gesamtheit der Körper wie der Geister im Bewußtsein befaßt ist. Es ist streng genommen ein irreführender Sprachgebrauch, von meinem, deinem, von einem individuellen Bewußtsein zu reden, wenn der Begriff des Bewußtseins in dem dargelegten Sinn von den psychischen Vorgängen, die stets einen individuellen Verband ausmachen, geschieden wird. Alle Mannigfaltigkeit, alle Unterschiede, alles Individuelle und Begrenzte liegt im Inhalt. Mein Ich, mein Selbst ist ein Strukturzusammenhang von aufweisbarer Artikulation; und wenn ich verstehend und nachbildend in ein fremdes Geistesleben eindringe, treffe ich auf einen anderen Strukturzusammenhang, der mir eben in dieser Leitung der Verbindung von Triebregungen, Volitionen [Willensimpulsen - wp] Gefühlen zu einem Ganzen seine Selbständigkeit als eine Willenseinheit offenbart. Aber wie mein Selbst nichts enthält, das nicht als ein im Bewußtsein Vorfindbares bezeichnet werden könnte, und wie es eben darum nicht als der Träger des Bewußtseins gelten kann, ist auch in einem fremden Geistesleben nichts gegeben, was über das Bewußtsein hinausweist. Das fremde Selbst ist in voller Realität für mein Selbst da, wie die Dinge der Natur für meinen Körper, aber beide sind in Bezug auf das Bewußtsein Inhalt, oder, wenn man will, Phänomen. Die ganze Welt mit ihren Sonnen und Sternen und Völkern und Heroen ist nur eine Welt der Erscheinungen, sie ist nur, sofern sie im Bewußtsein ist; aber dieses Bewußtsein ist nicht das meinige, nicht das deinige; ich bin es nicht, dem sie erscheint; für mich wie für dich ist sie volle lebendige Wirklichkeit, in ihrer Totalität uns beide räumlich und zeitlich umfassend. Ich weiß, daß du entstanden bis und erzeugt in der Zeit; ich sehe, daß du dich nach den Verhältnissen eines weitverzweigten Systems von Bedingungen entwickelst, alterst und stirbst. Und ich bin gewiß, daß, bevor ich auf Erden weilte, bevor überhaupt Menschen diese Wirklichkeit erblickten, ein Spiel von Kräften nach Gesetzen bestand, das die Bildung der kosmischen Ordnung bewirkte und auf dem Erdball die Folge der Geschlechter hervorbrachte, als deren letztes Glied ich mich, von der Gegenwart rückwärts schließend, erkenne. Aber niemals entsteht das Bewußtsein, es ist in keinem Ort und in keinem Hirn, es erfüllt keine Zeit, denn es ist die Voraussetzung für alle Bestimmung des Raumes und der Zeit. Das Ich ist ein individueller Zusammenhang von psychischen Funktionen und von diesem gilt, daß er an einen bestimmten Träger, an ein Selbst, gebunden ist, das in einem individuellen, abgeschlossenen Körpersystem seine Grundlage hat. Und was in diesem individuellen Zusammenhang von Funktionen eingeht, ist gewußt von diesen Individuen, wird ihnen bewußt in der Sprache der Psychologie (41). Aber ansich ist - erkenntnistheoretisch betrachtet - nichts unbewußt, wenn es auch von niemandem gewußt wird. Das "im Bewußtsein sein" ist das allgemeinste Prädikat, das wir von der Wirklichkeit aussagen können; es ist letztlich nur eine Präzisierung dessen, was uns unter dem Begriff des Seins überhaupt zu denken möglich ist.

