p-4A. HorwiczC. StumpfTh. ElsenhansS. Rubinsteinvon Kries     
 
ROLF LAGERBORG
Das Gefühlsproblem

"Freilich ist der Glaube an die Seelenvermögen öfters widerlegt worden, doch er ist zählebig wie jeder Aberglaube, unvertilgbar wie die Vorstellungen von Götterwesen, dem Schicksal, einer Vorsehung und anderen primitiven Verdinglichungen. Wir vermeinen diesen Vermögensglauben aufgegeben zu haben, der Sprachgebrauch aber und die landläufige Auffassung verstricken uns darin von neuem; auch wenn derartiges vermieden wird, so bleibt jedenfalls eine Neigung, die psychischen Erscheinungen als Dinge zu betrachten, als dauernde Tatbestände, anstatt als Namen einer Art Prozesse, die jeden Augenblick wechseln, als ein Werden, das wir uns in einem gewissen Moment, in der Regel in dem, wo diese Prozesse am deutlichsten ins Bewußtsein treten, fixiert denken."

"Der überlieferten Dreiteilung hat sich die neuere Psychologie das Ziel gesetzt, alle psychischen Erscheinungen auf einander ähnliche Grundelemente zurückzuführen, deren verschiedenartiges Zusammenwirken die Mannigfaltigkeit des Vorstellungs-, Gefühls- und Willenslebens erklärte. Dieser psychologischen Schule wirken zwar die Anhänger einer veralteten Metaphysik sowie der gebräuchlichen Leitfäden der Theologie und der Moral entgegen, indem sie in deren Anschauungen ein Attentat auf die  Seele  sehen. Tatsächlich folgt mit der Ausschaltung der Seelenvermögen ebenso die des Seelenbegriffs selbst, und dafür ist es auch Zeit geworden. Der Begriff der  Seele  ist ein Produkt der schon erwähnten Hypostasierung, der Erbsünde des menschlichen Gedankens oder seiner beständigen Pubertät, die einem abstrahierten Allgemeinen eine tragende Substanz, einen Geist, eine Kraft, ein Ding-ansich unterschiebt."

"Sucht man die Faktoren der Empfindungen näher zu bestimmen, so wird klar, daß Empfindungen wie auch Vorstellungen nicht die psychische Wirkung eines  einzigen  Reizes, sondern ein Totalprodukt partieller Reizungen bildet. Jede klar bewußte Empfindung ist eine  Synthese  der Funktionen mehrerer Zentren; in der Empfindung eines Pilzes z. B. sind Eindrücke der Farbe, des Geruchs, des Geschmacks, der Form, der Festigkeit, des Wortes Pilz und des Artnamens des betreffenden Exemplares zu finden."


Vorwort

In einer Zeit, wo die Wissenschaft in Spezialuntersuchungen aufgeht, ist ein Gesamtwerk ein kühnes Unternehmen.

Es bedarf jedoch solcher Arbeiten. Von Zeit zu Zeit müssen die mannigfaltigen Tatsachen systematisch und leicht übersehbar geordnet, die zerstreuten Einzelbeobachtungen zusammengestellt, die partiellen Gesetze zu Theorien verschmolzen werden.

Sonst wird leicht das Ziel, das Ganze, von den begrenzten Mitteln verdunkelt, und die für das Leben einzig wertvollen zusammenhängenden Kenntnisse, die man verfolgt, bleiben aus.

Auf dem Psychologenkongreß von 1900 verlangte RIBOT Werke partieller Synthese, die die psychologischen Spezialanalysen zusammenfassen sollten. Schon ein Jahrzehnt früher klagte MARILLIER, daß es der modernen Psychologie an Zusammenhalt fehlt; "es sind bisher", meint er, "und zwar in so genügender Menge Einzeltatsachen und Erfahrungen angehäuft worden, daß man daran gehen könnte, aus dem Studium dieser Fakta die zu ihrer übersichtlichen Anordnung erforderlichen Theorien und Hypothesen zu erschließen." Und immer noch dringen die Psychologen auf mehr Synthese; so schreibt WIRTH 1901: "Es fehlt in der Gefühlspsychologie vor allem weniger an Material als an dessen psychologischer Verarbeitung."

Tatsächlich sind ja sogar hypothetische Theorien gleich unentbehrliche Werkzeuge der Forschung wie irgendwelche Apparate. Sie dienen dazu, das tastende und oft in die Irre gehende Suchen zurechtzuleiten; nur wer die Hypothese stets vor Augen hat, entdeckt durchgehend in jedem Detail das Ganze. und ist einmal die Hypothese richtig aufgestellt, ergeben sich aus einer Nachprüfung ihrer Konsequenzen die endgültigen Resultate von selbst. Das handwerksmäßige Sammeln von Versuchsmaterial darf keinen wissenschaftlichen Vorrang beanspruchen; das Material ist tot und bleibt überwiegend tot, Theorien aber nützen auch wenn sie falsch sind, indem sie zu Widersprüchen Anlaß geben. In der Wissenschaft wie überall ist die übermäßige Vorsicht, das stetige Fürchten der Unsicherheit ein Hemmschuh für Leben und Forschritt; gewiß behält BACON immer recht, wenn er sagt: citius emergit veritas ex errore quam ex confusione. [Aus dem Irrtum taucht die Wahrheit schneller auf als aus der Verwirrung. - wp]

Darum soll das Materialsammeln jedoch nicht geringgeschätzt werden. Die Gewinne der Wissenschaft sind kollektiv bedingt, sind immer die Frucht eines Kollaborierens. Die Baumeister der Theorien fassen nur die Tatsachen zusammen, die langsam und mühsam angehäuft wurden; in der Regel spekuliert der, der einer Theorie seinen Namen gibt, hauptsächlich nur mit Mitteln, die andere erworben haben. Aber wenn solche Spekulationen nicht in Schwindeleien ausarten, vermehrt sich auch das Kapital der Wissenschaft am meisten durch sie. Und sie werden am besten durch Leute geführt, die außerhalb der Spezialzweige, im Zentrum des wissenschaftlichen Erwerbslebens stehen, wo sie dessen gesamtes Feld überblicken können, - kurz von den Philosophen. Und auch in ihrem Fach gibt es für Kräfte zweiten Ranges, die die genialen Gedanken der Großen ausführen und erläutern, noch Arbeit genug.

Das Folgende ist nur ein bescheidener Versuch, eine peripherische Hypothese vom Mechanismus des Gefühls im Anschluß an JAMES' und LANGEs Theorien durchzuführen. Die Ansichten der genannten Forscher scheinen die zurzeit annehmbarsten, den gemachten Versuchen und Erfahrungen am meisten entsprechenden; weist doch die auf Tatsachen gestützte heutige Psychologie wieder und wieder auf peripherische Ursachsverhältnisse hin. Jedoch ist die Frage von der peripherischen oder zentralen Natur der Gefühle  adhuc sub judice [noch ist kein Urteil gesprochen - wp], und es steht einem frei, die peripherische Auffassung nicht gutzuheißen. Das Wesentliche derselben dürfte die Zukunft doch bestätigen, wenn sie auch zweifellos die jetzige Form der Theorien ausbauen und verändern wird; man bedenke, daß die Wissenschaft wenig Definitives bietet, daß die meisten von ihren Aussagen nur "provisorische Antworten auf provisorische Fragen" ausmachen. "Die Theorie", hat MÜNSTERBERG weiter geschrieben, "soll gar nicht die Wahrheit entdecken, sondern sie soll die erkannten Tatsachen in sich widerspruchslos kausal verknüpfen."

Und einzig dies war das Augenmerk unserer Studien. Sie werden die Fragen eher beleuchtet als entschieden haben, denn ihre Resultate sind noch zu ungenügend geprüft. Aber hoffentlich finden sich unter ihren Erörterungen Gesichtspunkte, die künftigen ergiebigeren Forschungen dienen können. Sollte der Verfasser, um eine Kürze und Klarheit der Darstellung zu erreichen, allzu unbedingt sich geäußert, als z. B. gesagt haben, "das und das findet statt", anstatt "alles verläuft so, als wenn das und das stattfände", so bittet er um Verzeihung. Sollte er sich irgendeiner weniger exakten physiologischen Ausdruck erlaubt haben, so wolle man bedenken, daß die Physiologen, was die psychologische Terminologie betrifft, öfters die gleiche Sünde begehen. Möge der Leser auch in anderem die gute Absicht mehr als deren Ausführung berücksichtigen; eine Antwort auf die gestellten Fragen  mußte  gesucht werden, denn ihre Entscheidung bildet den Grund unserer Selbsterkenntnis und Selbstentwicklung, überhaupt die Bedingung, Menschen zu verstehen und Menschen heranzubilden.



Einleitung

§ 1. Die Sinne und Vermögen, in die man von alters her die "Seele" zerlegt hat, pflegt man seit etwas mehr als einem Jahrhundert in drei allgemeinen Kategorien unterzubringen. Diese sind: die Vorstellung, welche die Empfindungen in sich schließt, das Gefühl und der Wille.

Eine solche Klassifikation, die im Sprachgebrauch und im Volksbewußtsein wurzelt, von wo sie schwerlich zu verdrängen ist, wäre weniger zu tadeln, wenn man die drei Begriffe einzig als zusammenfassende Namen für Phänomenkomplexe benutzen würde. Indessen gelingt es sogar bei den besten Absichten selten, diese Betrachtungsweise durchzuführen; man übersieht wieder und wieder, daß die Kategorien Hilfsbegriffe ohne jede konkrete Grundlage sind; man faßt sie als Kräfte auf, die die seelischen Vorgänge erklären. Freilich ist der Glaube an die Seelenvermögen öfters widerlegt worden, doch er ist zählebig wie jeder Aberglaube, unvertilgbar wie die Vorstellungen von Götterwesen, dem Schicksal, einer Vorsehung und anderen primitiven Hypostasierungen [einem Wort gegenständliche Realität zuschreiben - wp]. Wir vermeinen diesen Vermögensglauben aufgegeben zu haben, der Sprachgebrauch aber und die landläufige Auffassung verstricken uns darin von neuem; auch wenn derartiges vermieden wird, so bleibt jedenfalls eine Neigung, die psychischen Erscheinungen als Dinge zu betrachten, als dauernde Tatbestände, anstatt als Namen einer Art Prozesse, die jeden Augenblick wechseln, als ein Werden, das wir uns in einem gewissen Moment, in der Regel in dem, wo diese Prozesse am deutlichsten ins Bewußtsein treten, fixiert denken. Und gelingt es sogar,  diese  Klippe zu umschiffen, so führt die betreffende Dreiteilung dennoch leicht auf den Grund, indem man, insbesondere wenn man eine psychische Ursachenkette anstatt der physiologischen verfolgt, verlockt wird, Vorstellung, Gefühl und Willen als abgetrennte psychische Funktionsformen zu betrachten. Denn wie bereitwillig es auch allgemein betont wird, daß die drei Abteilungen psychischen Lebens immer vereint auftreten und nur aus methodologischen Gründen gesondert werden, so verliert man während der Detailarbeit allzu häufig diese Einheitlichkeit der psychischen Welt aus dem Blickfeld.