Man kann dieses Ergebnis noch auf eine andere Formel bringen: Ich bin von meiner Erfahrung als dem methodischen Ausgangspunkt der Selbstbesinnung ausgegangen und habe schrittweise entwickelt, daß diese Eigenerfahrung nur eine Teilerfahrung der Erfahrung überhaupt ist, die gleichmäßig mich, die Dinge der Natur und die anderen Personen umfaßt. Die in einem gegebenen Moment präsente Wirklichkeit bildet nur den Ausschnitt einer unendlichen Totalität, die mit derselben Realität als der von mir erfaßte Teil mir gegenüber steht. Der nächste Beweis hiervon liegt auch in der Unmöglichkeit, bei diesen in einem Augenblick präsenten Tatsachen stehen zu bleiben. Eine Philosophie der reinen Erfahrung, welche wirklich und rücksichtslos konsequent alles Wissen auf die Daten der unmittelbaren Erfahrung beschränkt, kann mit Recht Einspruch gegen meine Beweisführung erheben, denn niemals ist das Wirkliche weder im Kleinen noch im Großen als Ganzes in der Eigenerfahrung gegeben. Unsere sinnliche wie geistige Wahrnehmung ist immer Stückwerk. Aber eine solche Philosophie ist absoluter Nihilismus. Sie führt in keinem Punkt über eben diese im Moment präsente Tatsache hinaus etwa zum nächsten Moment und den in ihnen auftretenden Inhalten, denn die Verbindung der in beiden Zeitpunkte gegebenen Daten zu einem Gegenstand der Erfahrung ist die Verbindung eines Vergangenen mit einem Gegenwärtigen und überschreitet somit stets die gegenwärtige Bewußtseinslage. Die Synthesis ist keine Tatsache der Erfahrung, sondern eine Tat des Denkens. Auf diesem Standpunkt zerfällt, wie es nach der atomistischen Anschauung der Mutakallimum [islamische Meister des Kalam - wp] der Fall ist, die Zeit in einer Reihe diskreter zusammenhangloser Momente, und beides, die Konstanz der Dinge wie die Einheit des denkenden Geistes, ist aufgehoben. Die Wirklichkeit oder das Erfahrbare besteht dann in einer Folge permanenter Neuschaffungen; und so wenig irgeneine Regelmäßigkeit oder Gleichmäßigkeit in diesen Kreationen anzunehmen ist, so wenig könnte doch ein menschlicher Verstand eine Einsicht in die Ordnung dieser Abfolge gewinnen, denn die Vorstellungen sind dann auch nur ein zusammenhangloses Gewimmel atomistisch zersplitterter Teilchen und die Vorgänge des Erkennens bilden ebenfalls eine Reihe sukzedierender [aufeinanderfolgender - wp] Akte, die gegeneinander schlechthin isoliert sind, und immer nur für den Moment gelten. Das Wissen um einen Inhalt, das Bewußtsein, schwindet nicht, aber es könnte doch niemals in eine begriffliche Erkenntnis, in ein urteilsmäßiges Wissen überführt werden, denn diese Überführung setzt die Tätigkeit des Vergleichens und Unterscheidens voraus, und so würde das Bewußtsein in jedem nächsten Augenblick mit dem neuen Inhalt ein anderes sein, das vom vorherigen nichts mehr weiß. Daher dürfte ein Vertreter der strengen Philosophie der reinen Erfahrung nicht einmal dies behaupten, daß die Daten der Erfahrung in jedem Augenblick ihm gegeben sind; denn ein Ich als der Träger aller Empfindungen und Vorstellungen ist unter den in einem Moment präsenten Tatsachen nicht enthalten; auch das Selbst konstituiert sich erst in einer Mehrheit zusammenhängender und als zusammenhängend erkannter Akte, und das Wissen um die Selbigkeit des Ich entsteht durch die Einordnung der Erlebnisse in diesen Zusammenhang. Hier aber stände die Vorstellung des Ich, wenn sie überhaupt möglich ist, einsam und in sich abgesondert da. Von einer Eigenerfahrung oder überhaupt einer Erfahrung im Sinne der Bildung zusammenhängender Vorstellungen über die Erlebnisse ist dann nicht mehr die Rede. Präsent ist wohl in einem Augenblick ein Inbegriff von Empfindungen und vielleicht auch (wenn man von der psychologischen Frage nach der Enge der Aufmerksamkeit ganz absieht) eine Summe von Vorstellungen, Erinnerungen, Vergleichsgefühlen usw. Aber diese alle sind beziehungslos zueinander; über Recht und Unrecht des in einer momentan aufblitzenden Vorstellung vorgestellten Sachverhalts ist eine Entscheidung nicht möglich. Das Spiel des Daseins löst sich gleichsam in ein dauernd oszillierendes Bild auf, in welchem nirgends Regelmäßigkeit und Konstanz zu entdecken ist; dem Denken, wenn wir dies einmal als eine Einheit fingieren, bleibt nichts übrig, als in einem stummen Erstaunen den kaleidoskopartigen Wechsel der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse vorbeiziehen zu sehen, ohne daß es doch vermöchte, auch nur die Tatsache des Wechsels zum Ausdruck zu bringen. Dieser Standpunkt ist wirklich voraussetzungslos, aber er ist auch hoffnungslos; von ihm aus führt keine Brücke zu einer positiven Welt- oder Lebensansicht; das Leben wie das Denken ist gleichmäßig in ihm aufgehoben.