Aufgrund dieser Gefahren er überlieferten Dreiteilung hat sich die neuere Psychologie das Ziel gesetzt, alle psychischen Erscheinungen auf einander ähnliche Grundelemente zurückzuführen, deren verschiedenartiges Zusammenwirken die Mannigfaltigkeit des Vorstellungs-, Gefühls- und Willenslebens erklärte. Dieser psychologischen Schule wirken zwar die Anhänger einer veralteten Metaphysik sowie der gebräuchlichen Leitfäden der Theologie und der Moral entgegen, indem sie in deren Anschauungen ein Attentat auf die "Seele" sehen. Tatsächlich folgt mit der Ausschaltung der Seelenvermögen ebenso die des Seelenbegriffs selbst, und damit ist es an der Zeit. Der Begriff der Seele ist ein Produkt der schon erwähnten Hypostasierung, der Erbsünde des menschlichen Gedankens oder seiner beständigen Pubertät, die einem abstrahierten Allgemeinen eine tragende Substanz, einen Geist, eine Kraft, ein Ding-ansich unterschiebt. Aber die Seele ist kein Grundvermögen, das Bewußtsein produziert, mit Teilvermögen von Denken, Fühlen und Wollen; die Seele ist nichts als die Bewußtseinsvorgänge, als das Empfinden selbst; sie kann nicht unterschieden werden vom Gewebe kleinster Erscheinungen, die jedesmal, wenn Bewußtsein vorliegt, gegeben sind. Der Begriff der "Seele" umfaßt noch, wenn man will, das mögliche Eintreten dieser Erscheinungen und des Bewußtseins, aber diese Möglichkeit hat nichts von einer Ursache, einem tragenden Prinzip. Für die psychologische Wissenschaft kann der Begriff  Seele  keine tiefere Bedeutung haben als der Begriff "Leben" für die Biologie: Seele und Leben sind nur Namen für die Totalität der Erscheinungen, in denen sie sich kundgeben. Mag sein, daß der Psychologie die "Seele" nicht mehr die schöne Mythe des primitiven Animismus, nicht einmal eine philosophische Substanz ist, - solange jene aber diesen Hilfsbegriff gestattet, läßt sie allerlei obskuren Spekulationen die Hinterpforte offen stehen. Aus diesem Grund muß man, soweit es in einer psychologischen Darstellung geschehen kann, das leicht mißzuverstehende Wort vermeiden, in andere Ausdrücke übersetzen, unbekümmert darum, daß Spötter diese Psychologie als eine "Psychologie ohne Seele" bezeichnen. Eine gewissenhafte Untersuchung darf keine verwickelten, unsicher bestimmten Gemeinbegriff  a priori  akzeptieren, am allerwenigsten, wenn diese eben die Erscheinungen betreffen, die erklärt werden sollen; sie muß einzig aufgrund des am handgreiflichsten Gegebenen und scharf umrissene Termen gestützt einherschreiten.

§ 2. Die Tatsachen, die dem Studium des psychischen Lebens gegeben sind, bestehen einerseits aus unmittelbar erfahrenen Bewußtseinserscheinungen, andererseits aus physiologischen Veränderungen, die mit jenen verbunden auftreten. Die moderne Psychologie verlegt aus mehreren Gründen ihren Schwerpunkt in die Untersuchung dieser physiologischen Vorgänge und ihres Verhältnisses zu den psychischen. Teils ist nämlich das innere Zeugnis des Bewußtseins, was man auch von dessen Kraft, dessen Wesen als einer ersten und einzig unmittelbaren Erfahrung anführen mag, uns selber sogar nicht zuverlässig, noch weniger von der allgemeingültigen Art, daß wissenschaftliche Erkenntnis darauf bauen könnte. Um dies zu erkennen, braucht man sich nur der Farbensinns- oder Geschmacksverschiedenheiten oder der ungleichartigen Überzeugungen zu erinnern, die sich den verschiedenen Individuen mit dem ganzen Aplomb [Gelassenheit - wp] der unmittelbaren Gewißheit aufdrängen. Übrigens tritt dieses unmittelbare Bewußtsein, je mehr es geschärft wird, mit Empfindungen von dessen körperlichen Äußerungen intim verbunden auf; von diesen kann umso weniger abgesehen werden, als wir ja nur aufgrund solcher Empfindungen und Vorstellungen auf das psychische Leben unserer Mitmenschen schließen. Schließlich reicht die innere Erfahrung nicht allein aus, die psychischen Erscheinungen in einen erklärenden Zusammenhang zu ordnen; wir können die Empfindungen nicht messen, ihrer einfachen oder zusammengesetzten Natur nicht sicher sein außer im Licht der physiologischen Veränderungen, die dieselbe begleiten. Eine psychische Erscheinung für sich, eine Sinnesempfindung z. B., ist isoliert und irreduktibel [nicht wiederherstellbar - wp], wenn man nicht die sie bedingenden Prozesse im Nervensystem wie auch in der Außenwelt mit in Betracht zieht. Diese werden der psychologischen Forschung ihr wesentliches, schwierigeres und mühsameres Arbeitsgebiet darbieten, wenn auch die innere Anschauung, das direkte Wahrnehmen der Bewußtseinsphänomene, ihr unentbehrlicher Ausgangspunkt bleibt.