Diesem radikalen Skeptizismus gegenüber verliert nun der Solipsismus oder auch der subjektive Idealismus, dieses Schreckgespenst der Erkenntnistheorie, seine Gefährlichkeit. Er ist nicht, wie SCHOPENHAUER meinte, gleich einer unbezwinglichen aber unschädlichen Festung, die nicht einzunehmen ist, die aber auch einen siegreichen Fortschritt nicht hemmt; denn er kann in seinem vollen Umfang widerlegt werden. Es ist nicht wahr, daß das Wissen von meinen eigenen Bewußtseinsvorgängen das einzig reine und sichere Erfahrungswissen ist, wie es etwa VOLKELT darstellt (42); indem ich von meinen Bewußtseinsvorgängen spreche, führe ich schon eine Beziehung, eine Konstanz, einen Zusammenhang ein, den die unmittelbare Erfahrung nicht aufweist. Das letzte und elementarste Wissen ist immer nur dem einfachen Existentialurteil äquivalent: ein Etwas, ein Ton, eine Farbe, ein Schmerz ist. Jede Zuordnung der einzelnen Daten zu einem Selbst, zu meinem Selbst, überschreitet bereits die Grenzen der reinen Erfahrung. Nicht darin liegt die Absurdität des Solipsismus, daß er anderen Existenzen die Realität abspricht, sondern vielmehr darin, daß er trotz der grundsätzlichen Leugnung jeder Realität sie allein von seinem Selbst prädiziert. Wenn es überhaupt zulässig ist, aus dem Chaos der Erfahrungsdaten einheitliche Individuen als Selbständigkeiten herauszuarbeiten, wenn die Konstruktion auch nur eines Ichs erlaubt und gerechtfertigt ist, ist die diesem Ich gleichartige Realität aller anderen Existenzen gewiß und durch kein methodisches Denken zu erschüttern. Mein Selbst hebt sich nur ab in einem Gegensatz zu anderen von ihm unabhängigen Objekten und Personen. Meine Erfahrung bildet nur einen Teil der Erfahrung überhaupt. Demgemäß sind die Bedingungen meiner Erfahrung nicht die Bedingungen der Erfahrung überhaupt. Zu jenen gehört vor allem das Dasein und die Tüchtigkeit der körperlichen Organe. Aber diese Organe sind selbst nur für eine mögliche Erfahrung da, sind nur Bewußtseinsinhalt. Die Bedingungen meiner Erfahrungen ermöglichen die Präsenz der Objekte, die Bedingungen der Erfahrung überhaupt deren Existenz. Wer die Existenz der jeweils gegebenen Tatsachen auf ihre Präsenz beschränkt, muß konsequent dasselbe von seinem Ich gelten lasen; aber dann stürzt er rettungslos in jenen Abgrund öden Nichtwissens, aus dem es keinen Rückweg mehr auch nur zu einem Minimum dauernder Realitäten, sei es empirischer oder transzendenter Natur gibt. Lasse ich jedoch mein Ich in diesem Strudel chaotischer Eindrücke nicht untergehen, halte ich dafür, daß ein Selbst da ist, das handelt, leidet, hofft, denkt, dann ist damit zugleich die Welt der Objekte gegeben, auf die sich mein Handeln und Denken bezieht. Allerdings eignet dem Ganzen keine absolute, von einem Bewußtsein unabhängige Realität. Aber diese Erkenntnis bedeutet so wenig eine Degraduierung des Ichs zu einem bloßen Phänomen, einem Unwirklichen, einem Schattenhaften, daß sie vielmehr die einzige Möglichkeit bietet, diejenige Realität des Selbst, der anderen Personen, der Innen- und der Außenwelt zu gewährleisten, welche den Forderungen der Wissenschaft und des