Die psychischen Erscheinungen in ihrem Zusammenhang mit den organischen Bewegungen studieren, heißt indessen nicht behaupten, das Psychische sei eine Form der räumlichen Bewegung. Es bedeutet einfach, die psychischen Erscheinungen, die von den physiologischen nie getrennt vorkommen und neben diesen variieren, von räumlichen Phänomenen aus zu untersuchen, die der Forschung eine zwar indirekte, aber sichere und zusammenhängende Erkenntnis der Bewußtseinserscheinungen darbieten. Die Psychologie bleibt nichtsdestoweniger von der Physiologie gesondert, insofern als ihr eigentlicher Gegenstand die psychische Erscheinungsform der physiologischen Prozesse ist. Zwar umfaß die Erkenntnis, die so erzielt wird, nur die physiologische Verknüpfung der psychischen Phänomene; von ihrem seelischen Wesen gibt sie keine genauere Auskunft, als die Biologie uns vom Wesen des Lebens erteilt. Aber bis auf weiteres darf man zufrieden sein, wenn man dem gesetzlichen Verlauf des Bewußtseinslebens, der in den Reizungen und Reaktionen des Nervenmechanismus gegeben ist, folgen kann.

§ 3. Für die empirische oder physiologische Psychologie, wie diese Art Psychologie mit mehr und mehr überflüssigen Epitheta [Zusätzen - wp] bezeichnet wird, ist jede mit psychischen Phänomenen verknüpfte Bewegung den Gesetzen unterworfen, die sich auf den übrigen Gebieten der Natur bewahrheitet haben. Psychisch sind wir ebensowenig wie physisch eine selbständige Kraftquelle; wie jedes organische Gewebe wie die unorganische Masse, so nimmt unser Organismus nur von außen kommende Bewegung auf, formt sie um und leitet sie weiter gemäßt der eigenen molekulären Beschaffenheit. Die zentralen Prozesse, mit welchen die Bewußtseinsakte folgen, sind undenkbar, ohne daß eine Nervengewebe durch Bewegungen, die vom umgebenden Milieu ausgehen, gereizt worden ist; und ohne daß die so erregte Bewegung zur Muskulatur fortgeleitet wird, entstehen keine motorischen Reaktionen, die den Willen und die Handlungen bedingen. Andererseits gibt es keine genügende Reizung, die diesen Mechanismus nicht durchläuft und schließlich wieder in die Außenwelt mündet (1). Die Tätigkeit des Nervenmechanismus hängt davon ab, daß irgendetwas außerhalb seiner ihn in Bewegung setzt; Umsetzung von Bewegung, Umsetzung von Reizung in Reaktion ist, was unser psychisches wie unser physisches Dasein bildet. Aber die Reaktionen einer jeden Reizung bilden wieder für sich Reizungen zu neuen Reaktionen, die organischen Veränderungen rufen einandern in stetiger Folge hervor, - und in diesem ununterbrochenen Zusammenwirken der Bewegungen besteht das Leben.

Somit kommt auch dem hochentwickelten Nervengewebe, an dessen Prozesse von einer gewissen Art sich die psychischen Erscheinungen knüpfen, weder irgendeine spontane Funktion, noch irgendein anderes Vermögen zu als das, äußere Reizungen in organische Bewegungen umzusetzen. Zwar führen wir eine Menge Bewegungen aus, deren äußerer Anlaß nicht sogleich klar wird; schon die ersten Lebenszeichen eines Neugeborenen scheinen ihren Ursprung in sich zu tragen. Aber der Hunger und das Schreien des Kindes erfolgen nicht autonom, sie sind Reizwirkungen des körperlichen Nahrungszustandes, der Luft, die in die Atmungsorgane hineinströmt, der Temperatur, der umgebenden Gegenstände. In jedem Augenblick des Lebens, den tiefsten Schlaf ausgenommen, wird der Nervenmechanismus von Bewegungsformen seines äußeren und inneren Milieus, der Außenwelt und des außernervösen Organismus, gereizt; ganz besonders werden Nervenzentren, wo Reizungen von verschiedenen Seiten zusammenlaufen, in unablässiger Tätigkeit gehalten. Die Annahme einer Spontaneität dieser Tätigkeit, an der man auf das Äußerste festzuhalten versuchte (2), hat endgültig der mechanistischen Lehre vom Verlauf der Nervenprozesse das Feld räumen müssen.

Diese einfache Lehre behauptet, daß jede Reizung, die nach dem Nervenzentrum dringt, auch von diesem aus weitergeleitet wird, daß der Reflex die typische Nervenwirksamkeit ist; somit daß erstens der Reiz und dessen zentripetale Leitung, zweitens die zentralen Prozesse, drittens die zentrifugale Leitung und die peripherische Reaktion unzertrennliche Glieder ein und desselben Prozesses ausmachen und zumindest als Ansätze in aller Nerventätigkeit und als Grundlage aller psychischen Erscheinungen wiedergefunden werden. Für die Einsicht, daß jedes Psychische von einem dreigeteilten Mechanismus bedingt ist, hat man, nächst verschiedenen Physiologen, SPENCER (3), WUNDT (4) und vor anderen JAMES (5) zu danken, der die Theorie unter dem Namen des Gesetzes der  Dynamogenesis  aufstellte. Diese Einsicht ist ferner durch alle die psychophysischen Untersuchungen, die man hinsichtlich der peripherischen Äußerungen zentraler Prozesse unternommen hat, und nicht in letzter Linie durch die Gefühlstheorien von JAMES und LANGE und die von diesen veranlaßten Forschungen, bestätigt worden. Daß die peripherischen Reaktionen, in die nervöse Reizungen ausnahmslos münden, nicht zufällige, unwesentliche Begleiterscheinungen dieser, sondern notwendige Glieder ein und desselben Prozesses sind, dieser Sachverhalt hat dem späteren Abschnitt des genannten Prozesses, welchen Abschnitt die Psychologie bisher wenig beachtete, immer größere Aufmerksamkeit errungen. Es ist dargelegt worden, daß die peripherischen Reaktionen, indem sie auf das Zentralorgan zurückwirken, auch psychisch von eingreifender Bedeutung werden, nicht nur gewisse Empfindungselemente bedingen, sondern wahrscheinlich eine Voraussetzung für das Eintreten des Bewußtseins sind.

Es liegt nicht im Plan dieser Untersuchung, die Reizungen und ihre Reaktionen auf ihre innerste Natur hin zu prüfen. Von welchen Prozessen des Nervengewebes sie getragen werden, welche Art von Bewegungen die verschiedenen Reizungen in den Fibern und Zellen desselben bewirken, das ist für unsere Aufgabe weniger wesentlich. Man will wissen, daß die nervösen Prozesse immerfort von Verbrennung und Ausscheidung begleitet werden und daß der Kern zentraler Zellen nach dem Fungieren die Lage verändert (6); somit können die nervösen Vorgänge mittlerweile als Molekularveränderungen sowohl chemischer als auch mechanischer Natur betrachtet werden. Die Ausdrücke, die bezüglich der Nervenprozesse unten zur Anwendung kommen - Nervenbewegung, Leitung, Spannung, Entladung, Nervenstrom - bezwecken indessen nicht über irgendeine Frage, die Natur der Nerventätigkeit betreffend, zu entscheiden. Die gestellte Aufgabe verlangt auch vorläufig kein Eingehen auf den Bau und die verschiedenen Endverzweigungen der nervösen Organe, noch auf die Bahnen und Lokalisationen der Reizungen. Nur folgende einfache Tatsachen wird es von Nutzen sein sich zu vergegenwärtigen: daß die Wiederholung einer beliebigen Nervenfunktion eine Neigung für gleichartiges Fungieren erzeugt und dessen abermaliges Eintreten erleichtert, daß ferner die Nervenprozesse in zentripetale oder afferente [von der Peripherie zum Zentralnervensystem verlaufende Nervenfasern - wp], die nach den Zentren hin führen, und zentrifugale oder efferente, die von denselben ausgehen, zerfallen, und daß diese afferenten und efferenten Prozesse verschiedene Wege geleitet werden; die erste Nervenleitung wird, wenn sie an Bewußtseinszentren anknüpft, auch sensorisch genannt, die zweite, wenn sie in Muskeln ausläuft, motorisch. Ferner müsen wir uns merken, daß die nervösen Zentren, oder die Gruppen von freistehenden Nervenelementen, wo afferente und efferente Nervenleitung zusammentreffen, teils sich in der Hirnrinde oder dem Sensorium befinden, woselbst die Reizungsprozesse, wenn sie passieren, Bewußtsein wachrufen, teils in den niedrigeren Gehirnpartien, von welchen das Kopfmark (bulbus) die Zentren der vitalen Funktionen umfaßt, teils im Rückenmark, wo eine weiße und eine graue Substanz gesondert werden müssen, schließlich teils in den Ganglienzellen, die zerstreut im sogenannten sympathischen Teil des Nervensystems vorkommen, der die vegetativen Verrichtungen hauptsächlich innerviert [Nervenimpulse - wp].

§ 4. Wenngleich alle nervöse Tätigkeit auf den Typus der Reflexbewegung zurückzuführen ist, so unterscheidet man einen verschiedenen Rang dieser Reflexe je nach den Zentren, die sie berühren. Immer unbewußt sind die Nervenprozesse, die unterhalb der Hirnrinde geleitet werden; solche subkortikalen Reizungen, deren organische Reaktionen indessen an die Rinde und das Bewußtsein befördert werden können, sind die vom Kopfmark vermittelten vegetativen Funktionen und diesen gleichgestellte Bewegungen wie Schlucken, Erbrechen, Nießen, Gähnen, Lachen und dgl., deren nervöser Mechanismus angeboren, in der Gattung erworben ist. Unbewußt sind ferner Rückenmarksreflexe, wie z. B. solche eintreten, wenn man einen brennend heißen Gegenstand berührt und die Hand augenblicklich zurückzieht, oder wenn man im Begriff ist zu stolpern und Muskelbewegungen in umfassender Zusammenwirkung einen Fall verhindern. Nur in der Rinde werden bei besonderen Voraussetzungen durch Reizungen, die diesen Weg nehmen - was sie jedoch nicht verhindert, partiell in subkortikalen Reflexen abgeleitet zu werden - Bewußtseinserscheinungen bewirkt, als deren Typus analog dem Reflex auf physiologischem Gebiet die  Empfindung  gelten kann.

Man beachte, daß das physiologische Gegenstück der Empfindung nicht die zentralen Veränderungen allein sind; die Empfindung setzt, wie hervorgehoben wurde, sowohl die afferente Reizung wie die efferente Reaktion und ihr Zurückwirken auf das Sensorium voraus. Diese efferenten Reaktionen scheinen auch das Substrat der Bewußtseinsphänomene des Gefühls und des Willens zu bilden, die als die unter gewissen Bedingungen aufkommenden Empfindungen verschiedener peripherer Reaktionen angenommen werden können.