Lebens gleichermaßen genügt. Denn die allgemeine erkenntnistheoretische Einsicht, daß das Bewußtsein gleichermaßen mich wie die Welt umfängt, ist letztlich nur für die eigentlich metaphysischen Betrachtungen vernichtend, welche hinter dem Bewußtsein das Absolute erfassen wollen. Die Analyse, welche die Existenz der Welt als bedingt durch ein Bewußtsein überhaupt erwiesen hat, ändert an den Verhältnissen in diesem Reich räumlich-zeitlichen Geschehens schlechterdings nichts (43). Natur- und Geisteswelt bestehen fort in ihrer Eigenart, in ihrem Gegensatz und ihren Beziehungen, und erfahren in keinem Punkt eine Modifikation durch die Ergebnisse der erkenntnistheoretischen Besinnung. Wie diese folgerichtig auf die Totalität des Wirklichen geht, ist sie in Bezug auf die Realitätsbestimmung der Teilinhalte indifferent, sie untersucht nur die Bedingungen, denen das Ganze unterliegt, sie versucht methodisch das System der Prädizierungen zu entwickeln, die gleichmäßig für alles Seiende gelten. Daher ist es in letzter Linie nur eine Zweckmäßigkeitsfrage der Terminologie, wie man das Ganze hinsichtlich dieser konstituierenden Bedingungen benennt. Mag man die Welt als Phänomen, als Vorstellung oder gar als Traum, als Jllusion oder Halluzination bezeichnen, so ist dagegen nichts einzuwenden, solange das Mißverständnis ausgeschaltet wird, als sei die Welt mein Phänomen, meine Vorstellung, mein Traum, wenn nur daran festgehalten wird, daß durch die Übertragung dieser Worte von einem Gebiet besonderer Erscheinungen auf die Gesamtheit der Erscheinungen ihr besonderer psychologischer Sinn eine solche Erweiterung erfährt, daß er geradezu aufgehoben wird. Es entbehrt des Sinnes, das Leben als einen Traum zu betrachten, solange man das Wort Traum in der Bedeutung gebraucht, in welcher es ein bestimmtes wohlumschriebenes psychisches Vorkommnis bezeichnet; denn dann müßte man doch wieder in diesem Traum mein geträumtes Träumen von meinen geträumten Wahrnehmungen unterscheiden und in den anderen von mir geträumten Personen Träume einer anderen Ordnung supponieren, wenn nicht alle Bestimmtheit der Ausdrucksweise zerfließen sollte. Für welche Formel man sich also auch entscheidet, so ist klar, daß sie eben wegen ihres universalen Charakters, da sie für alles Gegebene gleichmäßig gilt, für jedes Sonderproblem im Arrangement des Gegebenen gleichgültig ist. Nicht nur die Welt der moralischen und ästhetischen Gefühle und Werte bleibt so, wie SHAFTESBURY einmal ausführt, in ihrer inneren Ordnung unberührt, auch der Bestand der physischen Natur wie die geschichtliche Entwicklung wird in ihrer Tatsächlichkeit dadurch nicht alteriert [verändert - wp]. Nirgends greif daher die Erkenntnistheorie in diesem Sinn in die Fragen ein, die nun im Bereich des Irdischen, in den konkreten Aufgaben der einzelnen Disziplinen erwachsen. Hier vermag sie keine speziellen Lösungen zu geben, wenn auch sie erst den absoluten Wert der Gesamtleistung bestimmen kann. Für den Standpunkt empirischer Weltbetrachtung ist die erkenntnistheoretische Reflexion bedeutungslos; auf ihm ist lediglich die Einzeluntersuchung entscheidend, die mit