Der Bewußtseinsakt, der in einer engeren Bedeutung  Vorstellung  genannt wird, entsteht, wie es scheint, dann, wenn die Rindenzentren, die durch wiederholte Reizung von Reflexen, die Empfindungen wachriefen, für eine gewisse Funktion disponiert wurden, aufs neuein Tätigkeit gesetzt werden, aber nicht von einer direkten afferenten Nervenbewegung, denn diese löst psychisch Empfindungen aus, sondern durch eine intrazerebrale, durch andere Zentren vermittelte Reizung. Der Vorstellungsprozeß ist somit eine Erneuerung des Empfindungsreflexes in dessen zentralem, und wie gleich hervorgehen wird, zentrifugalem Teil, während die veranlassende zentripetale Reizung primär andere Rindenzentren trifft und erst geschwächt auf die Zentren der betreffenden Vorstellung überstrahlt. Ein Reflex kann, beeinflußt von der Stärke oder der ungewöhnlichen Natur des Reizes oder durch das Zusammentreffen mit anderen Reizungen, die die üblichen Reaktionen verhindern, irradiieren [ausstrahlen - wp], d. h. von Zentrum zu Zentrum, einschließlich deren Reaktionen, fortgeleitet werden, die nächsten, eingewöhnten Bahnen für entferntere, weniger befahrene Wege verlassend. Je mehr der Reizungsprozeß aufgehalten wird und sich, wie man annimmt, in den Zellen der Rinde verbreitet, desto mehr entstehen und verknüpfen sich Vorstellungen; je öfter auf diese Weise mehrere Zentren gleichzeitig gereizt werden, desto fester entsteht eine funktionelle Verbindung unter ihnen, desto sicherer erreicht die Reizung einzelner Zentren auch andere; diese Verknüpfung verschiedener Zentren nebst ihren Bewußtseinsakten wird ihre  Assoziation  genannt.

Von den Vorstellungen sind die sprachlichen von besonderer Bedeutung für das psychische Leben; sie sind darin merkwürdig, daß sie nicht wiedererweckte Empfindungen des Gegenstandes, den sie bezeichnen, sind, sondern von einer gleichzeitigen Reizung, dem Wort, stammen, dessen vielfältige Verbindung mit den Empfindungselementen des betreffenden Gegenstandes zwischen ihnen eine unauflösliche Assoziation zustande gebracht hat. Ferner muß hinsichtlich der assoziierten sprachlichen Vorstellungen bemerkt werden, daß sie mit der Zeit und der Gewohnheit immer mehr die eigentlichen, direkten Vorstellungen der Gegenstände in den Hintergrund drängen. Alles Denken geht in Zeichen vor sich, durch die der Vorstellung entsprechenden und mit ihr fest assoziierten Wortvorstellungen, nicht aber durch die Funktion der mannigfaltigen Nervenzentren des vollständigen Vorstellungsbildes. Einer wesentlichen Kategorie der Vorstellungen, nämlich der allgemeinen und abstrakten, entsprechen weder wirkliche, frühere Empfindungen, noch - wie den Vorstellungen der Phantasie - eine Assoziation vereinzelter Empfindungselemente in anderer Reihenfolge als in der, worin sie in der Tat auftraten; diese allgemeinen und abstrakten Vorstellungen werden, vorausgesetzt, daß nicht ein zufälliges Vorstellungsbild als Beispiel oder Symbol ihre Stelle einnimmt, einzig von den assoziierten Wortvorstellungen vertreten, deren Zentren sie physiologisch tragen.

Ein näheres Eingehen auf diese Verhältnisse findet in dieser einleitenden Übersicht keinen Platz, - mag es auch immerhin verlockend sein, darzulegen, wie die höchsten Erscheinungen des Vorstellungslebens Schritt für Schritt von Empfindungen herkommen und physiologisch in der Form des Reflexes ablaufen. Denn vom einfachsten Rückenmarksreflex bis zu den Prozessen, die die Assoziationen des spekulativen Denkens tragen, finden man keine Lücke der Kontinuität, nur eine allmähliche Gradation.

§ 5. Unter den psychischen Grundphänomenen, den Empfindungen oder Sensationen, unterscheidet man gewöhnlich äußere oder Sinnesempfindungen und innere oder Organempfindungen, wobei letztere aus teils motorischen teils viszeralen [die Eingeweide betreffend - wp] Sensationen, d. h. Empfindungen der Reaktionen einerseits der Skelettmuskeln, der Gelenke, der Knochen, andererseits der Muskeln und Häutchen der Eingeweide bestehen. Der Unterschied, den der Sprachgebrauch zwischen Sinnes- und Organempfindungen macht, scheint indessen als wissenschaftliche Distinktion überflüssig zu sein, da diese Empfindungen sich ihrem Wesen nach nicht trennen; teils ist nämlich alles, was nicht Nervengewebe ist, also auch dessen Umgebung im Organismus, Außenwelt im Verhältnis zum Nervensystem, und jede Empfindung somit ein Produkt äußerer Reize, teils gehen auch Sinnesreizungen, bevor sie Empfindungen veranlassen, in organische Prozesse über, teils findet schließlich im nervösen Mechanismus in beiden Fällen das Gleiche statt. Nebenbei sei bemerkt, daß auch die motorischen und viszeralen Empfindungen nicht grundsätzlich verschieden sind, da ja die letzteren hauptsächlich von Reaktionen viszeralen Muskelgewebes herrühren. Unsere Empfindungen der Sättigung, des Geschlechtstriebes, des Erbrechens, der Entleerung des Darms sind wesentlich Muskelsensationen der Überfüllung, des Drucks, der Spannungsverhältnisse in vegetativen Organen; unsere Empfindungen von Strömen und Pulsieren des Blutes, von vasomotorischen [die Gefäßnerven betreffend - wp] Veränderungen, d. h. von der Verengung und Erweiterung der Blutgefäße, sind vorerst Empfindungen von Spannungszuständen des Muskelgewebes der Gefäßwände. Indessen ist der Bau dieses Gewebes ein anderer als der der Skelettmuskeln; und da viszerale Empfindungen auch von anderen inneren Geweben veranlaßt werden, tut man gut, am bequemen Auseinanderhalten der motorischen und viszeralen Reflexe und Empfindungen festzuhalten.

Sucht man die Faktoren der Empfindungen näher zu bestimmen, so wird klar, daß Empfindungen wie auch Vorstellungen nicht die psychische Wirkung eines  einzigen  Reizes, sondern ein Totalprodukt partieller Reizungen bildet. Jede klar bewußte Empfindung ist eine  Synthese  der Funktionen mehrerer Zentren; in der Empfindung eines Pilzes z. B. sind Eindrücke der Farbe, des Geruchs, des Geschmacks, der Form, der Festigkeit, des Wortes "Pilz" und des Artnamens des betreffenden Exemplares zu finden. Auch Empfindungen motorischen und viszeralen Ursprungs sind, wie wir gleich sehen werden, an jedem Bewußtseinsvorgang beteiligt; die Empfindung scheint nur dann volle Bestimmtheit und gehörigen Zusammenhang mit anderen Bewußtseinserscheinungen zu gewinnen, wenn Empfindungen ihrer Reflexreaktionen mit ihr verschmelzen.

Terminologisch merke man, daß der Ausdruck Totalempfindung und dergleichen nicht bedeuten wollen, daß die Empfindungs- und Vorstellungselemente, die psychisch als ein Ganzes erscheinen, als Teilsensationen das Bewußtsein erreichen; die Partialreizungen, aus welchen das psychische Ganze der Empfindung - zuweilen im Unterschied von dessen Elementen Perzeption genannt - verschmilzt (7), werden nicht für sich allein sentiert [fühlen, ein Urteil fällen - wp]; sie aber als "unbewußte Empfindungen" zu bezeichnen, ist eine  contradictio in adjecto [Widerspruch insich - wp] (8).

§ 6. Gibt man auf die für die Gefühlserscheinungen besonders bedeutungsvolle efferente Seite des Nervenmechanismus genauer acht, so wird man für jedes Bewußtseinsphänomen peripherischen Ausdrücken begegnen. Wie die Empfindungsprozesse in motorischen Reaktinen, in Wörter, Mienen, Gebärden, Handlungen auslaufen, weiß jedermann; wie ebenfalls viszerale Reaktionen erregt werden, zeigt das Beispiel der schönen Speise, deren Anblick oder Duft schon Speichel und Magensäfte hervorreizt. Aber die motorischen und viszeralen Reaktionen auch der Vorstellungsprozesse sind leicht ersichtlich. Stellen wir uns ein Mienenspiel, einen Laut, ein Wort vor, so sprechen wir das Wort aus, ahmen den Laut nach, nehmen die Mienen an. Denken wir lebhaft an einen Zirkel, so machen unsere Augen dieselben Bewegungen, die vor sich gehen, wenn wir wirklich einen Kreis betrachten; wenn wir an entfernte Gegenstände denken, nehmen die Augen eine andere Stellung ein, als wenn die Gedanken dem Naheliegenden gelten. Denken wir am Geländer eines Balkons oder an einer jähen Stelle, wie es wäre in die Tiefe zu springen, so machen sich unsere Muskeln auf den Sprung gefaßt; wird dieser Gedanke nicht von anderen verdrängt, so kommt ein Moment, wo wir uns festhalten müssen, um die eingeleiteten Bewegungen nicht auszuführen und hinunterzustürzen. Fesselt uns die Lektüre eines dramatischen Inhalts, so werden in unserem Innern die Rollen der Auftretenden gespielt: die Wangen erröten und erbleichen, das Herz klopft und Tränen quellen hervor je nach den geschilderten Leiden und Leidenschaften. Das Geheimnis der Dichtkunst liegt eben in diesen viszeralen Reaktionen der zentralen Prozesse, im Sachverhalt, daß schon der Vorstellung von Leiden und Freuden, Schwierigkeiten und Befreiung, Greuel und Schönheit, periperische Reaktionen und die entsprechenden Empfindungen parallel gehen. Man beobachtet weiter, wie z. B. Schauer die Vorstellungen schwerer Kälte oder des Anbeißens eines sauren Apfels oder der Berührung von Kreide begleitet; desgleichen wie die Vorstellung der Nähe des angestrebten Zieles dem Müden neue Kraft verleiht. Noch deutlicher sind die viszeralen Reflexe bei Vorstellungen schlecht riechender und unschmackhafter Dinge, die Ekel und Erbrechen erzeugen, und bei sexuell-erotischen Vorstellungen; weniger evident, aber experimentell erwiesen ist es, daß auch abstrakte Vorstellungen sich mit peripherischen Reaktionen verbinden. Schon das Wort, das beim Denken für den abstrakten Begriff eintritt, wird von Ansätzen der Sprachorgane das Wort zu artikulieren begleitet; aber auch der Inhalt der Begriffe wird in den Reflexen abgespiegelt. Denken wir z. B. den Begriff "Kraft", so nehmen wir die allgemeine Muskelspannung, viszerale Erregung, Bewegungen in den Armen wahr; verharren wir bei den Vorstellungen "Demut" oder "Stolz", so wird das Verhalten der Muskeln, insbesondere der des Nackens, beeinflußt und das vegetative Leben niedergedrückt oder erregt. Alle diese Veränderungen, von welchen die Mehrzahl einer unbewaffneten Beobachtung unmerklich ist, üben zusammengenommen eine Reizwirkung auf das Sensorium aus. Um die viszeralen und motorischen Reaktionen genauer untersuchen zu können, hat man verschiedene graphische Apparate konstruiert, welche die geringsten Veränderungen der Atmung (Pneumograph), des Pulses (Sphygmograph, Plethysmograph) der Muskelkraft (Dynamometer, Ergograph), anzeigen. Die Untersuchungen, die man mit diesen Apparaten unternommen hat und die mit nervösen und hypnotisierten Versuchspersonen, deren Reaktionen extrem sind, den deutlichsten Ausschlag geben, haben gezeigt (9), daß jedes Bewußtseinsphänomen, ein Laut, ein Geruch, ein Lichtwechsel, ein Farbenunterschied, mit Veränderungen der Atmung, der Gefäße und der Muskeln untrüglich verbunden ist.