den Hilfsmitteln des Experiments der geschärften Beobachtung, der wissenschaftlich durchgebildeten Methodik, unter beständiger Kontrolle durch den Wechsel der Bedingungen und die Möglichkeit anderer sachgemäßer Interpretationen, in gemeinsamer Arbeit aller Forscher den wahren Zusammenhang der uns zugänglichen Wirklichkeit allmählich erschließt. Auch auf diesem Standpunkt gehe ich von der Eigenerfahrung aus, aber während die Erkenntnistheorie von dem Ziel geleitet wurde, in der Tatsache der Eigenerfahrung die Bedingungen der Erfahrung überhaupt zu entdecken, streben die "Erfahrungswissenschaften" nur dahin, die Bedingungen der Eigenerfahrung schrittweise zu überwinden. In diesem Sinn gilt es ihnen, sich von der Eingeschränktheit der örtlichen und zeitlichen Lage, von den natürlichen Grenzen der Sinnestätigkeit zu befreien, und darüber hinaus mittels eines gesicherten Schlußverfahrens auch die Fülle der Fakta in das System unserer Erkenntnis einzureihen, die als unmittelbare Gegenstände unserer Erfahrung für uns zunächst nicht sichtbar sind. Aber wie sich auch unser Horizont durch die Zunahme unserer Einsichten in die Tatsachen der Natur und der Geschichte erweitern mag: niemals doch können wir gänzlich von den Bedingungen unserer physischen und geistigen Organisation absehen; immer entweicht uns die restlose Lösung der Aufgabe der Erfahrungserkenntnis in endlose Ferne, und eben darum stoßen wir in diesem Fortgang nirgends auf die Bedingungen der Erfahrung überhaupt. Für die empirische Forschung bleiben somit diese Bedingungen stets außerhalb der Diskussion. Aber gerade deshalb mag sie froh des Vertrauens vorwärts streben, daß ihre Arbeit nicht vergeblich ist, ihre Theorien nicht ins Leere hinein konstruiert sind. Denn solange von der Relation des Gegebenen auf das Bewußtsein abgesehen wird, ist Realität, ist Wirklichkeit in kernhafter Existenz. Der Satz des Bewußtseins enthält so wenig eine Verflüchtigung der Welt der harten Tatsachen zu einem bloßen Schein, daß er vielmehr eine durchaus genügende Garantie ihrer empirischen Realität ist.

LITERATUR - Max Frischeisen-Köhler, Über den Begriff und Satz des Bewußtseins, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 31, Neue Folge VI, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    38) Die Darstellung dieses Regresses bei Bradley, Reality and Appearance, 1893, Seite 262f.a. a. O.
    39) a. a. O.
    40) Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften I, Sitzungsbericht der Königlich-Preußishen Akademie der Wissenschaften, 1905, XIV, Seite 333f.
    41) Hieraus folgt, daß der Frage nach dem "Unbewußten" in der Psychologie durch diesen Standpunkt in keiner Weise präjudiziert wird. Vgl. über den hier dargelegten Unterschied von Bewußtseinsinhalt und psychischem Sein auch Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, zweite Auflage, Seite 66f.
    42) Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken.
    43) vgl. Kant, Prolegomena, §13, Anmerk. III "sonst bleibt in Anbetracht aller möglichen Erfahrung alles ebenso, wie wenn ich diesen Abfall von der gemeinen Meinung gar nicht unternommen hätte".