Bedeutung für die Psychologie gewinnen die körperlichen Reaktionen aufgrund ihrer genannten Rückwirkung auf das Sensorium. Motorische Empfindungselemente sind an den Empfindungen und Vorstellungen nicht unwesentlich beteiligt; Bewegungen liegen z. B. unserer Auffassung von Widerstand, Druck, Schwere, Form, wie unseren Vorstellungen von Ausdehnung, Entfernung, Lage, zugrunde. Bewegungen und Ansätze dazu, tastende motorische Entladungen, bedingen auch die Empfindungen und Vorstellungen, die man, wenn sie unsere Handlungen einleiten, unter den Namen  Willen  zusammengefaßt. Auch wo motorische Reaktionen keine bewußten Empfindungen erzeugen, geht ein konstanter und deshalb unmerklicher Reiz vom halben Spannungszustand der Muskeln, Muskeltonus genannt, der subkortikal hervorgereizt und stets aufrechterhalten wird, aus.

Ebenso wie vom Tonus der Muskeln strahlen von den viszeralen Funktionen konstante Reizungen aus, die normal das Bewußtsein, das nur bei einer Veränderung, einem Übergang zwischen zwei Zuständen einsetzt, nicht erreichen. Nur wenn dieser viszerale Tonusreiz in irgendeiner Beziehung verstärkt wird, wie bei einem besonderen Achtgeben auf die veranlassenden vegetativen Verrichtungen oder bei ihrem krankhaften oder zufällig, z. B. während Gemütsbewegungen, gestörten Verlauf oder überhaupt bei durchgreifenden Veränderungen auf diesem Gebiet, wachsen die viszeralen Reizungen zu vielfältig zusammengewebten, unsicher lokalisierten, dumpfen Empfindungskomplexen an, aus welchen Behagen und Unbehagen, Lust und Unlust, als spezifische Elemente auftauchen. Derlei Totaleindrücke viszeraler Prozesse rechnet man nebst etwaigen zentralen Veränderungen zu einer eigenartigen Gruppe von Bewußtseinserscheinungen, die mit dem Namen  Gefühl  bezeichnet wird.

Das Gefühl und sein Verhältnis zu den peripherischen Prozessen ist indessen eines der schwierigsten Probleme der Psychologie, das, wieviel auch die Frage abgehandelt wurde, noch lange nicht befriedigen gelöst ist. Die Untersucung, die unter einem psycho-physiologischen Mechanismus des Gefühls gewidmet werden soll, beansprucht auch nur eine wahrscheinliche Lösung vorzuschlagen, nicht sie zwingend zu beweisen.
LITERATUR - Rolf Lagerborg, Das Gefühlsproblem, Leipzig 1905
    Anmerkungen
    1) vgl. zum Beispiel FÉRÈ, Sensation et mouvement, Seite 71; HÖFFDING, Psychologie, Seite 111; TIGERSTEDT, Lehrbuch der Physiologie des Menschen II, Seite 370; WUNDT, Physiologische Psychologie I, Seite 183.
    2) vgl. gegen diese Lehren z. B. Alexandre Alexandrovitch Herzen, Activité cérébrale, Seiten 133-154.
    3) HERBERT SPENCER, Principles of Psychology I, Seite 1
    4) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie, Seite 227 und 248.
    5) WILLIAM JAMES, Psychology I, Seite 447-454, Kap. XXIII; vgl. auch BALDWIN, Psychology; Feeling and Will, Seite 28; Mental Development, Kap. VI, § 7.
    6) vgl. z. B. ZACHARIAS OPPENHEIMER, Physiologie des Gefühls, Seite 511
    7) vgl. WUNDT, Physiologische Psychologie I, Seite 289; II, Seite 365; BEAUNIS, Sensations internes, Seite 246-247.
    8) vgl. hierzu z. B. JOHN STUART MILL, Examination of Sir William Hamiltons Philosophy, Kap. XV.
    9) vgl. z. B. FÉRÉ, a. a. O., Seite 121; MOSSO, La fatigue, öfter; JAMES, Mind 1894; KIESOW, Philosophische Studien 11; MENTZ, ebd; ANGEL und THOMPSON, Psychological Review, 1899; LEHMANN, Körperliche Äußerungen, Seite 1, 216; BRAHN, Philosophische Studien 18.